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Zehntes Kapitel.


Die Verhandlungen über die Wohlthätigkeitsvorstellung waren abgeschlossen. Auch die Wahl der Bilder war nach manchen Kümmernissen gelungen.

Herr von Behme hatte sich bereitwillig in die Dienste des Komitees gestellt, weil es ihm Veranlassung gab, häufiger nach Schorndorf zu kommen. Da plauderte er mit Christinen und lauschte begeistert, wenn Andrea Klavier spielte. Immer noch war es ihm auch gelungen, Einsicht in die Briefe zu erhalten, die von Wilhelmine von Weidner anlangten. Und heute hatte er Tag und Stunde von Wilhelminens Ankunft erfahren.

Andrea saß müßig am Fenster, ihre Augen hatten rote Ränder von heimlich vergossenen Thränen; auf der Stirn zeigte ein gelb und grüner Fleck die Stelle der entschwundenen Brausche an. Ihr Gesicht sah durchaus unschön aus, denn es strahlte nicht von Lebenslust.

Ihre Verwandten hatten ihr geantwortet, wie sie es nicht anders erwartete; aber neben der Absage ergrimmte sie die harte, verletzende Art derselben. Als Christine sich zu ihr setzte und in ungefähren Ziffern die Ausgaben für ihr Kostüm von Jairus' Töchterlein berechnete, faßte sie der Neid, daß sie glaubte, ersticken zu müssen.

Sie stand auf und ging in den Garten.

»Sechs Dreier, sechs Dreier,
Das ist mein ganzes Geld.
Damit bin ich so lustig,
Wie einer auf der Welt.«

Es war und blieb mit der Lustigkeit nur schwach bestellt. Andrea weinte.

Das Verslein hatte sie oft getröstet, wenn ihre Kasse geleert war. Aber damals war sie noch die leichtherzige Andrea gewesen, die zur Not eine Mahlzeit überhungerte, die weiten Strecken, die sie täglich zurückzulegen hatte, zu Fuß abmachte und sich vor einer kleinen Anleihe bei einer bessergestellten Freundin nicht scheute. Das aber paßte nicht für die geordneten Schorndorfer Verhältnisse.

Sie ließ den Mechanismus an ihrem Portemonnaie spielen, bis derselbe versagte. Dann schleuderte sie es zornig weit fort. Als sie es wieder aufnehmen wollte, war es nirgends zu finden.

Sie suchte das nächststehende Gebüsch mit einem Eifer ab, als hätte sie ein großes Vermögen verloren. Das Portemonnaie hatte zwei Mark gekostet. War nun auch der Mechanismus vorzeitig verdorben, so konnte es durch ein umgelegtes Gummischnürchen leicht geschlossen werden.

Endlich schritt sie weiter.

Bei einer Biegung des Weges wurde ihr ein voller Blick auf den westlichen Horizont, an dem die Sonne unterging. Sie blieb stehen und sah zu. Tiefer und tiefer sank die blutrote Scheibe.

Erst als Schritte hinter ihr hörbar wurden, wandte sie sich um.

»Was treiben Sie hier, Andrea?« fragte Herr Consentius.

»Ich lasse die Sonne ein bißchen untergehen.«

»Das ist hübsch von Ihnen,« meinte er lächelnd, indem er weiterschritt.

Augenscheinlich hatte er etwas vergessen, dessen er sich jetzt erinnerte, denn er kehrte plötzlich um.

»Fühlen Sie sich unwohl, Andrea?«

»Ich habe etwas Kopfschmerzen, Herr Consentius. Sonst bin ich ganz gesund.«

»Sie hatten verweinte Augen heute nachmittag.«

»Ich habe einen sehr bösen Brief bekommen von meinen Verwandten,« sagte Andrea beklommen.

»Und das hat Sie bekümmert?«

Andrea nickte.

»Sie haben in irgend einer Beziehung eine abschlägige Antwort erhalten?«

»Ja,« preßte sie mühsam heraus.

»Und jetzt haben Sie wieder geweint.«

»Jetzt habe ich geweint, weil ich mein Portemonnaie verloren habe,« sagte sie, sie wußte selbst nicht weshalb.

»Hoffentlich ist der Verlust nicht unersetzlich.«

Das launige Lächeln, das einen Augenblick sein Gesicht durchstrahlt hatte, verschwand und ein prüfender Blick flog zu Andrea.

»Es enthielt doch meine ganze Barschaft,« entgegnete diese, die seitwärts zur Erde sah.

»Wieviel?«

»So … vierzig Mark.«

Die große Lüge war ausgesprochen, daß es ohne vorheriges Überlegen und Klügeln geschehen war, stand deutlich auf ihrem erschrockenen Gesicht zu lesen.

Herr Consentius sah sie unentwegt an.

»Zeigen Sie mir, wo sich das Unglück zugetragen hat. Ich will Ihnen suchen helfen.«

Während des kurzen Weges sprach er kein Wort. Aber er vergaß den Zweck des Ganges nicht. Denn als Andrea ihre Schritte mäßigte, blieb er stehen.

»Sie sind versichert, daß es ungefähr hier geschehen ist, Andrea?«

»Ja.«

Nach ganz kurzer Frist bückte er sich und hob das Verlorene auf. Der Wurf hatte es weiter fortgetragen, als Andrea angenommen hatte.

»Es ist leer,« sagte er, »und das Schloß ist zerbrochen.«

Der Ton seiner Stimme klang sonderbar. Vor Andreas Ohren summte es. Sie befeuchtete ihre Lippen, die von dem schnell gehenden Atem trocken und heiß waren.

»Ich habe so eifrig danach gesucht vorhin,« sagte sie. »Aber ich konnte es nicht finden.«

Sie stand vor ihm und sah ihm mitten in das Gesicht. Sie durfte es, denn sie sprach die Wahrheit. Sie hatte gesucht.

»War irgend etwas in dem Portemonnaie enthalten?« fragte Herr Consentius.

Das war eine Warnung, umzukehren. Er glaubte ihr nicht. Nun spielte der Vergeßliche den Vergeßlichen.

Eine lange Pause trat ein, in welcher Andrea vergeblich kämpfte. Die Lüge war ihr ohne Vorbedacht entflohen. Jetzt konnte sie die Wahrheit nicht mehr eingestehen. Wer anfängt zu lügen, muß weiter lügen. Sie hatte das Gefühl, als ob sie auf grasigem, von Wasser unterspültem Erdboden stände, in den sie jeden Augenblick versinken konnte.

»Ich hatte ungefähr noch vierzig Mark.«

»War der Verschluß schon beschädigt, als Sie das Portemonnaie verloren?«

»Nein, das heißt – ich kann es wirklich nicht ganz genau sagen.«

»So denken Sie nach!«

Herr Consentius legte seine Hand auf ihre Schulter und fühlte, wie das Mädchen zitterte.

»Es kann vor einer Stunde gewesen sein,« sagte Andrea mit zuckenden Lippen, – »hier so herum, – ich war so zornig und gekränkt über die harten Worte, die mir meine Verwandten geschrieben hatten, – und verzweifelt – ich weiß gar nicht mehr, was es alles war – ich schnappte das Portemonnaie auf und zu – dabei ging der Verschluß entzwei. Verloren habe ich es nicht – ich warf es fort. Darnach habe ich es gesucht – aber ich konnte es nicht finden; ich dachte nicht, daß es so weit fortgeflogen wäre.«

Sie sah ihn mit unaussprechlich verzweifeltem Blicke an.

»Mut, Andrea,« sagte Herr Consentius warm.

Andrea legte beide Hände auf ihre Stirn, als fürchte sie, ihr Kopf könne auseinander bersten.

»Geld war keines darin,« murmelte sie mit stockendem Atem. – »Ich habe wahrhaftig nicht mit Absicht gelogen. Als Sie mich fragten, schämte ich mich, so – so – so arm zu sein. Weiter habe ich nicht gedacht. – Verdächtigen, das Geld gefunden zu haben, wollte ich niemanden. Bei Gott im Himmel! ich weiß nicht, weshalb ich nicht gleich die Wahrheit sagte.«

»Ich glaube Ihnen, Andrea.«

Andrea warf sich plötzlich laut aufschluchzend an seinen Hals.

»Ich habe auch gelogen des Kleides wegen von meinem Konzert – es war nur geliehen für den Abend. Ich habe mich immer so durchwinden müssen und bin viel getreten worden, das kann gar kein anderer nachfühlen, was ich schon alles gelitten habe.«

Herr Consentius richtete sie sanft empor.

»Eine Lüge auszusprechen, ist immer unrecht, Andrea.«

Sie schwieg. Ein trotziger Zug trat auf ihrem Gesicht hervor. Sie trocknete tiefatmend ihre Thränen. Um das Portemonnaie nestelte sie ein Gummischnürchen, das sie aus der Tasche zog.

»Werden Sie – werden Sie – zu irgend jemandem sagen – was – was –«

»Ich habe keine Geheimnisse vor meiner Frau. Aber Sie wissen, Kind, wie edel sie ist.«

»Mein Kopf schmerzt,« sagte Andrea weiter schreitend.

»So bleiben Sie auf Ihrem Zimmer. Ich will Sie bei meiner Frau entschuldigen.«

Er reichte ihr in der Halle die Hand.

»Gute Besserung!«

»Ich danke sehr. Gute Nacht!«

Als sie schon mit fiebernder Stirn im Bette lag, kam Frau Consentius.

»Geht es Ihnen besser, Andrea?«

»Ja, gnädige Frau.«

Sie drehte mit wehem Ausdruck das Gesicht gegen die Wand.

Frau Consentius legte ihre Hand auf die Stirn Andreas, die mit beiden Händen danach griff und ihre Lippen heftig darauf preßte.

»Was empfinden Sie jetzt, Andrea?«

»Neid.«

»Auf wen?«

»Auf Christinen.«

»Weshalb?«

»Weil Sie nicht meine Mutter sind, gnädige Frau.«

»Unartiges, unverbesserliches Mädchen,« sagte Frau Consentius lächelnd.

»Es soll unrecht sein, eine Lüge auszusprechen, und nun ist es eine Unart, daß ich die Wahrheit sage.«

»Es ist mehr als eine Unart, solche Gefühle zu hegen.«

»Wenn man sie aber hat.«

»So soll man sie ausrotten.«

Andrea kroch wie ein kleiner Hund dicht heran.

»Ich will mir Mühe geben,« sagte sie aufrichtig.

»Ist das Ihr Portemonnaie, Andrea?«

»Ja,« kam es zitternd hervor.

Frau Consentius löste das Gummischnürchen, steckte ein Goldstück in den Behälter und legte es auf den Nachttisch zurück.

»Schlafen Sie wohl, mein liebes Kind!«

»Wie soll ich Ihnen danken?« schrie Andrea auf. »Sagen Sie mir, was ich thun muß.«

»Vertrauen haben und die Wahrheit sprechen. Aus Wahrheit kommt Tugend. Wollen Sie es versuchen, Andrea?«

»Ja, ich will.« –

Am nächsten Morgen ging Andrea zitternd zum Frühstück. Aber kein Wort, kein Blick erinnerte sie an den Vorfall vom gestrigen Tage.

Christine war ziemlich schweigsam. Da stieg das häßliche Mißtrauen in Andrea auf, die Tochter könne von den Eltern eingeweiht worden sein. Christine würde es Elisabeth erzählen – ohne Frage. Und vor Elisabeth in voller Kleinheit dazustehen, glaubte sie, nicht ertragen zu können. Sie wollte nicht – aus Trotz; und es that ihr auch weh. Es war ein unerklärliches Gefühl für Andrea. Schließlich hatte sie ja nichts Schlechtes bezweckt. Aber der Schein war gegen sie.

»Hast du irgend etwas vor, gleich nach dem Kaffeetrinken?« fragte Christine.

»Ich wollte üben.«

»Du hattest die Zeit verschlafen, nicht wahr?«

»Nein, ich war wach; aber ich hatte Kopfschmerz. Brauchst du mich vielleicht?«

»Ich wäre zu Frau Schulze gegangen, aber es kann unterbleiben.«

»Ich will mitkommen; ich übe nachher.«

»Nein, nein,« sagte Christine, »es paßt mir heute selber schlecht.«

Andrea spielte eine schwermütige Melodie, die wie verhaltenes Schluchzen klang. Sie hatte die Thür vergessen einzuklinken. So zog der Schall hinaus.

Frau Consentius stand in der Halle und horchte hinauf, als Christine zu ihr trat.

»Ich gehe zu Gredings, Mama. Spielt Andrea heute sonderbar. Sie hat sich ja ausnahmsweise im Zügel.«

»Andrea besitzt ein großes Talent.«

»Wenn sie mir nicht Notenfieber bekommt bei unserer Vorstellung in Teterow.«

»Teterow!« sagte Frau Consentius aufmerkend. »Erinnere Andrea in keiner Weise mehr an ihre Konzerttoilette, Christine. Wir, Papa und ich wünschen nicht, daß Andrea ein Kleid hierher senden läßt. – Wieviel Weichheit –« lenkte sie ab, indem sie mit dem Kopf empordeutete, »und – wieviel Innigkeit.«

»Man sollte meinen,« sprach Christine, »es könne niemand etwas zeigen, was er nicht ungefähr besitzt.«

»Gewiß, das kann er nicht.« –

Heinemännchens Geburtstag war am nächsten Tage und sollte durch eine Schokoladenfete gefeiert werden. Frau Pieseke war dazu mit einer Einladung bedacht worden, Kantors, Hochwitzer Försters und noch einige andere.

Heinemännchen zeigte dann alljährlich ihre Kuchenkünste.

Indes Therese den Topfkuchen und Obstkuchen aus dem Backofen heranschleppte und den Butterauflauf mit dahin nahm, knetete Minchen Pfannkuchenteig.

Während dieser Zeit saß Christine an dem viereckigen Fenster im Sorgenstuhl. Elisabeth stand am Eßtische und rieb mit einem wollenen Tuche übersilberte Leuchter ab.

»Wie geht es Andrea?« fragte Elisabeth.

»Sie spielte Klavier, als ich fortging, übrigens anders als gewöhnlich.«

»Inwiefern?«

»Sie spielte eine einfache Melodie, regelrecht schwermütig. Du lachst.«

»Über die Bezeichnung: regelrecht schwermütig.«

»Andrea war es sonst nie. Und ich glaubte, daß sie die Fähigkeit, schwermütig zu sein, gar nicht besäße.«

»Andrea ist ein liebes Mädchen. Ich habe ihr viel abzubitten,« sprach Elisabeth warm.

»Großartiger Umschwung der Gesinnung!« Es klang ironisch.

»Es ging mir, wie dem Manne in der Bibel, der den Splitter in seines Bruders Auge wohl gewahrte. Will ich ehrlich zu Gericht sitzen, so komme ich zu der Überzeugung, daß Andreas Dreistigkeiten und kleine Unarten viel eher zu entschuldigen sind, als der pharisäerhafte Eigendünkel, mit welchem ich mich über Andrea erhob.«

»Und mir erscheinst du,« sprach Christine nachdenklich, »wie jene Frau, die nach langem Suchen ihren Groschen wieder gefunden hatte – und sie rief ihre Freundinnen und Nachbarinnen und sprach zu denen: Freuet euch mit mir, denn ich habe meinen Groschen wieder gefunden, welchen ich verloren hatte. – Du bist glücklich, Lobenswertes an deinen lieben Nächsten zu finden und du suchst danach.«

»Ich hätte das Lobenswerte an Andrea früher entdecken können, wäre ich nicht blind gewesen, wie äußerlich, so innerlich, aber ich trug den Balken des Eigendünkels im Auge.«

Christine war mißgestimmt. Solange Andrea herben Tadel erfuhr, fühlte sie sich gedrungen, sie in Schutz zu nehmen. Das Lob berührte sie unangenehm. Vielleicht war es Widerspruchsgeist, vielleicht Neid.

»Also Eigendünkel nennt sich deine Untugend,« bemerkte sie gleichgültig, aber doch in der ihr klar bewußten Absicht, Elisabeth eine Unannehmlichkeit zu sagen.

»Ja,« antwortete Elisabeth arglos.

»Hast du diese Untugend auch mir gegenüber bereits zur Geltung gebracht?« Derselbe nachlässige Ton!

»Das glaube ich nicht; denn mein Herz spricht zu warm für dich, als daß es blind gegen irgend einen deiner Vorzüge sein könnte, und du hast deren gar viel.« Elisabeth lachte. »Aber weißt du, Christine, was Tante Heinemann für eine große Sorge hat? Tante Heinemann findet, daß ich zu wenig respektvoll mit dir verkehre. Wir sind in erster Reihe – du die Tochter des Gutsherrn, ich die Tochter des Amtmanns, in zweiter Reihe erst sind wir Freundinnen. Was sagst du dazu?«

Im ersten Augenblick wog das warme Gefühl der Freundschaft in Christinen über; als aber Elisabeth herzlich lachend in Andreas Manier hinzufügte: »Sind das Chosen, wertester Schatz. Es hat ja keinen moralischen Hintergrund« – warf sie den Kopf ungeduldig zurück.

Einer Antwort wurde sie dadurch überhoben, daß Andrea eintrat.

Andrea hatte, während Frau Pieseke ihr das zweite Frühstück überantwortete, von dieser erfahren, daß Christine zu Gredings gegangen war. Was that Christine bei Elisabeth? Wenn sie, Andrea, eine Freundin gehabt hätte, wie Elisabeth, die sie herzlich ermahnt hätte, so wäre sie heute weniger tadelnswert zu finden.

»Wen beklatschen Sie, Elisabeth?« fragte Andrea.

»Sie! Aber ich bin schon mit meiner Kunst zu Ende.«

»Ist Christine auch damit fertig?«

»Christine klatscht nie.«

»Alter Schulmeister,« sagte Andrea und schüttelte Elisabeth die Hand.

»Hast du ein schlechtes Gewissen?« fragte Christine lachend.

»Wieso?«

»Weil du dich so ereiferst. Übrigens sang Elisabeth dein Loblied – – damit du beruhigt bist.«

»Besten Merci. Was haben Sie da in der Bonbonniere, Elisabeth?«

»Konfekt für artige Kinder. Frau Doktor Moosbach schickte es mir. Vater war gestern in Teterow.«

»Zulangen darf man wohl nicht?«

Elisabeth lachte herzlich.

»Aber gewiß, nur räumen Sie nicht aus. Sie sind hoffentlich öfter artig und müssen belohnt werden.«

Unterwegs sagte Christine: »Ist irgend etwas zwischen dir und Elisabeth vorgefallen?«

»Wieso?« fragte Andrea mißtrauisch.

»Ihr macht euch gegenseitig förmliche Liebeserklärungen!«

»Da es keinen Zweck hat, sich fortwährend anzuschnarchen …«

»Es ist lobenswert von dir,« sprach Christine nachlässig, »daß du es endlich einsiehst.«

»Und thöricht von dir, daß du deshalb eifersüchtig bist.«

Christine lachte gezwungen.

»Wie lange bleiben Wilhelmine und Rosa hier?« fragte Andrea nach einer Pause.

»Eine Woche.«

»Das ist eine kurze Zeit.«

»Vielleicht ist es ihnen möglich, einige Tage zuzulegen.«

»Das hoffe ich nicht.«

»Und ich glaube es kaum.«

»Mutter Teschnern hat ja wohl alsdann Geburtstag?«

»Der Papa.«

»Wirst du Wilhelmine und Rosa bei Gredings vorstellen, Christine?«

»Gewiß.«

»Wenn ich nicht irre,« sprach Andrea halblaut, »hast du denen auch gesagt, daß Elisabeth die Tochter eines Gutsnachbarn sei – entschuldige, Christine.«

»Es kann sein,« entgegnete Christine mit bebenden Lippen. »Aber man korrigiert es.«

»Wenn es nun aber nicht nötig wäre,« sagte Andrea. »Ich finde, daß die Zeit ihrer Anwesenheit für den Rummel, der in Scene gehen soll, recht knapp bemessen ist.«

»So viel Zeit findet sich doch, wenn man sie finden will. Elisabeth kann es auch beanspruchen, und Mama wird es thun.«

»Aber, wertester Schatz, es ist deiner Mama ganz gleichgültig, wie oft wir bei Gredings sind.«

»Ich glaube nicht, daß sich der Besuch umgehen läßt,« sprach Christine zögernd.

»Es sind noch Vorbereitungen zur Vorstellung zu treffen,« entgegnete Andrea, »Unterhandlungen mit der Schneiderin, Anproben und Proben zu halten, Besuche bei Sodens, Doktor Moosbachs u. s. w. zu machen.«

»Vielleicht bitten wir Elisabeth, nach dem Schlosse zu kommen.«

»Nicht vonnöten! Wir werden kaum drei Stunden hintereinander zu Hause sein. Rosa hat ungefähr auch andere Ansichten über Toilette, wertester Schatz, als Heinemännchen. Schließlich laden wir sie ein, Wilhelmine und Rosa meine ich, verschiedenes Geld auszugeben, sich für Entree in Teterow sehen zu lassen, und Elisabeth setzt sich hin – denke an die Beratungen bei Frau Doktor Moosbach – und hält ihnen eine Standpauke, wie verwerflich es sei, daß wir uns amüsieren, weil in Hochwitz der Blitz eingeschlagen hat.«

»Ich glaubte, du wärest ungeheuer für Elisabeth eingenommen.«

»Ein Schulmeister bleibt sie deshalb doch.«

Früher war es Andrea ganz gleichgültig, wie über sie gesprochen wurde. Aber sie war feinfühliger geworden; sie wußte jetzt, daß sie Fehler hatte, die zu rügen waren. Mit der Zeit wollte sie alles Tadelnswerte ablegen. Deshalb aber brauchten die kleinen Ungehörigkeiten, die sie begangen hatte, auch nicht unnötig hervorgekramt zu werden.

Wilhelmine und Rosa würden sie bei Elisabeth verklatschen. Und sie stand ohnehin, durch eigene Schuld, nicht im besten Lichte bei Gredings. Elisabeth verlor an den beiden Stadtprisen auch nichts. Rosa würde sich vielleicht über Elisabeth lustig machen, und Andrea würde darauf eingehen und sich hinterher ärgern. Und das Schulmeistern direkt oder indirekt ließ Elisabeth nicht. Andrea wollte sich aber während des Besuches nur amüsieren. Nachher nahm sie es mit ihrer Besserung desto ernsthafter. –

Olga und Grete saßen, angekleidet mit ihren »Cremeweißen«, in der Veranda und tranken Schokolade. Schulzens Adolf tafelte ein Endchen von seinen Genossinnen entfernt, denn die jungen Herrschaften waren muff miteinander. Drinnen in der guten Stube tagte die Schokoladenfete.

»Wie weut,« sagte Madam Pieseke zu der armen jungen Förstersfrau aus Hochwitz, »sind Sie denn jitzt schon mit dem Bau, Frau Förschtern?«

»Excellenz sagen, Madam Pieseke, daß wir zum Winter einziehen können. Aber ich weiß nicht, wie das werden soll. Es ist noch alles so weit zurück.«

»Unsere gnädige Excellenz von Lauenstein sind aber ein sehr gedüügener Herr, Frau Förschtern, und wenn die gnädige Excellenz sogen zum Winter, so meunen die gnädige Excellenz auch zum Winter. Sodann sind aber der gnädige Herr von Lauenstein Freimäurer; Frau Förschtern.«

»Das hat damit doch gar nichts zu thun, Madam Pieseke. Die Freimaurerei ist ungefähr ein Orden, ich glaube zum gegenseitigen Verbessern.«

»So eine Art gebildete Besserungsanstalt muß es wohl sein,« mischte sich Tante Heinemann resolut in das Gespräch, »Greding und Lisabeth sprachen neulich auch davon. Aber was mich nicht brennt, das blas' ich nicht, liebe Pieseken. Sie wollen kein Freimaurer werden und ich auch nicht.«

»Damen werden überhaupt nicht aufgenommen,« sagte die Frau Kantor gemessen. Zwischen ihr und Tante Pieseke hatte eine bedrohliche Gereiztheit Platz gegriffen. »Haben Sie denn den Schreck vom Brande schon ein bißchen verwunden, Frau Förster?«

»Das verwindet man nie, Frau Kantor. Ich habe immer das Gefühl, als hätte ich zehn Centner Blei in den Gliedern mit herumzuschleppen. Ich habe alle Nacht Fieber.«

»Was sogt denn der Duktor deswegen?« fragte Madam Pieseke.

»Ich habe noch keinen Arzt befragt. Unsere Excellenz kuriert, glaube ich, mit Herrn Doktor Moosbach aus Teterow.«

»Unsere Gnädige korirt auch damit. Kennen Sie den Herrn Duktor Muusboch, Frau Förschtern? Der Herr Duktor Muusboch ist ein ältlicher Mann; aber er ist ein scheener ältlicher Mann.«

»Auf die Schönheit kommt es dabei nicht an,« versetzte die Frau Kantor, »sondern auf die Gediegenheit. Gediegenheit ist bei allen Dingen die Hauptsache.«

»Das versteht sich,« sagte Tante Pieseke mit Nachdruck.

»Apropos,« wandte sich die Nichte langsam herum, »Tante, ich möchte dich nicht weiter inkommodieren wegen der Milch.«

»Das ist sehr vernünftig von dir; aber du hittest das Inkommodieren nicht erscht anfangen sullen.«

»Ich begreife nicht, weshalb du gleich beleidigt bist, Tante; du kannst doch nichts dafür, wenn Herr Consentius so schlechtes Futter giebt.«

»Herr Cunsentius giebt sehr gutes Futter, oder vielmehr der Herr Amtmann giebt das Futter. Aber du verstehst nichts vun der Milch. Die Milch ist gut.«

»Und ich sage, die Milch ist schlecht.«

»Und ich soge, die Milch ist gut.«

»Frau Kantor,« sagte Tante Heinemann entrüstet, »es kann in Schorndorf überhaupt nicht vorkommen unter Gredings Regiment, daß etwas schlecht ist.«

»Wenn zwei über einen herfallen …« machte Frau Kantor mit Achselzucken.

In dem Augenblicke öffnete sich die Thür und Olga und Grete traten ein.

Die Verfassung, in welcher sich die beiden Damen befanden, war eine so merkwürdige, daß Tante Heinemann wie von einer Tarantel gestochen in die Höhe fuhr. Olgchen und Grete waren barfuß, schmutzig und naß bis über das Knie, denn die hübschen Füßchen kamen schnurstracks aus dem Morast des Dorfpfuhls, wo die kleinen Unholde Frösche gefangen hatten. Die Ausbeute der Jagd zappelte in den emporgehobenen Cremeweißen, die jetzt aber schwärzlich gemustert erschienen.

Und jetzt pabbs! lag die ganze Gesellschaft auf der Erde. Sieben Padden, sieben schöne gelbe Padden! Drei davon wollten die beiden Fräulein Bartels gebraten haben, die übrigen vier sollten in ein Kästchen gesperrt werden. Man konnte sie dann beispielsweise vor einen ganz kleinen Wagen spannen, oder sie wurden in ein Glas gesteckt und kletterten die Leiter empor, wenn es schönes Wetter war.

Die Frau Kantor war schreiend auf das Sofa gesprungen, zu Tante Heinemanns Ärger, die für den Überzug Unheil fürchtete.

»Grrrete!« machte Olgchen.

»Was denn?«

»Grete, passe einmal auf auf meine Frösche, daß sie keinen Schaden nehmen. Ich will doch mit dem Adolf erst lieber die Milch holen gehen.«

»Für mich braucht ihr keine Milch mehr zu bringen!« schrie die Frau Kantor von ihrem Retiro herab.

Das Bäßlein starrte sie wortlos an und grinste.

»Schauderhafte, ungezogene Kinder!« zeterte die Frau Kantor weiter. »Was lachst du denn immerfort so naseweis?«

»Als ich ein Kind war,« sprach Tante Heinemann unwillig, »habe ich auch Frösche gefangen und Sie werden es ja wohl ebenso gemacht haben, Frau Kantor. Ich weiß also nicht, was Ungezogenes daran sein soll. Lachen dürfen die Kinder. – Aber das Pack kommt wieder in den Pfuhl. Marsch jetzt, die Füße waschen und Schuh' und Strümpfe anziehen!«

»Meine Tante Heinemann,« sagte Olgchen zärtlich, »ich weiß auch, weshalb die Frau Kantor keine Milch mehr haben will – sie ärgert sich bloß, daß wir ihr immer die Milch ausgetrunken haben mit dem Schulzen Adolf, meine Tante Heinemann. Ganz halb ausgetrunken, ganz halb ausgetrunken. Und dann haben wir Wasser dazwischen gepumpt. Und ich werde es auch meiner Mama schreiben, daß du doch der Schönster bist, meine gute, goldene Tante Heinemann.«


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