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Am 14. Januar 1815, gegen fünf Uhr abends, ließ ein Priester, dem eine alte Frau, die ihm als Führer zu dienen schien, voranschritt, die Spuren seiner Tritte in dem Schnee zurück, welcher sich von dem Dorfe Wimille nach dem zwischen Boulogne-sur-Mer und Calais gelegenen kleinen Hafen Ambleteuse erstreckte, in welchem Jakob der Zweite, nachdem er aus England verjagt worden, im Jahre 1688 landete. Der Priester ging mit raschem Schritte und verriet dadurch, daß man ihn mit Ungeduld erwartete. Er hüllte sich dabei dicht in seinen Mantel, um sich gegen den kalten, scharfen Wind zu schützen, der von der englischen Küste herüberwehte. Die Flut war eben im Steigen begriffen und man hörte das Brüllen der Meereswogen, gemischt mit dem trockenen Geräusch des Gerölles, welches vom Wasser am Strande hin- und hergeworfen wurde. Nachdem man ungefähr eine halbe Wegstunde auf der durch eine Doppelreihe kränklicher, entlaubter Ulmen angedeuteten Straße zurückgelegt, schlug die alte Frau rechts vom Wege einen unter dem Schnee kaum sichtbaren Fußsteig ein, welcher nach einer kleinen Hütte führte, die auf der Mitte eines die Landschaft beherrschenden Hügelabhanges stand. Ein leuchtender Punkt, der wahrscheinlich durch eine durch die Fensterscheiben hindurch sichtbare Kerze oder eine Lampe verursacht ward, war das einzige, was das Vorhandensein dieser Hütte verriet, die sonst in dem Abenddunkel vollständig unsichtbar gewesen wäre. Zehn Minuten genügten, um die beiden Wanderer an die Schwelle der Tür gelangen zu lassen. Die alte Frau streckte eben die Hand nach dieser Tür aus, als dieselbe sich von selbst öffnete und eine jugendliche Stimme mit einem leichten Anflug von englischem Akzent sagte:
»Kommen Sie, Herr Abbé. Meine Mutter erwartet Sie mit Ungeduld.« – Die alte Frau trat auf die Seite, um den Priester vorangehen zu lassen, hinter welchem sie ebenfalls in die Hütte trat. Das junge Mädchen schloß die Tür wieder und zeigte in dem zweiten Zimmer, dem einzigen erleuchteten, auf eine Frau, welche sich mit Mühe im Bette emporrichtete. »Ist er da?« fragte die Kranke mit matter Stimme und auf englisch. – »Ja, Mama,« antwortete das junge Mädchen in derselben Sprache. – »O, dann möge er hereinkommen!« rief die Kranke auf französisch. Mit diesen Worten sank sie wieder auf ihr Bett zurück. – Der Priester trat in das zweite Zimmer und näherte sich dem Bette. Das junge Mädchen und die alte Frau blieben in dem ersten Gemach.
Die Kranke schien durch die Anstrengung, die sie soeben gemacht, ganz erschöpft zu sein und zeigte, ohne den Kopf vom Pfühl zu erheben, mit matter Hand auf einen Sessel, indem sie dem Geistlichen durch diese Gebärde zu verstehen gab, daß er sich dem Bette nähern und Platz nehmen solle. Der Priester verstand diese Gebärde, näherte sich dem zu Häupten des Bettes stehenden Sessel und setzte sich. Es trat ein Augenblick des Schweigens ein, während dessen man weiter nichts hörte als den gepreßten Atemzug der Sterbenden und das Schluchzen, welches das junge Mädchen vergebens zu unterdrücken versuchte. Während dieser Minute des Wartens hatte der Priester Zeit, einen Blick um sich zu werfen. Das Innere des Gemaches bot ein eigentümliches Gemisch von Luxus und Elend dar. Die Möbel und Wände waren allerdings die einer ärmlichen Hütte, die Bettwäsche der Kranken aber war von der feinsten holländischen Leinwand. Das Negligé, in welches sie sich gehüllt, war von prachtvollem Batist und das Tuch, welches, unter ihrem Halse zusammengeknüpft, einen Wald von herrlichem kastanienbraunem Haar zusammenhielt, war mit jenen kostbaren Spitzen eingefaßt, welchen England den Namen gegeben hat. Dem Bette gegenüber und nur durch das Fenster getrennt, welches durch einen elenden Kattunvorhang verhüllt war, machten sich durch den Glanz ihres Kolorits zwei Bildnisse bemerkbar, die augenscheinlich ihr Dasein dem Pinsel eines großen modernen Meisters verdankten.
Sie stellten das eine eine Frau, das andere einen Mann vor, beide schienen eines des andern Seitenstück zu sein, und waren von Lebensgröße. Das Bildnis des Mannes stellte einen höheren Offizier der englischen Marine vor. Seine blaue Uniform trug auf der linken Seite unter dem Bath-Orden, der in England so hoch geschätzt und nur für geleistete sehr wichtige Dienste verliehen wird, noch drei andere Orden, in welchen ein in diesen Dingen bewanderter Kenner den Orden des heiligen Ferdinand und des Verdienstes, den Orden des heiligen Joachim von Malta, welchen Paul der Erste von Rußland gestiftet und der mit ihm starb, und drittens endlich den ottomanischen Halbmond erkannt haben würde, der in seiner Sichel den Namenszug des Sultan Selim des Dritten in Diamanten trug. Ganz besonders auffallend aber ward dieses Bildnis durch die ruhmreiche Verstümmelung gemacht, deren Opfer das Original gewesen sein mußte. Eine breite Narbe durchfurchte nämlich die Stirn, unter welcher sich eine schwarze Binde hinzog, die ein verlorenes Auge verdeckte, während der an einem Knopf der Uniform befestigte rechte Ärmel der Uniform verriet, daß der Arm oberhalb des Ellbogens amputiert worden war. Der Mann, welchen dieses Bild vorstellte, war von Wuchs eher klein als groß. Er hatte blondes Haar. Das ihm noch gebliebene Auge schien geniale Blitze zu schießen und die Adlernase verriet ebenso wie das kräftig geformte Kinn Willenskraft und Mut, die charakteristischen Eigenschaften eines Kriegshelden. Die Frau dagegen war das vollkommene Urbild der Anmut und Schönheit. Ihr jeden Schmuck entbehrendes kastanienbraunes Haar fiel in üppigen Locken auf ihren Hals und ihre Brust herab. Sie hatte schwarze Augen und schwarze Wimpern. Ihre Gesichtsfarbe war frisch und zart, die Nase gut geformt, der Mund klein wie der eines Kindes und ließ, halbgeöffnet wie eine Rose an einem Frühlingsmorgen, zwei Perlenreihen sehen oder vielmehr erraten. Sie trug eine Kaschmirtunika von griechischem Schnitt und einen über die rechte Schulter geworfenen Purpurmantel. Ihr Leib ward von einem breiten, mit Gold gestickten Gürtel von kirschrotem Samt umschlossen, dessen Agraffe aus einer Kamee bestand, die das von der Seite gesehene Haupt eines Greises darstellte. Dieses prachtvolle Bildnis war augenscheinlich das der Kranken, in deren Zügen man jetzt noch, trotz ihrer fünfzig Jahre und der Verheerungen einer grausamen Krankheit, Überreste einer außerordentlichen Schönheit erkennen konnte, welche der Maler auf die Leinwand festgebannt.
Während der Priester diese sozusagen unwillkürliche Beaugenscheinigung vornahm, öffnete die Kranke wieder langsam die Augen und heftete sie mit dem Ausdrucke der Unruhe auf ihn. Es war, als suchte sie in dem Gesichte des Mannes, den sie hatte rufen lassen, um ihn zum Vermittler ihrer Versöhnung mit Gott zu machen, was sie wohl von der himmlischen Barmherzigkeit zu fürchten und zu hoffen habe. Der Priester war ein Mann von fünfundsechzig Jahren, mit einem sanften, ruhig heiteren, von spärlichem, dünnem weißen Haar beschatteten Gesicht. Man las in seinen Zügen die Einfalt seiner Seele und erkannte in seinem Blick einen Funken jener unaussprechlichen Liebe, welche Leonardo da Vinci in die Augen des Heilands gelegt hat. Die Kranke schien durch den Anblick des Priesters wieder ein wenig beruhigt zu werden. »Mein Vater,« sagte sie, »ich habe in allen heiligen Büchern gelesen, daß Gottes Barmherzigkeit unendlich ist; ich habe Sie aber holen lassen, um diese Worte nochmals aus dem Munde eines Dieners dieses Gottes selbst zu hören. Meine Sünden, meine Fehler, ja meine Verbrechen,« setzte sie, die Stimme senkend, hinzu, »sind so groß, daß, wenn ich nicht in Verzweiflung sterben soll, ich nicht weniger als des Wortes eines heiligen Mannes wie Sie bedarf.« – Der Priester betrachtete erstaunt diese Frau mit der sanften Stimme, dem offenen Gesichtsausdrucke und dem Auge, welchem selbst das Fieber, welches sie verzehrte, seinen engelgleichen Ausdruck nicht rauben konnte und die gleichwohl sagte, sie sei eine Verbrecherin. »Meine Tochter,« antwortete er, »die Todesangst verwirrt Ihre Sinne. Das Weib ist allerdings ein schwaches Geschöpf und durch ihre Stellung in der Gesellschaft der Gefahr ausgesetzt, Sünden und Fehler zu begehen; wenn ich aber recht verstanden habe, so klagen Sie sich an, nicht bloß Sünden und Fehltritte, sondern geradezu Verbrechen begangen zu haben.« – »Ja, Verbrechen, mein Vater, Verbrechen! O, ich weiß wohl, daß ein Held mich seine Geliebte und eine Königin mich ihre Freundin nannten, ich weiß wohl, daß in dem Enthusiasmus meiner Jugend, in dem Strudel meines Glücks ich meine Handlungen nicht so beurteilte. Seitdem aber er tot ist, seitdem sie tot ist, seitdem ich in Not und Elend geraten bin, und seitdem die Not, diese Rache des Himmels, mich zum Zweifel geführt hat – seit dieser Zeit sehe ich mich so wie ich bin, mein Vater, das heißt mit einem durch die Schwelgerei befleckten Körper und mit von Blut geröteten Händen.« – »Meine Tochter, die Barmherzigkeit des Herrn ist unendlich,« hob der Priester wieder an, »und Jesus verzieh im Namen seines Vaters der reuigen Magdalena ebenso wie der Ehebrecherin.«
Die Kranke streckte die Hand aus, legte dieselbe auf den Arm des Priesters, richtete sich empor, um sich ihm zu nähern, und fragte: »Würde er auch der Herodias verziehen haben?« – Beinahe mit Entsetzen bog der Priester sich zurück. »Wer sind Sie denn?« fragte er. – »Ja, in der Tat, Sie haben recht, mein Vater,« antwortete die Kranke, – »wenn ich Ihnen meinen Namen sage, so sage ich Ihnen damit alles. O entfernen Sie sich nicht von mir, wenn ich es Ihnen gesagt haben werde«,« setzte sie hinzu. – »Meine Tochter,« sagte der Priester, »selbst einen Vatermörder würde ich trösten und bis aufs Blutgerüst begleiten.« – »O, das Blutgerüst, das ist die Sühne!« rief die Kranke. »Wenn ich anstatt in meinem Bett auf dem Blutgerüst stürbe, dann würde ich nicht zweifeln.« – »Haben Sie denn einen Mord begangen?« fragte der Priester schaudernd. – »Nein, mein Vater, aber ich habe einen Mord begehen lassen.« – »Waren Sie sich dabei des Verbrechens bewußt, welches Sie begingen?« – »O nein, nein, ich glaubte dem König, ich glaubte Gott zu dienen; ich diente aber bloß meiner Rache. Wie wollen Sie, daß Gott mir verzeihe, mir, die ich nicht verziehen habe?« – Der Priester sah sie an. »Sie sind Engländerin?« fragte er dann. – »Ja, mein Vater,« antwortete die Kranke. – »Und Protestantin?« – »Ja.« – »Warum haben Sie aber dann nicht einen Geistlichen von Ihrer Religion holen lassen? Es gibt einen in Boulogne.« – »Ich weiß es.« – Die Kranke schüttelte den Kopf und stieß einen Seufzer aus. – »Nun und?« fragte der Priester wieder. – »Unsere Geistlichen sind zu streng, mein Vater. Unsere Religion ist zu schroff. Ich habe es nicht gewagt.« – »Es ist das ein großes Lob, welches Sie der unsrigen zollen, meine Tochter, da Sie aber diese Meinung von unserer Religion haben, warum haben Sie dann nicht schon längst im Schoße derselben Zuflucht gesucht?« – »Wenn sie mich nun zurückgewiesen hätte, mein Vater?« – »Unsere Religion weist niemanden zurück, meine Tochter. Sagte Jesus nicht zu dem guten Schächer: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, noch heute sollst du bei mir im Paradiese sein?« – »Der gute Schächer hing aber am Kreuze. Er starb mit dem Heiland.« – »Wer in ihm stirbt, der stirbt auch mit ihm und die Reue ist besser als das Kreuz. Bereuen Sie, meine Tochter?« – »O,« sagte die Kranke, indem sie beide Hände gen Himmel hob, »o, ich bereue aufrichtig und inbrünstig, das schwöre ich Ihnen.« – »Bereuen Sie bloß aus Furcht vor dem Tode?« – »O nein, mein Vater; ich bereue, weil mir, wie dem heiligen Paulus auf dem Wege nach Damaskus, die Schuppen von den Augen gefallen sind, und weil ich mich so sehe, wie ich bin.« – »Wohlan, Sie wissen, daß Gott dem heiligen Paulus nicht bloß verzieh, sondern auch einen seiner Apostel aus ihm machte. Dennoch hatte der heilige Paulus die Mäntel derer gehalten, welche den heiligen Märtyrer Stephan steinigten.« – »Wie gut sind Sie, mein Vater, daß Sie mich auf diese Weise ermutigen und trösten.« – »Das ist meine Pflicht, meine Tochter. Wenn ein Schaf trotz der Warnungen des Hundes sich eigenwillig von der Herde entfernt, dann nimmt der gute Hirt es auf seine Schultern und trägt es zurück in die Hürde. Wie weit mehr Grund hat er aber, es mit Freuden aufzunehmen, wenn es von selbst zurückkehrt. Sprechen Sie, erzählen Sie mir Ihre Fehltritte. Ich bin bereit, dieselben zu hören, und wenn dieselben die einem armen Priester erteilte Vollmacht nicht überschreiten, so werde ich sie Ihnen im Namen Gottes verzeihen.« – »Eine solche Erzählung würde lang und nutzlos sein. Mein Name wird genügen. Wenn Sie meinen Namen hören, so werden Sie alles wissen.« – Der Priester sah sie abermals mit Überraschung an. »Nun, dann nennen Sie mir Ihren Namen,« sagte er.
Die Sterbende neigte sich zu ihm und murmelte mit zitternder, kaum vernehmlicher Stimme die zwei Worte: »Lady Hamilton.« – »Dieser Name sagt mir nichts, meine Tochter,« antwortete der Priester, »ich kenne denselben nicht, sondern höre ihn jetzt zum erstenmal.« – »O, mein Gott,« rief die Kranke fast mit dem Ausdruck der Freude, »dann gibt es also einen Menschen, der mich nicht kennt! Es gibt also einen Mund, der mir nicht geflucht hat?« Und sie sank, ein Dankgebet zu Gott murmelnd, auf ihrem Bett zurück. Plötzlich aber zuckte ein Ausdruck der Angst und des Schreckens über ihr Gesicht. »O dann,« sagte sie, »bin ich aber verloren, mein Vater, denn ich werde weder Kraft noch Zeit genug haben, Ihnen alles zu erzählen, und wenn ich Ihnen nicht die nagenden Folterqualen der Armut, die fieberhaften Verlockungen des Goldes, die unwiderstehlichen Vorspiegelungen der Leidenschaft schildern kann, wenn Sie von meinem Leben bloß die Fehler, aber nicht die Versuchungen kennen, dann werden Sie mir niemals verzeihen. O, wenn Sie lesen könnten –.«
»Was denn?« – »Meine Lebensgeschichte, die ich selbst als eine erste Sühne in allen ihren Einzelheiten niedergeschrieben, besonders damit sie später meiner Tochter zur Warnung dienen und sie abhalten möge, den Weg zu betreten, den ich gewandelt, und in die Fehler zu verfallen, in welche ich gefallen bin.« – »Und warum sollte ich diese von Ihnen geschriebene Lebensgeschichte nicht lesen?« – »O, mit dem Blute meines Herzens ist sie geschrieben, das schwöre ich Ihnen.« – »Warum sollte ich sie nicht lesen, frage ich.« – »Weil ich Engländerin bin und diese Geschichte daher in englischer Sprache niedergeschrieben habe.« – »Ich habe fünf Jahre, von 1790 bis 1795, in England gelebt und spreche das Englische wie meine Muttersprache.« – »O, mein Vater, mein Vater!« rief die Sterbende, indem sie die Hand des Priesters ergriff. »Sie hat fürwahr Gott mir gesendet und ich beginne an seine Verzeihung zu glauben. Hier, mein Vater,« setzte sie mit fieberhafter Hast hinzu, indem sie dem Priester einen Schlüssel gab, den sie an dem Zipfel ihres Taschentuchs angebunden und unter ihrem Kopfkissen versteckt gehalten; »nehmen Sie diesen Schlüssel, öffnen Sie das Schubfach dieser Toilette und Sie werden darin ein Manuskript mit dem Titel »My Life« finden. Nehmen Sie dieses, lesen Sie es und wenn Sie mir Verzeihung bringen, so kommen Sie so schnell als möglich wieder. Bin ich dagegen auf ewig verdammt, so schicken Sie mir bloß das Manuskript zurück. Ich werde dann wissen, was das heißt.«
Der Priester erhob sich, öffnete das Schubfach und nahm aus demselben das bezeichnete Manuskript. »Meine Tochter,« sagte er, »diese Lektüre muß einen Teil der Pflichten meines Berufes ausmachen. Sie werden mich daher erst morgen zu derselben Stunde wiedersehen.« – »Gott wird so gnädig sein, mich bis dahin leben zu lassen,« sagte die Kranke, »besonders –,« Sie zögerte. – Der Priester sah sie an. Sein Blick war eine Ermutigung. – »Besonders,« hob sie wieder an, »wenn Sie mich segnen.« – »Ich segne Sie, arme Frau!« sagte der Priester, »und möge Gott Sie segnen, wie ich es tue.« – Als er in das erste Zimmer zurückkam, sah er hier das junge Mädchen und die alte Frau auf den Knien liegen. – »Gott behüte Sie, mein Kind; leben Sie wohl,« sagte er zu dem jungen Mädchen, indem er seine rechte Hand auf das Haupt desselben legte. Die alte Frau ergriff seine linke Hand und küßte sie. Der Priester verließ das Haus. Die Kranke folgte, so lange sie ihn sehen konnte, ihm, die Arme nach ihm ausbreitend, mit den Augen. Das junge Mädchen zeigte sich auf der Schwelle des Zimmers. »Wie fühlst du dich jetzt, Mama?« fragte es. – »O, besser, besser, meine Horatia. Noch ein Besuch wie der, den dieser Mann mir soeben gemacht, und er wird meine Vergangenheit mit sich hinweggenommen haben.«
* * *
Am nächsten Tage zu derselben Stunde kam der Priester wieder. Dicht hinter ihm folgten zwei Chorknaben, von welchen der eine den Weihkessel, der andere das Kreuz trug. Die Kranke war ruhiger, aber auch noch schwächer als am Abend vorher. Es war klar, daß nur der Glaube und die Hoffnung, diese beiden Töchter des Himmels, sie noch aufrecht hielten. Der Priester näherte sich mit von Menschenliebe und Mitleid strahlendem Antlitze dem Bette. Das junge Mädchen und die alte Frau, diese beiden Wesen, welche zwei zu beiden Seiten der Pforte des Lebens stehende Bildsäulen zu sein schienen, um die Jugend und das hinfällige Alter zu repräsentieren, richteten die Kranke auf ihrem Pfühl empor. Zwei Schritte von ihr blieb der Priester stehen. Sie wartete mit gefalteten Händen und die Augen gen Himmel richtend. »Glauben Sie an die sieben Sakramente?« fragte er. – »Ja, ich glaube daran,« antwortete sie. – »Glauben Sie an die wirkliche Gegenwart des Heilands im heiligen Abendmahle?« – »Ja, ich glaube daran.« – »Glauben Sie an die oberste Gewalt des römischen Papstes und an seine Unfehlbarkeit in Glaubenssachen?« – »Ja, ich glaube daran.« – »Glauben Sie an die römischen Symbole und mit einem Worte an alles, was die römische, apostolische und allgemeine Kirche glaubt?« – »Ja, ich glaube daran.« – Der Priester schöpfte mit der hohlen Hand ein wenig Wasser aus dem Weihkessel, ließ es auf das Haupt der Sterbenden träufeln und sagte: »Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Möge das Wasser der Taufe deine Fehltritte, deine Sünden und selbst deine Verbrechen hinwegnehmen!« Die Sterbende stieß einen Freudenruf aus, ergriff die von der Berührung mit dem geweihten Wasser noch nasse Hand des Priesters, drückte sie begierig an ihre Lippen und küßte sie. Dann rief sie mit überwallendem Gefühle der Erhebung: »Mein Gott, nimm meine Seele auf zu Dir!« – Und sie sank auf das Kopfkissen zurück. Ihr Gesicht hatte einen solchen Ausdruck von heiterer Ruhe gewonnen, daß die alte Frau und das junge Mädchen glaubten, sie schliefe, und nur der Priester verstand, daß bloß der Tod diese himmlische Ruhe geben konnte. Sie war wirklich tot. Wie sie am Abende zuvor gesagt, hatte der Priester bei seinem zweiten Besuche die Vergangenheit mit sich fortgenommen und das Wasser der Taufe hatte, indem es von ihrer Stirn bis zur Seele drang, alles, Schmutz und Blut, hinweggewaschen.
* * *
Wir lassen nun folgen, was der Priester in dem »Meine Lebensgeschichte« betitelten Manuskripte gelesen.
In der Hoffnung, daß Gott meiner Reue und meiner Demut verzeihen wird, schreibe ich die folgenden Seiten.
1. Jänner 1814.
Emma Lyonna, verw. Hamilton.
Meine ersten Erinnerungen gehen bis zum Jahre 1767 zurück. Ich zählte damals drei oder vier Jahre. Die genaue Zeit meiner Geburt habe ich niemals gekannt. Ich sehe mich bloß gleichsam durch einen Nebel hindurch mit meiner Mutter eine große Straße mitten durch ein Gebirge wandern. Bald trug sie mich auf ihrem Rücken, bald ging ich neben ihr her und hielt mich an ihre Hand oder an ihr Kleid. Von Zeit zu Zeit ward der Weg von Bächen durchschnitten. Dann nahm mich meine Mutter auf die Arme, durchwatete den Bach und setzte mich am andern Ufer wieder auf den Boden nieder. Es mußte während des Winters oder wenigstens gegen Ende des Herbstes sein. Ich empfand fortwährend Kälte und zuweilen Hunger. Wenn wir durch eine Stadt oder ein Dorf kamen, blieb meine Mutter vor dem Laden eines Bäckers stehen und bettelte mit flehender Stimme um ein Stück Brot, welches man ihr auch fast allemal gab. Während der Nacht blieben wir selten in den Städten oder in den Dörfern, sondern vielmehr in einem alleinstehenden Gehöft. Hier bat meine Mutter, daß man ihr erlauben möge, in der Scheune oder in dem Stalle zu schlafen. Die Nächte, wo man uns erlaubte, in dem Stalle zu schlafen, waren meine Festnächte. Ich wurde dann warm, und fast allemal, ehe wir uns wieder auf den Weg machten, gab mir am Morgen die Pächterin oder die Magd, welche die Kühe zu melken kam, eine Tasse laue Milch, die für mich um so größere Delikatesse ausmachte, als ich nicht daran gewöhnt war. Nach der Entfernung, die wir zurücklegten und angenommen, daß wir täglich vier bis fünf Meilen machten, dauerte unsere Reise beinahe eine Woche. Endlich langten wir in der Stadt Hawarden an, welche das Ziel unserer Wanderung war.
Mein Vater, der John Lyons hieß, war gestorben, und meine Mutter hatte die Stadt, wo sie ihn verloren, verlassen, um ihre in Hawarden wohnende Familie um einige Unterstützung zu meiner Erziehung und ihrem eigenen Unterhalt zu bitten. Hier breitet sich abermals eine Dunkelheit von einigen Monaten über mein Gedächtnis, und ich finde mich, eine kleine Herde Schafe hütend, in einer Meierei wieder, wo meine Mutter als Magd beschäftigt war. Im Verhältnis zu der Vergangenheit fühlte ich mich jetzt glücklich. Der Frühling war gekommen, und mit ihm die Wärme und das Grün. Der Abhang des Hügels, auf welchen ich meine kleine Herde zur Weide trieb, war ein ungeheurer Thymian- und Heidekrautteppich, welchen meine Schafe lustig abweideten und worauf ich mir Blumenkränze wand. Abends trieb ich meine Herde in das Gehöft zurück und schlief mit in der Hürde. Ein Korb, welcher Brod, ein wenig Butter oder Käse, zuweilen auch ein hartgekochtes Ei enthielt, genügte zur Befriedigung meiner Bedürfnisse für den ganzen Tag. Mein Hund teilte mein Brod und schien mit dieser Kost ebenso zufrieden zu sein wie ich. Wenn wir gefrühstückt und zu Mittag gegessen hatten, löschten wir unseren Durst an einer benachbarten durchsichtigen Quelle, welche ein krystallenes Becken füllte, ehe sie sich weiter ergoß, und wie ein Silberfaden den Abhang des Hügels hinabströmte. So vergingen drei oder vier Jahre, ohne daß ein Ereignis die süße Eintönigkeit dieses Lebens unterbrochen und eine Spur in meinem Gedächtnis zurückgelassen hätte.
Eines Tages, als ich wie gewöhnlich mich über die Quelle neigend trank, nachdem ich mir einen Kranz von Heiderosen und Gänseblümchen aufgesetzt, hielt ich zum erstenmal in dem Augenblicke, wo meine Lippen das Wasser berühren wollten, inne. Ich gewahrte, daß ich hübsch war. Indes ich drücke mich nicht richtig aus, wenn ich sage, ich hätte gesehen, daß ich hübsch war. Ich wußte ja nicht, was hübsch sein hieß. Ich hatte mich noch nie einem Spiegel gegenüber befunden, in welchem ich mich hätte sehen können. Das Gesicht aber, welches das Wasserbecken zurückwarf, gefiel mir; ich lächelte es an, und näherte meine Lippen dem Wasser, weniger um zu trinken, als vielmehr um ihm einen Kuß zu geben. Von diesem Augenblicke an machte ich aus dem Rande der Quelle mein Toilettekabinett und flocht hier meine Blumenkränze und probierte dieselben auch, bis ich zufrieden mit mir war – eine Zufriedenheit, welche ich dadurch kundgab, daß ich mein eigenes Konterfei küßte.
Eines Tages wäre diese Zärtlichkeit, die ich für mich selbst hegte, mir beinahe verderblich geworden. Meine Hände glitten auf dem Rasen aus, ich fiel in die Quelle, und ohne meinen Hund, der mich an meinen Kleidern festhielt, wäre ich ertrunken. Ich hatte von dem, was gut, und von dem, was schlimm ist, so wenig Begriff, daß ich, um meine Kleider zu trocknen, mich ganz nackt auszog und mich, um mich selbst zu trocknen, danebenlegte.
In diesem Augenblick hörte ich mich rufen. Ich sprang auf und sah meine Mutter, die mich suchte. Ich lief auf sie zu. Sie schalt mich tüchtig aus, ohne daß ich den Grund ihres Scheltens recht begriff. In unserer Existenz war übrigens seit kurzem eine Verbesserung eingetreten. Meine Mutter hatte von dem Lord Halifax eine kleine Summe erhalten, die teils für sie selbst, teils für mich bestimmt war. Die mir zugeteilte Summe sollte zur Bestreitung der Kosten für meine Erziehung dienen. Ich habe niemals recht den Grund dieser Freigebigkeit von seiten des Lord Halifax verstanden und meine Mutter wollte mir auch keine nähere Auskunft darüber geben. Auf dem Pachthofe ging bloß das Gerücht, daß in meinen Adern wohl ein edleres Blut ränne als das des armen John Lyons. Gott bewahre mich davor, daß ich meine Mutter beschuldigen sollte. Wenn dem aber so gewesen wäre, wie das Gerücht erzählte, so würde ich darin die Erklärung jener unklaren Wünsche und jenes unaufhörlichen Strebens nach einem Range finden, den ich erreicht habe, für welchen ich aber sicherlich nicht bestimmt war.
Meine Mutter hatte mir mitgeteilt, daß ich von dem nächstfolgenden Tage an aufhören würde meine Schafe zu hüten. Ich sollte in ein Pensionat für junge Mädchen kommen, die ich zuweilen Donnerstag oder Sonnabend in der Nähe des Pachthofes spazieren gehen sah.
Mein erstes Wort war: »Mama, bekomme ich dann auch einen schönen Strohhut und ein schönes blaues Kleid wie jene Mädchen?« – »Jawohl,« antwortete meine Mutter. »Dies ist die gemeinsame Kleidung aller Schülerinnen dieser Anstalt.« Ich hüpfte vor Freuden. Ich glaubte, ich müßte mich sehr gut in solchen Kleidern ausnehmen, deren Besitz ich mir niemals zu träumen gewagt. Ich küßte meine Schafe eines nach dem andern und überließ sie dann einem jungen Hirten, der mein Nachfolger sein sollte. Den längsten Abschied nahm ich von meinem Hund. Das arme Tier, welches mir vor kaum einer Stunde das Leben gerettet, hing mit ungemeiner Liebe und Treue an mir. Ich liebkoste den armen Black einmal über das andere und konnte mich kaum von ihm trennen, um meiner Mutter zu folgen. Das treue Tier hätte die schönste Lust gehabt, mir nachzulaufen. Es schien zwischen seiner Liebe und seiner Pflicht zu schwanken, die Pflicht trug jedoch den Sieg davon. Black begleitete mich bis an eine Stelle, wo er, ohne seine kleine Herde aus dem Gesicht zu verlieren, mir mit den Augen folgen konnte. Er setzte sich auf einen Felsen, hielt den Kopf nach mir gewendet, schickte mir von Zeit zu Zeit ein klagendes Gebell nach und blieb unbeweglich und winselnd an derselben Stelle sitzen, bis ich hinter einem Hügelvorsprung für ihn verschwand. Obschon ich ihn aber nicht mehr sehen konnte, hörte ich ihn doch immer noch heulen und winseln.
Noch denselben Tag brachte mich meine Mutter in die Stadt, von welcher der Pachthof ungefähr eine halbe Stunde entfernt war. Sie wollte hier das erste Quartal meiner Pension bezahlen und mir das Maß zu meiner neuen Kleidung nehmen lassen, die in dem Institut selbst gefertigt ward, damit zwischen den Zöglingen in dieser Beziehung kein Unterschied obwalte. Es geschah dies am Mittwoch. Am nächstfolgenden Montag sollte ich in das Pensionat eintreten. Die Direktorin versprach den Spaziergang des nächsten Sonntags nach dem Pachthofe zu lenken, damit man mir meine Uniform anprobieren könne. Es war das ein großes Fest für die Schülerinnen, welche hier mit frischen Eiern und warmer Milch traktiert werden sollten. Die Zeit der Ankunft der Schülerinnen war auf neun Uhr bestimmt, und meine Mutter hatte sich anheischig gemacht, alles bereit zu halten. Es war dies das erstemal, daß ich Gelegenheit hatte, die Macht des Geldes schätzen zu lernen. Meine Mutter, die am Tage vorher noch eine arme Magd gewesen, mit welcher man rauh und kurz, wie zu einem Dienstboten der niedrigsten Gattung sprach, schien stillschweigend und ohne daß man es anzuerkennen brauchte, zum Range einer Aufseherin über die anderen Dienstleute erhoben worden zu sein, und zwar bloß, weil man eine Hundertpfundnote in ihrer Hand gesehen, welches Geld doch, wenn es aus der ihm beigemessenen Quelle kam, sie eher hätte herabsetzen als erhöhen sollen. Am Abend schlief ich bei meiner Mutter in einem Bett, welches man mir aus einer auf Stühle gelegten Matratze bereitete und unter welches sich mein treuer Black schlich, der, als er mich wiedersah, mir seine Freude auf eine Weise bezeigte, als wenn er gefürchtet hätte, mich auf immer verloren zu haben.
Während der drei oder vier Jahre, welche verflossen waren, ohne eine andere Veränderung als die der Jahreszeiten herbeizuführen, war es mir nie eingefallen, einen Tag länger als den andern zu finden. Ich hatte niemals den Gang der Zeit zu beschleunigen gewünscht. Ich stand mit dem Tage auf, ich legte mich mit der Nacht nieder, ich teilte mein Brot mit Black, verkrümelte den Rest für die Vögel, flocht mir Blumenkränze, spiegelte mich in der Quelle, träumte ohne zu wissen wovon, und der Abend kam dann, ohne daß ich gemessen hätte, wie weit er ursprünglich von dem Morgen entfernt gewesen. Jetzt war dem nicht mehr so. In meinem Gemüt hatte ein vollständiger Umsturz stattgefunden. Die Minuten waren Stunden, die Stunden Tage und die Tage Jahre geworden. Es war mir, als würde ich niemals den glückseligen Sonntag erleben, wo ich meine Lumpen gegen jenes blaue Kleid, welches für mich zweimal die Farbe des Himmels trug, und den reizenden Strohhut, die Glorie meines ersten unklaren Ehrgeizes, vertauschen sollte. Ich hatte, obschon ich vollkommen wach war, verworrene, unzusammenhängende Visionen, wie man deren in den Träumen hat. Ich wollte einen Berg ersteigen, der hoch genug wäre, um mich über den Gürtel der Berge, die uns umgaben, hinausschauen zu lassen. Ich hatte keinen Begriff von dem, was es jenseits dieser Berge geben könne, ganz gewiß aber mußte es etwas Schöneres sein als das, was ich hier sah. Ach, leider habe ich mein ganzes Leben lang Berge ersteigen und über den Horizont hinausschauen wollen, welchen mir Gott gezogen. Der so heißersehnte Tag brach endlich an. Die ganze ihm vorangehende Nacht konnte ich nicht schlafen, und lange schon vor dem ersten Strahl der Morgenröte war ich auf den Füßen.
Meine Mutter stand fast gleichzeitig mit mir auf. Auch sie hatte sich neue Kleider gekauft und widmete an diesem Tage ihrer Toilette eine ganz ungewöhnliche Sorgfalt. Ihr Kostüm war das der Gebirgsbewohner von Wales, und ich bemerkte jetzt zum ersten Male, daß meine Mutter sehr schön gewesen sein mußte und daß sie auch jetzt noch hübsch war. Als sie mit ihrer Toilette fertig war, nahm sie mich vor und kämmte mir mein prachtvolles, natürlich gelocktes Haar und wollte, als sie sah, daß ich bloß mein Hemd anhatte, mir die Kleider vom vorigen Tage wieder anziehen. Ich weigerte mich jedoch hartnäckig, dies tun zu lassen, und sagte, ich hätte, als ich sie am Abend vorher ausgezogen, dies in der bestimmten Hoffnung getan, daß ich sie zum letztenmal abgelegt. Da das Kostüm meiner Mutter mir sehr hübsch vorkam, so fragte ich sie hierauf, ob ich reich genug wäre, um mir ebenfalls ein solches anschaffen zu können, und sie versprach mir ein noch viel hübscheres, wenn nach Ablauf eines Monats die Direktrice der Pension ihr sagen würde, daß sie mit mir zufrieden sei.
Ich nahm mir fest vor, nach Ablauf eines Monats mein Kostüm zu haben. Um meine gestern angehabten Kleider nicht wieder anziehen zu müssen, legte ich mich wieder ins Bett und wartete bis um neun Uhr. Endlich verkündete mir ein lustiges Geplauder, ähnlich dem eines Schwarmes Elstern, die Ankunft meiner künftigen Genossinnen. Meine Mutter, welche meine Ungeduld kannte, trat sofort mit einer Unterlehrerin ein. Sie brachte mir meine Uniform. Meine Ausstattung bestand aus zwei vollständigen, der Form nach vollkommen gleichen Anzügen, nur war der für die Sonntage bestimmte von feinerem Stoff und schönerem Gewebe. Alle anderen Gegenstände, von den Strümpfen an bis zu den Halskrägen, waren in halben Dutzenden da. Ich konnte gar nicht glauben, daß alle diese Schätze, welche man auf mein Bett niederlegte, wirklich mir gehörten. Meine Mutter fragte, was alles kostete, und bezahlte es. Nun erst hielt ich mein Eigentum für gesichert. Diese Akquisition kostete vierhundert Franken. Auch eine so große Summe Geldes hatte ich niemals beisammen gesehen. Meine Toilette begann. Das Maß war von einem geschickten Schneider genommen worden, denn es paßte alles wunderschön. Nach Verlauf von zehn Minuten war ich fertig.
Ein Stück Spiegelglas, ein neuer Luxus im Zimmer meiner Mutter, gestattete mir, mich zu sehen. Ich stieß einen Freudenschrei aus. Ich fand mich weit hübscher als in der Quelle. Mein großer Strohhut mit den blauen Bändern stand mir ganz besonders zum Entzücken, und in der Folgezeit, selbst in der Periode meines größten Glückes, wählte ich, wenn ich meine Schönheit recht zur Schau tragen wollte, keinen anderen Kopfputz als den der kleinen Pensionärin von Hawarden. Mit einem Sprunge war ich aus meinem Zimmer im Hofe, und aus dem Hofe auf dem Rasenplatz. Die ganze Pension war da, ziemlich sechzig Mädchen im Alter von acht bis fünfzehn Jahren. Sie betrachteten mich mit mehr Neugier als Sympathie. Eine von den großen sagte: »Sie ist nicht ganz übel, dieses kleine Bauernmädchen.« – Eine andere antwortete »Ja, aber sie sieht ziemlich linkisch aus.« Das Herz schnürte sich mir zusammen. Bei meinem Eintritt in das Leben ward ich auf diese Weise mit Verachtung und Spott empfangen. Stumm und unbeweglich blieb ich stehen und fühlte, wie die Schamröte mir bis in die Stirn emporstieg.
»Kleine,« sagte eine zu mir, »geh einmal hinein und sage, man solle uns die Eier und die Milch bringen.« Mein Stolz empörte sich. – »Ich bitte um Verzeihung,« sagte ich; »ich sollte meinen, daß ich nicht eure Magd sei.« – »Nein, das bist du nicht,« sagte die Pensionärin, welche zuerst gesprochen; »da deine Mutter aber die Magd des Gehöftes ist, so hat diese vielleicht die Güte, uns zu bedienen; wir haben Hunger.« In diesem Augenblicke trat meine Mutter zur Haustür heraus. Weinend lief ich auf sie zu und warf mich ihr in die Arme. Sie fragte mich, warum ich weinte, da ich sie doch nur wenige Minuten vorher in so heiterer Stimmung verlassen. Mit kurzen Worten erzählte ich ihr alles.
Die Pächterin hörte zu, dann näherte sie sich den Pensionärinnen. »Meine jungen Damen,« sagte sie, »mein Pachthof ist kein Gasthaus. Ich verkaufe meine Eier, meine Butter und meine Milch auf dem Markt, aber nicht hier. Auf die Bitte meiner Freundin, Mistreß Lyons, war ich gern bereit, Ihnen dies alles anzubieten; wenn aber die Gastfreundschaft ihre Pflichten hat, so hat sie auch ihre Rechte, und eins dieser Rechte ist, nicht beleidigt zu werden. Dieses Recht beanspruche ich nicht bloß für mich, sondern auch für alle Personen, welche zu meinem Hause gehören.« – »Sehr gut gesprochen,« sagte die Direktrice der Pension; »ich danke Euch für diese Lehre, die Ihr meinen Schülerinnen gegeben. Ich stand im Begriff, es selbst zu tun, aber ich würde meine Sache nicht so gut gemacht haben. Diejenigen von diesen jungen Damen, welche sich der Ehre, die Ihr ihnen erzeigt, würdig machen wollen, werden selbst ihr Frühstück bei Euch holen, und ich danke Euch dafür im voraus im Namen aller Eurer Gäste und in dem meinigen. Wer nicht geht und sich das Frühstück holt, bekommt keines – damit ist die Sache abgemacht. Also, wer mich lieb hat, der folge mir.« Und die Direktrice der Pension, welche Mistreß Colman hieß, lenkte, mit ihrem Beispiele vorangehend, ihre Schritte nach dem Hause, während sämtliche Pensionärinnen ihr folgten, mit Ausnahme der drei, welche direkt oder indirekt das Wort an mich gerichtet hatten.
Einen Augenblick später kam Mistreß Colman aus dem Hause heraus. In der einen Hand hielt sie einen Korb voll Eier, in der andern einen großen Krug mit dampfender Milch. Die beiden Lehrerinnen kamen hinter ihr her, und trugen ebenso wie sie einen Krug Milch und einen Korb Eier. Die Pächterin und meine Mutter folgten mit zwei riesigen, soeben aus dem Ofen gekommenen Broten mit brauner appetitlicher Rinde. Jede der Pensionärinnen trug ihren Teller, ihre Gabel, ihr Messer und ihren Löffel. Alle setzten sich auf den Rasenplatz um Mistreß Colman und ihre beiden Lehrerinnen herum. Nur die drei Rebellen bildeten, stehen bleibend, eine Gruppe für sich. »Mistreß Davidson,« sagte ich zu der Pächterin, »wollt Ihr mir sechs Eier in einem kleinen Korb, einen Krug Milch und drei Tassen geben?« Sie erriet meine Absicht, küßte mich auf die Stirn und gab mir, was ich von ihr verlangte. Mit meinem kleinen Korbe, meinem Kruge Milch und meinen drei Tassen trat ich aus dem Hause heraus und ging auf die drei Verbannten zu. »Meine jungen Damen,« sagte ich zu ihnen, »wollen Sie mir verzeihen, daß ich die Ursache der Strafe bin, zu welcher man Sie verurteilt hat?« – »Wir danken,« sagte die größte der drei Schülerinnen, »wir haben keinen Hunger.« – »Emma,« sagte die Direktrice der Pension, »komm her, gib mir einen Kuß und setze dich neben mich. Du bist ein gutes kleines Mädchen.« – Ich setzte meinen Korb mit Eiern, meinen Krug Milch und meine drei Tassen zu den Füßen der drei Schmollenden nieder und nahm dann neben Mistreß Colman Platz. Sie hatte die Wahrheit gesprochen, ja ich war wirklich ein gutes kleines Mädchen. Ist es meine Schuld oder die der Welt, wenn ich das sündhafte Geschöpf geworden bin, welches jetzt vor dir, o mein Gott, das Knie beugt?
Nach dem Frühstück, welchem die drei großen Pensionärinnen beiwohnten, ohne daran teilzunehmen, kehrten sämtliche junge Mädchen, von Mistreß Colman geführt, nach der Stadt zurück. Am Morgen, noch ehe mir das im vorigen Kapitel Erzählte begegnet war, wäre es mein größter Wunsch gewesen, noch denselben Tag und ohne Verzug in Mistreß Colmans Institut einzutreten und meinen Platz unter ihren Zöglingen einzunehmen. Mein Enthusiasmus hatte sich jedoch bedeutend abgekühlt und ich bat meine Mutter um die Erlaubnis, diese Nacht noch auf dem Pachthofe bleiben zu dürfen. Es ward demgemäß verabredet, daß sie mich erst den nächstfolgenden Morgen nach der Pension bringen sollte. Als Mistreß Colman, welche die Sinnesänderung, die in mir vorgegangen, bemerkte, und welche schon fürchtete, eine Schülerin zu verlieren, mich verließ, überhäufte sie mich mit Liebkosungen und bewog auch einige der kleinsten Schülerinnen, Freundschaft mit mir zu machen. Ich fühlte jedoch recht wohl, daß ich für diese jungen Damen nie etwas anderes sein würde, als das kleine Bauernmädchen, die Tochter der Magd des Pachthofes. Ich hebe diese auf den ersten Anblick vielleicht kindisch erscheinenden Umstände ganz besonders hervor, weil sie in Verbindung mit denen, von welchen ich später Gelegenheit haben werde zu sprechen, einen ungemein großen Einfluß auf mein Leben äußerten. Die Blumen verdanken ihren Glanz und ihren Wohlgeruch, die Früchte ihren Wohlgeschmack und ihre Schönheit nicht bloß der mehr oder minder geschickten und eifrigen Pflege des Gärtners, der sie zieht, sondern auch den atmosphärischen Verhältnissen, in welche der Zufall sie versetzt. Mein angeborener Fehler war der Stolz. Der darüber hinwegwehende Wind der Verachtung und des Spottes fachte, anstatt ihn auszulöschen, ihn nur zu desto hellerer Flamme an, und ebenso wie Satan, der anfangs der schönste und geliebteste Engel war, ging ich, die ich weiter nichts war als ein armes menschliches Geschöpf, durch meinen Stolz unter.
Als Mistreß Colman mit ihren Pensionärinnen fort war, lenkte ich meine Schritte nach dem Hügel, wohin ich drei oder vier Jahre lang meine kleine Herde getrieben. Dieser Hügel war Sonntags das Ziel des Spazierganges, welchen einige in der Stadt wohnende Leute zu machen pflegten. Die Bewohner des Pachthofes hatten mich nun alle in meinem neuen Glanze gesehen und der Eindruck, den ich durch meinen ersten Anblick auf sie hervorgebracht, konnte sich nicht erneuern. Ich suchte daher die Blicke und Komplimente anderer. Ich erstieg den Hügel mit meinem großen Strohhut auf dem Kopfe. Mein langes Haar flatterte im Winde, meine Wangen waren gerötet von dem Hauch der Jugend und der Gesundheit. Ich ging an mehreren Gruppen von Spaziergängern vorbei oder überholte dieselben. Alle sahen mich an, und einige Stimmen sagten: »Das ist ein schönes Kind.« – Ein einziger fragte: »Aber ist das nicht Mistreß Davidsons kleine Schafhirtin?« Ach leider ja, ich war es. Diese Bemerkung vergiftete, obschon durchaus nichts Böswilliges darin lag, mir doch die ganze Freude, welche mir die vorher gehörten Lobsprüche bereitet. Ich versank in trauriges Hinbrüten und setzte mit niedergeschlagenen Augen meinen Weg weiter fort, während ich die Blumen, die ich gepflückt, um mir einen Kranz daraus zu winden, eine nach der andern aus den Händen fallen ließ.
Plötzlich hörte ich ein freudiges Gebell, und Black, der mich von weitem erkannt, kam mir entgegengesprungen und richtete sich an mir empor. Das arme Tier nahm keine Rücksicht auf die Kleider, die ich jetzt trug, sondern glaubte, es sei ihm erlaubt, der künftigen Pensionärin der Mistreß Colman immer noch auf dieselbe Weise zu begegnen wie der kleinen Schafhirtin. Der Befehl: »Marsch, fort, Black!« von einem Schlag auf seine unehrerbietigen Pfoten, der ihm ein Schmerzgewinsel entlockte, begleitet, war die einzige Anerkennung, welche dieser Freund, einer der ältesten, die ich jemals gehabt, und wahrscheinlich der treueste, den ich jemals haben werde, für seine freudige und zärtliche Kundgebung erhielt. Black entfernte sich, die Ohren hängen lassend und den Kopf schüttelnd, als ob er ein Zwiegespräch mit sich selbst führte. Der kleine Hirt, der in der Bewachung der Schafe mein Nachfolger geworden, erhob sich, als er mich näher kommen sah. Es war augenscheinlich, daß er mich nicht erkannte; erst als ich mich ihm bis auf einige Schritte genähert hatte, rief er: »Ah, Sie sind es, Miß Emma! Ach, wie schön Sie sind!«
Ich lächelte ihm zu. Es war dies das erste aufrichtige Kompliment, welches man mir bis jetzt gemacht. Ich wußte es ihm Dank. Man wird den Einfluß sehen, welchen diese wenigen Worte später auf mein Schicksal äußerten. »Guten Tag, Dick,« sagte ich zu ihm. »Du bist ein wackerer Junge und du wärest auch schön, wenn du schöne Kleider hättest.« – »Ach,« antwortete er, »ich bin weiter nichts als ein armer Bauernknabe und ich werde wahrscheinlich nie andere Kleider bekommen. Mit Ihnen dagegen ist es etwas anderes. Wie es scheint, hat man erfahren, daß Sie ein vornehmes Fräulein sind.« Er spielte mit diesen Worten auf das Gerücht an, welches sich, seitdem meine Mutter von Lord Halifax hundert Pfund Sterling geschenkt erhalten, in bezug auf ein Verhältnis verbreitet, in welchem sie früher zu diesem Herrn gestanden haben sollte. Ich gab hierauf keine Antwort, denn ich verstand nicht recht, was der Knabe sagen wollte. Ich erkundigte mich nach seiner Schwester, einem Mädchen von ungefähr demselben Alter wie ich. Sie diente als Magd in einem benachbarten Pachthof und hieß Amy Strong. »O,« sagte er, »die befindet sich wohl und würde sich gewiß sehr freuen, wenn sie Sie so schön gekleidet sähe.« – »Glaubst du?« fragte ich. – »Jawohl,« entgegnete er, »sie hat Sie sehr lieb, Miß Emma, und beneidet niemanden um das Gute, was ihm beschieden ist.« Ich befand mich jetzt in der Nähe der Quelle. Ich neigte mich darüber, um mich darin zu betrachten, wagte aber, ich weiß selbst nicht warum, in Richards oder, wie man diesen Namen in England abzukürzen pflegt, in Dicks Gegenwart nicht meinem Spiegelbild einen Kuß zu geben, wie ich zu tun pflegte, wenn ich allein war. »Ja, ja,« sagte Dick lachend, »betrachten Sie sich nur noch ein wenig in unseren Quellen. Mit der Zeit werden Sie in die Stadt kommen, Miß Emma, und sich dann in großen vergoldeten Spiegeln betrachten, wie sie in dem Laden des Kaufmanns von Hawarden zu sehen sind. Wenn Sie einmal an diesem Hause vorbeikommen, so können Sie stehen bleiben und sich in aller Bequemlichkeit vom Kopf bis zu den Füßen betrachten, ohne daß es Sie etwas kostet.«
Ich setzte mich in der Nähe der Quelle nieder. Ich dachte nicht mehr daran, in derselben eine unvollständige Vervielfältigung meines Bildes zu suchen, sondern träumte, daß ich mich in einem großen schönen Spiegel mit vergoldetem Rahmen betrachtete. Ich versetzte mich im Geiste in ein elegantes Zimmer mit türkischem Teppich, himmelblauseidenen Vorhängen und kostbaren verzierten Möbeln. Ich schloß die Augen, um nichts mehr von der Wirklichkeit zu sehen und mich ganz meinem Traume hinzugeben. Ach, wie oft hatte ich dergleichen Träume! Es waren prophetische blendende Visionen der Zukunft. Woher kamen mir diese Visionen von unbekannten Dingen? Vielleicht hatten meine ersten Blicke rasch entschwundenen Glanz widergespiegelt, der aber in meinem jungen Gedächtnis gleichsam den Reflex einer früheren Welt zurückgelassen. Wenn ich mit meiner Mutter von diesen unklaren Erinnerungen sprach, begnügte sie sich mir zu antworten, ich hätte wahrscheinlich eine Fee zur Patin gehabt, welche mich des Nachts in Palästen habe herumwandeln lassen. Auch dieses Mal faßte meine Patin mich bei der Hand und indem ich meine Augen, welche soeben noch alle Farben des Regenbogens widerspiegelten, aufschlug, sagte ich zu dem kleinen Hirten: »Lebewohl, Dick. Morgen komme ich in Mistreß Colmans Pension. Alle Donnerstage und Sonnabende aber werde ich wieder auf den Pachthof kommen und mich dann und wann auch hier einfinden, um dich zu besuchen.« Und ich entfernte mich, ohne an Black zu denken. Dieses arme Tier, welchem mein Empfang unerklärlich gewesen, konnte sich auch meinen Abschied nicht erklären. Er folgte mir einige Schritte weit, aber nicht so weit als das erstemal, und setzte sich, um mich den Hügel hinabgehen zu sehen. Ich warf einen letzten Blick auf diesen kleinen Platz, welcher das Paradies meiner Jugend gewesen und den ich im Geiste jetzt noch sehe mit seiner Gruppe von Zwergeichen und Wachholderbäumen, mit seiner von rosigem Heidekraut bedeckten Kuppe, mit seiner aus dem Schoße der Erde hervorsprudelnden und in kleinen Wasserfällen sich in das Tal hinabstürzenden Quelle. Dick hatte sich auf den Boden niedergestreckt und schälte mit seinem Messer die Rinde eines Stockes ab. Seine Schafe weideten hier und da einige Schritte von ihm. Black saß zwischen ihnen und mir und betrachtete mich mit traurigem Blick, wie verkannte Freunde zu tun pflegen. Ich dachte nicht einmal daran, ihn zu rufen und zu trösten. Das arme Tier hatte, als es mich sah, versucht, mir begreiflich zu machen, daß es mich immer noch liebe; aber es war nicht wie Dick imstande gewesen, mir zu sagen, daß ich schön sei. Dies war meine erste Undankbarkeit. Dagegen wird man sehen, wie dankbar, wie allzu dankbar ich gegen Dick war. Am nächstfolgenden Tage führte verabredetermaßen meine Mutter mich zu Mistreß Colman. Ich ward empfangen, wie man während der ersten Tage jede in eine Pension tretende Schülerin und jede ihr Noviziat antretende Nonne empfängt. Die Lehrerinnen waren instruiert, gegen mich mit aller möglichen Nachsicht zu verfahren, und Mistreß Colman selbst führte meine Mutter in den Schlafsaal, ließ sie das weiße Bett untersuchen, welches man für mich aufgeschlagen, und zeigte ihr, einen nach dem andern, alle Toilettengegenstände, die für mich bestimmt waren. Alle diese neuen Gegenstände, welche für mich der Weg zum Luxus waren, ließen mich die verächtlichen Blicke meiner künftigen Genossinnen übersehen, und ich nahm von meiner armen Mutter, die weit bewegter war als ich, Abschied, ohne sonderlich viel Tränen zu vergießen. Man befragte mich über das, was ich wußte. Das Examen dauerte nicht lange, denn ich wußte absolut weiter nichts, als meine Morgen- und Abendgebete nach dem anglikanischen Ritus, in welchem ich erzogen worden. Vom Lesen und Schreiben war niemals die Rede gewesen und ich kannte nicht einmal die Buchstaben. Man sah sich deshalb genötigt, mich trotz meiner neun Jahre zunächst der Klasse zuzuteilen, in welcher die sogenannten Abcschützen, das heißt Kinder von fünf bis sechs Jahren saßen. Es war dies eine große Demütigung für mich; mein Stolz aber, der mir oft so verderblich war, leistete mir in diesem Falle gute Dienste. Da ich der niedern Klasse, in welcher ich nun war, mich schämte, so machte ich unerhörte Anstrengungen, um mich in die höhern Klassen emporzuarbeiten.
Nach Verlauf von drei Monaten las ich ganz leidlich und fing an zu schreiben. Nun kam ich, in die Klasse, wo Rechnen und englische Sprache gelehrt ward. In dieser Klasse blieb ich sieben oder acht Monate, dann kam ich in die, welche man die »große« nannte. Hier lehrte man Geographie, Geschichte, Musik und Zeichnen. In diesen letzteren Künsten hatte ich schon einige Fortschritte gemacht, als eines Morgens meine Mutter laut weinend mich aufsuchte, um mir zu melden, daß mein Gönner, Lord Halifax, plötzlich gestorben sei. Er war mit dem Pferde gestürzt und hatte keinerlei Verfügung zu unsern Gunsten hinterlassen. Meine Pension ward noch einen Monat lang bezahlt. Nach Ablauf dieses Monats aber sah sich meine Mutter wahrscheinlich genötigt, meine Erziehung zu unterbrechen, weil sie dann nicht mehr die Mittel besaß, die Kosten dafür zu bestreiten. Die Neuigkeit, daß die kleine Bäuerin, deren Fortschritte die vornehmen Fräuleins oft gedemütigt, sich genötigt sehen würde, wieder die Schafe zu hüten, rief in der Klasse der Großen, zu welcher auch meine drei alten Feindinnen gehörten, die immer noch einen echt englischen Groll gegen mich bewahrten, allgemeine Freude hervor. In den unteren Klassen, wo ich mir einige Freundinnen erworben, bedauerte man mich. Mistreß Colman tat, indem sie Abschied von mir nahm, als ob sie sich eine Träne trocknete, um ihren Schülerinnen ein gutes Beispiel zu geben, dabei aber hütete sie sich wohl, sich zu erbieten, meine Ausbildung unentgeltlich fortzusetzen, obschon sie mir mehr als einmal, besonders an den Tagen, wo meine Mutter sich einfand, um das vierteljährige Honorar für mich im voraus zu bezahlen, mehr als einmal gesagt hatte, ich würde in einem oder zwei Jahren die Ehre und der Stolz ihres Institutes sein.
Ich verließ das Pensionat und nahm weiter keinen Trost mit, als alle meine kleinen Toilettegegenstände und ein ganz neues Uniformkleid, dessen ich mich aber, wie Mistreß Colman mir einschärfte, nicht bedienen sollte, weil ich nicht mehr dem Pensionate angehörte. Übrigens verließ ich Mistreß Colmans Haus, worin ich achtzehn Monate zugebracht, mit einer nach allen Seiten hin begonnenen, aber auch gleichzeitig in jeder Richtung unvollendeten Erziehung. Ich konnte lesen und schreiben, ich verstand ein wenig zu rechnen, ich hatte einige Kenntnisse in Geographie und Geschichte. Außerdem hatte ich drei Monate Zeichnen und Musik getrieben und besaß sonach, abgesehen vom Lesen und Schreiben, keine Fertigkeit, die mir hätte nützlich sein können. Es war dies nicht genug, um mein Wohlergehen zu fördern, wohl aber mehr als nötig war, um mich meinem Verderben entgegenzuführen.
Meine Mutter hatte ebenfalls von dem Rückschlage des Unglücks, welches mich betroffen, zu leiden. Als die Pächterin sie wieder die arme, mittellose Witwe werden sah, die sie bei ihrer Ankunft gewesen, machte sie wieder aus ihr dasselbe, was sie anfangs gewesen, nämlich eine gewöhnliche Magd.
Was mich betraf, so taugte ich, durch meine begonnene Schulbildung zu einer halben Vornehmheit herangezogen, zu gar nichts mehr. Ich konnte nicht wieder auf den Pachthof zurückkehren, um wie eine Schäferin Marmontels in meinem himmelblauen Kleide und mit meinem großen Strohhut die Herde zu hüten. Man begann sich daher nach einem Unterkommen für mich umzusehen. Eines Morgens kam Dicks Schwester, Amy Strong, um mir zu melden, daß dieses Unterkommen durch ihre Mutter gefunden sei. Ich sollte nämlich als Kinderwärterin und Elementarlehrerin zu Mr. Thomas Hawarden kommen, welcher, ich weiß nicht warum oder wie, den Namen der Stadt trug, die er bewohnte. Er war ein Schwager des letzten Alderman Bonbel und Vater des berühmten Chirurgen von Leicester Square.
Die Stellung, die man mir anbot, war allerdings weit entfernt, meinen ehrgeizigen Träumen zu entsprechen; ich mußte aber leben und hatte daher keine Wahl der Mittel. Man stellte meine Ausstattung aus den Trümmern der des Pensionats zusammen. Aus meinem himmelblauen Kleid ward ein gewöhnliches gefertigt, und da ich monatlich außer Kost und Wohnung zwölf Schillinge bekommen sollte, so erwartete man, daß ich durch angemessene Ersparnis die Mittel zur Vervollständigung meiner mangelhaften Garderobe erwerben würde. Es war eine große Demütigung für mich, wieder nach Hawarden in einer Eigenschaft zurückzukehren, welche mit der einer dienenden Person nahe verwandt war. Es war dies aber einmal eine Laune des Gottes Zufall, der es sich zur Aufgabe gemacht zu haben scheint, mich bald zu erhöhen, bald zu erniedrigen. Du bist Zeuge, mein Gott, daß jetzt, in einer Erniedrigung, aus welcher ich keine Aussicht mehr habe mich emporzuarbeiten, ich dich mit dankbarerem Herzen anflehe, als ich es von der Höhe meiner Größe getan!
Am 20. September 1776 trat ich in Mr. Thomas Hawardens Dienst. Ich zählte damals zwölf bis dreizehn Jahre. Mr. Hawarden war ein Puritaner von altem Schrot und Korn, ernst und gerecht in allen Dingen. Seine Gattin war ihrerseits kalt und streng. Die Kinder, über welche ich Aufsicht führen sollte, waren die ihrer einzigen Tochter, welche während einer Reise des Vaters in Amerika an einer Brustkrankheit gestorben war. Es waren ihrer drei. Die beiden ältesten zählten vier und fünf Jahre. Das jüngste befand sich noch in den Händen der Amme. Eine große Pendeluhr schien die alles regelnde Gottheit des Hauses zu sein. Alle Sonnabende, wenn die Mittagsstunde schlug, ward sie aufgezogen und in Folge dieser Verrichtung, welche ich Mr. Hawarden auch nicht ein einziges Mal unterlassen sah, rollte die ganze Woche sich ab wie ein Räderwerk, das nicht weniger genau ineinandergriff wie das der Uhr selbst. Der Leser wird mich fragen, wer die Uhr an Mr. Hawardens Stelle aufzog, wenn dieser Sonnabends mittags nicht zu Hause war? Hierauf antworte ich, daß Mr. Hawarden, welcher wußte, daß er an diesem Tage diese wichtige Funktion zu verrichten hatte, Sonnabends um halb zwölf Uhr nach Hause kam, wenn er ausgegangen war, oder erst um halb eins fortging, wenn er auszugehen hatte. Während des ganzen Jahres, wo ich bei Mr. Hawarden war, sah ich ihn nicht einen Schritt schneller tun, als den andern, kein Wort lauter sprechen als das andere, nicht ein einziges Mal lächeln, nicht ein einziges Mal sich erzürnen, keine Gelegenheit zum Gutestun versäumen und nicht eine einzige Ungerechtigkeit begehen, wie unbedeutend dieselbe auch gewesen wäre. Mistreß Hawarden war buchstäblich der Schatten ihres Ehegatten. Sie kam mir vor wie eine jener Püppchen, welche an den Wettergläsern das schöne Wetter und den Regen anzeigen. Das Weibchen, welches hinter dem Manne herauskommt oder hineingeht, wiederholt alle Bewegungen, welche dieser ausführt. Sie spannt ihren Regenschirm auf, wenn er zum Zeichen des herannahenden Sturmes den seinigen öffnet, und macht ihn zu, sobald er durch das Schließen des seinigen die Rückkehr des Sonnenscheins verkündet.
Mr. Thomas Hawarden mußte reich sein, obschon ich während eines ganzen Jahres in seinem Hause kein anderes Silber sah als die zwölf Schillinge, welche ich allemal am Ersten des Monats um zwölf Uhr morgens mit der gewohnten Pünktlichkeit des Hauses von Mistreß Hawardens elfenbeinweißer Hand ausgezahlt erhielt. Das ganze Haus gehörte den beiden Gatten; von der einen Seite ging es auf die Hauptstraße der Stadt, von der andern auf einen Garten mit Gängen, die mit Meeressand bestreut waren, mit von Buchsbaum eingefaßten Beeten und pyramidenförmig zugestutzten Taxusbäumen. Ein Gärtner hatte diesen kleinen Garten in Ordnung zu halten, und nie sah ich darin ein abgestorbenes Blatt oder eine geknickte Blume. Die Kinder gingen darin spazieren, aber sie wußten, daß sie nicht das Recht hatten darin zu spielen, und daß es ihnen verboten war, die Blumen oder Früchte anzurühren. Im Sommer um sechs, im Winter um sieben Uhr stand man auf. Um acht Uhr begab sich die ganze Familie, Herrschaft und Dienstleute, bis zu dem Säugling und seiner Amme, in ein Zimmer, wo eine Bibel mit stählernen Schließhaken auf einem Lesepult angenietet war. Mr. Hawarden schlug diese Bibel auf, las ein Gebet und seine Frau antwortete Amen. Dann schloß er die Bibel und man trat in das Speisezimmer, wo ein aus Milch, Butter und Eiern bestehendes Frühstück aufgetragen war. Eine große Teekanne, aus welcher jeder das Recht hatte, sich nach Belieben einzuschenken, obschon stillschweigend angenommen war, daß man dies nie mehr als zweimal täte, enthielt ungefähr ein Dutzend Tassen. Wir waren fünf Personen bei Tische. Mr. Hawarden, Mistreß Hawarden, die beiden Kinder und ich, die ich infolge meiner Funktion als Lehrerin das übrigens, wie mir schien, von den andern Dienstleuten nicht sonderlich beneidete Recht besaß, mit am Tische der Herrschaft zu speisen.
Wenn die Wanduhr jenes Ausheben hören ließ, welches dem Schlage der Stunde vorangeht, erhob sich alles, so daß nur selten jemand noch nicht aufgestanden war, wenn die halbe Stunde schlug. Schlag zwölf Uhr setzte man sich zur Mittagstafel nieder, mit Ausnahme Sonnabends, wo das Mittagsmahl sich um eine Minute infolge des Umstandes verzögerte, daß Mr. Thomas Hawarden erst seine Uhr aufziehen mußte. Das Mittagsmahl war, ohne luxuriös zu sein, doch gut und wohlschmeckend. Das gewöhnliche Getränk war Bier, jeder aber erhielt außerdem aus einer Flasche, welche für Mittags- und Abendessen ausreichte, ein kleines Glas Bordeauxwein, die Kinder bloß ein halbes Glas. Um fünf Uhr gab es Butterbrötchen oder Kuchen. Die Teekanne kam wieder zum Vorschein und lieferte ebenso wie beim Frühstück das einzige Getränk. Dieses Vesperbrot dauerte ebenso wie das Frühstück eine halbe Stunde. Um acht Uhr ward zu Abend gegessen. Diese Mahlzeit war so ziemlich eine Wiederholung des Mittagsmahles, ausgenommen, daß die Kinder ihr nicht beiwohnten. Diese bekamen um halb acht Uhr eine Butter- oder Honigsemmel, je nach ihrer Wahl, und um acht Uhr wurden sie zu Bett gebracht. Ich hörte sie nicht ein einziges Mal weinen, ausgenommen, wenn sie beim Fallen sich sehr wehe getan hatten.
Donnerstags nach dem Frühstücke wurde der Jagdwagen angespannt. Die Kinder, die Amme und ich stiegen hinein, und der Kutscher fuhr uns nach irgendeiner der Wiesen, welche sich in der Nähe der Stadt Hawarden befinden.
Nun hatten wir unser Fest. Die Last, welche in der eisigen Atmosphäre des Hauses unsere Brust bedrückte, hob sich wie durch die Sonnenstrahlen verflüchtigt. Sogar der Säugling in den Armen der Amme schien im Freien fröhlicher zu sein, als in der Stadt. Die Amme ging mit ihrem Pflegling spazieren. Die beiden anderen Kinder und ich sprangen im Grase herum, pflückten Blumen und verfolgten die Schmetterlinge. Die Kinder beteten mich an, weil ich ebenso Kind war als sie selbst.
Sonnabend nach dem Vesperbrot wartete der angespannte Wagen an der Tür. Alle Welt stieg hinein mit Ausnahme des Gärtners, welcher in seinem Gartenhäuschen blieb und das Haus bewachte, und man begab sich aufs Land. Mit diesem Ausdruck bezeichnete man ein ziemlich großes Haus, welches dritthalb Stunden von Hawarden, zwischen Chester und Flint an dem Ufer des Dee ungefähr eine Viertelmeile von der Stelle stand, wo dieser Fluß sich in das irische Meer oder vielmehr in den Golf ergießt, der damit in Verbindung steht. Man brauchte, um diesen Weg zurückzulegen, zwei Stunden zehn Minuten – niemals weniger und niemals mehr. Der Kutscher peitschte sein Pferd dreimal. Das erstemal beim Abfahren, das zweitemal auf der Hälfte des Weges, das drittemal bei der Ankunft in der Allee. Der erste Anblick des Meeres war für mich ein tiefergreifender. Obschon der Golf des Dee ziemlich schmal ist, so konnte man doch von der Höhe eines kleinen Berges am Horizont das hohe Meer entdecken. Ich streckte nach diesem unendlichen Raume meine Arme mit ebenso leidenschaftlicher Gebärde aus, wie ich es nach der Ewigkeit getan haben würde.
Der Sonntag, welchen wir während der sieben schönen Monate des Frühlings, des Sommers und des Herbstes unabänderlich auf dem Lande zubrachten, war dem Gebet und dem Spazierengehen gewidmet. An diesem Tage hatte ich die Aufsicht über die Kinder, nicht bloß nach dem Frühstück, wie Donnerstags, sondern auch nach dem Mittagsmahle. Hier bedurften wir keines Jagdwagens. Das am rechten Ufer des Dee zwischen dem Fluß und dem Golf stehende Landhaus ließ uns die Wahl zwischen dem Meeresstrande, um daselbst Muscheln zu suchen und dem Abhang des Flußufers, um daselbst Blumen zu pflücken. Das ganze zwischen dem Fluß und dem Meere liegende Terrain bot uns eine Promenade von ungefähr drei Viertelmeilen. Hier war die Freiheit für uns noch größer als Donnerstags auf den Wiesen von Hawarden. Es waren im Grunde zwei Sonntage auf fünf Schattentage. Mein Leben ist nicht immer so gut geteilt gewesen.
Eines Tages – es war an einem Sonntage in der ersten Woche des Monats Mai 1777 – gegen zwei Uhr nachmittags sahen wir, als wir an diesem Tage zum zweitenmal ausgingen, am Meerestrande ein hübsches Boot, welches von vier oder fünf Ruderern bewacht ward. Die Bänke im Hinterteil des Bootes waren mit Teppichen und Sammetkissen belegt. Einige Schritte von dieser Stelle saß ein Mann auf einem hölzernen Schemel und zeichnete eine Walliserin, die ihr Kind in den Armen hielt. Eine junge Dame stand neben dem Zeichner und sah, ihm über die Schulter schauend, seiner Arbeit zu. Der Mann und die junge Dame waren, obschon ländlich, doch mit der größten Eleganz gekleidet. Man erriet sofort, daß es Bewohner von London waren, welche sich hierher nach Flintshire verirrt. Die Kinder liefen, von Neugier getrieben, auf die Gruppe zu. Ich rief sie zurück; so gehorsam sie aber im Hause waren, ebenso eigenwillig und widerspenstig waren sie, wenn sie sich in Freiheit fühlten. Sie antworteten nicht, sondern setzten ihren Weg fort, bis sie eines an der Seite der Dame, das andere an der Seite des Zeichners standen. Beide drehten sich um. »O, das ist ein schönes Kind,« sagte der Zeichner, indem er seine Hand auf den Kopf des kleinen Knaben legte, wie um ihn besser zu sehen. »Wie heißest du, mein kleiner Freund?« – »Edward,« antwortete der Knabe. »Und du, kleine Miß?« fragte er das Mädchen. – »Sarah,« antwortete diese. – »Ist das nicht seltsam, Arabella?« sagte der Zeichner zu der Dame, »das sind die Namen meiner beiden Kinder.« Dann setzte er mit einem Seufzer hinzu: »Sie standen, als ich sie das letztemal sah, ungefähr in demselben Alter.«
Und er versank in Nachdenken und schien seine Zeichnung ganz zu vergessen. Mittlerweile hatten sich die Augen der Dame auf mich gerichtet und schienen fest an meinem Gesicht zu haften. »In der Tat,« murmelte sie »das ist ein herrliches Wesen. Sieh' doch, Romney!« Und sie berührte ihn an der Schulter, um ihn aus einem Hinbrüten aufzurütteln. Er schüttelte den Kopf wie ein Mensch, der eine traurige Erinnerung aus seinem Gemüt hinweg zu bannen wünscht. »Was sagst du, Arabella?« fragte er. – »Ich sage, du sollst dich umdrehen und hinter dich schauen.«
Der Maler richtete nun seinen Blick auf mich und schien im höchsten Grade erstaunt und betroffen zu sein. »Treten Sie näher, Miß,« sagte die Dame zu mir, »gestatten Sie uns, Sie mit Muße zu betrachten. Sie sind so hübsch, daß Ihr Anblick Vergnügen bereitet.« Mein Gesicht errötete vor Scham, mein Herz aber hüpfte vor Freuden. Es war jetzt nicht mehr ein kleiner Hirt, welcher mir sagte, daß ich schön sei, es waren nicht mehr neidische Pensionärinnen, welche mich hübsch fanden, während sie mir zugleich Ungeschick und Unbeholfenheit zum Vorwurf machten; es waren vielmehr ein Herr und eine Dame aus der Stadt, welche mich freimütig und ohne Einschränkung bewunderten.
Mechanisch näherte ich mich. Der Maler bot mir die Hand, ich gab ihm die meinige.
»Und welch' eine Hand, ich will nicht sagen, hat sie, sondern wird sie haben,« fuhr der Maler fort. »Sieh nur, Arabella.« – »O, glaube mir, Romney, daß ich das Mädchen mit ebensoviel Vergnügen betrachte, als du. Eifersüchtig bin ich, Gott sei Dank, nicht. Darf man Sie fragen, wie Sie heißen, Miß?« – »Ich heiße Emma, Madame,« antwortete ich. – »Und wie alt sind Sie?« fragte der Maler. – »Ich soll ziemlich vierzehn Jahre alt sein.« – »Wie, Sie sollen?« – »Ja, genau hat meine Mutter mir mein Alter nie gesagt.« – »Sie ist die Tochter irgendeiner Herzogin,« sagte Romney. – »Nein, Sir!« antwortete ich; »ich bin die Tochter einer einfachen Bäuerin.« – »Und diese beiden Kinder?« fragte die Dame; »sind das Ihre Geschwister?« – »Nein, Madame. Ich bin bei dem Vater dieser Kinder, um sie zu beaufsichtigen und sie im Lesen und Schreiben zu unterrichten.« – »Sage selbst, Romney,« sagte die Dame, indem sie sich zu dem Maler herabneigte, um in gedämpftem Ton mit ihm zu sprechen, »welches Glück würde dieses Mädchen mit einem Gesicht wie dieses in London machen.« – »Ich bitte dich, Versucherin,« entgegnete der Maler, »führe das arme Kind nicht ins Verderben.« – Dann fuhr er, zu mir gewendet, fort:
»Miß Emma, wären Sie wohl bereit, mir einen sehr großen Dienst zu leisten?« – »Sehr gern, Sir,« antwortete ich. »Was ist es für einer?« – »Wollen Sie mir fünf Minuten stehen, damit ich eine Skizze von Ihnen entwerfen kann?« – »Mit dem größten Vergnügen, Sir!« – »Nun, dann bleiben Sie, wie Sie in diesem Augenblicke sind.« Ich verharrte in derselben Stellung. Er drehte sich auf seinem Schemel halb herum und in weniger als zehn Minuten hatte er eine reizende Skizze meiner Person fertig.
Ich folgte dem Bleistift auf dem Papier mit begierigem Blick. Als die Zeichnung fertig war, hielt der Maler sie mir vor die Augen. »Erkennen Sie sich, Miß?« – »O,« sagte ich, diesmal vor Freude errötend, »so hübsch bin ich nicht.« – »Tausendmal hübscher sind Sie! Aber sieh, Arabella, um diese durchsichtigen Fleischtöne, um diesen feuchten Blick, um dieses wallende Haar richtig darzustellen, müßte man Ölfarben anwenden. Wenn Sie des Wohnens in der Provinz einmal überdrüssig sein werden, Miß, so kommen Sie nach London und ich gebe Ihnen für eine einstündige Sitzung, die Sie mir wohl bewilligen werden, so viel, als man Ihnen für die Erziehung dieser beiden Kinder auf ein ganzes Jahr gibt.« – »Jetzt nenne mich aber nicht mehr Versucherin, Romney,« sagte die Dame.
»Immer mache deinerseits deine Vorschläge, Arabella, ich hindere dich nicht daran.« – »Wohlan,« fuhr die Dame fort, »wenn Sie nach London kommen, Miß, und sich mit dem Posten einer einfachen Gesellschaftsdame für zehn Pfund monatlich begnügen wollen, so werden Sie mich stets bereit finden, Sie bei mir aufzunehmen. Gib mir ein Stück Papier und einen Bleistift, Romney!« – »Was willst du damit machen?« – »Ich will diesem schönen Kinde meine Adresse geben.« – »Wozu?« fragte Romney, die Achseln zuckend. – »Wer kann es wissen?« entgegnete Arabella. – »Du hättest wirklich den Mut, dieses Antlitz in deiner Nähe weilen zu lassen, Arabella?« – »Warum nicht?« antwortete die Dame mit herausfordernder Miene. »Ich gehöre zur Zahl derjenigen, welche die Vergleiche suchen, anstatt dieselben zu fliehen.« Dann drehte sie sich nach mir herum und setzte hinzu:
»Hier, Miß, haben Sie auf alle Fälle meine Adresse.«
Und sie bot mir das Papier, auf welchem jetzt die Worte standen: »Miß Arabella, Oxfordstreet 23.«
Ich nahm das Papier, ohne recht zu wissen, was ich damit machen sollte, ohne Absicht, mich desselben zu bedienen, gerade wie Eva vielleicht den Apfel nahm, ohne ihn zu essen. »Komm, Romney,« sagte die junge Frau, indem sie den Maler nach dem Boote zurückführte, »in einer Stunde erwartet man uns im Park Gate und wir haben die ganze Meerenge zu durchrudern.« Der Maler erhob sich, warf der Bäuerin, welche ihm Modell gestanden, einen Louisd'or hin, ging zwei Schritte weit an mir vorüber und sagte: »Wenn Sie nach London kommen, Miß, so ist es gut; kommen Sie nicht, so ist es vielleicht noch besser. »Mittlerweile,« fuhr er, mich mit der Hand grüßend, fort, »leben Sie wohl oder auf Wiedersehen.« – »Auf Wiedersehen!« rief Arabella, indem sie den Fuß in das Boot setzte. Und das leichte Fahrzeug entfernte sich, von den vier Rudern getrieben, mit außerordentlicher Schnelligkeit. Ganz in Gedanken versunken führte ich die Kinder nach Hause zurück.
Wenn man sich der Wirkung erinnert, welche Dick an dem Tage auf mich hervorgebracht, wo er, indem er mir von einem großen Spiegel mit vergoldetem Rahmen erzählte, in welchem ich mich vom Kopf bis zu den Füßen sehen würde, mich in das Zauberreich der Fee Morgana versetzt, so kann man sich einen Begriff von den tollen Visionen machen, welche infolge meiner Unterredung mit dem Maler und seiner schönen Begleiterin in meinem Hirn durcheinanderwirbelten. Ich verstand nicht die Hälfte der Worte, welche sie miteinander gewechselt, oder die sie an mich gerichtet, wohl aber hatte ich verstanden, daß der Maler mir gesagt, er würde mir fünf Pfund für jede Sitzung geben, die ich ihm bewilligte, und daß Miß Arabella mir zehn Pfund monatlich geben wollte, wenn ich mich dazu verstünde, ihre Gesellschaftsdame zu sein. Wenn ich also nach London ging, so hatte ich Aussicht, förmliche Reichtümer zu erwerben. Allerdings hieß es keinen hohen Posten bekleiden, wenn man weiter nichts als Gesellschafterin einer Dame war, deren Verhältnisse mir etwas zweifelhaft erschienen. Für mich aber, die arme Tochter einer Bauernmagd, für mich, die ich noch vor drei Jahren die Schafe gehütet, für mich, die verachtete Pensionärin der Mistreß Colman, für mich, die ich jetzt gegen einen Lohn von vier Pence täglich Kinderlehrerin bei Mr. Thomas Hawarden war, für mich konnte es nur als ein großer Schritt zu dem verheißenen Glück betrachtet werden, wenn ich jährlich anstatt sieben oder acht Pfund, deren hundert und noch mehr verdiente.
Und dann London! London mit dem bezaubernden Namen, die Stadt, von welcher alle Welt sprach, wohin alle Welt wollte, wo aller Ehrgeiz mündete, wie jeder Fluß ins Meer; London! war es nicht schon viel, in London zu sein, in einer Stadt von anderthalb Millionen Einwohnern, anstatt in einem Marktflecken von Flintshire, mitten unter den Gebirgen von Wales, in der Nähe der öden Strandflächen des irischen Meeres! Als ich am Montag früh wieder in Mr. Thomas Hawardens Haus zurückkehrte, erschien mir dieses daher eintöniger als je. Ein Umstand trug bei, meine Traurigkeit und Unzufriedenheit noch höher zu steigern. Wie gewöhnlich ging ich am nächstfolgenden Donnerstag mit den Kindern auf die Wiese, um sie spielen zu lassen, ich sage spielen zu lassen, denn ich spielte nicht mehr mit ihnen. Ich saß auf einem umgestürzten Baum und irrte im Geiste in jener großen Stadt umher, welche jetzt das Ziel aller meiner Wünsche war, als ich das Geräusch von Tritten und plaudernde Stimmen hörte, welche mir immer näher kamen.
Ich richtete den Kopf empor. Es waren meine früheren Mitschülerinnen, welche ihre Schritte nach der Richtung lenkten, in welcher ich mich befand. Seit meinem Austritt aus dem Pensionat hatte mir der Zufall keine meiner Mitschülerinnen wieder in den Weg geführt, dafür brachte er sie mir heute alle auf einmal. Ich erhob mich, um Mistreß Colman zu grüßen. Sie schien mich kaum noch zu kennen und erwiderte meinen Gruß durch ein leichtes Kopfnicken, ohne ein Wort an mich zu richten. Meine drei Feindinnen aber erkannten mich. Indem sie an mir vorübergingen, sagte die größte, welche Clarisse Danby hieß, zu Clara Sutton, ihrer Nachbarin: »Sieh, da ist unsere ehemalige Genossin Emma Lyons! Wie es scheint, verdient sie mit dem Kinderwarten auch nicht mehr als wie mit dem Schafhüten, denn sie hat noch ihr Kleid aus der Pension an.« Und alle drei schlugen ein lautes Gelächter auf.
Einige der jüngeren Pensionärinnen erkannten mich, aber nur eine einzige verließ die übrigen, kam auf mich zu und umarmte mich. Sie hieß Fanny Campbell und war die Tochter eines Marinesergeanten. Zweiundzwanzig Jahre später rettete dieser Kuß ihrem Bruder das Leben, dennoch aber wischte er nicht den Spott hinweg, der ihm vorangegangen war. Ja, man hatte recht. Ich trug noch mein Kleid aus der Pension. Ich hatte das für die Sonntage bestimmte so geschont, daß es noch ganz gut war und es war mir auf diese Weise möglich geworden, die zwölf Schillinge, die ich monatlich erhielt, auf die Seite zu legen. Dies war mein Schatz, das heißt die Freiheit.
Ich hatte, seitdem ich bei Mr. Hawarden war, sonach sechs Pfund Sterling gesammelt. Meine sechs Goldstücke lagen in einem Schubfach der Kommode meines Zimmers verwahrt, zu welchem ich den Schlüssel stets bei mir trug, obschon dies in Mr. Hawardens Hause eine sehr überflüssige Vorsicht war, denn man hätte hier den Diamanten des Großmoguls ruhig auf offenem Tische liegen lassen können, ohne fürchten zu müssen, daß ihn jemand sich aneignete. Ja, ich trug immer noch dasselbe Kleid, Clarisse Danby hatte die Wahrheit gesprochen. Wenn ich aber nach London ging, wenn ich Gesellschaftsdame bei Miß Arabella ward, wenn ich zehn Pfund monatlich bekam, wenn ich Mr. Romney, dem Maler, Modell stand, und wenn er mir für jede Sitzung fünf Pfund bezahlte, so konnte ich alle Monate, alle vierzehn Tage, ja alle Tage ein neues Kleid anziehen. Nie bemächtigte sich eine Versuchung eines Frauenherzens rascher als die, welche mich in diesem Augenblick beschlich. Ich betrachtete den Zettel, den ich in meinem Halstuch verwahrt trug, und wiederholte wohl zehnmal: »Miß Arabella, Oxfordstreet 23.« Übrigens hätte ich dieses Papier auch ohne Nachteil verlieren können, denn die Adresse stand auf unauslöschliche Weise in meinem Hirn eingegraben.
Als ich wieder in Mr. Hawardens Haus zurückkam, fand ich hier einen neuen Gast vor. Es war dies Mr. James Hawarden, der Sohn, derselbe, der, wie ich schon gesagt, Wundarzt in London war und in Leicester Square wohnte. Er kam eben von London. Er wollte acht Tage bei seinem Vater bleiben. Acht Tage lang sollte ich also von London sprechen hören! Mein Gesicht äußerte auf ihn dieselbe Wirkung, die es auf alle anderen Leute äußerte. Er richtete allerhand Fragen in bezug auf meine Familie und mich selbst an mich. Er fragte, was ich in Zukunft zu tun gedächte und warum ich nicht nach London ginge. Er wollte, sagte er, mir ein passendes Unterkommen verschaffen. Dann, und während mein Herz vor Begierde und Hoffnung pochte, und mir die Brust zu sprengen drohte, setzte er, nachdem er mich einen Augenblick lang mit einem Blick inniger Teilnahme betrachtet, hinzu: »Nein; jedenfalls ist es besser, wenn Sie nicht hinkommen.« Gern hätte ich ihn näher befragt, aber in Mr. Hawardens Gegenwart wagte ich es nicht. Endlich fügte es der Zufall, daß dieser das Zimmer verließ. Kaum hatte die Tür sich hinter ihm geschlossen, so entschlüpften mir auch schon die Worte: »Kennen Sie vielleicht Mr. Romney?« – »Welchen Romney?« fragte Mr. James Hawarden. – »Nun, den Maler,« antwortete ich. – »Ah, wer kennt Romney nicht? Er ist ja der größte Porträtmaler der Neuzeit.« Dann zuckte er die Achseln und setzte hinzu: »Welch' ein Unglück!« Ich sah ihn an und befragte ihn mit den Augen, denn mit dem Munde wagte ich es nicht. »Ja,« fuhr er fort, »welch' ein Unglück, daß ein so großes Genie sich bei diesem Manne im Bunde mit so großer Immoralität zeigt. Er hatte eine anbetungswürdige Frau und zwei reizende Kinder, hat aber die eine wie die anderen verlassen, um mit Theaterdamen und Kurtisanen zu leben, welche seine Gesundheit ruinieren und sein Geld verschwenden. Für seine Kunst ist ihm allerdings nichts zu teuer. Er würde ein Modell mit fünfundzwanzig Pfund Sterling bezahlen, wenn es ihm eine neue Schönheit darböte. Woher aber kennen Sie Romney?«
»Ich kenne ihn nicht,« antwortete ich errötend. »Es war bloß eine Verwandte von ihm in der Pension, in welcher ich mich befand.« Mr. Hawarden trat wieder ein und ich schwieg. Der strenge Puritaner würde es sehr gemißbilligt haben, daß ich mit seinem Sohne eine Konversation über dergleichen Dinge führte. Ich sprach überhaupt mit Mr. James Hawarden nicht wieder über Romney. Ich wußte ja nun alles, was ich wissen wollte. Mr. Hawarden hatte es mir selbst gesagt. Er war imstande, ein Modell, welches ihm irgend eine neue Schönheit darböte, mit fünfundzwanzig Pfund Sterling zu bezahlen. Ich enthielt mich, mit ihm von Miß Arabella zu sprechen. Ich wollte nicht wissen, was sie eigentlich war, denn der Zweifel gestattete mir, von ihrem Anerbieten Gebrauch zu machen. War übrigens das erste Wort aller, die mich sahen, nicht, daß ich nach London gehen sollte? Ebenso aber nahm auch jeder, nachdem er mehr über die Sache nachgedacht, seine Worte zurück und riet mir ab. Was hatte London denn so Furchtbares? Auf die anderthalb Millionen Menschen, welche London bewohnten, kamen wenigstens zwei- bis dreihunderttausend junge Mädchen von meinem Alter. Waren diese denn deshalb, weil sie in London wohnten, verloren?
Nach Verlauf von acht Tagen reiste Mr. James Hawarden wieder ab. Sein Interesse an mir hatte sich während seines Aufenthaltes bei seinem Vater nur gesteigert, und als er mich verließ, sagte er, wenn ich jemals – obschon er es nicht wünschte – nach London käme, so bäte er mich, ihn nicht zu vergessen. Es stand durchaus nicht zu fürchten, daß ich ihn vergäße. Ich hatte seine Adresse meinem Gedächtnis eben so eingeprägt wie die Miß Arabellas. Einige Tage nach seiner Abreise fügte es der Zufall, daß ich, als ich das Haus verließ, um die Kinder, welche bei einer Verwandten von Madame Hawarden waren, abzuholen, an dem Laden des Spiegelhändlers vorbeikam, von welchem Dick mir vor vier oder fünf Jahren erzählt. Ich schrak förmlich zusammen, als ich mich in dem an einer Tür des Ladens ausgestellten Spiegel in Lebensgröße erblickte. Unwillkürlich blieb ich, wie durch mein eigenes Bild bezaubert, stehen. In diesem Augenblick fühlte ich, daß man mich an der Schulter berührte. Ich drehte mich herum und erkannte Amy Strong, die ich seit beinahe einem Jahre nicht gesehen.
Sie war, ohne gerade elegant, doch besser gekleidet, als ihrem Stande zukam, und ich betrachtete sie daher mit Erstaunen. Sie sah, daß ich im Begriff stand sie auszufragen. Sie ließ mir nicht Zeit dazu. »Was machst du hier?« sagte sie zu mir. Ich lachte. »Du hast es doch gesehen,« antwortete ich. »Ja, du betrachtetest dich in einem Spiegel, du fandest dich schön und du hattest recht. Ich möchte auch so schön sein wie du; dann wüßte ich wohl, was ich täte.« – »Und was würdest du tun?« – »Ich würde dann in dem Fürstentum Wales nicht mehr lange bleiben.« – »Wo würdest du denn hingehen?« – »Nach London. Alle Welt sagt, daß man mit einem hübschen Gesicht in London sein Glück macht. Geh doch hin, und wenn du Millonärin bist, so machst du mich zu deiner Kammerzofe.« – Ich stieß einen Seufzer aus. »Lust dazu hätte ich schon,« sagte ich. – »Nun, was hält dich dann ab?« – »Wie willst du, daß ich in meinem Alter allein nach London reise?« – »O, wenn es dir bloß an einer Reisegefährtin fehlt, so bin ich ja da.« – Ich sah sie an. »Sprichst du im Ernste?« fragte ich sie. – »In vollem Ernste.« – »Aber man braucht viel Geld, um nach London zu gehen.« – »Nein, im Gegenteile, es kostet nicht viel. Man kann für ein Pfund hingelangen. Ich habe mich in Chester schon erkundigt. Für ein Pfund bekommt man einen Platz im Innern der Personenpost; wir nehmen zwei Plätze für zwei Pfund und in drei Tagen sind wir in London.« – »Aber deine Mutter?« – »Meine Mutter?« wiederholte Amy, den Mund verziehend. »Mit dieser bin ich, seitdem ich den Pachthof verlassen, nicht recht einig.« – »Dann bist du also nicht mehr bei Mistreß Rivers?« – So hieß die Pächterin, bei welcher Amy früher diente. »Nein. Es wird am besten sein, wenn ich dir sogleich alles sage. Denke dir, daß ihr Sohn Charles, welcher Midshipman ist, sie besuchte und während seines Aufenthalts bei seiner Mutter mir den Hof machte. Ich fand Charles sehr hübsch und ließ mir seine Aufmerksamkeiten gefallen. Seine Mutter nahm das übel und jagte mich fort. Charles glaubte, er sei mir für den Dienst, um welchen er mich gebracht, eine Entschädigung schuldig und ehe er sich wieder auf sein Schiff begab, schenkte er mir fünfzehn Pfund. Fünf davon habe ich ausgegeben, um mir Kleider zu kaufen, deren ich sehr bedurfte. Folglich habe ich noch zehn. Willst du mit mir nach London kommen? Ich gebe dir fünf davon. O, du wirst mir sie schon wieder geben, dies soll mir durchaus keine Sorge machen.«
»Ich danke dir, Amy,« antwortete ich. »Ich bin aber beinahe eben so reich als du. Ich habe sieben Pfund im Vermögen.« – »Du hast sieben Pfund und ich habe deren zehn! Dann haben mir also zusammen siebzehn Pfund. Damit können wir ja eine Reise um die Welt machen, abgesehen davon, daß Charles sich an Bord eines Admiralschiffes befindet.« – »O,« sagte ich zu ihr. »wenn ich gewiß wüßte –«
»Was denn?« fragte Amy. – »Ob die Dame, welche mir ihre Adresse gegeben, wieder nach London zurückgekehrt ist.« – »Eine Dame hat dir ihre Adresse gegeben?« – »Ja.« – »Und sie wohnte in London?« – »Ja.« – »Und zu welchem Zweck hat sie dir ihre Adresse gegeben?« – »Ich soll Gesellschafterin bei ihr werden. Sie bietet mir zehn Pfund monatlich. – »Zehn Pfund monatlich und du zögerst noch!« – »Ich habe dir ja schon gesagt, daß ich sie vor kaum vierzehn Tagen am Meeresstrande, nicht weit von Mr. Hawardens Hause sah.« – »Wo wohnte sie denn hier?« – »Ich hörte, daß sie von Park Gate sprachen.« – »Sie sprachen? Dann war sie also nicht allein?« – »Nein, sie war von einem Maler begleitet, welcher seinerseits sich erbot, mir allemal, wenn ich ihm eine Stunde Modell stünde, fünf Pfund zu geben.« – »Wie! Du hast eine Dame gefunden, welche dir zehn Pfund monatlich bietet, wenn du ihre Gesellschafterin sein willst, und einen Maler, welcher dir fünf Pfund für die Sitzung bietet, und du hast dies alles zurückgewiesen! Wenn du katholisch wärest, so würde ich vermuten, daß du einmal nach dem Tode heiliggesprochen sein wolltest. Laß uns unverweilt aufbrechen, Emma. Du wirst erst dein Glück und dann das meinige machen.« – »Wenn es nur möglich wäre zu erfahren, ob sie noch in Park Gate, oder ob sie wieder abgereist sind.« – »Nichts leichter als dies.« – »Wieso?« – »Nun, haben wir nicht Dick, der auch gern nach London gehen möchte, und den wir, da wir reich sind, mit in den Kauf nehmen werden? Welchen Tag gehst du mit deiner Herrschaft auf's Land?« – »Alle Sonntage.« – »Nenne mir die Namen deines Malers und deiner Dame.« – »Der Maler heißt Mr. Romney, die Dame Miß Arabella.« – »Mr. Romney – Miß Arabella – und im Park Gate nachfragen, ob sie noch da sind? Sei unbesorgt, ich werde nichts vergessen; Sonnabend abends reise ich mit Dick nach Chester. Sonntag zehn Uhr morgens werde ich am Meerestrande spazieren gehen, dort werden wir uns treffen und ich gebe dir Antwort.« – »Aber du wirst Dick um seinen Dienst als Schafhirt bringen.« – »O, Dick hütet die Schafe schon längst nicht mehr.« – »Was macht er denn?« – »Das weiß ich selbst nicht recht. Wahrscheinlich treibt er ein wenig Schmuggelhandel.«
»Ach, mein Gott, die Schmuggler kommen ja auf die Galeeren!« – »Ja, wenn man sie ertappt. Dick aber ist schlau und läßt sich nicht erwischen. Da er jedoch anfängt an unserer Küste sehr bekannt zu werden, so wäre es ihm nicht unlieb, ein wenig anderswohin zu können. Also Sonntag?« – »Ja, Sonntag! aber versprechen kann ich dir nichts.« – »Wer verlangt denn, daß du etwas versprechen sollst? Wenn wir dort sind, werden wir sehen. Auf alle Fälle vergiß weder dein Geld noch deinen Koffer.«
Und Amy entfernte sich mit sorglosem, leichtem Tritte, welcher bewies, daß sie, was sie selbst betraf, mit sich vollkommen einig war. Ich blieb einen Augenblick unbeweglich und gedankenvoll noch auf derselben Stelle stehen; dann entfernte ich mich ebenfalls nachdem ich noch einen letzten Blick in den großen Spiegel geworfen. Unglücklicherweise gab mir der Spiegel denselben Rat wie Amy Strong.
Am nächstfolgenden Sonntage gingen wir wie gewöhnlich und zu derselben Stunde wie am Sonnabende vorher auf's Land. Das Pferd erhielt die drei gewohnten Peitschenhiebe und nach Verlauf von zwei Stunden zehn Minuten stiegen wir aus. Ich hatte Amy's Ratschläge nicht vergessen. Ich hatte meine sieben Pfund mitgenommen, zu welchen mittlerweile noch die zwölf Schillinge gekommen waren, welche Mr. Thomas Hawarden mir am Tage vorher ausgezahlt. Nur bedurfte ich nicht eines Koffers, um meine Garderobe zu verwahren, sondern eine mit den vier Zipfeln zusammengebundene Serviette genügte vollkommen. – Es wäre schwierig, die Gefühle auszudrücken, welche in mir erwachten, als ich das Haus betrat, welches ich jetzt vielleicht zum letzten Male wiedersah, wo ich wahrscheinlich meine letzte Nacht verbrachte, um mich dann in der folgenden als Flüchtling davon zu entfernen, ohne zu wissen, wohin ich ginge und in welche neue und unbekannte Welt ich mich unter der Obhut jener launenhaften Gottheit hineinwagte, welche man den Zufall nennt. Ich überlegte für den Fall, daß meine Flucht fest beschlossen wäre, worin die Hindernisse bestünden, die ich zu überwinden haben würde. Unglücklicherweise waren dieselben nicht von der Art, daß ein so überspannter Kopf wie der meinige dadurch hätte aufgehalten werden können.
Die Kinderstube, welche auch zugleich mein Zimmer war, befand sich im Erdgeschosse und ging in den Garten. Die Tür des Gartens führte auf den Strand und auf diesem Strande konnten Amy und Dick, welche ihrerseits keiner Überwachung unterworfen waren, mich erwarten. Am nächstfolgenden Tage zu der verabredeten Stunde war ich mit am Strande. Dick und Amy erwarteten mich gerade an der Stelle, wo ich einen Monat vorher Mr. Romney und Miß Arabella begegnet war. Sie hatten, wie ich nun hörte, Park Gate schon vor drei Wochen verlassen. Wohin sie gereist waren, konnte man nicht sagen; da sie sich aber nach Chester hatten fahren lassen, so stand mit Wahrscheinlichkeit zu vermuten, daß sie nach London gegangen waren.
Amy war der Meinung, daß wir auf alle Fälle abreisen müßten. Es war dies auch die Meinung Dicks, dem noch mehr als seiner Schwester daran zu liegen schien, sich von der irischen Küste so bald als möglich zu entfernen. Da sonach von drei Stimmen zwei sich für die Abreise erklärten, so trug die Majorität den Sieg davon. Die Personenpost ging am nächstfolgenden Tage früh sechs Uhr ab und Amy war so vorsichtig gewesen, unsere zwei Plätze im Inneren und den ihres Bruders auf dem Dache zu bestellen. Um Mitternacht – eher fortzukommen war mir unmöglich – sollten Amy und ihr Bruder an der Tür des Gartens sein. Ein Boot sollte uns erwarten und uns nach Chester bringen, wo wir wenigstens eine Stunde vor Abgang der Personenpost anlangen mußten. Nachdem diese Verabredung getroffen war, entfernten sich Amy und Dick. Der Tag verging mit seiner gewöhnlichen Regelmäßigkeit. Ich habe oft bemerkt, daß nichts schneller vergeht als die regelmäßigen Tage oder vielmehr, wenn sie einmal vorbei sind, nichts schneller zu sein scheint, weil, da sie durch kein hervorragendes Ereignis bezeichnet werden und nur unbestimmte Erinnerungen zurücklassen, diese Erinnerungen in der grauen, monotonen Färbung eines Lebens ohne Freude und ohne Schmerzen sich vermischen.
Der Abend kam. Man brachte die Kinder zur gewohnten Stunde zu Bett. Ich aß mit Mr. und Mistreß Hawarden zu Abend und kehrte dann Schlag zehn Uhr in mein Zimmer zurück. Ich hatte die Vorsicht gebraucht, mir vorher Feder, Tinte und Papier hineinzutragen, denn ich hatte zwei Briefe zu schreiben, den einen an Mr. Hawarden, den andern an meine Mutter. Ich schrieb an Mr. Hawarden, um ihm für die Güte zu danken, die er mir bewiesen, und um ihm zu sagen, daß ich niemals das Jahr vergessen würde, welches ich so glücklich gewesen, in seinem Hause zu verleben. Infolge eines Wunsches, der mächtiger wäre, als mein Wille, würde ich jedoch nach jenem Lande der Chimären gelockt, welches man London nennt. Ich ginge, mich seinem Gebet und dem seiner Gattin empfehlend, fort wie ein Seefahrer, der in ein gebrechliches Fahrzeug steigt und in ein ihm unbekanntes Meer hineinsteuert. An meine Mutter schrieb ich, daß ich, weil ich in London bei einer reichen Dame – anderweite Auseinandersetzungen fügte ich nicht hinzu – einen ganz ausgezeichneten Platz gefunden hätte, der mir zehn Pfund Sterling monatlich eintragen würde, nach dieser Stadt abreiste. Wenn der Platz, fügte ich hinzu, wirklich so wäre, wie man mir gesagt, so würde ich nicht säumen, ihr meine Dankbarkeit für die Mühe und Sorgfalt zu beweisen, welche sie auf meine Erziehung verwendete. Ich sagte noch – und dies war auch beinahe wahr – wenn ich ihr noch nichts von diesem Platze gesagt, und wenn ich nicht persönlich von ihr Abschied nähme, so läge der Grund darin, daß ich, wenn sie mich einmal wieder in ihren Armen hielte, nicht mehr den Mut haben würde, mich von ihr zu trennen. Nachdem ich diese Briefe geschrieben, versiegelte ich sie, schrieb die Adressen darauf und fühlte mich nun ein wenig ruhiger. In einem anderen Hause hätte ich fürchten können, daß die Herrschaft sich vielleicht später zu Bett legte als gewöhnlich, oder daß ein verspäteter Arbeiter mir im Garten begegne. In Mr. Hawardens Haus herrschte aber zu große Pünktlichkeit, als daß mir ein Unfall dieser Art hätte begegnen können.
Ich hörte es elf und dann halb zwölf in der Uhr im Speisezimmer schlagen, die ebenso genau gestellt wurde wie die Mr. Hawardens in der Stadt, ausgenommen daß sie anstatt Sonnabends mittags erst Sonntags zu derselben Stunde aufgezogen wurde. Ich ließ noch ziemlich zehn Minuten vergehen. Ich küßte die beiden Kinder, welche durch die Regelmäßigkeit, womit sie schliefen, ihre unbestreitbare Abkunft verrieten. Dann öffnete ich das Fenster und stieg in den Garten hinaus, worauf ich die beiden Flügel, wenn auch nicht wieder zu schließen, doch möglichst fest anzudrücken suchte. Am Fuße des Fensters mußte ich einen Augenblick stehen bleiben. Obschon ich nicht viel zu fürchten hatte, so pochte mir das Herz doch gewaltig. Übrigens war die Nacht dunkel und seitdem ich Hawarden bewohnte, hatte ich mir wieder die kindische Furcht angewöhnt, welche die Finsternis einflößt; eine Furcht, die ich, als ich auf dem Pachthofe war und ganze Tage im Gebirge zubrachte, niemals empfunden hatte. Nach einigen Sekunden schwand diese Furcht, welche ihren Grund mehr in dem Schritt, den ich tat, als in den Verhältnissen hatte, unter welchen er geschah, aus meinem Gemüt hinweg. Meine Augen gewöhnten sich an das Dunkel. Dank dem Kies, womit der Weg bestreut war, sah ich denselben sich vor mir hinschlängeln wie ein langes graues Band.
Dieses Band führte gerade nach der Gartentür, durch welche hinaus man auf den Meeresstrand gelangte. Ich begann auf diese Tür zuzueilen. Als ich an derselben angelangt war, blieb ich stehen. Es war mir, als hätte ich auf der andern Seite der Wand sprechen hören. Es war dies jedoch durchaus nicht zu verwundern, da ja Dick und Amy mich hier erwarten sollten. Ich atmete wieder auf und fragte leise: »Bist du es, Amy?« Amys Stimme antwortete mir bejahend. Überdies hörte ich dieselbe Stimme, welche zu Dick sagte: »Sie ist es; sie ist da.« Es war augenscheinlich, daß trotzdem, was diesen Morgen verabredet worden, die beiden Geschwister gefürchtet hatten, ich würde nicht Wort halten. Ich öffnete die Tür und brauchte zu diesem Zwecke bloß den Schlüssel umzudrehen. In der Tat war wohl nie eine Flucht, welche so seltsame Resultate zur Folge haben sollte, von so wenigen romantischen Abenteuern begleitet. Hinter der Tür standen Dick und Amy. Ich bemerkte, daß Dick mit einer Kugelbüchse und mit einem Paar Pistolen bewaffnet war. Er war jetzt ein großer, starker Bursche von achtzehn Jahren, und schien viel Mut und Entschlossenheit zu besitzen. Wir machten die Tür wieder zu. Dick, der sich des Schlüssels bemächtigte, verschloß sie von außen, damit, wenn wir fort wären, niemand in den Garten gelangen könnte, und warf den Schlüssel über die Mauer. Ein kleines Boot erwartete uns, auf dem Strand liegend, in einer Entfernung von wenigen Schritten. Wir, Amy und ich, stiegen hinein. Dick schob es in das Wasser und sprang in dem Augenblick, wo es sich auf dem Meeresspiegel zu schaukeln begann, ebenfalls mit hinein. Dann bemächtigte er sich der Ruder und begann dieselben kräftig zu handhaben.
Es war, wie ich mich entsinne, in einer schönen Nacht des Jahres 1777, in der Nacht vom 15. zum 16. Juli, wo ich dieses friedliche Haus, welches ich nicht wieder sehen sollte, verließ und von allen meinen Erinnerungen der Jugend und Unschuld schied, die sich mir hinfort nur noch im Traume vergegenwärtigen sollten, so daß ich wie Francesca von Rimini sagen konnte: »Die bitterste Erinnerung im Schmerz ist die Erinnerung an die Tage des Glücks.«
Siebenunddreißig Jahre sind seit jener Nacht vergangen, aber wenn ich die Augen schließe und mich in meine Gedanken versenke, so ist es mir, als wäre es erst gestern gewesen, und ich sehe alle jene Gegenstände wieder, welche in jenem Augenblick mir ins Auge fielen und mein Gemüt beschäftigten. Der Himmel war schwarz, aber nur infolge der Abwesenheit des Mondes. Tausende von Sternen funkelten in dem dunklen Azur und spiegelten sich in dem noch dunklern der Fluten des Meerbusens.
Mr. Hawardens Haus, an welchem wir still vorbeiglitten, indem wir eine sich schnell wieder verlierende Furche hinter uns ließen, hob sich zu unserer Rechten ab wie eine graue Masse. Auf dem Gipfel des kleinen Hügels an der Küste, welche wir soeben verlassen, schimmerte ein Leuchtfeuer und auf der entgegengesetzten Küste bellte ein Hund in einem unsichtbaren Gehöft.
Gegen drei Uhr landeten wir am anderen Ufer des Meerbusens. Dick ruderte sein Boot in die Nähe einer kleinen am Strande liegenden Schaluppe. Auf sein Anrufen richteten zwei Männer sich empor. Er wechselte einige Worte mit ihnen, übergab ihnen seine Waffen, drückte dem einen die Hand, umarmte den andern und reichte uns die Hand, um uns beim Aussteigen behilflich zu sein.
Wir schlugen den Weg nach Chester ein, welches ungefähr eine Stunde Weges von dem Strande entfernt lag. Für Landbewohner wie wir war eine Stunde Weges eine Kleinigkeit. Ich trug mein kleines Paket. Das Amys, welches ein wenig umfangreicher war als das meinige, ward von Dick getragen, welcher höchstwahrscheinlich für seine Person nichts weiter besaß, als was er auf dem Leibe trug.
Mit Tagesanbruch kamen wir in Chester an. Dick führte uns in eine Art Wirtshaus, welches nicht weit von dem Personenpostbureau stand. Amy und ich genossen hier jede eine Tasse Milch. Dick, der weniger der Lebensweise der Hirten huldigte als wir, trank ein Glas Branntwein. Die Stunde verging wohl oder übel und um sechs Uhr stiegen wir in den Postwagen. Auf der Reise ereignete sich nichts, was hier besonders erwähnt zu werden verdiente. Wir passierten mehrere größere Städte Englands, Lichfield, Coventry, Oxford, und am dritten Tage, gegen vier Uhr nachmittags, langten wir in London an. Dick hatte die Adresse eines kleinen Gasthauses, wo einige Erkennungsworte ihm sofortigen Willkommen bereiten mußten, denn der Wirt des Gasthauses stand, wie es schien, mit sämtlichen Schleichhändlern der Küste in Verbindung. Dieses Gasthaus stand in Billiers-Street, einer kleinen Straße, die einerseits an die Themse, andererseits an den Strand stößt. Ich gestehe, daß ich bei meinem Einzug in London mehr Schrecken als Bewunderung fühlte. Die sich nach allen Richtungen kreuzenden Wagen, dieses Getöse, unter welchem das des Donners vergebens versuchen würde, sich hörbar zu machen, diese mehr rennenden als gehenden Fußgänger, die Atmosphäre, welche, anstatt rein und durchsichtig wie auf dem Lande zu sein, jetzt grau und dick geworden war, das erbärmliche Gasthaus endlich, in welchem wir nach einer Reise von sechzig Stunden abstiegen, alles dies war nicht geeignet, meine Träume auf poetische oder goldene Weise zu verwirklichen. Dick verlangte für Amy und mich ein Zimmer. Da die Ungewißheit, in welcher ich mich in bezug auf die Anwesenheit der Miß Arabella in London befand, mir keinen Augenblick Ruhe ließ, so nahm ich, sobald ich Toilette gemacht und während Amy ausruhte, Dicks Arm und ließ mich von ihm nach Oxfordstreet führen. Dick kannte den Weg, der nach diesem Ziele aller meiner Hoffnungen führte, ebensowenig als ich. Er erkundigte sich jedoch und dank seiner auf dem Wege, den wir zu verfolgen hatten, jeden Augenblick erneuten Fragen gelangten wir binnen weniger als einer Viertelstunde nach Oxfordstreet. Die Nummer 23 stand auf der Tür eines allerliebsten kleinen Hotels eingraviert, und man sah durch das Gittertor hindurch und über den Hof hinweg das üppige Grün eines Gartens.
Ein Schweizer in kostbarer Livree stand unter dem Haupteingang. Nur mit einer gewissen Furcht richtete ich das Wort an eine Persönlichkeit, die mir so bedeutend erschien, und fragte sie mit vor doppelter Gemütsbewegung zitternder Stimme, ob Miß Arabella in London sei. »Was wollen Sie von Mylady?« fragte der Schweizer. – »Ich hatte vor ungefähr einem Monate die Ehre sie in Chester zu treffen,« antwortete ich. »Sie sagte mir, ich sollte sie in London aufsuchen und hier ist die Adresse, welche sie mir gegeben.« Der Schweizer zog die Schnur einer Glocke, die Glocke läutete und eine Art Zofe, eine Frau von etwa vierzig Jahren, kam die Treppe herunter. »Antworten Sie diesem jungen Mädchen, Mistreß Norton,« sagte der Schweizer, indem er seine würdevolle Haltung und seine majestätische Unbeweglichkeit wieder annahm. Ich wiederholte der Dienerin, was ich zu dem Schweizer gesagt, und überreichte ihr die Adresse, welche Miß Arabella mir gegeben. »Ja, das ist in der Tat Mylady's Handschrift,« sagte die Dienerin, nachdem sie gelesen, »unglücklicherweise ist sie jetzt nicht in London.« – »O mein Gott! Wo ist sie denn? Ich bin ja einzig und allein in der Absicht nach London gekommen, um sie aufzusuchen.« – »Der letzte Brief, den wir von ihr erhalten haben, war von Dover. Sie meldete uns darin, daß sie sich nach Frankreich einschiffte.« – »Und,« fragte ich, während diese erste Täuschung mir das Herz zusammenschnürte, »wissen Sie nicht, wann sie vielleicht wiederkommt?« – »Nein, es ist bloß wahrscheinlich, daß sie zur Zeit der Wettrennen wieder hier sein wird.« – »Und wann werden diese Wettrennen stattfinden?« – »Vom 15. bis 25. August.« – »Was sollen wir tun?« fragte ich Dick, indem ich mich nach ihm herumdrehte. – »Wir können weiter nichts tun, als warten,« antwortete er. – »Wenn Sie Ihren Namen aufschreiben wollen, Miß,« sagte die Dienerin, »so wird man, sobald Mylady zurückkommt, ihr denselben geben.« – »Das werde ich sehr gern tun.« – Mit diesen Worten trat ich in die Loge des Schweizers und schrieb auf ein Blatt Papier: »Emma Lyonna.« – »Sie werden die Güte haben,« setzte ich hinzu, »Mylady zu sagen, daß das junge Mädchen dagewesen ist, welchem sie in Wales am Meeresstrande begegnet ist und welchem sie ihre Adresse mit der Aufforderung gegeben, sie in London zu besuchen.« – »Und wo wird man Sie finden, wenn Mylady befiehlt, daß man Sie suche?« – »Das weiß ich selbst noch nicht und ich weiß auch nicht, was mittlerweile aus mir werden wird.« – »Vor der Hand,« setzte Dick hinzu, »wohnen wir –« Ich unterbrach ihn, denn ich begriff sofort, daß die Nennung unserer Herberge uns eben nicht sonderlich zur Empfehlung gereichen würde. »Vor der Hand,« sagte ich, »wird man bei Mr. James Hawarden, Chirurg in Leicester Square, stets erfahren können, wo ich bin. Wünschen Sie, daß ich die Adresse dieses Herrn unter meinem Namen schreibe?« – »Das ist nicht nötig. Er hat Tom kuriert, als dieser das Bein gebrochen hatte.« – »Ich danke. Und nun,« sagte ich zu Dick, »sei so gut, mich zu Mr. Hawarden zu führen.« – Dick erkundigte sich nach dem Wege, den wir nun einzuschlagen hätten. Glücklicherweise war Leicester Square nicht sehr weit von Oxfordstreet entfernt und wir lenkten unsere Schritte sofort nach dem neuen Ziele.
Mr. James Hawarden war nicht zu Hause, doch sollte er noch vor sieben Uhr zurückkommen und es war jetzt halb sechs. Man forderte mich auf, so lange zu warten. Ich bat Dick, in unser Gasthaus, welches nicht weit von Leicester Square entfernt sein konnte, zurückzukehren und mich in einer Stunde abzuholen. In der Tat lag Leicester Square am Wege und ungefähr auf der Hälfte von Oxfordstreet bis zur Themse, auf welche die Fenster unseres Zimmers gingen. Nach Verlauf einer halben Stunde hörte ich drei- oder viermal an die Tür pochen. Es war der Hausherr, welcher zurückkam und sich auf diese Weise ankündigte. Er trat in die Art Sprechzimmer, wo ich ihn erwartete, und obschon es mittlerweile beinahe Abend geworden war, so erkannte er mich doch sofort. »Ah, Sie sind es, mein schönes Kind!« sagte er zu mir mit einem Lächeln, welches einen gewissen Anflug von Wehmut hatte. »Ich dachte mir, als ich Hawarden verließ, wohl, daß ich Sie bald in London sehen würde.« – »Ist das ein Vorwurf, den Sie mir da machen, Sir?« fragte ich ihn. – »Nein, die Jugend ist abenteuersüchtig und die Schönheit hat ihre glücklichen oder verderblichen Geschicke, denen sie nicht entrinnen kann. Wollen Sie mit in mein Kabinett kommen? Dort können wir besser plaudern und ich vermute, daß Sie mir mancherlei mitzuteilen haben werden.« – »Wenn Sie die Güte haben wollen, mich anzuhören, ja, Sir.« – »Nun so kommen Sie, mein Kind.« – Mit diesen Worten ergriff er einen Armleuchter mit drei Kerzen und ging mir voran.
Wir traten in ein einfaches, aber zugleich elegantes Kabinett und nahmen darin Platz. – »Nun, Sie sind also da,« hob er dann an, »was gedenken Sie hier zu tun?« – »Sir,« sagte ich zu ihm, »als ich Sie fragte, ob Sie Mr. Romney kennten, und ich Ihnen sagte, er wäre mit einer der Pensionärinnen bei Mistreß Colman verwandt, belog ich Sie.« – Mr. Hawarden lächelte in eigentümlicher Weise. »Sie irren sich, Sir,« sagte ich errötend. »Ich habe Mr. Romney nur ein einzigesmal gesehen. Er war am Meeresstrande in Gesellschaft einer Dame, welche Miß Arabella hieß.« – »Ja,« sagte Mr. Hawarden, »man hat mir allerdings erzählt, daß er mit ihr herumstreicht.« – »Jetzt,« hob ich wieder an, »lassen Sie mich Ihnen die Wahrheit sagen.« – Ich erzählte ihm nun unsere Begegnung in allen ihren Einzelheiten, wie Miß Arabella mir ihre Adresse gegeben und welche Anerbietungen wir beide gemacht. Ich sagte ihm, ohne ihm etwas zu verschweigen, wie ich das Haus seines Vaters verlassen, wie ich nach London gekommen sei und welchen vergeblichen Besuch ich soeben in Oxfordstreet gemacht. Er ließ mich reden, dann sah er mich fest an, und faßte meine beiden Hände in die seinigen. »Mein Kind,« sagte er in sehr sanftem, aber zugleich gewissermaßen feierlichem Tone, »wenn man so alt ist, wie Sie und Ihre Schönheit besitzt, so gibt es zwei Wege, welche man im Leben verfolgen kann. Der eine führt einfach und gerade durch eine ruhige, eintönige Ebene und durch Ehe und Mutterschaft zu einem ehrenwerten und geehrten Alter. Der andere steigt bald, um die Aussicht auf einen glänzenden Horizont zu gewähren. Bald senkt er sich und führt durch schmutzige Moräste. Schlägt man diesen Weg ein, so erlangt man das Ziel des Lebens in drei Stationen. Die erste heißt Stolz, die zweite Reichtum, die dritte Schande. Sie stehen jetzt an dem Scheidepunkte dieser zwei Wege. Wissen Sie, welchen Sie wählen werden?« – »Ach, Sir, können Sie mich das fragen?« – »Ja, mein Kind, ich kann und muß Sie fragen, denn, bemerken Sie wohl, ich bin nicht bloß Sittenprediger, sondern auch, und zwar vorzugsweise, Philosoph. Nun glaube ich nicht, wie gewisse absolute Geister behaupten, daß der Mensch vollkommen seinen freien Willen habe. Ich glaube an die unwiderstehliche Macht der Materie über die Seele noch mehr als an die absolute Herrschaft der Seele über die Materie. Wenn Sie auch den geraden und einfachen Weg einschlagen, so werden doch bald die Dunkelheit der Nacht, bald der Rausch der Sinne Sie davon hinwegleiten. Gute Ratschläge und ein guter Führer werden Sie wieder auf den geraden Weg bringen. Ich werde, wenn Sie wollen, dieser Ratgeber und dieser Führer sein; es liegen aber in gewissen Organisationen gewisse Urbedingungen, über welche weder Ratschläge noch Beispiele zu triumphieren vermögen. Diese eigentümlich geschaffenen Organisationen stößt die Gesellschaft von sich, das Gesetz straft sie, die Wissenschaft aber beklagt sie und spricht sie zuweilen von aller Schuld frei. Dennoch aber ist es immer besser, wenn man den guten Weg einschlägt, als wenn man den schlimmen wählt. Es ist schon eine Gnade der Vorsehung, daß Sie jene Dame nicht zu Hause angetroffen haben. Wollen Sie mir versprechen, freiwillig nicht wieder zu ihr oder zu Mr. Romney zu gehen, so will ich mich dann in allem Ernste mit Ihnen beschäftigen.« Ich schwieg. »Sie zögern?« sagte er. – »Nein, Sir,– aber ich hatte mich goldenen, melodischen Träumen hingegeben. Man hat mir so oft gesagt, daß ich, wenn ich nach London käme, mein Glück machen würde, und ich bin hierhergekommen, ohne mich weiter zu fragen, auf welche Weise dieses Glück sich mir bieten würde. Verlange ich zu viel, wenn ich Sie bitte, mir fünf Minuten Zeit zu lassen, damit ich erst diese Träume aus meinen Gedanken verbannen kann?« – »Armes Kind!« murmelte der Arzt. Ich saß eine Weile stumm und gedankenvoll da. Ich fühlte seinen Blick auf mich geheftet. Es war mir, als dränge dieser Blick mir bis in die innerste Seele und verliehe derselben eine Willenskraft, die ihr bis dahin unbekannt gewesen.
»Sir,« hob ich nach Verlauf von einigen Augenblicken wieder an, »ich verspreche Ihnen, weder Miß Arabella noch Mr. Romney wiederzusehen zu suchen. Ich verspreche Ihnen, nicht zu diesen Personen zu gehen, aber – aber wenn dieselben zu mir kommen, wenn ich ihnen begegne, ohne sie zu suchen, dann verspreche ich Ihnen nicht, daß ich die Kraft haben werde, der Versuchung zu widerstehen.« – »Sie werden getan haben, was Sie gekonnt,« antwortete Mr. Hawarden, »und mehr kann man von einer Tochter Eva's nicht verlangen.« In diesem Augenblick ward zweimal an der Tür gepocht. Diese beiden Schläge verrieten die untergeordnete Stellung des Pochenden. Ich erschrak. »Was ist Ihnen?« fragte mich der Arzt. – »Sir,« sagte ich zu ihm, »wahrscheinlich ist es Dick, der Bruder meiner Freundin Amy Strong, welcher mich abholen will. Wenn Sie aber wollen, daß ich Ihre guten Ratschläge befolge, so lassen Sie mich nicht zu meiner Freundin zurückkehren. Sie ist es, die mich mit nach London gelockt hat, und wenn ich zu Grunde gehe, so ahne ich, daß es durch sie geschehen wird.« – »Gut. Sagen Sie, Sie blieben diese Nacht bei mir, und ich behielte Sie da, weil ich Ihnen versprochen hätte, Ihnen morgen ein Unterkommen zu verschaffen.« Der Diener, der mich in das Sprechzimmer geführt, öffnete die Tür des Kabinetts und sagte, zu seinem Herrn gewendet: »Sir, der junge Mensch, welcher die junge Dame gebracht hat, ist da und will sie wieder abholen.« – »Laßt ihn hereinkommen,« sagte Mr. Hawarden. Dann öffnete er eine Tür, welche in einen Salon führte, in welchem eine junge Frau von drei- oder vierundzwanzig Jahren mit einer Stickerei beschäftigt saß, während ein zu ihren Füßen sitzendes Kind in einem Bilderbuch blätterte. »Liebe Freundin,« sagte er, »hier ist das junge Mädchen, von welchem ich dir bei meiner Rückkunft von Hawarden erzählt. Sie kommt aus dem Hause meines Vaters. Sei so gut, ihr bis morgen Gastfreundschaft zu gewähren. Morgen hoffe ich für sie ein passendes Unterkommen zu finden.« Die junge Frau erhob sich und kam mir entgegen. In diesem Augenblick erschien Dick unter der Tür. »Dick,« sagte ich zu ihm, »entschuldige mich bei Amy; Mr. und Mistreß Hawarden wollen mich bei sich behalten. Wenn die Hoffnung, welche mein Gönner mir macht, sich verwirklicht, so schreibe ich dir augenblicklich.« – »Na, sagte ich dir nicht, Emma, daß man nie verzweifeln müsse. Gott ist gut und in London ist Platz für alle. Auf jeden Fall, Mr. Hawarden, werden Sie sich rühmen können, diesem Mädchen, welches gestern noch das schönste der Provinz war und heute wahrscheinlich das schönste in London ist, einen Dienst geleistet zu haben. Auf Wiedersehen, Emma! Mr. und Mistreß Hawarden, Gott vergelte es Ihnen.«
Mit diesen Worten entfernte sich Dick, nicht wenig erfreut über das Glück, welches ich gemacht. Dieses Glück war freilich nicht gerade das, welches ich zu suchen gekommen war. Das eigentliche Glück bestand nach meiner Ansicht in einem geräuschvollen, bewegten Leben mit plötzlichen unerwarteten Katastrophen und Glücksumständen. Die junge Frau, welche ihren Gatten soeben umarmt wie einen Vater, welche sich ruhig und lächelnd wieder zu dem Kinde gesetzt, das seinerseits nicht einmal die Augen von dem Bilderbuch emporgerichtet, um zu sehen, wer in das Zimmer träte – diese junge Frau, welche ihre Stickerei wieder mit einer Hand ergriff, die niemals durch die Leidenschaften bewegt worden zu sein schien, welche ihre Blumen mit ruhiger, geduldiger Kunstfertigkeit nuancierte – diese Frau war freilich glücklich; es gab aber, wie der gelehrte Arzt so richtig auseinandergesetzt, Temperamente, welchen dieses kalte ruhige Glück nicht genügen konnte.
Und übrigens welche Aussicht hatte ich wohl, dasselbe Ziel zu erreichen, zu welchem sie gelangt war? War ich vielleicht auch reich geboren und von geehrter Familie wie sie, um mit achtzehn Jahren einen in der Wissenschaft berühmten Gemahl zu finden, der mich in einen eleganten, warmen, behaglichen Salon einführte? Nein, ich war ein armes Landmädchen, ohne Vermögen, beinahe ohne Erziehung. Ich wagte nicht zu antworten, wenn man mich fragte, was meine Mutter machte, und kaum konnte ich antworten, wenn man mich nach dem Namen meines Vaters fragte. Ich war schön, dies war alles. Ich mußte daher von meiner Schönheit verlangen, was andere von ihrer Erziehung, ihrer Geburt, ihrem Vermögen verlangen. Da Gott mir weiter nichts gegeben als Schönheit, so hatte er ohne Zweifel beabsichtigt, mir dadurch alles andere, was mir fehlte, zu ersetzen. Meiner Schönheit stand mehr die Entscheidung über mich, als mir die Entscheidung über meine Schönheit zu.
Dies waren die Betrachtungen, die ich bei mir anstellte, als ich diesen friedlichen Haushalt sah, wo der Mann las, die Frau stickte und das Kind in einem Bilderbuch blätterte. Wie verschieden hiervon war die stolze und entschiedene Haltung einer Miß Arabella! Wie himmelweit verschieden hiervon war der glühende Enthusiasmus, das freie Leben und der künstlerische Ruhm eines Romney!
Ohne Zweifel waren die Frau und die Kinder, welche er verlassen, auch eine Frau, welche stickte, und Kinder, welche Bilderbücher ansahen, und wenn dies der Fall war, so hatte ich nicht den Mut, ihm seine Treulosigkeit zum Verbrechen anzurechnen. O törichte Jugend! O wahnsinnige Phantasie! Ach, wenn ich, am Ende des Lebens angelangt, heute mit den Augen der Reue das betrachte, was ich damals mit den Augen der Illusion ansah, wie gern möchte ich, anstatt die glänzende und strafbare Emma Lyonna, die reiche und mächtige Lady Hamilton, lieber jene sanfte junge Frau gewesen sein und mein Leben mit Blumensticken mit meinem neben mir sitzenden Gatten und meinem zu meinen Füßen liegenden Kinde zugebracht haben!
Um sieben Uhr bereitete Mistreß Hawarden den Tee; um neun Uhr ward zu Abend gegessen. Der ganze Unterschied, den ich zwischen den Lebensgewohnheiten des älteren Mr. Hawarden und denen seines Sohnes bemerkte, bestand darin, daß das Kind mit uns zu Abend aß. Um zehn Uhr wies man mir mein Zimmer an. Dick hatte Sorge getragen, mir mein kleines Paket zu bringen. Die Sachen, welche es enthielt, und die fünf Pfund, welche mir nach Bestreitung meiner Reisekosten noch übrig blieben, machten meine ganze Habe aus. Am nächsten Morgen wußte ich nicht, ob ich wieder in das Familienzimmer hinuntergehen sollte und wartete daher, bis man mir sagen würde, was ich zu tun hätte. Nach einer Weile meldete man mir, daß das Frühstück aufgetragen sei, und ich ging hinunter. Mr. James Hawarden war soeben erst wieder nach Hause gekommen. Ganz freudig kam er auf mich zu. »Wohlan,« sagte er, »mein Vorhaben ist gelungen und es kommt nun bloß auf Sie an, mein Kind, ob Sie dem Wege folgen wollen, den ich Ihnen gestern andeutete. Einer meiner Klienten, Mr. Plowden, einer der ersten Juweliere von London, braucht eine Ladenmamsell. Ihre Augen werden allerdings seine Diamanten und Ihre Zähne seine Perlen ein wenig in den Schatten stellen, aber was tuts? Sie bekommen zum Anfang fünf Pfund monatlich und das Weitere wird sich finden. Wir haben verabredet, daß Sie schon morgen Ihren Posten antreten und ich werde Sie zu ihm führen.«
Der Arzt betrachtete, nachdem er dies gesagt, mich vom Kopf bis zu den Füßen und rief: »Mein Himmel!« – Ich errötete. »Sie finden meine Toilette sehr mangelhaft, nicht wahr?« fragte ich. – »Allerdings,« entgegnete er. »Haben Sie nicht ein frischeres Kleid, welches ein wenig mehr nach der Mode ist?« Ich schüttelte den Kopf. »Schön sind Sie, das steht außer Frage. Sie würden auch in jedem Gewand, in einer härenen Kutte, ja selbst unter Lumpen noch schön bleiben, dennoch aber bedarf es einer gewissen Ausstattung, wenn man in einem derartigen feinen Verkaufsgeschäft tätig sein will. Wenn man Zeit hätte; aber bis morgen –.«
In diesem Augenblicke trat Mistreß Hawardens Zofe ein. »Ist Mistreß Hawarden nicht hier?« fragte sie – »Nein; was wollt Ihr von ihr?« fragte der Arzt. – »Miß Cecily ist da und wünscht sie zu sprechen.« – »Ah, das ist ja gerade die Schneiderin,« rief Mr. Hawarden. »Sagt Miß Cecily, sie solle warten, und meiner Frau, sie solle zu mir hierherkommen.«
Die Dienerin verließ das Zimmer und fünf Minuten später trat Mistreß Hawarden ein. »Ich habe dich rufen lassen, liebe Freundin,« sagte Mr. Hawarden zu seiner Gattin, »um dich zu fragen, ob Miß Cecily diesem jungen Mädchen hier bis morgen ein Kleid fertigen kann.« – »Das dürfte wohl schwierig sein,« entgegnete die Frau des Arztes, »aber warte –.« – »Nun gut, ich warte.« Mistreß Hawarden betrachtete mich aufmerksam, näherte sich mir und maß ihre Schulter mit der meinigen. »Ich glaube, ich kann dich aus der Verlegenheit ziehen,« sagte sie dann, zu ihrem Gatten gewendet. »O, ich verlasse mich ganz auf dich,« entgegnete er. – »Cecily,« fuhr Mistreß Hawarden fort, »bringt mir soeben ein einfaches, aber elegantes Kleid. Diese junge Dame ist gerade so groß wie ich, obschon vielleicht ein wenig schlanker. Auf alle Fälle aber kann, wenn du glaubst, daß es geht, diese junge Dame mein Kleid nehmen und Cecily wird mir dann, da ich warten kann, ein anderes fertigen.« Mr. Hawarden küßte seine Gattin auf die Stirn.
»In der Tat,« sagte er, »du bist ein Engel; doch nein, ich irre mich, du bist eine Heilige, vielleicht bist du beides zu gleicher Zeit.« Dann drehte er sich nach mir herum und fuhr fort: »Nun, Miß, ist es Ihnen so recht und wollen Sie ein Kleid tragen, welches für meine Frau gefertigt worden?« – »Ich würde stolz darauf sein und mich glücklich schätzen.« Mr. Hawarden zog die Klingel. »Miß Cecily soll hierherkommen.« Die Schneiderin trat ein. »Ich verlasse Sie,« sagte Mr. Hawarden. »Das Weitere werden die Damen untereinander selbst abmachen.« Mit diesen Worten entfernte er sich. Das Kleid paßte mir, als ob es für mich gefertigt wäre. Am nächstfolgenden Tage, zehn Uhr morgens, war ich bei Mr. Plowden, das heißt in dem schönsten Juwelierladen am Strand, installiert, und Hawarden verabschiedete sich von meinem neuen Dienstherrn, indem er mich ihm empfahl, als ob ich sein eigenes Kind wäre.
Ich habe seitdem viel Kleider gehabt, niemals aber eines, in welchem ich hübscher ausgesehen und welches mir besser gestanden hätte, als das der sanften Mistreß Hawarden.
Wenn Mr. James Hawarden geglaubt hatte, mich, wenn er mich mitten unter die Diamanten, die Saphire, die Smaragden und Perlen des reichen Mr. Plowden versetzte, von der Versuchung oder die Versuchung von mir zu entfernen, so hatte er sich sehr getäuscht. Dieser gelehrte Anatom, der in der Brust und in den Eingeweiden seiner Kranken ihre physischen Gebrechen las, hatte nicht verstanden, in meinem Herzen das moralische Gebrechen zu lesen, von welchem es verzehrt ward. Mich jeden Augenblick des Tages diese tausenderlei Kleinode aller Art und von jeder Gestalt, welche diesen so notwendigen, ja für jedes wirkliche Weib so unentbehrlichen Überfluß ausmachen, berühren, mich sie von weit weniger schönen Wesen als ich war, und welche von ihren Ehemännern oder von ihren Liebhabern zu dieser Quelle des Lichtes geführt wurden, um sich für Bälle, für die Theater, für Festlichkeiten zu schmücken, an den Hals, an die Handgelenke, an die Ohren halten lassen – dies hieß das Pulver mit dem Feuer spielen lassen.
Zehn oder zwölf Tage nach meiner Anstellung besuchte mich Mr. Hawarden, um sich nach mir zu erkundigen. Man sprach sich sehr belobend über mich aus. Mr. Plowden war ganz entzückt von mir. Er behauptete, die meisten Herren, welche Schmucksachen für ihre Frauen oder für ihre Liebhaberinnen kauften, nähmen dies bloß zum Vorwand, um mich zu sehen, und würden, wenn sie es sonst wagten, mit den gekauften Gegenständen lieber meine Ohren, meinen Hals und meine Arme schmücken, als die der eben erwähnten Damen. Es lag hierin viel Wahres und auch ich konnte nicht umhin, die Wirkung zu bemerken, die ich hervorrief. Mr. Hawarden, der sich über das mir gespendete Lob nicht wenig freute, bat Mr. Plowden mir zu erlauben, den nächsten Sonntag bei ihm zuzubringen, weil er, wie er sagte, mir eine Überraschung bereiten wolle. Den nächsten Tag frühzeitig würde er mich wieder zurückbringen. Mein Dienstherr bewilligte dies um so eher, als Sonntags in London kein Kaufladen geöffnet wird, so daß die Gunst, die er mir zugestand, auch den Vorzug hatte, daß er dabei keinerlei Nachteil erlitt. In Mr. Hawardens Hause ging es, wie der Leser aus den wenigen Worten, die ich darüber gesagt, schon abgenommen haben wird, nicht eben sehr lustig zu; die vierzehn Tage aber, welche ich in dem Bijouterieladen zugebracht, wo ich fortwährend beschäftigt gewesen, Schmucksachen vorzuzeigen und den Personen, welche dieselben zu sehen verlangten und anprobierten, allerhand Schmeicheleien zu sagen, hatten mich vierundzwanzig Stunden wenn auch nicht des Vergnügens, doch wenigstens der Ruhe schätzen gelehrt. Überdies hatte Mr. Hawarden auch von einer Überraschung gesprochen, und ich war sehr neugierig, worin dieselbe bestehen würde. Am Sonntag fand ich mich demgemäß zur Stunde des Frühstücks in Leicester Square ein. Mistreß Hawarden empfing mich mit ihrer gewohnten wohlwollenden Sanftmut. Es war ein herrlicher Augusttag. Man ließ den Wagen anspannen und machte eine Spazierfahrt nach dem Hyde Park. Ich kannte bis jetzt von London weiter nichts als Villiersstreet, Oxfordstreet, Leicester Square und den Strand. Diese aristokratische Promenade war daher der Beginn meiner Einführung in eine neue Welt. Diese Scharen von Reitern in dem reichen Kostüm, welches man zu jener Zeit trug, die eleganten Amazonen mit den wallenden Gewändern und Schleiern, dieser Glanz der vornehmen englischen Gesellschaft, alles setzte mich in Erstaunen.
Ich hätte die Hälfte meiner Lebenszeit darum gegeben, wenn mir vergönnt gewesen wäre, einen jener Phaëtons zu führen, welche mit Blitzesschnelle an uns vorüberfuhren, oder auf einem der schönen Pferde zu sitzen, welche in der für die Reiter reservierten Allee auf- und abgaloppierten. Ganz gewiß hatte Mr. Hawarden, um mich von Ehrgeiz und Stolz zu heilen, ein Mittel in Anwendung gebracht, welches Gefahr lief, eine Wirkung hervorzubringen, die der von ihm erwarteten geradezu entgegengesetzt war. Wir kehrten durch den Greenpark zurück, den wir, um dem Kinde ein Vergnügen zu machen, zu Fuße durchwandelten, und gingen dann wieder nach Hause, um den Vesperimbiß einzunehmen. Ich fragte Mr. Hawarden, ob dies die Überraschung sei, von welcher er gesprochen. »Nein,« sagte er. »Allerdings scheint unser Ausflug Ihnen Vergnügen gemacht zu haben, ich habe Ihnen aber noch etwas Besseres zu bieten. Ich werde Ihnen den berühmten Garrick zeigen.« Ich wußte nicht im mindesten, wer Garrick wäre und suchte meine Unwissenheit auch durchaus nicht zu verbergen oder zu bemänteln, sondern bat um nähere Erklärung. »Garrick,« sagte Mr. Hawarden, »ist der größte Schauspieler, der jemals gelebt hat.« Ich machte große Augen. »Er spielt heute abend wahrscheinlich zum letztenmal, während dagegen eine junge Schauspielerin, der man eine große Zukunft verspricht, eine gewisse Mistreß Siddons, zum ersten Male auftritt. Sheridan, dessen Freund und Arzt ich gleichzeitig bin, hat mir Billetts zu einer Loge geschickt, und ich hatte die Absicht, Sie an diesem Genusse teilnehmen zu lassen.« – »Wie,« rief ich, »ich soll mit ins Theater gehen? Ich soll eine Komödie sehen?« – »Nein, eine Tragödie vielmehr, doch hoffe ich, daß Ihnen dieselbe ebenso sehr gefallen wird.« Ich stieß einen Freudenschrei aus und klatschte in die Hände wie ein Kind, welches ich in der Tat auch noch war. »Ach,« rief ich, »wie gut Sie sind, Mr. Hawarden. Wie, ich soll ein Trauerspiel sehen! Dann wird es Könige und Königinnen auf der Bühne geben, nicht wahr? Und wie heißt das Trauerspiel, welches wir sehen werden?« – »Es heißt ›Romeo und Julia‹, mein Kind, und ist eins der vier Meisterwerke Shakespeares.« – »Und das soll ich sehen!« rief ich vor Freude hüpfend. »Mein Gott, wie glücklich ich doch bin!« – »Na,« sagte Mr. Hawarden, »es macht wirklich Vergnügen, Ihnen Vergnügen zu machen.«
Ich war in der Tat vor Freude geradezu außer mir. Oft hatte ich wohl schon vom Theater sprechen gehört, aber ich hatte keinen Begriff davon, was es eigentlich wäre. Einige von Mistreß Colmans Schülerinnen, welche in Chester im Theater gewesen und dort herumziehende Schauspielertruppen gesehen, waren ganz entzückt wieder nach Hause gekommen. Wie mußte es erst in London sein. »Wann geht es denn an?« fragte ich Mr. Hawarden. – »Schlag halb acht Uhr.« – »Und wann ist es aus?« – »Ziemlich um elf Uhr.« – »Dann dauert es also drei und eine halbe Stunde?« – »Ja, aber von diesen vierthalb Stunden,« sagte Mr. Hawarden lachend, »müssen die Zwischenakte in Abrechnung gebracht werden.« – »Aber nicht wahr, wir werden gleich zum Anfange dort sein?« – »Jawohl; wenn der Vorhang aufgeht, sind wir bereits in unserer Loge.« – »Ach mein Gott; jetzt ist es erst fünf Uhr!«
»Weniger fünf Minuten, aber die Zeit wird vergehen. Es gibt ja bis dahin noch eine Menge zu tun. Erstens haben wir den Tee zu trinken. Soeben bringt man denselben und ich ersuche Sie, ein wenig von diesem Pudding zu genießen, denn wir werden heute abend sehr spät soupieren. Ferner haben Sie Ihre Toilette zu machen.« – »Meine Toilette! Ich, Mr. Harvarden! Sie wissen doch, daß ich nur ein einziges Kleid habe, nämlich das, welches Mistreß Hawarden die Güte gehabt hat, mir zu geben. Ich müßte denn das berühmte blaue Kleid wieder anziehen, was ich aber, offen gestanden, nicht gern möchte.« – »Die blaue Farbe stand Ihnen aber sehr gut.« – »Ja, die Farbe wohl, aber das Kleid! Sie werden sich erinnern, daß dieses Ihnen selbst nicht gefiel.«
»Na,« sagte Mr. Hawarden, »es wird sich hoffentlich alles noch machen.« Meine Augen wichen nicht von dem Zeiger der Uhr. »Geht diese Uhr nicht zu spät?« fragte ich. – »In der Familie Hawarden,« sagte der Doktor lachend, »gehen die Uhren nie zu früh oder zu spät, sondern stets auf die Minute. Deswegen wird, sobald der Tee getrunken ist und die Kuchen gegessen sind, ein jedes sich auf sein Zimmer verfügen, denn es wird dann halb sieben Uhr sein und wir brauchen zehn Minuten, um von hier nach Drury Lane zu gelangen.« Als die Kuchen gegessen und der Tee getrunken war, ging ich mechanisch in mein Zimmer hinauf, welches dasselbe war, in welchem ich geschlafen. Ich wußte nicht recht, was ich während der vierzig Minuten, die uns noch von dem glücklichen Augenblick des Aufbruchs trennten, machen sollte, als ich auf dem Bett ein reizendes Kleid von blauem Taffet liegen sah, welches aus dem Himmelszelte geschnitten zu sein schien. Gleichzeitig trat die Zofe ein.
»Sie erlauben wohl, Miß,« fragte sie, »daß ich Ihnen beim Ankleiden ein wenig behilflich bin?«
Indem sie dies sagte, hob sie das Kleid mit beiden Händen empor. Nun erst begriff ich, was bis jetzt in Mr. Hawardens Worten mir dunkel geblieben war. Er hatte nicht bloß daran gedacht, mich ins Theater zu führen, sondern mir auch dazu ein Kleid geschenkt. Die Tränen traten mir in die Augen. Ich empfand das Bedürfnis, zu ihm zu eilen und ihm meine Dankbarkeit auszusprechen. »Wo ist Mr. Hawarden?« fragte ich die Zofe. – »Er kleidet seine Gattin an, damit ich Ihnen behilflich sein kann und damit alle zur rechten Zeit fertig seien.«
Ich ward förmlich betrübt über diese vollendete Güte, denn ich fühlte, daß ich unfähig wäre, dieselbe jemals zu vergelten, ja auch nur gebührend dafür zu danken. Ich war mehr träumerisch als ungeduldig geworden. Ich dachte an diesen Mann, der allgemeine Berühmtheit genoß, der einer der ersten Ärzte von London, ein ausgezeichneter Anatom, ein Gelehrter ersten Ranges war und sich die Mühe nahm, seine Frau anzukleiden, damit die Tochter der armen Bauermagd, damit die ehemalige Kinderwärterin seines Vaters, damit Mr. Plowdens Ladenmamsell nicht zu spät ins Theater käme und auch nicht des mindesten Teils des Glücks verlustig ginge, welches sie sich versprach.
Es liegt in dem Genie eine barmherzige Güte für die Kleinen, eine erhabene Sanftmut gegen die Schwachen, wodurch es sich der Allmacht Gottes nähert. Ein Viertel auf acht Uhr pochte der vortreffliche Mann selbst an meine Tür. »Nun,« fragte er, »wie weit sind wir?«
Ich ging rasch hinaus, ergriff ihn bei der Hand und küßte ihm dieselbe, ehe er meine Absicht erraten konnte. Er sah mich an. Ohne Zweifel war ich sehr hübsch, denn er zuckte zärtlich mitleidig die Achseln und sagte, indem er mich seiner Gattin zeigte, welche in diesem Augenblicke aus ihrem Zimmer trat: »Gestehe, daß es ein großes Unglück wäre, wenn dieses Meisterwerk der Schöpfung auf Abwege geriete!« Dann, und als ob er bereuete, meinem Stolze diese Nahrung gegeben zu haben, sagte er: »Vorwärts, vorwärts in den Wagen! Ich habe diesem Kinde versprochen, noch vor dem Aufziehen des Vorhanges mit ihm an Ort und Stelle zu sein.« In der Tat nahmen wir in unserer Loge gerade in dem Augenblicke Platz, wo die Ouvertüre begann. Ich hatte noch Zeit einen Blick auf den glänzenden Halbkreis zu machen. Sheridan, welcher damals Theaterdirektor war, hatte das Haus kürzlich von dem ersten Dekorateur Londons restaurieren lassen. Man konnte sich in einen Feenpalast versetzt glauben. Was mich betraf, so war ich geblendet von dem Licht, magnetisiert von der Musik, bezaubert durch das Gold, die Diamanten und die Blumen, und nicht begreifend, wie man so viel Schätze hier zusammenbringen könnte, ohne gleichsam die ganze Welt zu ruinieren, nicht imstande zu sagen oder mir auch nur zu denken, wo ich wäre.
Der Vorhang ging auf. Ich sah nun weiter nichts mehr als einen öffentlichen Platz in Verona.
Wer mir in allen Phasen meiner obskuren und unwissenden Kindheit gefolgt ist, kann sich eine Idee von der Wirkung machen, welche diese Vorstellung von ›Romeo und Julia‹ auf mich hervorbrachte, während die Hauptrollen von dem größten Tragöden, den England gehabt, und von der größten Tragödin, welche es haben sollte, gespielt wurden. Mein Hirn, das noch weiß war wie die unbeschriebenen Blätter eines Buches, nahm alle Eindrücke von Poesie, Liebe, Mitleid und Schrecken auf, welche in diesem bewundernswürdigen Gedicht enthalten sind, und die, indem sie sich meinem Gemüt einprägten, alle meine Sinne zum höchsten Grade des Enthusiasmus und der Begeisterung entflammten. Ich war gerade ebenso alt wie Julia. Ich war schön und leidenschaftlich wie sie. Ich begriff diese plötzliche und exaltierte Liebe, welche sie für den jungen Montague empfindet und welche sie in der Vorahnung ihres nahen Todes gleich am ersten Tage oder vielmehr in der ersten Nacht, wo sie ihren Geliebten sieht, sagen läßt: »Eile, Amme, eile; erkundige dich, ob er noch frei ist, denn wenn er vermählt ist, dann soll, dies schwöre ich, nur der Sarg mein Brautbett sein.«
Mr. Hawarden verfolgte auf meinem Gesicht die wechselnden Gefühle meines Herzens, und der erfahrene, scharfblickende Psychologe las darin alle Eindrücke, die ich empfand. Es war für ihn ein interessantes Studium, gemischt mit jener süßen Befriedigung, welche bei Anblick des Glücks oder des Vergnügens gewährt, welches man bereitet. Und in der Tat, mein Glück und meine Freude waren groß. Besonders als die Balkonszenen kamen, von welchen die erste so poetisch, die zweite so leidenschaftlich ist, drückte ich beide Hände aufs Herz und hätte mit starrem Auge und atemlos ebenso wie Julia gewünscht, Romeo gleichzeitig da zu behalten und von der Bühne zu entfernen. Man denke sich den Schrecken, der sich meiner bemächtigte, als Julia, indem sie den Trank zu sich nimmt, welcher sie in Schlaf versenken soll, bei dem Gedanken erbebt, daß sie allein in der Gruft ihrer Ahnen mitten unter den Toten erwachen und vielleicht diese Toten ebenfalls aus ihren Gräbern hervorgehen sehen wird. Dann kam die Katastrophe, die auf mich um so mehr Wirkung äußerte, als sie nicht bloß für mich, sondern auch für die andern Zuschauer neu war. Man weiß, daß in der ursprünglichen Tragödie, so wie Shakespeare sie geschrieben, Romeo an Juliens Grabe stirbt, ohne zu wissen, daß sie nur schläft, und daß Julia erst nach Romeos Tod wieder zum Bewußtsein erwacht. Durch einen Blitz des dramatischen Genies erleuchtet, hat Garrick gesehen oder vielmehr erraten, an welcher furchtbaren Szene der große Dramatiker vorübergegangen war, ohne sie zu ahnen. Er hat Julien in dem Augenblicke wieder aufgeweckt, wo Romeo, der sie tot glaubt, sich eben vergiftet hat, und anstatt die beiden Toten isoliert und folglich einsam zu machen, hat er den beiden Liebenden eine und dieselbe Todesqual bereitet, welche für den einen durch das Gift, für den andern durch den Dolch endet. Auf diese Weise hat er den Auftritt vom Schmerz zur Verzweiflung, vom Schönen zum Erhabenen gesteigert.
In dem Augenblick, wo Julie sich den Tod gibt, sank ich zurück und ward ohnmächtig, während das ganze Haus, Garrick für seine bewunderungswürdige Neuerung und das glänzende Talent, welches er dabei entfaltet, dankend, in einen lauten Beifallssturm ausbrach. Meine Ohnmacht war nicht gefährlich. Ein wenig frisches Wasser erweckte mich daraus. Ich konnte nichts weiter tun, als Mr. Hawardens Hände ergreifen und ihm dieselben drücken und ohne mich zu fragen, ob es passend oder unpassend sei, warf ich mich in die Arme seiner Gattin.
Wir kehrten nach Hause zurück. Das Abendessen erwartete uns, ich aber konnte, wie man sich leicht denken wird, keinen Bissen zu mir nehmen. Vor meinen Augen flackerten Tausende von Lichtern, mein Hirn war erfüllt von Poesie, mein Herz von Liebe und Zauber. Ich bat Mr. Hawarden um die Erlaubnis, mich auf mein Zimmer begeben zu dürfen. Er gewährte sie mir. Dann ging er in seine Bibliothek und sagte: »Ich weiß, was Sie wollen; Sie wollen wieder ins Theater. Hier gehen Sie hinein!« Und mit diesen Worten gab er mir ein Buch in die Hand. Es war ein Band von Shakespeare, in welchem die Tragödie von »Romeo und Julia« stand. Ich stieß einen Freudenschrei aus. Mr. Hawarden hatte den inbrünstigsten Wunsch meines Herzens erraten und war demselben entgegengekommen. Ich eilte in mein Zimmer, warf mich in einen Armsessel, las das Stück von der ersten Zeile bis zur letzten wieder durch. Dann nahm ich wieder die Hauptszenen, die Liebesszenen zwischen Romeo und Julia vor, indem ich mit der Balkonszene begann und mit der in der Gruft endete. Allerdings war ich unfähig, das Genie zu würdigen, welches dieses Meisterwerk der Poesie geschaffen; mein von Jugend, Hoffnung und Liebe erfülltes Herz ersetzte aber den Mangel an Wissenschaft durch innere Anschauung. Übrigens hatte ich nichts vergessen, weder eine Gebärde des Schauspielers, noch eine Betonung der Schauspielerin. Und welch' ein Schauspieler, welch' eine Schauspielerin waren es. Garrick und Mistreß Siddons!
Gegen drei Uhr morgens legte ich, während Kopf und Herz in Flammen standen, durch die Müdigkeit jedoch überwältigt, mich endlich zu Bett. Es geschah aber bloß um zu träumen, ich sei Julia und um einen eingebildeten Romeo in meine Arme zu schließen und mit ihm vor Liebe und Schmerz zu sterben. Ich brauche nicht erst zu sagen, m welcher Gemütsverfassung ich in meinen Bijouterieladen zurückkehrte. Ich hatte Mr. Hawarden gebeten, mich das magische Buch mitnehmen zu lassen. Ich hielt es in dem Wagen, der mich wieder nach Hause zurückbrachte, an mein Herz gedrückt, als ob ich fürchtete, daß die darin enthaltene Poesie ihm Schwingen liehe, so daß es vielleicht von mir hinwegflöge. Wie demütigend für meinen Stolz erschienen mir jetzt alle jene armseligen Aufmerksamkeiten, die ich den Kunden gegenüber zu beobachten genötigt war, jene Schmeicheleien, die meine Stellung mich zwang, ihnen zu machen, und die Anpreisung der Waren, welche ich ihnen vorlegte. So schön zu sein wie Julia, ein so von Liebe und Poesie erfülltes Herz zu besitzen wie das ihrige, und dagegen Bijouterien anzuprobieren, wäre es auch im Laden des ersten Juweliers von London, anstatt ein Atlaskleid durch einen Ballsaal zu schleppen, anstatt von der Höhe eines Balkons Liebesworte mit einem schönen Kavalier auszutauschen, anstatt auf den Gesang der Vögel zu hören und mit dem Geliebten zu erörtern, ob es der Gesang der Nachtigall oder der der Lerche ist – man wird gestehen, daß eine tiefe Kluft zwischen dem lag, was war und was sein konnte, zwischen dem Traum und der Wirklichkeit. Während des Tages wagte ich nicht zu lesen und wenn ich es auch gewagt, so hätte ich doch keine Zeit dazu gehabt. Mr. Plowdens Laden war einer der besuchtesten von London und ward nie leer, so daß ich unaufhörlich beschäftigt war. Ich erwartete daher mit großer Ungeduld die zehnte Abendstunde, wo das Geschäft geschlossen wurde. Kaum war dies geschehen, so ging ich wieder in mein Zimmer hinauf. Hier beschränkte ich mich nicht mehr darauf zu lesen, sondern lernte in einer einzigen Nacht beinahe das ganze Drama auswendig. Ganz besonders die Szenen, welche mich oder richtiger gesagt Julien persönlich angingen, waren Wort für Wort in meinem Gedächtnis geblieben und ich hatte mir nicht bloß die Verse, sondern auch die Gebärden und Betonung gemerkt, womit die große Schauspielerin, welche die Rolle der Julia gab, die Verse gesprochen hatte.
Ich begann nun diese Gebärden und Betonungen nachzuahmen, in meinem Stolze aber, und so vollkommen mir auch Mistreß Siddons in dem Augenblick, wo ich sie sah und hörte, erschienen war, glaubte ich jetzt, indem ich dieselben Verse deklamierte, es ließe sich dabei eine noch größere Geschmeidigkeit des Gebärdenspiels und eine größere Weichheit des Sprachorgans entwickeln. In der Tat ließ Mistreß Siddons, wie ich mich später überzeugte, so vollkommen sie in den Rollen einer Lady Macbeth und ähnlichen auch war, doch in den sanftern, nuancierteren Juliens oder Desdemonas einiges zu wünschen übrig. Dabei schien es mir, als wäre diese der großen Künstlerin mangelnde Anmut des Körpers, dieser Zauber der Stimme von der Natur mir verliehen. Meine geschmeidige hohe harmonische Gestalt konnte durch ihre natürlichen Undulationen jene Vollkommenheit des Schmachtens und der Weichheit erlangen, welche die Italiener mit dem unübersetzbaren Ausdruck morbidezza bezeichnen. Es war mir, als besäße ich, was so selten der Fall ist, alles – das sanfte und tragische Sprachorgan und ein Gesicht, welches selbst, wenn es erheuchelte Gefühle zu erkennen gab, in der Traurigkeit die verkörperte Melancholie und in der Freude das blendendste Spiegelbild derselben zu sein schien.
Mein Körper war bis dahin rein geblieben, wenn auch die Durchsichtigkeit meiner Seele schon getrübt war. Meine Schönheit besaß jenen Sammethauch unbestreitbarer Unschuld, welche selbst in der nackten Venus Achtung gebietet. Mit einem Worte, ich säete schon das Feuer, aber ich verbrannte noch nicht.
Einen Teil der Nacht brachte ich damit zu, daß ich vor einem kleinen Spiegel, in dem ich kaum den fünften oder sechsten Teil meiner Person sehen konnte, deklamierte und gestikulierte. Am nächstfolgenden Tage fragte Mistreß Plowden, entweder aus Naivetät oder aus Ironie, ob ich die Gewohnheit hätte, laut zu träumen, denn meine Zimmernachbarn hätten sich beschwert, daß ich sie im Schlafe gestört. Sie bat mich daher, möchte ich nun schlafend oder wachend träumen, den Klang meiner Stimme ein wenig zu mäßigen. Dies hieß mit anderen Worten mir befehlen, der einzigen wirklichen Freude zu entsagen, welche mir, seitdem ich auf der Welt war, beschieden gewesen. Ich setzte meine nächtlichen Studien fort, natürlich mit gedämpfter Stimme. Mein großer Traum wäre damals gewesen, mich einem Theaterdirektor vorzustellen und mich von ihm engagieren zu lassen. Ich dachte daran, Mr. Sheridan empfohlen zu werden. Ich hatte seinen Namen nicht vergessen, obschon ich damals noch keinen Begriff von der Berühmtheit hatte, die sich daran knüpfte. Wie solle ich aber eine solche Bitte an Mr. Hawarden stellen? Woher sollte ich den Mut nehmen, ihm zu sagen, daß ich Mr. Plowdens Kaufladen mit dem Theater, daß ich den geraden Weg, den er mir eröffnet, mit dem krummen vertauschen wollte, den er mir zu verschließen geglaubt? Ich fühlte, daß ich diesen Mut, diese Kraft niemals haben würde. Was sollte ich tun? Warten, das heißt mich auf eins oder das andere jener seltsamen Ereignisse verlassen, welche plötzlich die Zukunft eines Lebens verändern, und mich in dem Schiffbruche an die dünne Planke der Hoffnung anklammern. So vergingen vierzehn Tage, vielleicht die schmerzlichsten, welche ich bis damals zugebracht. Ich war seit etwas länger als einem Monat bei Mr. Plowden und erlitt seit ungefähr vierzehn Tagen die Qualen, welche ich soeben zu schildern versucht, als eine elegante Equipage vor der Tür des Kaufladens hielt und ein Lakai in perlgrauer und kirschroter Livree die Tür des Wagens öffnete, aus welchem eine wunderbar schön gekleidete Dame stieg. Als ich meinen Blick auf diese Dame warf, war ich nahe daran, einen lauten Schrei auszustoßen. Es war Miß Arabella!
Mit ihrem stolzen, entschiedenen Schritt trat sie in den Kaufladen. Es war, als sähe man die Göttin der Mode und des Reichtums, oder noch besser gesagt Fortuna in eigener Person. Sie sah mich sofort, und ihr Blick kreuzte sich mit dem meinigen, keine Muskel ihres Gesichtes aber verriet, daß sie mich erkannte. Es setzte mich dies durchaus nicht in Erstaunen. Ohne Zweifel hatte man vergessen, ihr meinen Namen zu geben. Sie glaubte, wenn sie sich nämlich meiner überhaupt noch erinnerte, jedenfalls, ich sei noch in Wales, und das einzige, was ihre Blicke, als sie mich in London in einem Bijouterieladen des Strand bei Mr. Plowden fand, auf meine Person lenken konnte, war ein durch die Ähnlichkeit hervorgerufenes Erstaunen. Dieses Erstaunen gab sich aber auf keinerlei Weise kund. Sie ließ sich mehrere Schmucksachen zeigen, und obschon ich mit dieser Vorzeigung beauftragt ward, so sprach sie doch mit mir wie mit einer Person, die ihr vollkommen unbekannt gewesen wäre. Ihre Wahl richtete sich auf einen Schmuck von Smaragden und Diamanten, dreitausend Pfund an Wert. Nachdem sie ihre Wahl getroffen, sagte sie: »Schicken Sie mir heute nachmittags fünf Uhr diesen Schmuck mit der quittierten Rechnung in mein Hotel.« Zugleich sah sie mich an, und setzte dann zu Mr. Plowden gewendet hinzu: »Schicken Sie diese junge Dame.« Ich fühlte wie ein Schauer meinen ganzen Körper durchrieselte. Mr. Plowden antwortete, ihr Wunsch werde pünktlichst erfüllt werden, und geleitete sie dann mit einer Menge Komplimenten und Verbeugungen wieder nach ihrem Wagen zurück. »Diese junge Dame und keine andere,« sagte Miß Arabella nochmals, ehe sie in den Wagen stieg. »Verstehen Sie, Mr. Plowden? Wenn Sie mir jemand anders schicken, so bezahle ich Ihnen Ihren Schmuck nicht bloß nicht, sondern sende Ihnen denselben zurück, um nie wieder etwas bei Ihnen zu kaufen.« – »Seien Sie unbesorgt, Mylady,« sagte Mr. Plowden, »es soll alles geschehen, wie Sie befehlen.« Miß Arabella winkte mit der Hand, und der Wagen fuhr in scharfem Trabe davon.
Ich stand da, wie vernichtet. Das unerwartete Ereignis, welches ich angerufen, ohne es auch nur bestimmt bezeichnen zu können, war, gleich jener durch den Stab eines Zauberers improvisierten magischen Erscheinungen, sofort herbeigeeilt. Ich hatte nicht Miß Arabella gesucht, sondern Miß Arabella hatte mich gefunden. Was auch die Folge dieser Begegnung sein mochte, so ward ich dem Mr. Hawarden gegebenen Wort keinesfalls untreu.
Abends um fünf Uhr ließ Mr. Plowden eine Droschke holen, denn er fand es nicht geraten, mich mit einem Schmucke von diesem Werte allein durch die Straßen von London gehen zu lassen. Es war die entscheidende Stunde, und es fand in mir ein heftiger Kampf statt. Ich war nahe daran, Mr. Plowden zu bitten, mir die Versuchung zu ersparen, der Versucher war aber in meiner Seele und behielt die Oberhand. In Oxfordstreet Nr. 23 machte der Wagen Halt. Ich erkannte das Hotel mit dem Schweizer unter dem Tor und dem Garten im Hintergrund wieder. Der Schweizer zog mit jener wichtigen Miene, die er nie ablegte, die Klingel. Die Zofe erschien. Ich sagte, daß ich im Auftrag von Mr. Plowden käme, und ich hörte, daß bereits Befehl erteilt war, mich sofort vorzulassen. Miß Arabella befand sich in einem kleinen Boudoir mit himmelblauen Atlastapeten und in Gold und Weiß gemalter Decke. Sie trug ein reiches türkisches Frauenkostüm mit Zechinenkopfputz und ein goldgesticktes Mieder von kirschrotem Sammet, welches einen Teil der Brust sehen ließ; ihre nackten Füße staken in orientalischen Pantoffeln, welche kirschrot und mit Gold gestickt waren wie der Gürtel. So saß oder lag sie vielmehr auf schwellenden Polsterkissen. Sie befahl Mistreß Norton, ihrer Zofe, die Tür hinter mir zu schließen, und mich mit ihr allein zu lassen.
»Mylady,« sagte ich mit zitternder Stimme und ohne daß ich gewagt hätte die Augen zu ihr aufzuschlagen, »hier ist der Schmuck, den Sie bei Mr. Plowden ausgewählt, und die Rechnung, welche Sie verlangt. Mr. Plowden läßt Ihnen sagen, daß er die Rechnung nicht beigefügt haben würde, wenn Sie es nicht ausdrücklich verlangt hätten.« Sie unterbrach mich. »Also Sie sind es wirklich, Sie kleine Undankbare?« sagte sie. »Kommen Sie einmal her.« Die Schönheit hat auf mich stets eine unwiderstehliche Gewalt ausgeübt, und die Miß Arabellas war wirklich blendend zu nennen. Ich näherte mich ihr, kniete vor ihr nieder, wie ich vor der Göttin Venus zu der Zeit, wo die Götter auf Erden wandelten, getan haben würde, wenn ich ein junges Mädchen von Gnyda oder Paphos gewesen wäre. »O Mylady,« sagte ich ganz überwältigt, »Sie tun mir unrecht. Mein erster Besuch in London war bei Ihnen. Um Ihnen zu gehorchen, um Ihnen auf meinen Knien zu dienen, wie ich in diesem Augenblicke tue, war ich nach London gekommen. Man hat Ihnen jedenfalls auch meinen Namen zugestellt, aber ohne Zweifel haben Sie ihn selbst vergessen.« – »Kommen Sie her!« sagte Miß Arabella nochmals. Zugleich faßte sie mich bei der Hand, und ließ mich neben ihr auf dem Kissen Platz nehmen. »Sie sehen doch,« fuhr sie dann fort, »daß ich Sie nicht vergessen, denn ich habe Sie ja bis in den Kaufladen dieses abscheulichen Plowden verfolgt. Warum sind Sie aber nicht wieder einmal hierher zu mir gekommen?« Ich schlug die Augen nieder, denn ich stand im Begriff zu lügen. »Ich fürchtete, Sie wären noch nicht nach London zurück,« sagte ich. – »Aber warum haben Sie dann bei Mr. Hawarden verboten, daß man mir Ihre Adresse gebe?« – »O, das habe ich niemals verboten!« rief ich lebhaft. »Ohne Zweifel hat Mr. Hawarden –« Sie unterbrach mich und sagte: »Wahrscheinlich hat Mr. Hawarden Ihre Tugend schützen wollen, welche ohne Zweifel nach seiner Meinung bei mir gefährdet ist.« Ich schlug errötend die Augen nieder. »Sie verstehen noch nicht zu lügen,« sagte Miß Arabella. »Ich hatte dies buchstäblich erraten.« Sie klingelte und Mistreß Norton trat wieder ein.
»Hier,« sagte sie, indem sie ihr ein bereits zurechtgelegtes Paket Banknoten gab, »hier tragt dies zu Mr. Plowden und sagt, ihm, daß ich den Schmuck behalte, aber auch die Person, welche ihn mir überbracht hat.« – »Wie, Mylady,« rief ich, »Sie wollen –« »Wollen Sie mir vielleicht weiß machen, daß Sie sich nach Mr. Plowdens Kaufladen und Ihrem Beruf als Ladenmamsell zurücksehnen? Dies hieße meine Fertigkeit, in den Zügen der Menschen zu lesen, Lügen strafen. Hier,« setzte sie lachend hinzu, »hier können Sie ganz nach Belieben deklamieren; hier wird sich niemand beschweren, daß Sie zu laut träumen.« – »Wie, Sie wissen?« rief ich. – »Ich bin sehr neugierig, und Sie wissen, daß die Neugier der Erbfehler der schönen Frauen ist. Ich sage also, daß Sie hier ganz nach Ihrem Belieben deklamieren können, abgesehen davon, daß Sie so oft ins Theater gehen werden, als es Ihnen Vergnügen macht.« – »Wirklich, Mylady?« – »O, ich kann das sehr leicht tun. Ich habe eine Loge aufs ganze Jahr, die fortwährend leer steht, und Sie können daher dieselbe nach Belieben benützen.« Dann drehte sie sich zu der Zofe herum und sagte: »Nun, worauf wartet Ihr noch, meine Liebe?« – »Ich wollte Ihnen bloß bemerklich machen, Mylady, daß Sie von fünf bis sechs Uhr einen Besuch erwarten. Wenn ich nun selbst zu Mr. Plowden gehe, so kann, obschon dies gar nicht weit ist, die bewußte Person während dieser Zeit kommen und würde dann niemand finden, der sie bei Ihnen meldete.« – »Da habt Ihr recht, liebe Norton,« sagte Miß Arabella. »Schickt daher lieber Mr. Tom zu Mr. Plowden, und wenn jene Person kommt, so werdet Ihr sie bitten, einen Augenblick in dem Salon zu warten und mir dann Meldung machen. Jetzt geht.« – Mistreß Norton entfernte sich. »Nun wollen wir einmal diese Diamanten ansehen,« sagte Miß Arabella in gleichgültigem Tone. – Ich überreichte ihr das Etui, indem ich sagte: »Die Steine sind wahrhaft wunderschön.« – »Ach, ich habe deren schon so viel,« entgegnete Miß Arabella. »Georg sagte mir aber gestern, die Steine, welchen er den Vorzug gäbe, wären die Smaragden, und man muß schon etwas für die Leute tun, von welchen man – ha, das häßliche Wort, welches mir auf der Zunge schwebte, ich wollte sagen, von welchen man bezahlt wird, anstatt: von welchen man geliebt wird.« Ich sah die schöne Dame an. Eine Art kalter Schweiß trat mir auf die Stirne. Ich begann zu glauben, daß Mr. Hawarden recht gehabt habe, aber es war zu spät. »Helfen Sie mir diesen Schmuck anlegen,« sagte Arabella zu mir. Mit diesen Worten streckte sie mir den Hals, dann eins nach dem andern die Ohren und dann die Arme entgegen. War ich, indem ich aus dem Kaufladen des Strand in das Hotel von Oxfordstreet übersiedelte, höher oder tiefer gestiegen? Diese Frage war nicht leicht zu beantworten. In dem Kaufladen des Strand war ich die Dienerin des Publikums, in Oxfordstreet war ich Miß Arabellas Kammermädchen. Eben hatte ich ihr das zweite Armband angelegt, als Mistreß Norton wieder eintrat. »Er ist da,« sagte sie. – »Wo ist er?« – »In dem Salon.« – »Führt diese junge Dame in das Zimmer, welches auf den Garten geht. Sehet zu, daß es ihr an nichts gebreche und beauftragt Sarah, sie zu bedienen.« Mistreß Norton öffnete eine in dem Wandgetäfel angebrachte kleine Tür, und forderte mich auf, ihr zu folgen, während Miß Arabella sich erhob, einige Schritte in der Richtung des Salons tat und in ihrem süßesten Tone sagte: »Treten Sie ein, mein Prinz.«
Meine Wohnung bestand aus drei hübschen kleinen Zimmern mit der Aussicht auf den Garten. Sie befanden sich in der Höhe eines gewöhnlichen Zwischenstocks. Das mittelste hatte einen Balkon, der in eine Art Terrasse auslief und von großen, grünen, dichtbelaubten Bäumen beschattet ward. Dieser Balkon war ganz von Efeu und wildem Wein überrankt und reichte rückwärts auch bis vor die Fenster der übrigen Zimmer. Der Anblick dieses Balkons machte mein Herz vor Freude hüpfen, denn er erinnerte mich an die Dekoration des zweiten Aktes in ›Romeo und Julia‹. Wenn ich um Mitternacht beim Scheine des Mondes in einem weißen Pudermantel auf diesem Balkon stand, so hielt nichts mich ab zu glauben, ich sei Julia. Es fehlte mir dann bloß noch ein Romeo. Kaum sah ich mich allein, so dachte ich an die neue Veränderung, die in meinem Leben vorgegangen war. Welchem Verhängnis ging ich entgegen?
Es war klar, daß ein stärkerer Wille als der meinige über meine Existenz verfügte, ohne mir die Macht zu lassen, ihm Widerstand zu leisten. – Zuerst entreißt die unerwartete Unterstützung des Lord Halifax mich meiner Unwissenheit, um mir einen Grad von Erziehung und Bildung zu geben, der mir mehr schädlich als nützlich ist. Dann wird diese Unterstützung mir plötzlich wieder entzogen, und der Zufall führt mich in eine gute, rechtschaffene Puritanerfamilie, wo ich mein Leben wenigstens für einige Zeit festgestellt glaube, als plötzlich die unvorhergesehene Begegnung mit Amy Strong neue Projekte in meinem Gemüt allerdings nicht erst erweckt, wohl aber mit solcher Kraft entwickelt, daß ich vergebens der Hand zu widerstehen suche, welche mich fortreißt, und ich gehe nach London, indem ich dem Rufe einer Person folge, die ich nicht kenne. Die Vorsehung, welche diesmal mich ihres Blickes würdigt, entfernt diese Person aus meinem Wege. An ihrer Statt finde ich einen Mann von edlem Herzen und eine Frau mit sanftem, zärtlichem Gemüt. Für sie gehe ich in einem Augenblick aus dem Zustande einer Fremden in den einer Freundin über. Man sucht und findet für mich eine Stellung, die besser ist, als die, welche ich bei dem älteren Mr. Hawarden bekleidete, und weit besser als meine erste Stellung bei Mistreß Davidson. Die ehemalige Schafhirtin wird erste Ladenmamsell eines der reichsten Juweliere von London und hier faßt das Verhängnis, welchem ich entronnen bin, mich abermals und schleudert mich, ohne daß ich Zeit habe mich zu besinnen, in jene krumme gefährliche Bahn hinein, von welcher Mr. Hawarden mir eine so abschreckende Schilderung entworfen. Was soll ich tun? Soll ich dieses verhängnisvolle Haus fliehen? Soll ich zu Mr. Hawarden eilen, ihm alles sagen, alles gestehen, selbst meinen Wunsch Schauspielerin zu werden? Soll ich mich unter seinen Schutz stellen und ihm zurufen: »Hier bin ich! Retten Sie mich! Retten Sie mich!« Wenn ich dies tun will, so muß es geschehen, ehe noch die Nacht verflossen ist, denn wenn diese über meiner Abwesenheit vergeht, so ist alles verloren. Oder soll ich bleiben? Soll ich mein Boot der Strömung, welche es fortträgt, folgen lassen, ohne Lotse und ohne Steuerruder mitten unter den Strudeln und den Stromschnellen? Soll ich es so dem Ozean zutreiben lassen, das heißt einer unbekannten wunderbaren Zauberwelt oder vielleicht den Eisbergen des Polarmeeres?
Aber welcher Unterschied zwischen dem Leben dieser Frau, welche prachtvolle Pferde, elegante Equipagen, Lakaien in kostbarer Livree, ein luxuriöses Hotel, so viel Diamanten, daß sie nicht weiß, was sie damit machen soll, Logen in allen Theatern und einen Geliebten hat, zu welchem sie sagt: »Treten Sie ein, lieber Prinz, ich erwarte Sie!« und der Existenz jener armen Ladenmamsell, welche um acht Uhr morgens aufsteht, ihren Tag damit zubringt, daß sie Schmucksachen handhabt, von welchen ihre Hände nur die Spur des Drucks und ihre Augen den Reflex behalten; die um zehn Uhr sich zu Bett legt, und nicht einmal in ihrem Zimmer die Verse Shakespeares zu deklamieren wagt, weil sie fürchtet, daß die Nachbarn sich darüber beschweren, und daß ihr Dienstherr sie frage, ob sie laut träumt! O Herr, mein Gott, selig sind die, welche die Kraft haben, dem Strom zu widerstehen; aber zu entschuldigen bei der Stellung, welche die menschlichen Gesetze ihnen in der Gesellschaft bereiten, sehr zu entschuldigen, o mein Gott, sind die, welche sich von dem Strome fortreißen lassen. Leider gehörte ich zur Zahl dieser Letzteren. Der Abend verging und die Nacht kam, ohne daß ich den Mut gehabt hätte, zu einem Entschlusse zu kommen. Ich hätte wenigstens an Mr. Hawarden schreiben, ich hätte ihn bitten sollen, an meiner Statt seiner würdigen Gattin die Füße zu küssen. Ich nahm aber nicht bloß meine Zuflucht nicht zu ihm, sondern ich schrieb ihm sogar nicht einmal. Ich schämte mich, ihn wiederzusehen und vermied daher seine Begegnung. Da ich fühlte, daß schon die Erinnerung ein Gewissenbiß war, so bemühte ich mich zu vergessen, und da mir dies nicht gelang, so betäubte ich mich wenigstens. Dies war meine zweite Undankbarkeit. Und dennoch, woran lag es, daß ich nicht gerade das Gegenteil tat? Ich wollte schreiben; ich trat in ein kleines Kabinett, wo ich ein Bureau gesehen. In diesem Bureau hoffte ich Feder, Tinte und Papier zu finden. Ich fand aber von all' diesem nichts darin. Ich fand weiter nichts als ein Buch, ein Buch, welches ich mechanisch öffnete und las. Es führte den Titel: »Clarissa Harlowe«. Ich wußte nicht, was ein Roman war, ebenso wie ich bei meiner Ankunft in London nicht gewußt hatte, was ein Theaterstück war.
Ich öffnete das Buch oder vielmehr ich öffnete eine neue Pforte, welche in die phantastische, unbekannte Welt führte, in die ich an dem Tage eingetreten war, wo der Vorhang eines Theaters vor mir aufgegangen. Dieser, wie man versichert, zu einem moralischen Zweck geschriebene Roman äußerte auf mich eine Wirkung, welche der, die der Verfasser beabsichtigt, geradezu entgegengesetzt war. Lovelace erschien mir, anstatt als ein abscheulicher Verführer, vielmehr als ein verführerischer Gentleman. Ich beneidete Clarissa sozusagen um ihr Unglück, weil sie ja des Glücks der Liebe teilhaft geworden, und ich war vollkommen bereit, denselben Gefahren entgegenzugehen und mit demselben Ungemach zu kämpfen. Von dem Augenblicke an, wo dieses Buch in meine Hände fiel, von dem Augenblick an, wo ich es aufschlug, war bei mir nicht mehr die Rede davon, an Mr. Hawarden zu schreiben, oder zu Mr. Plowden zurückzukehren. Die Fee hatte mich abermals mit ihrem Zauberstabe berührt; ich gehörte nicht mehr mir selbst an.
Mistreß Norton kam, um mich zu fragen, ob ich hinunterkommen und den Tee mit ihr trinken wollte; sie fand mich aber in meine Lektüre versunken. Ich fragte sie, ob das, was sie soeben zu mir gesagt, ein Befehl von Miß Arabella oder eine Einladung von ihr selbst sei. Sie antwortete, Miß Arabella habe Besuch und denke wahrscheinlich nicht an mich. Ich bat Mistreß Norton, mir meinen Tee und meine Butterbrote, die mein Imbiß und meine Abendmahlzeit sein sollten, auf mein Zimmer zu schicken und mich ungestört bei meiner Lektüre zu lassen. Einen Augenblick später und ohne daß ich bei dem Eintritte oder dem Fortgehen der Zofe auch nur die Augen von meinem Buche erhoben hätte, hörte ich den Lakai, der mir das Verlangte brachte. Ich gab ihm durch eine Gebärde zu verstehen, daß er alles auf den Tisch setzen und mich dann wieder allein lassen solle. Da es wahrscheinlich sein eigener Wunsch war, meiner Bedienung überhoben zu werden, so gehorchte er. Sobald er wieder hinaus war, verschloß ich die Tür, als ob ich fürchtete gestört zu werden. Ich vergaß den Tee, ich vergaß Mistreß Norton, ich vergaß Miß Arabella, ich vergaß die ganze Welt. Ich war Clarissa Harlowe geworden, so wie ich Julia geworden war.
Nach zwei oder drei Stunden dieser hartnäckigen Lektüre entstand jedoch ein solches Chaos in meinem Geiste, und das Blut drang mir mit solcher Gewalt nach dem Gehirn empor, daß ich das gebieterische Bedürfnis empfand, frische Luft zu schöpfen. Ich öffnete mein Fenster und ging, mich auf eine der steinernen Bänke des Balkons zu setzen. Es war eine schöne Sommernacht, eine jener Nächte, welche Shakespeare wählt, um sie mit einem seiner Träume zu bevölkern. Der Mondschein, welcher durch die Bäume des Gartens fiel, spielte auf dem Rasen und auf dem schlafenden Wasser des Bassins. Julias Nachtigall sang in dem Gebüsch. Es war eine jener Nächte, welche, berauschender als die glühendste Sonne, die Liebe in einem jungen Mädchenherzen zur Reife bringen. Durch die seidenen Vorhänge hindurch sah man die Fenster in Miß Arabellas Wohnung prachtvoll erleuchtet. Man hörte die Akkorde einer Harfe und die gedämpften Töne einer Frauenstimme. Ich hatte noch niemals die Klänge dieses himmlischen Instruments vernommen und Kunst und Natur vereinigten sich, meinen Träumen ein Konzert zu geben. Es waren gleichzeitig Juliens Nachtigall und Clarissas Harfe, welche mir sagten: »Alles liebt! Wir haben geliebt, liebe du nun auch!« Plötzlich öffnete sich eines der Fenster und beleuchtete einen Teil des Gartens, während ich gänzlich im Schatten blieb, so daß ich sehen konnte, ohne gesehen zu werden.
Eine weibliche Gestalt erschien an diesem Fenster. Es war Miß Arabella. Ich machte unwillkürlich eine Bewegung, um mich zurückzuziehen, da ich aber einsah, daß ich nicht gesehen werden konnte, so blieb ich wo ich war. Zugleich mit dem Licht verbreitete sich ein Wohlgeruch von außen. Dann fragte eine Stimme: »Wo sind Sie, Arabella? Wo sind Sie?« – »Hier, gnädigster Herr,« antwortete Miß Arabella. – »Was machen Sie an diesem Fenster, Königin meines Herzens?« – »Ich brannte und ich suche mich zu löschen.« Ein schöner junger Mann, beinahe noch ein Kind, kaum ein Jüngling, erschien jetzt hinter ihr und stützte sich mit dem Ellbogen auf den Balkon. Die beiden Köpfe waren jetzt so nahe aneinander, daß Arabellas wallendes Haar mir, indem es sich mit den blonden Locken des jungen Mannes mischte, das Gesicht desselben zur Hälfte verbarg.
Dieser junge Mann war kein anderer als der Prinz von Wales, später Georg der Vierte. Er faßte Arabellas Haar mit vollen Händen und küßte es leidenschaftlich. Ich versuchte zu hören, was sie sagten. Sie sprachen aber so leise, daß ihre Worte nicht bis zu mir drangen. Ich hörte küssen, dann umschlang der junge Mann Miß Arabella mit seinem Arme und zog sie in das Zimmer hinein. Hinter ihnen schloß sich das Fenster, die dichten Vorhänge fielen herab und hemmten das Licht. Die poetische Erscheinung aus dem Reiche der Liebe war entschwunden und ließ mich einem mir bis dahin noch völlig unbekannt gewesenen Gefühl zur Beute. Die Nachtigall fuhr fort zu singen, die Töne der Harfe aber waren verstummt.
Ich entsann mich der zweiten Liebesszene zwischen Romeo und Julia, und mehr als jemals schienen die süßen Modulationen darin zu liegen, welche mich im Theater so betroffen gemacht. Dennoch zögerte ich, wie dringend ich auch das Bedürfnis fühlte, die wunderbaren Verse des großen Dichters zu deklamieren, das harmonische Schweigen zu stören und eine Menschenstimme mit dem Gesang der Nachtigall und jenem unbeschreiblichen Geräusch zu mischen, welches in der durchsichtigen Finsternis einer Sommernacht dem Schwirren zu gleichen scheint, welches Oberons und Titanias Fittiche hervorbringen.
Dennoch aber floß, wie aus einem allzuvollen Kelche, jener erste Vers:
»Noch ist's nicht Zeit; oh bleib noch, Romeo!«Die Verdeutschung der Worte Shakespeare's ist die Schlegel-Tieck'sche
über meine Lippen. Dann sah ich mich, an allen Gliedern zitternd, um. Ich war wirklich allein. Ich ward dreister und rief mit lauterer Stimme:
»Es war die Nachtigall und nicht die Lerche,
Die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang.
Sie singt des Nachts auf dem Granatbaum dort.
Glaub', Lieber, mir; es war die Nachtigall.
Atemlos hielt ich inne. Es war mir, als hätte ich das Geräusch eines sich öffnenden Fensters gehört. Ich schaute nach der Seite hin, von welcher das Geräusch gekommen war. Ich sah nichts. Alles war ruhig, alles schien einsam zu sein. Ich hatte ein niegeahntes Vergnügen daran finden gelernt, die Töne meiner eigenen Stimme zu hören, und ich fuhr fort:
»Die Lerche war's, die Tagverkünderin,
Nicht Philomele; sieh den neid'schen Streif.
Der dort im Ost der Frühe Wolken säumt.
Die Nacht hat ihre Kerzen ausgebrannt,
Der munt're Tag erklimmt die durst'gen Höhen,
Nur Eile rettet mich, Verzug ist Tod!«
Nachdem ich die erste Schüchternheit überwunden, fuhr ich, von der Melodie meiner eigenen Stimme berauscht, fort, mit dem ganzen Ausdruck, den ich darein zu legen vermochte, die Szene bis zu Ende zu deklamieren. Die Reihe des Antwortens war an mir, und gerade als ob Romeo zugegen gewesen wäre, um mich zu hören, oder als ob ein ganzes Publikum zugehört hätte, um mir dann Beifall zuzujubeln, antwortete ich:
»Trau mir, das Licht ist nicht des Tages Licht.
Die Sonne hauchte dieses Luftbild aus,
Dein Fackelträger diese Nacht zu sein,
Dir auf den Weg nach Mantua zu leuchten;
D'rum bleibe noch,– zu geh'n ist noch nicht not.«
Es kam mir vor, als hätte ich in diesen letzten Vers nicht Leidenschaft genug gelegt und ich wiederholte ihn daher mit meiner ganzen Seele.
Diesmal war ich mit mir zufrieden.
Hierauf antwortete ich an Romeos Stelle mir selbst:
»Lass' sie mich greifen, ja, lass' sie mich töten!
Ich gebe gern mich drein, wenn du es willst.
Nein, jenes Grau ist nicht des Morgens Auge,
Der bleiche Abglanz nur von Cynthia's Stirn.
Das ist auch nicht die Lerche, deren Schlag
hoch über uns des Himmels Wölbung trifft.
Ich bleibe gern; zum Geh'n bin ich verdrossen,
Willkommen, Tod! hat Julia dich beschlossen,
Nun, Herz? Noch tagt es nicht, noch plaudern wir.«
Ich dachte daran, wie schön Mistreß Siddons in diesem Augenblick gewesen war, das heißt, als sie, indem sie einsieht, daß sie sich irrt, gewahrt, in welche Gefahr ihr Irrtum oder vielmehr ihre Liebe Romeo gebracht hat, und ich rief in einem Tone, der vor Angst und Furcht nicht weniger erbebte als der ihrige:
»Es tagt, es tagt! Auf! Eile fort von hier!
Es ist die Lerche, die so heiser singt,
Und falsche Weisen, rauhen Mißton gurgelt.
Man sagt, der Lerche Harmonie sei süß,
Nicht diese: sie zerreißt die uns're ja.
Die Lerche, sagt man, wechselt mit der Kröte
Die Augen; möchte sie doch auch die Stimme!
Die Stimm' ist's ja, die Arm aus Arm uns schreckt,
Dich von mir jagt, da sie den Tag erweckt.
Stets hell und heller wird's; wir müssen scheiden!«
Kaum hatte ich diesen letzten Vers mit dem ganzen Ausdruck, den ich dareinzulegen vermochte, deklamiert, als eine Stimme »Bravo!« rief und lauter Beifall sich von der Seite her vernehmen ließ, auf welcher ich ein Fenster sich öffnen zu hören glaubte. Ich stieß einen Schrei aus, eilte in mein Zimmer zurück, schloß das Fenster wieder hinter mir und sank zitternd auf einen Divan. Ich hatte allein zu sein geglaubt. Ich irrte mich, ich hatte einen Zuhörer gehabt. Wer aber war dieser Zuhörer? Ganz gewiß ein junger Mann. Die Stimme war frisch und klangvoll. Was den Beifall betraf, so dauerte derselbe fort, selbst nachdem mein Fenster sich geschlossen. Es war als ob man, wie man im Theater zu tun pflegt, den Beifall verdoppelte, um den Künstler, dem dieser Beifall gilt, zum nochmaligen Erscheinen auf der Bühne zu veranlassen.
So unruhig und aufgeregt ich aber auch war, so hatte diese Unruhe nichtsdestoweniger etwas Süßes und Berauschendes. Diese Einzelheiten erscheinen dem Leser vielleicht kindisch, aber wie soll ich mir Verzeihung für meinen Fall erwecken, wenn ich nicht die Steilheit des Pfades veranschauliche, welchen ich hinabglitt?
Meine Nacht war nach den Gemütsbewegungen des Abends nur Folge und die Entwicklung dieser Gemütsbewegungen. Es war mir, als hätte auch ich einen Roman begonnen. Zweierlei verfolgte mich in meinem Schlafe und drang durch das Tor der Sinne bis in mein Herz hinein. Das eine war jene Vision, welche mir jene beiden so schönen Häupter dicht nebeneinander zeigte, wie sie ihr Haar, ihren Atem, ihre Seufzer mischten, ein Bild, welches sich kräftig von dem hellerleuchteten Hintergrund des Zimmers abhob. Das andere war jener unsichtbare Zuhörer, welcher mir ohne Zweifel bei jenem nächtlichen Auftritt, wo ich allein zu sein glaubte, in allen Einzelheiten aufs genaueste gefolgt war. Auf diese Weise vereinigte sich alles, um mich dem Untergange entgegen zu drängen – die Ereignisse meiner Tage, die Träume meiner Nächte.
Miß Arabella war erst ziemlich spät sichtbar. Sie ließ mich rufen. Ich fand sie in demselben Boudoir, wo ich sie am Tage vorher gesehen. »Liebe Kleine,« sagte sie im Tone einer Königin zu mir, »ich verlasse London auf einige Tage. Ich möchte Sie gerne mitnehmen, leider aber ist dies unmöglich. Bleiben Sie daher in meiner Abwesenheit hier. Ich weiß, daß Sie das Theater lieben. Meine Loge steht zu Ihrer Verfügung. Sie können allein hineingehen, wenn Sie wollen, aber Sie sind noch sehr jung, Sie sind sehr hübsch, und es wird daher gut sein, wenn Sie in Begleitung von Mistreß Norton hingehen. Das einzige, um was ich Sie bitte, ist, daß Sie keine Besuche empfangen. Wenn Sie bei meiner Rückkehr immer noch von Ihrer Manie für das Theater besessen sind, so werde ich zwei Worte mit Sheridan sprechen und Sie können dann versuchsweise einmal auftreten. Wenn Sie zufällig Romney begegnen, so suchen Sie es so einzurichten, daß er Sie nicht sieht. Wenn er Sie dennoch sieht, so vermeiden Sie es, mit ihm zu sprechen, und wenn er mit Ihnen spricht, so sagen Sie ihm nicht, bei wem Sie sind. Wir haben uns veruneinigt und sind jetzt Todfeinde.« Ich versprach Miß Arabella, allen ihren Wünschen pünktlich nachzukommen. »Und nun,« sagte sie zu mir, »ist es Ihnen vielleicht gefällig, mich umgestalten zu helfen?« – »Ich bin bereit, alles zu tun, was Sie mir befehlen wollen,« sagte ich. »Bin ich nicht bei Ihnen, um Ihnen zu gehorchen?« – »Ja, bis du andern befiehlst, was bei einem Gesichtchen wie das deinige nicht lange dauern kann.« Indem Miß Arabella dies sagte, faßte sie mich beim Kinn. »In der Tat,« fuhr sie fort, »ich glaube, Romney hatte recht, und es ist eine große Anmaßung von mir, dieses reizende Antlitz in der Nähe des meinigen weilen zu lassen. Weißt du, was ich bedauere?« setzte sie hinzu, indem sie mir mit den Händen durch die Locken meines Haares fuhr.
»Nein,« antwortete ich. »Ich wüßte wirklich nichts. Sie sind ja jung, schön, reich und werden geliebt.« – »Findest du mich wirklich schön, oder sagst du dies wie die andern, bloß um mir ein Kompliment zu machen?« fuhr sie fort, indem sie sich vor einen Spiegel stellte und ihr Gesicht dem meinigen näherte, wie um die beiden Gattungen unserer Schönheit zu vergleichen. – »Ja, Sie sind schön! sehr schön!« rief ich mit dem Ausdruck der vollkommensten Aufrichtigkeit. – »Wohlan,« sagte sie, »ich bedauere, daß ich anstatt einer schönen, sehr schönen Frau nicht ein schöner, sehr schöner Mann bin, denn wenn ich ein Mann wäre, so schwöre ich, daß ich um deinetwillen alle Torheiten der Welt begehen würde. Ha,« setzte sie hinzu, »ich fange damit schon an, selbst ohne Mann zu sein, denn ich vergesse mich, indem ich mit dir plaudere, und den Prinzen warten lasse.« Sie küßte mich auf die Stirn und klingelte der Zofe. »Nun,« sagte sie, »sind meine Kleider noch nicht bereit? Der Schneider hatte dieselben doch bis um drei Uhr nachmittags zu liefern versprochen.« – »Die Kleider sind schon seit einer halben Stunde da, Mylady,« antwortete die Zofe. – »Nun, dann bringt sie mir.« – Die Zofe verließ das Zimmer und kam einige Augenblicke darauf mit einem vollständigen eleganten Herrenanzug zurück. – »Wie!« rief ich, »Sie wollen sich als Mann kleiden?« – »Ja; es ist ein Einfall des Prinzen. Wir wollen mit einigen seiner Freunde acht Tage auf dem Lande zubringen, auf die Jagd gehen und was weiß ich sonst noch alles vornehmen. Er sagte gestern zu mir: ›Sie wissen nicht, was Sie machen sollen, Arabella? Sie sollen sich als Mann kleiden!‹ Ich ließ sogleich meinen Schneider rufen und bestellte bei ihm einen vollständigen Männeranzug, den er heute um drei Uhr abzuliefern hätte. Er versprach es mir und, wie du siehst, hat er Wort gehalten. Nun,« fuhr Miß Arabella, sich nach der Zofe herumdrehend fort, »was wollt Ihr noch, liebe Norton?«
»Ich erwarte Ihre Befehle, um Sie ankleiden zu helfen, Mylady.« – »Dies wird Emma tun,« entgegnete Miß Arabella. »Nicht wahr, liebe Kleine, diesen Dienst wirst du mir leisten?« – »Ohne Zweifel.« – »Nun, dann geht, liebe Norton, und laßt die Postpferde kommen, damit ich in einer halben Stunde abreisen kann.« – Die Zofe entfernte sich. Arabella musterte nun, einen nach dem andern, die verschiedenen Bestandteile ihres Anzugs. Alles war höchst geschmackvoll gearbeitet und darauf berechnet, die körperlichen Vorzüge der Person, welche diese Kleider tragen sollte, hervorzuheben. Der Rock war von dunkelgrünem Sammet mit goldenen Knopflöchern, die Weste von weißer Seide mit bunter Blumenstickerei; das Beinkleid von himmelblauem Sammet und die von feinem, seidenweichem Leder gefertigten Stiefel ließen, obschon sie bis über die Knie hinausragten, die Form des Beines erraten und zeigten den reizendsten kleinen Fuß, den man sehen konnte.
Arabella schien durch die Beaugenscheinigung aller dieser Gegenstände vollkommen zufriedengestellt zu werden. »Glaubst du,« sagte sie zu mir, »daß ich mich darin leidlich ausnehmen werde?« – »O, Sie werden ganz bezaubernd darin sein,« antwortete ich. – »Schmeichlerin!« entgegnete sie, indem sie ihren Hausrock auszog. »Komm, hilf mir ein wenig.« Mit diesen Worten nahm sie aus einem Schubfach ihrer Toilette ein Batisthemd mit einem Busenstreifen von prachtvollen englischen Spitzen und dergleichen Manschetten und gab es mir, um es ihr überwerfen zu helfen. Ihr Haar war bereits nach Männerart frisiert und stand wunderbar zu ihrem schönen Gesicht, dessen Ausdruck, wie sich nicht leugnen ließ, mehr der des Stolzes und der Dreistigkeit als der der Bescheidenheit war.
Sie legte dann vollends ihre Frauenkleider ab. An plastischer Schönheit hätte sie, wenn auch nicht mit den antiken Statuen, wohl aber mit denen des Mittelalters wetteifern können, die in bezug auf üppige Anmut unbestreitbar über ersteren stehen. Sie war nicht die Venus des Praxiteles oder die Victoria des Phidias; jedenfalls aber eine der Grazien von Germain Pilon.
Einige Augenblicke lang betrachtete ich mit Bewunderung diese Vollkommenheit der Formen, welche im Altertum zur Anbetung begeistert haben würde. »Nun,« sagte Arabella, »woran denkst du, kleine Zerstreute?« – »Ich sehe Sie an, Mylady, und sage mir im stillen, daß der Prinz sehr glücklich ist.«
Sie lächelte, zuckte in bezaubernder Weise die Achseln und bückte sich, damit ich ihr das Hemd überwerfen könnte. Wie seltsam ist doch die Natur des Weibes! Ihr höchster Genuß liegt im Stolz und die süßesten Liebkosungen sind für sie die der Schmeichelei. Was war ich für Miß Arabella! Ein wenig mehr als ein Kammermädchen; gleichwohl war es augenscheinlich, daß sie meine Komplimente mit ebensoviel Begierde suchte wie die des Prinzen. Die sämtlichen anderen Verrichtungen ihrer Toilette folgten mit derselben Langsamkeit und derselben Koketterie. Ohne Zweifel war es jetzt nicht das erstemal, daß die launenhafte Schöne Männerkleider anlegte.
Als wir die Toilette beendet hatten, war die Metamorphose vollständig und man hätte darauf schwören mögen, daß man einen jungen Gentleman von sechzehn bis höchstens achtzehn Jahren vor sich hätte, während sie als Weib fünfundzwanzig zu zählen schien, ja aller Wahrscheinlichkeit nach dieses Alter und somit die erste Blüte des Lebens bereits überschritten hatte. In dem Augenblick, wo sie, indem sie mir über meine Ungeschicklichkeit in bezug auf ihr Halstuch Vorwürfe machte, dasselbe mit einer Schnelligkeit und Gewandtheit, welche große Übung verriet, um ihren Hals geschlungen und damit ihre männliche Toilette vervollständigt hatte, trat Mistreß Norton wieder ein und meldete, daß die Postpferde da seien und daß der Wagen warte. Miß Arabella warf einen letzten Blick auf sich selbst und dann auf mich. Es war augenscheinlich, daß in ihr ein eigentümlicher Kampf stattfand, von welchem ich mir keine Rechenschaft geben konnte.
Dann neigte sie sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr: »Du weißt wohl nicht, was ich denke?« – »Nein,« antwortete ich mit der vollkommensten Aufrichtigkeit. – »Ich denke, daß ich lieber Mann sein und dich in diesem Wagen entführen, als Weib sein und hineinsteigen möchte, selbst wenn es geschieht, um einer Einladung des Erben der Krone von England zu folgen.« Dann ergriff sie eine kleine Reitgerte, deren Griff mit einem prachtvollen Smaragd geschmückt war. »Leb' wohl,« sagte sie; »ich werde so bald wie möglich wiederkommen. Mittlerweile lasse ich dich hier als Herrin des Hauses zurück.« Und mit diesen Worten entfernte sie sich rasch, indem sie sich mit ihrer Reitgerte auf den Stiefel schlug und ihre Sporen auf dem Getäfel des Fußbodens klirren ließ. Das Fenster ging auf die Straße. Ich eilte an dasselbe, um sie noch einmal zu sehen. Leichtfertig sprang sie in die mit vier Pferden bespannte Kalesche, richtete den Kopf empor, sah mein an der Fensterscheibe klebendes Gesicht, drückte die Hand an die Lippen und streckte sie dann nach mir aus. Die Postillone knallten mit ihren Peitschen, und der Wagen rollte im Galopp davon. Nun war ich allein in diesem lauen, von Wohlgerüchen erfüllten Zimmer, wo man unmöglich an etwas anderes denken konnte, als an Reichtum, Liebe und Wollust. Ich blieb hier eine Stunde und ließ mich von dieser entnervenden Atmosphäre durchdringen, welche Bajä für die Tugend der römischen Matronen so gefährlich machte. Wie weit war es von hier bis zu der milden und intelligenten Atmosphäre, welche ich in dem Hause von Leicester Square, oder zu der merkantilen und bürgerlichen, welche ich in Mr. Plowdens Kaufladen, und endlich zu der puritanischen und strengen, welche ich in dem Hause des älteren Mr. Hawarden geatmet!
»Ich lasse dich als Herrin des Hauses zurück,« hatte Miß Arabella beim Fortgehen zu mir gesagt. Warum das? Welche Rechte hatte ich? Wodurch hatte ich mir eine solche Gunst erworben? Und dennoch, von welcher Art auch der Beweggrund sein mochte, dem ich sie verdankte, so war sie doch wirklich vorhanden. Ich bemerkte dies sehr bald an der Art und Weise, auf welche Mistreß Norton mich fragte, ob ich ihr noch irgendwelche Befehle zu erteilen hätte.
Befehle zu erteilen! Ich, die ich bis jetzt stets Befehle empfangen hatte! Ich darf es nicht verschweigen, daß ich immer noch von dem Gefühl meiner untergeordneten Stellung durchdrungen war. Vielleicht vergaß ich zuweilen den Punkt, von welchem ich ausgegangen war; sobald ich mich aber mit mir allein befand, fühlte ich mich eher aufgelegt, das Glück für seine Gunstbezeigungen, die mich bloß emporzuheben schienen, um meinen Fall desto tiefer zu machen, zu schelten, als ihm für diese ungeahnte Erhebung zu danken, welche, wie ich instinktartig fühlte, von seiten der Vorsehung nur ein Irrtum sein konnte. Ich antwortete, wenn Mistreß Norton mir das Vergnügen machen wollte, mit mir zu Mittag zu speisen und mich dann ins Theater zu begleiten, so würde ich ihr dafür sehr dankbar sein.
Mistreß Norton verlangte nichts Besseres, denn es war für sie ebenfalls ein hoher Genuß, ins Theater zu gehen. Sie fragte mich, welchem ich den Vorzug gäbe. Ich kannte nur eins, nämlich Drury Lane. Man gab »Macbeth«. Es war dies ein Stück, in welchem Mistreß Siddons einen ihrer größten Triumphe feierte. An diesem Abend waren die Eindrücke, die ich empfing, sehr verschieden von denen des ersten Abends. Ich durchlebte alle Phasen der Angst und des Schreckens. Jene Eigenschaften der Milde und Sanftmut, welche Mistreß Siddons in der Rolle der Julia abgingen, wurden jetzt durch die entgegengesetzten Eigenschaften ersetzt. Die Energie der Stimme, die Unbeweglichkeit ihrer Physiognomie gaben den ehrgeizigen Bestrebungen dieses Felsenherzens eine Vollkommenheit des Spiels, welche in der Szene, wo sie Macbeth zum Verbrechen treibt, ans Erhabene grenzte.
Ich meine die Szene, wo sie ihren von Banquos Geist bedrohten Gatten beruhigt, und dann die, wo sie in ihrem Schlafe, mehr noch durch ihre erschütterte Macht als durch die Reue verfolgt, im Nachtgewande mit offenen, aber der Sehkraft beraubten Augen, mit hohler, klangloser Stimme kommt, um klagend das Schauspiel jener nächtlichen Schrecken zu geben, welche den Mörder verfolgen. Ich war, als ich wieder nach Hause zurückkehrte, vielleicht von noch größerer Bewunderung ergriffen, als das erstemal, dennoch aber weniger gerührt. Ich bewunderte, aber ich weinte nicht. Ich fühlte, daß ich, indem ich Macbeth gesehen, einer Kunstleistung beigewohnt hatte, während ich in »Romeo und Julia« meinen Anteil an einer Szene der Natur zu nehmen geschienen. Aufgeregt kehrte ich in meine kleine Wohnung zurück und wollte unter dem Eindruck dessen, was ich soeben gehört und gesehen, ebenso wie ich an dem Abend getan, wo Mr. Hawarden mich in das Theater geführt, das Gesehene und Gehörte zu reproduzieren versuchen.
Ich sah aber sehr bald ein, daß weder meine Physiognomie noch meine Stimme für furchtbare Eindrücke geschaffen waren. Meine Stimme war zu sanft, meine Physiognomie zu zärtlich und zu jugendlich. Ich lachte über mich selbst, als ich sah, wie unmöglich es mir war, jene düstere Betonung und jene unwiderstehliche Versuchung nachzuahmen, welche Macbeth sagen läßt:
». . . . . Bring forth men children only,
For this undaunted mettle should compose
Nothing but males.«
(Bringe mir männliche Kinder zur Welt,
denn dein unbesiegbares Herz
darf nur Männer zeugen.)
Wider Willen verfiel ich immer wieder in jene sanften, liebeskranken Biegungen der Stimme zurück, welche mich glauben ließen, daß ich in Julias Rolle neue und unbekannte Gefühle gefunden. Meine Physiognomie stimmte damals wunderbar mit dem harmonischen Wohllaut meiner Worte zusammen. Ich fühlte mit einem Wort, daß es mir unmöglich sein würde, irgendeinen Macbeth mit mir bis zum Throne zu erheben, welche Anstrengungen ich auch zu diesem Zwecke machte, während ich nur zu sprechen, anzublicken und zu lächeln brauchte, um den widerspenstigsten Romeo bis auf den tiefsten Grund meines Grabes hinabzulocken.
Ich sah jetzt an meinem inneren Auge jene bezaubernde Ballszene vorübergehen, wo die beiden Liebenden, fast ohne zu sprechen, sich eines dem anderen widmen, so daß, als Romeo sich entfernt hatte, Julia, welche fühlte, daß der teure Unbekannte ihr Herz mit hinwegnimmt, ihre Amme ihm nachschickt und ausruft:
»Geh', frage wie er heißt. Ist er vermählt,
So ist das Grab zum Brautbett mir erwählt.«
Ich deklamierte diese Worte, indem ich die ganze Seele und die ganze Leidenschaft hineinlegte, deren mein Herz fähig war, bis ich plötzlich im Garten am Fuße des Balkons mich nicht mit dem Namen Emma, sondern mit dem Namen Julia rufen zu hören glaubte. War es eine Verirrung meiner Einbildungskraft, eine Täuschung meiner Sinne? War ich in meinen Träumen so weit gekommen, daß sie sich gleichsam in Wirklichkeit verwandelten? Ich näherte mich leise dem Fenster, öffnete es und eine Stimme, so sanft wie ein Seufzer des Nachtwindes, rief abermals: »Julia! Julia!« Romeo war also gefunden. Romeo war am Fuße des Balkons, aber wer war er?
Bei dieser Gewißheit, daß ein Unbekannter da war, hätte ich das Fenster wieder schließen, den Vorhang fallen lassen, in mein innerstes Zimmer fliehen und dasselbe verriegeln sollen. In jeder anderen Gemütsstimmung würde ich dies sicherlich auch getan haben, aber es war, als ob jenes Wesen, welches die heilige Schrift nicht zu nennen wagt, sondern bloß mit den Worten: »Der, welcher im Finstern wandelt,« bezeichnet, sich an mich geheftet hätte wie an eine Beute. Es schien geschworen zu haben, mich nicht eher loszulassen, als bis es mich in den tiefsten Abgrund hinabgezerrt hätte. Anstatt daher das Fenster zu schließen, anstatt zu fliehen, lehnte ich das Ohr an den nicht ganz geschlossenen Fensterflügel und horchte. Zu meinem großen Erstaunen sprach nun der Unbekannte mit sanfter, frischer Stimme die folgenden Verse, als ob es unsere Aufgabe wäre, jedes unsere Rolle vor einem unsichtbaren Publikum zu spielen, oder als ob ich wirklich Julia und er wirklich Romeo wäre.
Mit verhaltenem Atem lauschte ich und der Unbekannte sprach:
»Doch still, was schimmert durch das Fenster dort?
Es ist der Ost, und Julia die Sonne.
Geh' auf, du holde Sonne! Ertödte Lunen,
Die neidisch ist, und schon vor Grame bleich,
Daß du viel schöner bist, obwohl ihr dienend.
O, da sie neidisch ist, so dien' ihr nicht.
Nur Toren gehn in ihrer blassen kranken
Vestalentracht einher; wirf du sie ab!
Sie ist es, meine Göttin! meine Liebe!
O, wüßte sie, daß sie es ist!«
Der Leser kennt die Zaubermacht, welche das Altertum dem Gesang der Sirenen zuschrieb, eine Macht, welcher Ulysses nur dadurch entrann, daß er seine Reisegefährten an die Masten seiner Schiffe festband und sich selbst die Ohren mit Wachs verstopfte. Leider ward ich durch kein Band gefesselt. Meine Ohren standen allen sinnlichen Melodien der Liebe geöffnet, die Stimme lockte mich mit unwiderstehlicher Gewalt. Ich setzte den Fuß auf den Balkon. Mein Herz pochte immer stärker, meine Lippen bebten. Und als ob sie das Geheimnis meines Herzens gekannt hätte, fuhr die Stimme fort:
»Sie spricht, doch sagt sie nichts; was schadet das?
Ihr Auge spricht, ich will ihm Antwort geben.
Ich bin zu kühn, es redet nicht zu mir.
Ein Paar der schönsten Stern' am ganzen Himmel
Wird ausgesandt, und bittet Juliens Augen
In Ihren Kreisen unterdeß zu funkeln.
Doch wären ihre Augen dort, die Sterne
In ihrem Antlitz? Würde nicht der Glanz
Von ihren Wangen jene so beschämen,
Wie Sonnenlicht die Lampe? Würd' er auch,
Aus luft'gen Höh'n sich nicht so hell ergießen,
Daß Vögel sängen, froh den Tag zu grüßen?«
Hingerissen von dieser magischen Poesie, und indem ich in den Geist meiner Rolle einzugehen begann, dachte ich an Mistreß Siddons und ließ den Kopf auf die Hand sinken. Mein unbekannter Romeo, welcher einen Augenblick zu warten schien, damit ich Zeit hätte, mich mit der Szene in die richtige Wechselwirkung zu setzen, fuhr fort:
»O, wie sie auf die Hand die Wange lehnt!
Wär' ich der Handschuh doch auf dieser Hand
Und küßte diese Wange!«
Ich wußte nichts Besseres zu tun, als mit dem Dichter zu antworten:
»Weh mir!«
In einem leidenschaftlichen Tone, welcher alle Fibern meines Herzens erbeben machte, hob die Stimme wieder an:
»Sie spricht! O, sprich noch einmal, holder Engel!
Denn über meinem Haupt erscheinest du
Der Nacht so glorreich wie ein Flügelbote
Des Himmels dem erstaunten, über sich
Gekehrten Aug' der Menschensöhne, die
Sich rücklings werfen, um ihm nachzuschauen,
Wenn er dahinfährt auf den trägen Wolken,
Und auf der Luft gewölbtem Busen schwebt.
Die Reihe des Sprechens war nun an mir. Ich drückte meine beiden Hände auf mein Herz und in einem Tone, der meinem Mitspieler, welchen ich in dem nächtlichen Dunkel erriet, nichts zu wünschen übrig ließ, antwortete ich:
»O Romeo, warum denn Romeo?
Verleugne deinen Vater, deinen Namen!
Willst du es nicht, schwör' dich zu meinem Liebsten,
Und ich bin länger keine Capulet!«
Die Stimme murmelte:
»Hör' ich noch länger oder soll ich reden?«
Ganz in meine Rolle eingehend, hob ich, indem ich meiner Stimme den holdesten Ausdruck zu geben suchte, wieder an:
Dein Nam' ist nur mein Feind, du bliebst du selbst,
Und wärst du auch kein Montague. Was ist
Denn Montague? Es ist nicht Hand, nicht Fuß,
Nicht Arm noch Antlitz, noch ein anderer Teil.
Was ist ein Name? Was uns Rose heißt,
Wie es auch hieße, würde lieblich duften.
So Romeo, wenn er auch anders hieße,
Er würde doch den köstlichen Gehalt
Bewahren, welcher sein ist ohne Titel.
O, Romeo, leg deinen Namen ab
Und für den Namen, der dein Selbst nicht ist,
Nimm meines ganz.«
Ich gestehe, daß ich mit gewaltiger Gemütsbewegung die Antwort erwartete. Dieselbe ließ nicht lange auf sich warten, und Romeo hob mit einem zärtlichen Ton, welcher dem meinigen in keiner Beziehung nachstand, wieder an:
»Ich nehme dich beim Wort,
Nenn' Liebster mich, so bin ich neu getauft,
Und will hinfort nicht Romeo mehr sein.«
Der Leser sieht uns, mich auf meinem Balkon, meinen unbekannten Romeo im Schatten verborgen, aber von mir durch einen so unbedeutenden Raum getrennt, daß mir, wenn wir die Hände ausgestreckt hätten, einander hätten berühren können. Ich brauche daher hier nur die Szene bis zu Ende abzuschreiben, und der Leser wird die weitere Inszenierung selbst übernehmen und sich die Gemütsbewegungen denken, welche sie in dem Herzen eines fünfzehnjährigen Mädchens erweckte, welches sozusagen sein doppeltes Debüt in einer berauschenden Poesie und in einer geheimnisvollen Liebe bestand. Ich werde daher die erläuternden Zwischenbemerkungen und die weitere Szene mit den Worten des großen Dichters folgen lassen.
Ich.
Wer bist du, der du, von der Nacht beschirmt,
Dich drängst in meines Herzens Rat?Romeo. Mit Namen
Weiß ich dir nicht zu sagen, wer ich bin.
Mein eig'ner Name, teure Heil'ge, wird,
Weil er dein Feind ist, von mir selbst gehaßt.
Hätt' ich ihn schriftlich, so zerriß' ich ihn.Ich.
Mein Ohr trank keine hundert Worte noch
Von diesen Lippen, doch es kennt den Ton.
Bist du nicht Romeo, ein Montague?Romeo.
Nein, Holde; keines, wenn dir ein's mißfällt.Ich.
Wie kamst du her? O sag' mir und warum?
Die Gartenmau'r ist hoch, schwer zu erklimmen;
Die Stätt' ist Tod; bedenk' nur, wer du bist!
Wenn einer meiner Vettern dich hier findet!Romeo.
Der Liebe leichte Schwingen trugen mich;
Kein steinern Bollwerk kann der Liebe wehren;
Und Liebe wagt, was irgend Liebe kann;
D'rum hielten deine Vettern mich nicht auf.Ich.
Wenn sie dich seh'n, sie werden dich ermorden.Romeo.
Ach, deine Augen droh'n mir mehr Gefahr
Als zwanzig ihrer Schwerter; blick' du freundlich,
So bin ich gegen ihren Haß gestählt,Ich.
Ich wollt' um alles nicht, daß sie dich säh'n.Romeo.
Vor ihnen hüllt mich Nacht in ihren Mantel.
Liebst du mich nicht, so laß sie nur mich finden,
Durch ihren Haß zu sterben, wär' mir besser
Als ohne deine Liebe Lebensfrist.Ich.
Wer zeigte dir den Weg zu diesem Ort?Romeo.
Die Liebe, die zuerst mich forschen hieß.
Sie lieh mir Rat, ich lieh ihr meine Augen.
Ich bin [der] Steuermann, doch wärst du fern
Wie Ufer, von dem fernsten Meer bespült,
Ich wagte mich nach solchem Kleinod hin.
Diese letzten Worte wurden mit einer solchen Leidenschaft gesprochen, daß ich keine Gemütsbewegung zu heucheln brauchte, als ich antwortete:
Ich.
Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht,
Sonst färbte Mädchenröte meine Wangen,
Um das, was du vorhin mich sagen hörtest.
Gern hielt' ich streng auf Sitte, möchte gern
Verleugnen, was ich sprach. Doch weg mit Förmlichkeit!
Sag', liebst du mich? Ich weiß, du wirst's bejahen,
Und will dem Worte trau'n, doch wenn du schwörst,
So kannst du treulos werden; wie sie sagen,
Lacht Jupiter des Meineid's der Verliebten.
O holder Romeo! Wenn du mich liebst,
Sag's ohne Falsch; doch dächtest du, ich sei
Zu schnell besiegt, so will ich finster blicken,
Will widerspenstig sein und nein dir sagen,
So du dann werben willst, sonst nicht um alles.
Gewiß, mein Montague, ich bin zu herzlich;
Du könntest denken, ich sei leichten Sinn's.
Doch glaube, Mann, ich werde treuer sein
Als sie, die fremd zu tun geschickter sind.
Auch ich, bekenn' ich, hätte fremd getan,
War' ich von dir, eh' ich's gewahrte, nicht
Belauscht in Liebesklagen. Darum vergib!
Schilt diese Hingebung nicht Flatterliebe,
Die so die stille Nacht verraten hat.Romeo.
Ich schwöre, Fräulein, bei dem heil'gen Mond,
Der silbern dieser Bäume Wipfel säumt.Ich.
O schwöre nicht beim Mond, dem wandelbaren,
Der immerfort in seiner Scheibe wechselt,
Damit nicht wandelbar dein Lieben sei!Romeo.
Wobei denn soll ich schwören?Ich. Laß es ganz.
Doch willst du, schwör' bei deinem edlen Selbst,
Dem Götterbilde meiner Anbetung,
So will ich glauben.Romeo. Wenn die Herzensliebe –
Ich.
Gut, schwöre nicht. Obwohl ich dein mich freue.
Freu' ich mich nicht des Bundes dieser Nacht.
Er ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich;
Gleicht allzusehr dem Blitz, der nicht mehr ist,
Noch eh' man sagen kann: es blitzt. – Schlaf süß!
Des Sommers warmer Hauch kann diese Knospe
Der Liebe wohl zur schönen Blum' entfalten,
Bis wir das nächste Mal uns wiederseh'n.
Nun gute Nacht! So süße Ruh' und Frieden,
Als mir im Busen wohnt, sei dir beschieden.Romeo.
Ach, du verlässest mich so unbefriedigt?Ich.
Was für Befriedigung begehrst du noch?Romeo.
Gib deinen treuen Liebesschwur für meinen.Ich.
Ich gab ihn dir, eh' du darum gefleht;
Und doch, ich wollt', er stünde noch zu geben.Romeo.
Wollt'st du ihn mir entzieh'n? Wozu das, Liebe?Ich.
Um unverstellt ihn dir zurückzugeben.
Allein ich wünsche, was ich habe, nur:
So grenzenlos ist meine Huld, die Liebe
So tief ja wie das Meer. Je mehr ich gebe,
Je mehr auch hab' ich; beides ist unendlich.
Ich hör' im Haus Geräusch. Leb' wohl, Geliebter.
Hier fehlte uns eine dritte Person, denn in diesem Augenblicke verlangt das Stück, daß die Wärterin Julia ruft. Gerade aber, als ob der Zufall geschworen hätte, aus dieser Dichtung bis ans Ende eine Wirklichkeit zu machen, ließ sich in dem Augenblicke, wo Julias Name gerufen werden sollte, der Name Emma in meinem Zimmer hören. Er ward durch eine Frauenstimme ausgesprochen und ich sah, daß sich jemand dem Fenster näherte. Ich hatte nur eben Zeit, meinem Romeo anstatt in Versen in Prosa zu sagen: »Warten Sie, ich komme sogleich wieder!«
Ich kehrte in mein Zimmer zurück und sah mich Amy Strong gegenüber, welche ich seit dem Tage meiner Ankunft in London und seit dem Augenblicke, wo ich sie in dem Gasthause in Villiersstreet verlassen, nicht wieder gesehen hatte. Das arme Mädchen schluchzte und weinte. Obschon ihr Erscheinen mir nicht sehr gelegen kam, so warf ich mich doch mit der ganzen Hingebung eines vollen jungen Herzens, welches eine Freundin wieder findet und das Bedürfnis sich mitzuteilen empfindet, in ihre Arme. Gleich aus den ersten Worten, welche sie zu mir sprach, ersah ich, daß sie mir eine lange Geschichte zu erzählen hatte und daß, indem sie zu einer solchen Stunde kam, ihre Absicht darauf hinauslief, mich erst den nächstfolgenden Morgen wieder zu verlassen. Ich hatte noch Abschied von Romeo zu nehmen. Deshalb ließ ich Amy in mein Schlafzimmer treten, kehrte auf den Balkon zurück, neigte mich über das Geländer und streckte die Hand aus. Zwei Hände erfaßten dieselbe, ein brennender Mund drückte sich darauf und unsere beiden Stimmen murmelten gemeinschaftlich: »Morgen!« Dann kehrte ich wieder in das Zimmer zurück. Mein Herz pochte gewaltig und alle meine Sinne waren erschüttert durch dieses neue und unbekannte Gefühl, welches infolge dieser berauschenden Poesie und dieses seltsamen Geheimnisses meine Adern durchglühte.
Es wäre für Amy Strong nicht schwer gewesen, zu sehen, daß etwas Ungewohntes in meinem Leben vorging. Sie war jedoch mit der Angelegenheit, welche sie hierherführte, so sehr beschäftigt, daß sie nichts zu merken schien, sondern das, was ihr auf dem Herzen lag, sofort zur Sprache brachte. Dick, man erinnert sich noch des Bruders meiner Freundin, jenes jungen Burschen, welcher mein Nachfolger im Dienste des Schafhütens gewesen, dann Schleichhändler geworden und mit uns von Chester nach London gekommen war. Dick, sage ich, war infolge des Verfahrens, womit England damals seine Marine rekrutierte, zum Matrosen gepreßt und der Mannschaft des Commodore John Payne zugeteilt worden. Es galt nun, von dem genannten Offizier die Freilassung des jungen Mannes zu erwirken. Man hatte Amy Strong gesagt, daß der galante Commodore einem jungen, hübschen Gesichte nichts abschlagen könne, und sie hatte nun an mich gedacht, um mich zu bitten, ihr bei diesem Unternehmen behilflich zu sein.
Demgemäß hatte sie sich bei Mr. Hawarden nach mir erkundigt. Dieser hatte sie an Mr. Plowden verwiesen und Mr. Plowden hatte ihr Miß Arabellas Adresse gegeben und ihr gesagt, ich sei verschwunden, wahrscheinlich aber würde sie mich bei dieser Dame finden. Sie war an diesem Abend schon zweimal dagewesen. Man hatte ihr gesagt, ich sei nicht zu Hause, und ich war auch in der Tat, wie man sich entsinnen wird, ins Drury-Lane-Theater gegangen. Entschlossen jedoch, mich zu sehen, zu sprechen, zu welcher Stunde es auch sein möchte, war Amy zum drittenmal gekommen und hatte nicht eher mit Bitten nachgelassen, als bis man sie, obschon es beinahe Mitternacht war, in mein Zimmer geführt hatte.
Sie war, wie man gesehen, gerade an der Stelle der Szene erschienen, wo die Wärterin Julien ruft, und sie hatte sich dabei eine doppelte Variante erlaubt – die erste insofern als sie mich bei dem Namen Emma anstatt bei dem Namen Julia rief, und die zweite, indem sie mich zwang, von meinem Romeo schon lange vor dem Augenblick Abschied zu nehmen, wo die wirkliche Julia Abschied von dem ihrigen nimmt.
Ich befand mich in jener glücklichen Stimmung des Geistes und des Herzens, wo man glaubt, man könne das ganze Menschengeschlecht glücklich machen. Ich versprach Amy Strong sofort, mich den nächstfolgenden Tag für Dicks Freilassung zu verwenden, und da sie zu einer so späten Stunde der Nacht nicht wieder nach Hause zurückkehren konnte, so bereiteten wir ihr ein Lager auf meinem Sopha, damit sie in meiner Nähe schlafen und wir den nächstfolgenden Tag die erforderlichen Schritte gemeinschaftlich tun könnten. Demzufolge, was Amy erfahren, befand sich Sir John Payne am Bord seines Schiffes, des »Theseus«, welches in der Themse zwischen Greenwich und London vor Anker lag. Amy hatte bemerkt, daß ich, ganz im Gegensatz zu ihr selbst, fröhlich und heiter war. Sie hatte mir ihr Unglück erzählt und ich erzählte ihr allerdings nicht mein Glück, denn ich hatte noch keinen Grund, mich glücklich zu fühlen, wenigstens aber war meine Einbildungskraft mit Träumen beschäftigt, welche, wenn sie für junge Mädchen auch nicht das Glück selbst, doch wenigstens das Spiegelbild desselben sind. Es versteht sich von selbst, daß, solange wir wach blieben, mein unbekannter Romeo Stoff zur Unterhaltung lieferte. Mit dem Namen Romeo im Herzen und den Lippen auf meiner Hand an der Stelle, auf welche er die seinigen gedrückt, schlief ich ein. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß meine ganze Nacht ein einziger flammender Traum war.
Als ich am nächstfolgenden Morgen die Tür meines Zimmers öffnete, sah ich einen Brief auf dem Fußboden liegen. Man hatte denselben wahrscheinlich durch die Öffnung, welche sich zwischen dem Fußboden und dem auf den Balkon hinausführenden Fenster befand, in das Innere des Zimmers hineingeschoben. Die Aufschrift lautete: »An Julia.« Ich öffnete den Brief und sah sofort begierig nach der Unterschrift. Der Name dessen, der den Brief geschrieben, konnte ebensogut ein Taufname als ein Familienname sein. Er hieß nämlich Harry. Nun las ich den Brief selbst, oder verschlang ihn vielmehr. Ich hatte die Wahrheit so ziemlich erraten. Romeo-Harry war mein Nachbar. Er hatte mich auf meinem Balkon an dem Abend gesehen, wo ich, als ich mich mit der Nacht und der Nachtigall allein glaubte, die Szene Julias deklamiert hatte. Er war es gewesen, der mir am Schlusse der Szene seinen Beifall zu erkennen gegeben und mich dadurch bewogen hatte, die Flucht zu ergreifen. Den nächstfolgenden Tag war er auf den Einfall gekommen, in den Garten hinabzusteigen und ebenso wie Romeo, unbekümmert um die Gefahr, in welche er sich durch diese Unklugheit begab, mich dadurch an das Fenster zu locken, daß er die ersten Verse der schönen Gartenszene deklamierte. Man weiß, daß ihm dies vollständig gelungen war. Die Erklärung, die er mir in bezug auf sich selbst gab, war kurz. Er war Student auf der Universität Cambridge. Durch einen unwiderstehlichen Trieb zum Theater hingezogen, glaubte er, daß dies sein eigentlicher Beruf sei, und forderte mich auf, mit ihm gemeinschaftlich diese Laufbahn zu betreten, für welche ich unverkennbar ebenfalls geschaffen sei. Er bat mich, in der nächstfolgenden Nacht wieder auf dem Balkon zu erscheinen und ihm die Antwort zu geben, von welcher, wie er mir versicherte, sein künftiges Lebensglück abhinge.
Ich habe bereits gesagt, daß dieser Brief, welcher durchaus nicht geeignet war, die Unruhe meines Herzens zu beschwichtigen, mit dem Namen Harry unterzeichnet war. Augenscheinlich war er nach unserer unterbrochenen Szene geschrieben. Der, welcher ihn geschrieben, hatte meinen Balkon erklettert und nachdem er sich überzeugt, daß ich nicht allein war und wahrscheinlich auch die ganze Nacht nicht allein sein würde, den Brief auf die schon beschriebene Weise in mein Zimmer geschmuggelt. Ich ersah hieraus, daß, sofern mein Nachbar einige Kühnheit besaß, ich mich in meinem Zimmer nicht eben sehr sicher befand und daß ich ebenso wie die eigentliche Julia von der Gartenszene bald zur Balkonszene übergehen würde.
Ach, leider war es ebenfalls eine der Gefahren meiner Situation, daß ich meine Gedanken ohne Furcht bei einem Verhältnis der Art verweilen ließ, wie man mir jetzt angetragen. Wenn Julia, die Erbin des Hauses Capulet, das heißt eines der vornehmsten von Verona, wenn die Tochter, welche die Ehre einer Familie aufrecht zu erhalten hatte, von der sie angebetet ward, von der sie in allen Grundsätzen der Tugend erzogen worden, infolge einer jener jugendlichen Verirrungen, wo das Herz über alle sozialen Rücksichten den Sieg davonträgt, ihrem Geliebten ihre Tugend, ihren Ruf, ihr Glück zum Opfer bringt, wie konnte dann ich, ein armes, alleinstehendes Mädchen ohne Namen, welches gewissermaßen mit Hilfe der öffentlichen Wohltätigkeit erzogen worden, welches seinen Vater niemals gekannt und von einer Mutter, die durch ihrer Hände Arbeit ihr Brot verdienen mußte, nur ungenügend überwacht werden konnte, wie konnte ich, welcher die beste Lehre von allen, die Lehre des guten Beispiels, fehlte, ich, die ich von meiner Handlungsweise niemandem Rechenschaft zu geben schuldig war, ich, die ich, wenn ich mich hingab, weder einen Namen noch eine Familie befleckte, ich, die ich dann mich allein dem Untergange weihte, wie könnte ich da, wo eine Julia erlegen war, wohl an Widerstand denken? Ich dachte auch nicht daran. Ich dachte bloß an das Glück, meinen unbekannten Romeo wiederzusehen oder vielmehr zu sehen, denn in dem Dunkel hatte ich seine Züge nicht zu unterscheiden vermocht. Ich hatte an dem Ton und Ausdruck seiner Stimme bloß die Jugend erkannt und aus seiner Schrift und seinem Stil konnte ich Erziehung und Bildung erraten. Was Schönheit betraf, so war ich überzeugt, daß er diese besaß, denn es lagen in diesem ganzen Abenteuer von seiner Seite nicht bloß die Inspirationen der Jugend, sondern auch die der Schönheit.
Ich küßte den Brief und barg ihn an meinem Herzen. Mittlerweile kleidete Amy sich an. Wir hatten beinahe anderthalb Stunden Wegs zurückzulegen, um die Stelle der Themse zu erreichen, wo die englische Flottille vor Anker lag. Dennoch aber konnten wir den Admiral nicht wohl eher als gegen Mittag zu sprechen verlangen und hatten daher vollauf Zeit, zu Hause zu frühstücken und uns dann auf den Weg zu machen.
Ich klingelte, um zu fragen, ob man uns dieses Frühstück in meinem Zimmer auftragen könnte. Der Diener antwortete, Miß Arabella habe bei ihrer Abreise befohlen, daß man mir gehorche wie ihr selbst. Während des Frühstücks fragte man mich, ob ich wünschte, daß man den Wagen anspanne. Da ich nicht wissen lassen wollte, wo wir hingingen, so lehnte ich dieses Anerbieten ab und sagte bloß, daß ich aller Wahrscheinlichkeit nach erst abends wieder nach Hause kommen würde.
Gegen Mittag brachen wir auf. Amy, welche in dem Leben von London mehr bewandert war als ich, rief einen Mietwagen herbei, verständigte sich mit dem Kutscher über das Fahrgeld und wir fuhren dann weiter nach der Themse. Ich überließ mich vollständig meiner Freundin Amy. Mein Gemüt war noch fast ausschließlich mit dem Ereignis der vergangenen Nacht beschäftigt. Jeden Augenblick legte ich die Hand aufs Herz, um mich zu überzeugen, daß ich Harrys Brief nicht verloren. Das einzige, was einen Schatten auf diesen holden Traum meines Herzens warf, war der Umstand, daß ich es mit einem schlichten Studenten, einem Künstler, der sich erbot, an meinem Arme den dornigen Pfad der Kunst zu wandeln, anstatt mit einem schönen Kavalier zu tun hatte, welcher mich in einer vierspännigen Equipage dem Ruhme einer Mistreß Siddons oder dem Reichtum einer Miß Arabella entgegenführte. Aufgeschoben war jedoch nicht aufgehoben, das Theater war ein Piedestal, wo die Statue der Schönheit ihren Kultus ebenso gut hatte wie die des Talents, und da ich von meiner Schönheit überzeugt war – leider hatte man mir dies, von dem armen Dick an, der mir es zuerst in den Gebirgen von Wales gesagt, bis zu Harry-Romeo, der mir es erst diesen Morgen geschrieben, tausendfach wiederholt – da ich von meiner Schönheit überzeugt war, sage ich, und da ich auch Talent zu besitzen glaubte, so war dies alles nur eine Frage der Zeit, und ich hatte ja Zeit, um zu warten.
Man sieht, daß ich dem Programm, welches ich mir bei Abfassung meiner Lebensgeschichte vorgezeichnet, treu bleibe, und daß ich den Menschen, welche mich vielleicht allzuhart beurteilt, ebenso wie Gott, der einmal, hoffe ich, nachsichtiger gegen mich sein wird, meine innersten Gedanken darlege. Wenn ich einen Roman schriebe, so könnte ich die Ereignisse verändern oder verkehren; ich könnte mein Unrecht beschönigen und meine Fehler entschuldigen. Ich habe aber dieses Buch »Mein Leben« betitelt. Deshalb habe ich auch nicht das Recht, an den Ereignissen meines Lebens etwas zu ändern, sondern muß sie in ihrer Reihenfolge und in ihrer wahren Gestalt entrollen.
Ich gestehe, daß dieses Buch, als von Menschenhand geschriebener Roman, schlecht abgefaßt, und, was noch schlimmer ist, schlecht gedacht sein würde, denn als Traum der Einbildungskraft könnte es keinen Einfluß auf das Leben anderer haben. Dem ist jedoch nicht so. Ich löse ein Blatt Geschichte aus dem großen allgemeinen Buche des Menschengeschlechts, von der eisernen Feder des Schicksals geschrieben, welches mich wie ein unheilverkündendes Meteor durch mein Jahrhundert gefühlt und durch mich einen verderblichen Einfluß auf meine Zeitgenossen ausgeübt hat. Ich muß alles sagen, selbst meine verwerflichen Gedanken, ebenso wie ich alles enthüllen muß, selbst meine schlimmen Taten, denn die einen führen zu den andern. Meine einzige Entschuldigung ist, daß ich von allem, was mir begegnet, oder durch mich geschehen ist, nichts im voraus gewollt oder vorbereitet habe, sondern daß ich im Gegenteil stets einem Impuls gefolgt bin, dessen Ursachen von meinem Willen unabhängig und ganz besonders stärker gewesen sind als dieser. Hierbei darf ich nicht unerwähnt lassen – denn ich muß auch alles sagen, was zu meiner Verteidigung dienen kann – daß meine schlimmsten Taten, oder vielmehr die schlimmsten Ereignisse meines Lebens fast stets eine gute Absicht, ein vortreffliches Prinzip gehabt haben. So hatte auch der Schritt, welchen ich in diesem Augenblick unternahm, welcher zu meinem tiefsten Fehltritt führte und mich dadurch aus den düstersten und tiefsten Abgründen der Gesellschaft auf ihre strahlendsten Gipfel erheben sollte, einen lobenswerten Zweck und ward mir durch die Humanität vorgezeichnet, denn ich tat ihn, um den Bruder meiner Freundin vor dem gefürchtetsten Schicksal eines freien Engländers zu retten. Warum aber ging ich dabei mit so viel Bereitwilligkeit und Eifer zu Werke? Vielleicht bloß, weil Dick der erste gewesen war, der mir aufrichtig und mit voller Überzeugung gesagt hatte, daß ich schön sei.
Ich hatte mich so in meine Betrachtungen versenkt, daß ich weder auf den Weg, den wir zurückgelegt, noch auf die Zeit, die wir dazu gebraucht, geachtet hatte, als plötzlich der Wagen Halt machte. Wir waren am Ufer des Flusses in einiger Entfernung von einem prachtvollen Kriegsschiff. Erwartete man uns? Ich weiß es nicht, bin aber später oft auf den Gedanken gekommen, daß alles zwischen Amy und dem Commodore im voraus verabredet war. Kaum waren wir nämlich aus dem Wagen gestiegen, so stieß ein mit sechs Ruderern bemanntes Boot von dem »Theseus« ab und kam auf uns zu. Alles war für mich so neu und ich war mit so viel widerstreitenden Empfindungen beschäftigt, daß mir dieser Umstand für den Augenblick gar nicht auffiel, sondern ich erst später daran dachte. Binnen wenigen Minuten befanden wir uns an Bord des Schiffes. Einer der ersten Gegenstände, die ich, indem ich die Schiffstreppe hinaufstieg, erblickte, war der arme Dick selbst, welcher schon Matrosenkleider trug. Er näherte sich mir und sagte in kläglichem Tone: »Ach, Miß Emma, haben Sie Erbarmen mit dem armen Dick. Sein Schicksal ruht in Ihren Händen.« Ich konnte nicht recht begreifen, wie mir auf einmal eine so große Macht zur Verfügung stünde; der arme unglückliche Knabe sah aber so traurig aus, daß ich ihm versprach, alles zu tun, was in meinen Kräften stünde. Ein Midshipman stieß ihn brutal auf die Seite und führte uns in Sir John Paynes Kajüte.
Diese Kajüte war eins der elegantesten Boudoirs, die ich jemals gesehen, selbst zu der Zeit, wo ich mein Leben in den Boudoirs einer Königin zubrachte. Der Fußteppich war aus prachtvollen Tigerfellen zusammengesetzt und die Wand mit den schönsten ostindischen Kaschemirs bekleidet. Wenn man dieselben emporhob, so sah man Trophäen von Waffen, die den reichsten Bazars des Orients entstammten.
Der Sitz, auf welchem der Commodore saß oder vielmehr lag, war ein türkischer Divan mit goldener Blumenstickerei, wie man deren bloß an den Gestaden des Bosporus und des Ganges träumt. Die Basis, auf welcher er ruhte, bestand aus zwei Kanonenläufen, welche wie Gold funkelten. An gewöhnlichen Tagen verschwanden dieselben vollständig unter dem sie bedeckenden Stoff. An den Tagen des Kampfes nahm man die Kaschemirs, welche die Trophäen, und die Kissen des Divans, welche die Geschütze bedeckten, hinweg und man sah sich aus dem Boudoir einer Modedame in das Arsenal eines englischen Commodore versetzt.
Sir John Payne, der einen Schlafrock von chinesischem Stoff trug, war bei unserem Eintritt mit Lesen beschäftigt. Mit der Nachlässigkeit eines Menschen, der einen unerwarteten Besuch empfängt, drehte er sich nach uns herum, als er aber zwei Frauen erblickte, erhob er sich. Ich warf auf ihn einen raschen Blick, der, wie rasch er auch war, mir möglich machte, alles zu sehen. Sir John Payne war ein schöner Mann von dreißig bis fünfunddreißig Jahren, welcher den Grad, den er so jung bekleidete, augenscheinlich mehr seiner Geburt und seinem Reichtum als den Feldzügen verdankte, die er bis jetzt mitgemacht. Alles an ihm, wie um ihn herum, verkündete Luxus. Das Messer, womit er sein Buch aufschnitt, hatte einen goldenen Griff, seine Finger waren mit Ringen belastet und eine neben ihm liegende Uhr mit Diamanten besetzt. Er hauchte, sozusagen, ein hocharistokratisches Parfüm aus.
Amy warf sich schluchzend, sie besaß die Fähigkeit des Weinens in bewundernswürdigem Grade, ihm zu Füßen, oder wollte dies vielmehr tun. Er wehrte ihr jedoch und fragte sie, was sie zu ihm führe. Sie zog mich, als ob das Schluchzen ihr das Sprechen unmöglich machte, bei der Hand näher und forderte mich durch eine Gebärde auf, an ihrer Statt das Wort zu ergreifen. Erst jetzt schien der Admiral mich zu bemerken. Er sah mich an, schien durch meine Schönheit in Erstaunen gesetzt zu werden und ließ mich an seiner Seite Platz nehmen. Amy blieb stehen, bedeckte sich das Gesicht mit ihrem Tuche und sagte mit halberstickter Stimme zu mir: »Sprich, sprich! Mylord wird dich lieber anhören und besser verstehen als mich.«
Ich war selbst sehr aufgeregt und setzte mit bewegter Stimme Admiral den Zweck unseres Besuchs auseinander, indem ich ihm zugleich versicherte, daß er sich, wenn er den armen Dick wieder freiließe, ein ewiges Recht auf meine Dankbarkeit erwerben würde. Sei es nun, daß der Admiral dies wirklich glaubte, oder daß er mir eine Schmeichelei sagen wollte, kurz, er fragte mich, welchen Grund eine Person von meinem Stande haben könne, um sich für einen gemeinen Menschen wie den zu interessieren, dessen Freilassung ich soeben begehrte. Mit einem Gemisch von Demut und Stolz antwortete ich hierauf, ich sei durchaus keine Person von Stand, sondern ein armes Landmädchen und Dicks Landsmännin. Er ergriff mich bei der Hand, betrachtete dieselbe und schüttelte mit zweifelnder Miene den Kopf. Meine Hände, welche ich mit einer Koketterie, die bei mir dem Alter voranschritt, stets sorgfältig gepflegt, waren in der Tat sehr schön. »Diese Hände,« rief der Admiral lachend, »sind nicht die Hände einer Bäuerin.« Ich versicherte dem Admiral, daß er sich irre. »Dann,« sagte er, indem er von seinem kleinen Finger einen Diamantring zog, den er an den meiner Hand steckte, welcher der Stärke des seinigen entsprach, »dann fehlt bloß dieser Ring, um Hände einer Herzogin daraus zu machen.«
Ich fühlte, daß ich mehr vor Freude als vor Scham bis an die Augen errötete. Dennoch aber und obschon meine Hand mir mit dem Schmucke, den sie empfangen, noch weit schöner erschien, wollte ich dem Admiral den Ring, den er mir auf so galante Weise anbot, zurückgeben. Er hielt jedoch meine Hand in der seinigen fest und sagte, wenn ich auf meiner Weigerung beharrte, so müßte ich mich darauf gefaßt machen, daß er auch bei der seinigen beharre. Ich warf die Augen auf Amy. Diese sah mich durch ihre Tränen hindurch mit so bittendem Blick an, daß ich nicht den Mut hatte, längeren Widerstand zu leisten. Ich behielt den Ring. Amy schien nun wieder Mut zu fassen. »Und mein armer Dick?« fragte sie.
»Hören Sie, was ich sage,« antwortete der Admiral. »Ich allein kann diese Frage nicht entscheiden. Ich kann wohl die Entlassung des jungen Mannes beantragen, dieselbe bedarf aber der Autorisation durch die Admiralität.« – »Ja,« sagte ich, indem ich Sir John Paynes Hände ergriff, »aber wenn Sie diesen Antrag stellen, so wird die Entlassung bewilligt werden, nicht wahr?« – »Ich hoffe es.« – »Sagen Sie, daß Sie dessen sicher sind.« – »Ich werde alles tun, was ich kann, um mich Ihnen angenehm zu machen,« sagte der Admiral indem er sich höflich verneigte. – »Ach, wenn es Ihnen gelänge,« rief ich, »wie dankbar wollte ich Ihnen sein!« – »Ist. das wahr, was Sie mir da sagen?« fragte der Admiral, indem er mich fest und mit wenn auch nicht liebendem, doch begehrlichem Blick betrachtete. Ich errötete und senkte das Haupt, ohne zu antworten. Es war mir jetzt, als sähe ich ihn einen Blick mit Amy wechseln; Amys Blick aber konnte ebenso wie der meinige ein bittender sein. »Hören Sie,« hob er wieder an, »ich werde Ihnen einen Beweis meines guten Willens geben. Noch heute gehe ich nach London und tue daselbst die nötigen Schritte.« – »Ach, wie gütig Sie sind!« – »Und,« fragte Amy, »wann und wo werden wir Antwort erhalten?« – »Das ist sehr einfach,« sagte der Admiral. »Warten Sie.« – »Hier?« fragte ich zögernd, denn ich dachte an mein Stelldichein für den Abend. – »Nein, in London, in meinem Haus in Piccadilly.« – Ich sah Amy fragend an. – »Fragen Sie Emma,« sagte sie. »Ich stehe ganz zu Ihren Befehlen, Mylord.« – »Ich werde warten, wo es Ihnen beliebt, Mylord,« antwortete ich, »in der Hoffnung, daß die Antwort, die Sie uns bringen, eine gute sein werde. Nur –« setzte ich hinzu. – »Nur –« wiederholte der Admiral. – »Nur muß ich bis zehn Uhr abends zu Hause sein.« – »Es wird Ihnen freistehen, sich zu entfernen, sobald es Ihnen beliebt. Da aber die Antwort sich verzögern und mich selbst ziemlich lange aufhalten kann, so werden Sie eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen genießen. Dann gebe ich Ihnen Ihre Freiheit zurück, und bitte Sie um die meinige, was ich ganz gewiß nicht tun würde, wenn ich Sie nicht verließe, um Ihnen einen Dienst zu leisten.« Er schlug auf eine lautdröhnende chinesische Glocke. Ein Diener trat ein. »Den Tee,« befahl der Admiral. Ohne Zweifel war alles schon im voraus angeordnet, denn wenige Augenblicke darauf trat der Diener wieder ein und brachte einen mit Konfitüren bedeckten Präsentierteller, den er auf einen Tisch setzte. »Nun, meine schöne Bittstellerin, machen Sie jetzt die Honneurs beim Tee,« sagte der Admiral zu mir. Ich gehorchte ihm errötend und verlegen und schenkte eine Tasse Tee ein, welche ich dem Admiral mit einer Hand präsentierte, indem ich ihm mit der anderen den Zucker darbot und dabei zugleich einen Knix machte, so wie man mich in der Pension gelehrt. »In der Tat,« sagte Sir John zu mir, »man hatte mir nicht zu viel gesagt. Sie sind wirklich anbetungswürdig!« Ich warf einen vorwurfsvollen Blick auf Amy. Die dem Admiral soeben entschlüpfte Bemerkung bewies mir, daß mein Besuch nicht, wie ich glaubte, vorausgesehen, sondern erwartet worden war. »Nehmen Sie es Amy übel, daß sie mir gesagt, sie hätte das schönste Wesen der Welt zur Freundin, und nehmen Sie mir es übel, daß ich Sie zu sehen gewünscht habe?« fragte der Admiral. »Wenn Sie dies täten, so wären Sie sehr grausam, denn Sie hätten, wenn Sie sich geweigert zu kommen, aus Ihrem Freund Dick einen Matrosen gemacht, was, wie mir scheint, durchaus nicht der Beruf des jungen Mannes ist, und Sie hätten mir nicht erlaubt, mich Ihren Diener zu nennen, was gleichwohl mein Beruf zu sein scheint.« Ich wußte nicht, was ich auf dieses so leicht hingeworfene, aber durchaus nicht ehrerbietige Kompliment sagen sollte. Er hielt mir seine Tasse hin, damit ich einige Tropfen Sahne hineingösse, und er konnte sehen, wie meine Hand zitterte. »Wie! hier vereiniget sich also alles – Tugend, Zartgefühl und Keuschheit – abgesehen von Schönheit und Jugend,« murmelte er. Ich betrachtete ihn mit erstauntem Blick.
»Haben Sie vielleicht einmal Hamlet spielen sehen?« fragte er mich. – »Nein,« antwortete ich. – »Wohlan, was ich Ihnen soeben gesagt, ist dasselbe, was Hamlet zu Ophelia sagt, als er erstaunt ist, so viel Anmut, Liebe und Züchtigkeit in einer und derselben Person vereinigt zu finden.« – Ich schüttelte den Kopf. – »Und,« fuhr Sir John fort, »da Ophelia nicht an die Liebe des Prinzen von Dänemark glaubt, so setzt er hinzu:
»Zweifle an der Sonne Klarheit,
Zweifle an der Sterne Licht,
Zweifl', ob lügen kann die Wahrheit,
Nur an meiner Liebe nicht.«
Sir John ergriff mich bei beiden Händen, gab seiner Stimme den zärtlichsten Ausdruck und fuhr fort: »O liebe Ophelia, es gelingt mir schlecht mit dem Silbenmaße und ich besitze nicht die Kunst meine Seufzer zu messen, aber daß ich dich bestens liebe, o Allerbeste, das glaube mir.« – »Und was antwortet Ophelia auf diese Verse?« fragte ich. Sir John erhob sich. »Hamlet,« sagte er, »läßt ihr nicht Zeit zum Antworten. Er entfernt sich und verläßt sich darauf, daß selbst in seiner Abwesenheit das Herz der Person, die er liebt, für ihn sprechen werde.« – »Sie verlassen uns also auch?« fragte ich Sir John. – »Nach drei Uhr würde ich die Lords der Admiralität nicht mehr beisammen finden und ich will wenigstens das Verdienst besitzen, mein Versprechen zu halten und Ihnen heute noch eine Antwort zu bringen, mag dieselbe nun gut oder schlimm ausfallen.« – »Und wir?« fragte Amy. – »Sie,« sagte Sir John, »Sie werden die Güte haben, mich in Piccadilly zu erwarten, wohin mein Diener Sie begleiten wird.« – »Werden Sie mittlerweile dem armen Dick wenigstens vierundzwanzig Stunden Urlaub geben?« – »Ja,« sagte Sir John lachend, »aber nur, dafern Miß Emma mir mit ihrem Worte dafür bürgt, daß der Bursche nicht desertiert, denn in diesem Falle würde Miß Emma mit ihrer eigenen Person für ihn haften.« – »Hörst du, Emma?« sagte Amy. – Ich reichte Sir John die Hand. »Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, Mylord,« sagte ich zu ihm. – »Nun,« sagte der Admiral, »wünsche ich weiter nichts, als daß der Bursche bis ans Ende der Welt davonlaufe. Wollen Sie mit mir kommen, damit ich Sie ans Land bringen kann?« – »Wir sind,« sagte ich, »Ihretwegen, Mylord, an Bord dieses Schiffes gekommen und von dem Augenblicke an, wo Mylord es verläßt, haben wir keinen Grund mehr, länger zu bleiben.« – Sir John schlug abermals auf die Glocke und derselbe Diener trat wieder ein. »Die Jolle!« befahl der Admiral. – »Sie liegt bereit, Mylord.« – »Ihr werdet mit uns ans Land kommen, und diese Damen nach Piccadilly begleiten. Um sieben Uhr wird soupiert.«
Ich wollte in bezug auf dieses Souper eine Bemerkung machen, Sir John aber ließ mir nicht Zeit dazu, sondern bot mir den Arm und führte mich nach der Treppe. Sämtliche Offiziere waren von der Kajüte bis zur Treppe in doppelter Reihe aufgestellt. Ich senkte nicht bloß die Augen, sondern auch das Haupt, denn alle Blicke lasteten gewissermaßen auf meiner Stirn und beugten dieselbe nieder. Ich sah mich in der Jolle, ohne recht zu« missen, wie ich hineingekommen war. Ich hörte Sir Johns Stimme, welcher Dick befahl, uns zu folgen. Dann stieß das Boot leicht wie ein Vogel von dem Schiffe ab und näherte sich dem Ufer. Hier wartete Sir Johns Equipage. Daneben stand unser bescheidener Mietwagen. »Sie wollen doch nicht in diesem Fuhrwerke nach London zurückkehren?« fragte der Admiral. – »Wie sollen wir anders dahin zurückgelangen?« fragte ich. – »Piccadilly ist auf meinem Wege, ich werde Sie im Vorüberfahren dann absetzen.« Er winkte seinem Diener, welcher den Kutscher unseres Mietwagens bezahlte. Dann öffnete er selbst den Schlag seines Wagens und ließ mich zuerst einsteigen, während Amy einige Worte mit Dick wechselte, um ihn an einen Ort zu bestellen, wo sie ihm von Sir Johns Schritten Rechenschaft geben könnte. Dick, der weniger stolz war, als wir, bemächtigte sich des Mietmagens und ließ sich im Triumphe nach London zurückfahren. Sir John setzte sich auf den Vordersitz und überließ uns die beiden Hinterplätze. Der Diener setzte sich neben den Kutscher, der Wagen rollte fort, während ich mich in ganz andere Träume versenkt sah, als die waren, mit welchen ich meine Wohnung verlassen.
Für mich hatte das Leben in der Tat ein sich unaufhörlich drehendes Rad zum Symbol. Aber in welcher Richtung drehte sich dieses Rad? Geschah es, um mich zu erhöhen, oder geschah es vielmehr, um mich zu erniedrigen? War ich seit dem Tage, wo ich die Schafe hütete, etwas Besseres oder etwas weniger Gutes geworden? Ich überließ mich diesen Betrachtungen so vollständig, daß ich kaum fühlte, wie Sir John sich meiner Hand bemächtigte. Ich ließ dieselbe willenlos und untätig in der seinigen.
Nach einer halben Stunde machte der Wagen Halt. Wir waren in Piccadilly. Der Schlag öffnete sich und Sir John stieg zuerst aus, um uns die Hand zu bieten. Ich war dankbar dafür, daß ein Gentleman uns begegnete wie Herzoginnen, und mit unfreiwilliger Bewegung drückte ich die Hand, welche mir dargeboten ward. »Ich danke,« murmelte der Admiral leise. Rasch zog ich meine Hand zurück. Er betrachtete mich mit einem gewissen Erstaunen; an meinem Lächeln aber sah er, daß in diesem Zurückziehen meiner Hand nichts Beleidigendes für ihn lag. Es war jetzt über drei Uhr. Er hatte folglich keinen Augenblick zu verlieren, wenn er noch zur rechten Zeit auf die Admiralität kommen wollte. Er stieg daher wieder in seinen Wagen und wir gingen, von dem Diener geführt, in das Haus hinein. Dieses Haus, welches so ziemlich auf der Mitte des Weges von London bis zu Sir John Paynes Station lag, war ein mit der größten Eleganz möbliertes allerliebstes kleines Hotel und hatte keinen andern Eigentümer oder Mieter als Dicks aristokratischen Gönner. Der Lakai, den uns dieser zurückgelassen, führte uns eine jede in ihr Zimmer. Als ich das meinige betrat, blieb ich stehen und suchte in meinen Erinnerungen, wo ich dieses Zimmer schon gesehen hätte.
Es lag in der Wirklichkeit dieser Vision etwas Unmögliches. In die Richtung von Piccadilly hatte mein Weg mich niemals gefühlt und man weiß, daß, als ich nach London kam, dies zum erstenmal geschah. Ich stand vor einem großen Goldrahmenspiegel in einem eleganten Zimmer mit himmelblau seidenen Vorhängen, Toilettenmöbeln und eine Kommode von Rosenholz. Unter meinen Füßen hatte ich einen türkischen Teppich, über meinem Kopfe einen Plafond mit Freskomalereien, welche dem Pinsel eines Boucher oder Watteau zu entstammen schienen. Tanz gewiß hatte ich dieses Zimmer schon gesehen.
Ich setzte mich in einen Sessel, dessen seidener Überzug von derselben Farbe war wie die Vorhänge, und diese blaue Farbe führte mich durch die Analogie auf den Gedanken an mein erstes Kleid als Pensionärin. Ich sah mich wieder mit jenem Kleide an der Quelle sitzen, in deren Nähe meine Schafe weideten. Ich dachte wieder an den Tag, wo Dick zu mir gesagt hatte: »Betrachte dich in unsern Quellen, Emma; später einmal wirst du in die Stadt gehen und dich in großen Goldrahmenspiegeln betrachten, wie der ist, der an der Tür des Spiegelhändlers in Hawarden steht.« Durch den Faden meiner Erinnerungen geführt, besann ich mich auf alles. Dieses Zimmer, dieser Spiegel, diese türkischen Teppiche, diese Vorhänge, die so blau waren wie mein Kleid im Pensionat, ja dies alles hatte ich in einem Traume meiner Kindheit gesehen und jetzt nach sieben oder acht Jahren fand ich es in der Wirklichkeit wieder. Und Dick, welcher jene Prophezeiung ausgesprochen, war jetzt auch Ursache der Verwirklichung derselben. Seltsame Verkettung von Umständen, welche meinem Herzen jene verhängnisvolle Idee eingepflanzt, daß eine Macht, die stärker wäre als mein Wille, über mein Schicksal verfügen und daß ich vergebens versuchen würde, mich dieser Macht zu widersetzen. Nach ungefähr einer halben Stunde trat Amy Strong in mein Zimmer und fand mich in demselben Sessel, in welchen ich nach meinem Eintritt gesunken war. Mein Hinbrüten schien sie zu beunruhigen. Sie versuchte mich daraus aufzurütteln, indem sie von Sir John Payne, von seiner Güte gegen Dick und von seiner Artigkeit gegen uns sprach. Ich begnügte mich zu lächeln, ohne zu antworten, ich begriff den Zweck dieser Artigkeit, die Berechnung dieser Güte und ich fühlte, instinktartig, daß meine Ehre das Lösegeld für Dicks Freilassung sein würde.
Zum Unglück war Sir John Payne jung, schön und reich; zum Unglück war er auch artig und schien gutmütig zu sein. Alles vereinigte sich sonach, um mich ins Verderben zu stürzen, sogar die guten Instinkte meines eigenen Herzens, welche mich drängten, Dick zu retten und Amy zu trösten. Um fünf Uhr machte ein Wagen vor dem Tore Halt. Ich erschrak. Amy eilte an das Fenster und stieß einen Freudenruf aus. Ich brauchte nicht erst an das Fenster zu eilen, um zu fühlen, daß es Sir John war, welcher nach Hause zurückkam.
Einen Augenblick später öffnete sich die Tür und er trat mit heiterer Miene ein. »Was geben Sie mir, Miß Emma,« sagte er zu mir, »wenn ich Ihnen eine gute Nachricht für Ihren Schützling bringe?« – »Was,« antwortete ich, indem ich mich erhob und ihm beide Hände entgegenstreckte, »was könnte ich Ihnen weiter geben als den Dank eines tiefgerührten Herzens, Mylord?« – »Gut,« sagte er. »Für jetzt begnüge ich mich mit diesem Dank. Unsere Rechnung werden wir später ausgleichen.« – »Dann ist Ihr Vorhaben also gelungen, Mylord?« fragte Amy. – »Wenigstens ist es auf dem besten Wege dazu,« entgegnete der Admiral. »Man hat mir die Freilassung Ihres Bruders für diesen Abend versprochen. Wir wollen sie, wenn es Ihnen recht ist, bei Tische erwarten. Sie müssen sehr hungrig sein, denn Sie haben weiter nichts als ein kleines Stück Kuchen genossen. Ich meinerseits gestehe, daß die weiten Wege, die ich gemacht, meinen Appetit ebenfalls nicht wenig gereizt haben.« Ich wollte eine Bemerkung über die Notwendigkeit machen, in der ich mich befand, nach Oxfordstreet zurückzukehren, als der Diener eintrat und meldete, daß die Tafel serviert sei. Sir John Payne bemächtigte sich meines Armes, führte mich nach dem in derselben Etage gelegenen Speisezimmer und rief: »Kommen Sie, meine schönen Tischgenossinnen!«
Der Tag begann sich zu neigen und aus dem durch die dichten Vorhänge vermehrten Halbdunkel meines Zimmers traten wir in ein prächtig erleuchtetes Speisezimmer, dessen Lichter von dem Kristall der Gläser und dem funkelnden Silbergeschirr widergespiegelt wurden. Es war in der Tat, als wenn von Feenhänden ein Souper für ihren König Oberon und ihre Königin Titania zubereitet worden wäre. Die Atmosphäre war lau und von einem gleichzeitig herben und süßen Parfüm erfüllt, welches durch alle Poren einzudringen schien. Beim Anblick dieses Luxus und infolge dieser duftenden Atmosphäre bemächtigte sich meiner gleichsam ein plötzlicher Rausch. Ich fühlte, mich einer Ohnmacht nahe. Meine Füße zitterten und mein Kopf neigte sich auf die Schulter herab. Sir John fühlte, daß ich seinem Arm schwerer ward, und als er mir an dem matten Ausdruck meiner Augen und der schlaffen Haltung meines Körpers ansah, was in mir vorging, sagte er: »Sie gehören zur Gattung der Sensitiven. Sie sind Weib und Blume zu gleicher Zeit. Glücklich der Mann, welcher den Wohlduft der Blume atmen und das Wort Liebe von den Lippen des Weibes pflücken wird.« Ich stieß einen Seufzer aus und der Admiral führte mich, während ich förmlich taumelte, zu meinem Stuhle und nahm neben mir Platz.
Der Zauber des Reichtums ist für mich ebenso groß gewesen wie die Furcht vor dem Mangel. Stamme ich denn wirklich aus aristokratischem Blut und sind alle meine Bestrebungen darauf gerichtet, mir die durch meine illegitime Geburt zertrümmerte Stufe wieder zu erobern? Mein Leben ist in dieser Beziehung weiter nichts gewesen als ein langer Rausch, und wenn ich von dem Rang und dem Reichtum nichts mehr zu verlangen hatte, blendete als reiche und vornehme Dame mich wiederum der Ruhm, ebenso wie als armes Mädchen hoher Stand und Reichtum mich geblendet hatten.
Es war jetzt das erstemal, daß ich mich an eine reichservierte Tafel setzte. Es war das erstemal, daß die Gläser gleich Diamanten durch ihre Flammenreflexe mein Auge blendeten. Es war das erstemal, daß ich meine Lippen mit jenem französischen Schaumwein benetzte, welcher gleich dem des Altertums durch die Hände der Bacchantinnen in dem Becher der Freude gekeltert wird. Nichts von diesem allen aber war imstande mich aus meinem Taumel zu erwecken, das Blut, welches rascher durch meine Adern kreiste, zu beruhigen und das Feuer, welches gleichsam stoßweise aus meiner Brust auf meine Stirn stieg, zu löschen. Als ich mich an den Tisch setzte, war ich schon trunken von Wohlgeruch und Kerzenglanz. Beim Dessert trat ein Diener ein, welcher eine mit einem großen Siegel verschlossene Depesche überbrachte. Sir John entsiegelte die Depesche, überzeugte sich, daß es wirklich Dicks Entlassung war, und überreichte sie Amy. Amy erhob sich sofort und bat unter dem Vorwande, daß sie nicht länger zögern wolle, ihrem Bruder diese gute Nachricht mitzuteilen, um die Erlaubnis, sich zu entfernen. Sir John hatte durchaus nichts dagegen, sondern lobte im Gegenteile diesen Beweis von schwesterlicher Gesinnung.
Ich sah ein, daß von den nächsten fünf Minuten meine ganze Zukunft abhinge. Als ich sah, daß Amy sich erhob, tat ich dies ebenfalls. Sir John machte keine Bewegung, mich zurückzuhalten; ich hatte aber aus meinem Zimmer erst meine Mantille und meinen Hut zu holen. Fest entschlossen, mich dem Bereich der Verführung zu entziehen, eilte ich nach dem Zimmer, welches ich mild durch eine Alabasterampel beleuchtet fand. Es konnte nichts Reizenderes geben als dieses Zimmer, besonders in diesem gedämpften Lichtschein, welcher dem des Mondes in einer stillen Sommernacht glich. Stumm, unbeweglich, entzückt blieb ich einen Augenblick stehen und kämpfte mit dem Wunsche zu bleiben und dem, Amy zu folgen. Ich begriff nun, daß ich eine Stütze außer mir suchen müßte. Ich drückte die Hand aufs Herz, ich suchte und fand hier Harrys Brief. Nun atmete ich auf und wollte sofort aus dem Zimmer eilen, hinter mir aber hatte die in dem Schnitzwerk des Wandgetäfels angebrachte Tür sich geschlossen und war unsichtbar geworden. Es war, als beherrschte mich ein unwiderstehlicher Zauber, der mich in einen Feenpalast geführt hätte. Ich drehte mich um und wollte die Klingel ziehen. Zwischen mir und dem Kamin aber stand Sir John mit ausgebreiteten Armen und murmelte mit leiser Stimme das Wort: »Undankbare!« Bei dieser Stimme ergriff der eben erst beschwichtigte Taumel mich von neuem. Eine Flammenwolke zog an meinen Augen vorüber und ich sank in die mir geöffneten Arme.
Ich danke dir, mein Gott, dafür, daß mein erster Fehltritt seinen Grund in Herzensgute und Aufopferung für andere, aber nicht in sinnlicher Begierde oder im Hang zur Ausschweifung hatte.
Nun war ich Sir John Paynes Geliebte. Es beginnt hiermit die Reihe der traurigsten, vielleicht aber nicht der strafbarsten Ereignisse meines Lebens. Ich habe Gott und den Menschen versprochen, sie aufrichtig zu bekennen und ich meide dieses Geständnis mit voller Aufrichtigkeit tun, um zu beweisen, daß ich es als Reuige tue.
Wenn die Reue über einen Fehltritt in dem Herzen nur infolge der materiellen Unannehmlichkeiten oder Vorurteile, die er nach sich zieht, entstünde, so würde mich nichts bewegen, diese, ich will nicht sagen erste Liebe – denn wirklich geliebt habe ich nur einmal in meinem Leben – wohl aber diese erste Verirrung zu bereuen. Sir John war ein Gentleman, nobel, freigebig, artig, und ich konnte während der fünf oder sechs Monate, welche unser Verhältnis dauerte, nur zufrieden mit ihm sein. Das kleine Haus in Piccadilly ward mein, und wenn er mich besuchte, was so oft geschah, als die Pflichten seines Dienstes ihm Zeit dazu ließen – so sah es aus, als käme er in meine und nicht in seine Behausung. Die Diener und die Equipage standen zu meinen Befehlen und nach dem Respekt, welchen die Diener mir bewiesen, bemaß ich den, welchen der Herr vor mir hatte.
Als ich in den Möbeln meines Zimmers jene neugierige Untersuchung anstellte, welche die Frauen in dem Gemach, welches sie bewohnen, niemals verfehlen vorzunehmen, fand ich in einer mit meiner Namenschiffre gestickten Börse fünf- bis sechshundert Stück Sterling und in einem Etui einen Schmuck von Türkisen und Diamanten.
Von diesem Augenblick an, wo ich einsah, daß dieses Geld für mich bestimmt war, teilte ich es in zwei gleiche Teile: einen für meine Mutter, den andern für mich. Den ersteren schickte ich auch sofort an meine Mutter ab, ohne ihr jedoch zu sagen, wo ich sei und wie ich zu diesem Gelde gekommen wäre. Jetzt, wo ein trauriges, unglückliches Alter über mich hereinzubrechen droht, gereicht es mir zum Troste, zu bedenken, daß ich auf der Höhe meines Glücks oder meiner Schande niemals auch nur einen Augenblick lang versäumt habe, für das materielle Wohlbefinden der schlichten Frau zu sorgen, der ich dieses Leben verdanke, welches für mich gleichzeitig so glänzend und so schmerzlich war. Übrigens wäre ich ohne zwei Gedanken, die mich vorzugsweise beschäftigten, vollkommen glücklich gewesen. Der erste dieser Gedanken war der an meinen unbekannten Romeo, welcher mich sicherlich alle Abende vergebens am Fuße meines Balkons erwartete. Der zweite war, was wohl Miß Arabella bei ihrer Rückkehr gesagt haben würde, als sie mich nicht mehr in ihrer Wohnung vorfand. Ich hatte in der Tat eine seltsame Art und Weise, die Personen zu verlassen, welche mir Gutes erzeigt oder erzeigen gewollt – eine Art und Weise, die ihnen eine ganz eigentümliche Meinung von mir beibringen mußte. Einige Tage lang ward ich durch eine Art Scham bewogen, mich in Piccadilly eingeschlossen zu halten. Am dritten Tage empfing ich den Besuch Amys und ihres Bruders. Die äußere Erscheinung beider erweckte in mir die Vermutung, daß sie ebenfalls ihren Anteil an der Freigebigkeit des Commodore genossen hätten. Endlich brachte Sir John Payne mich so weit, daß ich mich bereit erklärte, auszugehen. Das Theater war immer noch meine herrschende Leidenschaft und er mietete eine Loge im Drury Lane. Er hatte, um mich dahin zu führen, den Tag gewählt, wo »Hamlet« gegeben ward. Mit einer gewissen Gemütsbewegung hörte ich die Verse, welche er an Bord des »Theseus« zu mir gesprochen, und indem ich mein Schicksal an das Opheliens kettete, folgte ich dem Unglücke der Tochter des Polonius mit ganzer Seele.
Die beiden Wahnsinnsszenen wurden für mich dasselbe, was die Gartenszene und die Balkonszene in »Romeo und Julia« für mich gewesen waren. Auf dem Nachhausewege sprach ich von weiter nichts, als von Ophelia, ich träumte die ganze Nacht von ihr und wiederholte die mir im Gedächtnis zurückgebliebenen Bruchstücke der betreffenden Verse. Shakespeares Werke gab es in der kleinen Bibliothek in Piccadilly nicht, wohl aber hatte Sir John sie an Bord des »Theseus«, und da er im Laufe des Tages sich dorthin zu begeben hatte, so versprach er einen meiner Diener mitzunehmen und mir durch diesen den gewünschten Band zu schicken. Ich erwartete meinen Shakespeare mit derselben Ungeduld, wie eine andere ein goldenes Armband oder einen Perlenschmuck erwartet hätte. Ich riß dem Diener das Buch förmlich aus der Hand, schloß mich in mein Zimmer ein und versenkte mich in diesen Ozean von Poesie. Am Abend wußte ich die beiden Wahnsinnsszenen auswendig, und da ich mir die bald traurigen, bald heiteren Mienen gemerkt, womit Ophelia ihren Geliebten am St. Valentinstage besucht, oder das Grab ihres Vaters mit Blumen bestreut, so konnte ich mit jenem mimischen Talent, welches ich von jeher gehabt, nicht bloß die Gebärden, sondern auch die Modulationen wiederholen, welche ich am Abend vorher gesehen oder gehört hatte. Alles dies geschah für mich allein und vor jenem vergoldeten Spiegel, der mir von Dick prophezeit worden.
Es fehlte mir dabei bloß eins, nämlich ein passendes Kostüm. Das Opheliens war indessen sehr leicht herzustellen, da es ja bloß in einem langen weißen Gewand besteht. Ich beschloß mir die Befriedigung dieser Grille zu gestatten. Abends beim Souper bat ich Sir John um die Erlaubnis, den nächstfolgenden Tag auszugehen. Erstaunt sah er mich an. »Sie bitten mich um Erlaubnis?« sagte er zu mir. »Glauben Sie denn erst meiner Erlaubnis zu bedürfen, wenn Sie ausgehen wollen?« – »Nein,« sagte ich, »aber dennoch wäre ich nicht ausgegangen, ohne es Ihnen zu sagen.« – »Nun, da Sie dies einmal wollen, so setzen Sie vielleicht auch Ihrem Vertrauen die Krone auf, indem Sie mir sagen, warum Sie ausgehen wollen.« – »Ich will Kleiderstoffe einkaufen,« antwortete ich. – »Warum wollen Sie damit nicht Ihre Schneiderin beauftragen?« fragte er. Ich lachte. »Weil ich mein Kleid selbst zu machen gedenke,« antwortete ich. – »Nun, lassen sie sich wenigstens die Adressen der renommiertesten Kaufläden geben.« – »Das ist nicht nötig. Das, was ich suche, finde ich bei dem ersten besten. Ich weiß eigentlich nicht, warum ich nicht lieber meine Zofe schicke, und ich werde dies auch tun, wenn Sie sich dazu verstehen, mich anderswohin zu begleiten.« – »Überall, wohin Sie mich führen, teure Emma, werde ich auf dem Wege nach dem Paradies zu sein glauben. Es wäre daher sehr töricht von mir, wenn ich mich weigern wollte.« – »Nun, dann ist die Sache abgemacht. Nach dem Frühstück werde ich meine Zofe in die Stadt schicken.« – »Und wir, wo werden wir hingehen?« – »Ins Freie, wenn es Ihnen beliebt. Ich habe ländliche Gelüste für morgen.« – »Und zu welcher Stunde soll unser Ausflug stattfinden?« – »Nach dem Frühstück, wenn es Ihnen recht ist, Mylord.«
Demgemäß ward alles verabredet. Am nächstfolgenden Morgen schickte ich, nachdem ich mich kaum vom Schlaf erhoben, meine Zofe mit dem Auftrage fort, eine Quantität von dem schönsten weißwollenen Stoff, den sie finden könnte, und außerdem einen großen schwarzen Tüllschleier zu kaufen. Sir John hörte mich meine Befehle erteilen, ohne meine Absichten zu verstehen, und wünschte wahrscheinlich sehnlich, daß ich ihm mein Geheimnis wenigstens zum Teil verraten möchte, aber ich sagte kein Wort.
Nach dem Frühstück stiegen wir in den Wagen und ich befahl dem Kutscher, uns aus der Stadt hinaus in die nächsten Felder zu fahren. Die nächsten Felder von London sind aber immer noch ziemlich weit und wir brauchten über eine Stunde, ehe ich fand, was ich suchte. Endlich ließ ich den Wagen Halt machen und stieg aus.
»Soll ich Ihnen folgen?« fragte Sir John.
»Jawohl,« antwortete ich. »Sie sollen mir nicht bloß folgen, sondern mir auch behilflich sein.«
»Wobei?«
»Das werden Sie sogleich sehen.« Ich betrat die Wiese und begann Kornblumen, Rosmarin und Fenchel zu pflücken. Sir John sah mir zu und machte es wie ich. Als wir jedes einen großen Strauß Feldblumen beisammen hatten, stieg ich wieder in den Wagen. »Das ist eine seltsame Idee,« sagte Sir John zu mir. »Sie können sich ja die schönsten Blumen bei den ersten Gärtnern von London holen lassen, anstatt hierherzugehen und diese Heuernte einzufahren.«
»Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich ein einfaches Landmädchen bin? Und müssen denn die Feldblumen in meinen Augen nicht mehr Wert haben als die Blumen der Städte?« – »Wäre ich so unglücklich, daß Sie die Zeit betrauern, wo Sie eine Nymphe der Wiesen von Flintshire waren, anstatt wie jetzt eine der Gottheiten Londons zu sein?« – »Nein, Mylord; obschon meine göttlichen Eigenschaften sehr zweifelhaft sind, da sie ja nur von einem einzigen Anbeter anerkannt werden.« – »O, was das betrifft,« antwortete Sir John, »so brauchen Sie sich bloß zu zeigen, um Ihren Kultus zu einem allgemeinen zu machen. Als Venus auf den Einfall kam, die Welt zu regieren, tauchte sie aus dem Meere auf und damit war alles gesagt.« – »Und,« fragte ich lachend, »geben Sie mir vielleicht den Rat, meinen künftigen Untertanen in demselben Kostüm zu erscheinen wie Miß Aphrodite?« – »O nein! die Sache bekam dem König Kandaules zu schlecht, als daß ich Lust hätte, den Versuch zu wiederholen.« Gegen drei Uhr kehrten wir nach Piccadilly zurück. Sir John ließ mich an der Tür unsers Hauses mit meinem Bündel Heu, wie er sagte, absteigen und setzte seinen Weg weiter fort, weil er noch Geschäfte auf der Admiralität zu besorgen hatte.
Ich fand, daß meine Zofe mit den von mir aufgetragenen Einkäufen wieder da war. Ich hatte ihr befohlen, gleich eine Näherin mitzubringen und diese war ebenfalls schon da. Ich entsann mich des Schnittes, welchen Opheliens Gewand gehabt, ganz genau. Das, was ich nicht graziös genug daran fand, verbesserte ich, und mit jener bewunderungswürdigen Geschicklichkeit, ich will nicht sagen mich anzukleiden, wohl aber mich zu kostümieren, welche ich von jeher besessen, schnitt ich meine Tunika selbst zu und versprach zwei Pfund Sterling zwischen der Arbeiterin und meiner Zofe zu teilen, wenn das Gewand bis um neun Uhr abends fertig oder wenigstens geheftet wäre.
Beide machten, von der Aussicht auf Belohnung angespornt, sich sofort an die Arbeit. Was mich anging, so traf ich unter meinen Feldblumen eine geeignete Auswahl, und ließ sie in Wasser einweichen, damit sie sich bis zum Abend frisch erhielten. Um sechs Uhr kam Sir John nach Hause zurück. Er war in sehr heiterer Laune. Er hatte um einen zweimonatlichen Urlaub nachgesucht, der ihm auch bewilligt worden, und seine Absicht war, diese zwei Monate ausschließlich mir zu widmen. Ohne Sir John in dem absoluten Sinne zu lieben, welchen man dem Wort Liebe beilegt, empfand ich für ihn doch innige dankbare Anhänglichkeit, nicht wegen des Luxus, womit er mich umgeben, sondern wegen seiner Freundlichkeit gegen mich, denn mein aristokratischer Stolz ward durch die Formen, in welche Sir John seine Wohltaten kleidete, mehr gerührt, als durch die Wohltaten selbst.
Sir John hatte mich um die Erlaubnis gebeten, erst den nächstfolgenden Tag auf den »Theseus« zurückzukehren und wie man sich leicht denken kann, hatte ich diese Erlaubnis gewährt. Ich sagte ihm sogar, daß ich, um ihn für seinen übertriebenen Ehrgeiz zu belohnen oder zu bestrafen, je nachdem er die Sache nehmen wollte, eine Überraschung bereiten würde. Um neun Uhr bat ich deshalb Sir John um die Erlaubnis, mich auf einige Augenblicke in mein Zimmer zu begeben. Er fragte mich lachend, ob dieses Verschwinden mit der in Aussicht gestellten Überraschung zusammenhinge, doch gab ich hierauf keine bestimmte Antwort. Mein Gewand war fertig.
Ich löste mein langes Haar auf und wand mir einen jener Kränze, wie ich deren als Kind so viele gewunden, um sie sodann aufzusetzen und mich damit in der Quelle zu betrachten. Ich legte mein langes Gewand an, welches einen Teil meiner Brust und meine Arme unverhüllt ließ, raffte alle meine Erinnerungen zusammen, gesellte meine eigenen Inspirationen dazu und öffnete dann die Tür des Salons. Zum erstenmal wollte ich den Eindruck beurteilen, welchen meine Schönheit, von dem doppelten Zauber der Mimik und der Poesie unterstützt, auf die Menschen ausüben könne. Allerdings war der Mann, der in diesem Augenblick für mich die gesamte Männerwelt repräsentierte, sehr zu meinen Gunsten eingenommen, so daß ich seine Meinung nicht als allgemeines Gesetz betrachten konnte. Dennoch aber wagte ich nicht, vor ihn zu treten, ohne vorher noch einen langen und letzten Blick in den verhängnisvollen Goldrahmenspiegel geworfen zu haben. Das Kompliment, was dieser mir machte, war so vollständig, daß ich nicht mehr zweifelte, sondern keck eintrat.
Sir John stand an den Kamin gelehnt und hielt das Gesicht nach der Tür gewendet. Bei meinem Erscheinen stieß er einen Ruf der Überraschung und Bewunderung aus. Gleich mein erstes Auftreten war von Erfolg begleitet.
Es war dies, wie man leicht begreift, eine große Ermutigung. Ich begann sofort den halb heiteren, halb schwermütigen Gesang, welcher die Wahnsinnsszene eröffnet:
»Wie erkenn' ich dein Treulieb
Vor den andern nun?
An dem Muschelhut und Stab
Und den Sandelschuh'n.«
Sir John streckte die Arme nach mir aus; ich tat aber, als wenn ich ihn nicht sähe, und starr vor mich hinblickend fuhr ich fort:
»Er ist lange tot und hin,
Tot und hin, Fräulein!
Ihm zu Häupten ein Rasen grün,
Ihm zu Fuß ein Stein.«
Sir John klatschte Beifall. Ich erhob jenen langgezogenen, klagenden Ruf, den ich von der Künstlerin gehört, welche die Rolle der Ophelia spielte, und mit schluchzender Stimme fuhr ich fort:
»Sein Leichenhemd weiß wie Schnee zu seh'n,
Geziert mit Blumensegen,
Das unbetränt zum Grab' mußt' geh'n
Von Liebesregen.«
Sir John kam einen Schritt auf mich zu. Nun erst schien ich ihn zu erblicken, und ich sprach die Worte, welche Ophelia an den König richtet.
»Gottes Lohn! Recht gut. Sie sagen, die Eule war eines Bäckers Tochter. Ach, Herr! Wir wissen wohl, was wir sind, aber nicht, was mir werden können. Gott segne Euch die Mahlzeit!«
Ohne vermittelnden Übergang verfiel ich dann aus der tiefsten Melancholie in die tollste Heiterkeit und begann das bei uns so beliebte Lied:
»Auf morgen ist Sankt Valentin's Tag,
Wohl an der Zeit noch früh,
Und ich, 'ne Maid am Fensterschlag,
Will sein eure Valentin.
Er war bereit, tät an sein Kleid,
Tät auf die Kammertür,
Ließ ein die Maid, die als 'ne Maid
Ging nimmermehr herfür.«
Dann nahm ich jenen, auf einen Augenblick aufgegebenen starren Blick des Wahnsinns wieder an und fuhr fort:
Ich hoffe, alles wird gut geh'n. Wir müssen geduldig sein; aber ich kann nicht umhin zu weinen, wenn ich denke, daß sie ihn in den kalten Boden gelegt haben. Mein Bruder soll davon wissen. Kommt; meine Kutsche! Gute Nacht, süße Damen.«
Und heiter ging ich hinaus, indem ich die nicht vorhandene Melodie eines unbekannten Liedchens trällerte.
»Sie sind eine Zauberin!« sagte der Admiral. »Ein solcher Wahnsinn könnte selbst den König Salomo um den Verstand bringen.« Ich fuhr jedoch, ohne auf ihn zu hören, und indem ich in meine Stimme einen so schmerzlichen Ausdruck legte, daß ich selbst davor schauderte, fort:
»Sie trugen ihn auf der Bahre bloß,
Leider, ach leider!
Und manche Trän' fiel in Grabesschoß.«
»Emma!« rief Sir John, »Emma! Antworten Sie mir, ich bitte darum.« – »Adieu, mein Turteltäubchen,« sagte ich zu ihm, indem ich in meiner Rolle fortfuhr. Dann fiel ich wieder in den ersten schmerzlichen Ausdruck, breitete meinen schwarzen Schleier auf den Fußteppich, entblätterte meine Blumen und sang dazu:
»Hinunter! Man trage ihn hinunter!
Wehe! Wehe! Dreimal Wehe!«
Sir John wollte mich unterbrechen, ich ließ ihm aber nicht Zeit dazu, bot ihm eine Blume und sagte mit lächelndem Munde:
»Da ist Vergißmeinnicht, das ist zum Andenken: Ich bitte Euch, liebes Herz, gedenkt meiner! Und da ist Rosmarin, das ist für die Treue. Da ist auch Fenchel für Euch und Aglei. Da ist Raute für Euch und hier ist welche für mich. Ihr könnt Eure Raute mit einem Abzeichen tragen. Da ist Maßlieb. Ich wollte Euch ein paar Veilchen geben, aber sie welkten alle, da mein Vater starb. Sie sagen, er nahm ein gutes Ende.«
Dann sank ich mit gen Himmel gerichteten Augen auf die Knie nieder und murmelte anscheinend gedankenlos:
»Der kleine gute Robin
Ist meine ganze Lust.«
Nun aber konnte der gute Sir John sich nicht mehr beherrschen. Er umschlang mich mit seinen Armen, hob mich auf, drückte mich an seine Brust und sagte: »Genug, genug! Oder Sie machen mich wahnsinnig.«
Der Ausdruck seiner Augen und die Gemütsbewegung, welche sich in seiner Stimme verriet, strafte seine Worte durchaus nicht Lügen. Ich brach in ein lautes Gelächter aus.
»Wie?« sagte er, »Ist das wieder Wahnsinn? Spielen Sie Ihre Rolle weiter? Ins Himmelsnamen, antworten Sie mir ernsthaft.« – »Meine Rolle ist, Ihnen zu gefallen, Mylord, aber nicht Sie zu erschrecken. Ophelia ist in den Fluß gestürzt und ertrunken. Emma Lyonna aber lebt und liebt Sie.« Freudig warf ich mich an seine Brust. Die Wirkung, welche ich hervorgebracht, stand nicht zu bezweifeln und diese Wirkung hatte meine kühnsten Hoffnungen übertroffen. Nur dachte ich in meinem innersten Herzen unwillkürlich fortwährend an meinen armen unbekannten Romeo, dessen sanfte Stimme mir unter den großen Bäumen von Miß Arabellas Garten so schön antwortete.
Gern möchte ich schnell über diesen Teil meines Lebens hinweggehen, welcher, obschon in den Augen der Sittenprediger vielleicht der tadelnswerteste, doch der ist, welcher mir am wenigstens Reue einflößt. Ich war ein armes, von meiner Kindheit an verlassenes Mädchen. Ich war niemandem Rechenschaft über meine Handlungsweise schuldig, nicht einmal meiner Mutter, für welche schon meine Geburt eine Antwort auf die Vorwürfe gewesen wäre, welche sie mir vielleicht gemacht hätte. Ich hing nur von mir ab, ich erwartete alles von mir; zu meinem Unglück schön, ward ich durch einen angeborenen Instinkt zu allen Freuden der Jugend, zu allen Verführungen des Luxus und des Reichtums hingetrieben. Welche moralische oder physische Stütze hätte ich in Anspruch nehmen können, selbst wenn ich die Absicht gehabt hätte, gegen die Versuchung zu kämpfen? Da ich aber das Gute nicht von dem Bösen zu unterscheiden wußte, so betrat ich einen abschüssigen Pfad, der mir immer angenehmer, immer blumenreicher vorkam. Das Leben erschien mir in der Gestalt eines schönen, wie der Frühling mit Blumen bekränzten Jünglings. Ich ergriff den dargebotenen Arm dieses falschen Beschützers und stützte mich darauf, ohne zu wissen, welchem Ziele wir entgegengingen und in welchen Morast oder in welche dürre Wüste er mich führen würde. Übrigens, und ich darf dies nicht verschweigen, hat eine der guten oder schlimmen Eigenschaften meiner Veranlagung darin bestanden, daß ich immer in der Gegenwart gelebt habe. Diese Gegenwart war, mit der Vergangenheit verglichen, zu der Zeit, von welcher ich jetzt spreche, ein Leben materieller Genüsse, die hoch über den sechzehn Jahren standen, die ich bis jetzt durchlebt. Die Welt, die mich nicht kannte, machte mir keine Vorwürfe und ich selbst machte mir auch keine. Alles trieb mich daher zum Vergessen der Vergangenheit, zur Sorglosigkeit in bezug auf die Zukunft. Es war mir als hätte ich, so lange meine Schönheit dauerte, von der Unbeständigkeit des Glücks nichts zu fürchten, und indem ich an mein jugendliches Alter dachte und mich in meinem Spiegel betrachtete, sagte ich, daß ich, Gott sei Dank, noch lange schön zu sein hätte.
Man erinnert sich, daß Sir John Payne auf zwei Monat Urlaub genommen, und daß er diese zwei Monate ausschließlich mir widmen wollte. Nachdem ihm dieser Urlaub erteilt worden, fragte er mich, wo ich hinzugehen, was ich vorzunehmen wünschte. Ich stellte die Wahl ganz ihm anheim. Ich kannte ja nichts außerhalb des Zirkels, in welchem ich bis jetzt gelebt. Ich wünschte nichts, sondern fühlte bloß einen unwiderstehlichen Zug nach dem Unbekannten. Sir John entschied, daß wir nach Frankreich gingen. Ich klatschte vor Freuden in die Hände. Ich hatte viel von Frankreich sprechen hören, aber es war mir nie eingefallen, daß ich dieses Land selbst zu sehen bekommen könnte. Ich verstand nicht Französisch, Sir John aber redete diese Sprache ganz geläufig und konnte mir alles, was ich nicht selbst verstand, übersetzen. Wir brachen auf. Jener Drang nach dem Unbekannten war die Krankheit jener Zeit, und ich, das winzige Atom, ward von dem Strudel mit fortgerissen.
Es gibt Momente, wo die Nationen ihrer selbst überdrüssig und von der Wirklichkeit ermüdet, sich in den Traum flüchten und nicht bloß nach dem trachten, was nicht ist, sondern auch nach dem, was nicht sein kann.
So unwissend ich auch war, so berührte mich doch jener Hang Frankreichs zu dem Unmöglichen auf seltsame Weise. Not und Armut waren hier groß, der Luxus aber war noch größer. Die Fürsten und großen Herren ruinierten sich mit einem Eifer und mit einer Sorglosigkeit, welche nicht schlimmer hätte sein können, selbst wenn sie den Vulkan gekannt hätten, auf welchem die Gesellschaft damals einherwandelte. Aber was fragte man darnach? Der Kardinal von Rohan suchte den Stein der Weisen; Cagliostro hatte, wie man versicherte, das Lebenselexier entdeckt; Mesmer die Heilung aller Krankheiten durch den Magnetismus; Franklin hatte den Blitz besiegt und führte ihn gefangen auf einem Drahte in die Tiefen der Erde; und Montgolfier stellte eine neue Straße in den unendlichen Räumen des Himmels in Aussicht. Die alte Welt konnte immerhin in den Abgrund versinken, eine neue tauchte empor.
Diese beiden Monate vergingen für mich in einem ununterbrochenen Taumel. Sir John hatte die schönsten Pferde, die schönsten Wagen, die ersten und besten Logen in allen Theatern. Ich sah Lekain, ich sah Mademoiselle Raucourt, Orosman, Athalia, Britannicus, ich hörte die »Iphigenia in Tauris« von Gluck und die »Dido« von Piccini. Greuza, der Maler der Unschuld, fertigte mein Porträt und überall, wohin ich kam, wiederholte mir ein bezauberndes Murmeln, daß ich schön sei. Ich fühlte mich so glücklich, daß Sir John eine Verlängerung seines Urlaubs um einen Monat zu erbitten wagte; man gewährte ihm diese Verlängerung, sagte ihm aber zugleich, daß er nach Ablauf dieses Monats sich zur Verfügung der Regierung bereit zu halten habe. Der Krieg mit Amerika ward immer erbitterter, Frankreich drohte sich daran zu beteiligen, und England fühlte aller Wahrscheinlichkeit nach sehr bald das Bedürfnis, jenseits des atlantischen Meeres einen großen Schlag zu führen. Sir John hütete, als er mir die Verlängerung seines Urlaubs mitteilte, sich wohl, mir etwas von der ihm dabei gestellten Bedingung zu sagen. Er wollte keinen Schatten auf meine Freude werfen. Wir blieben demgemäß noch einen Monat, dann aber mußten wir nach England zurückkehren. Diese Reise blieb wie ein bezaubernder Traum ein Teil meiner steten Erinnerung. Ich hatte die Königin von Frankreich zweimal gesehen – einmal in der Oper bei der Aufführung der »Dido« von Piccini, das zweitemal in der Comédie Française bei der Aufführung von »Orosman«. Es war dies die glückliche Epoche ihres Lebens. Sie ward noch geliebt und verehrt, der Haß und die Verleumdung kamen erst später. Sie hatte ihrerseits mich ebenfalls bemerkt und gefragt, wer ich wäre. Die Erinnerung an mich blieb ihren Gedanken so gegenwärtig, daß, als drei Jahre später Madame Lebrun, ihre Malerin, nach London kam, diese mich im Namen der Königin bat, mich von ihr malen zu lassen. Es war dies eine zu große Ehre, als daß ich dieselbe zurückgewiesen hätte, und man versicherte mir, daß sie dieses Porträt ihrer Privatgalerie einverleibte.
Bei meiner Rückkunft nach London fand ich, wie ich gestehen muß, mein kleines Haus in Piccadilly ein wenig öde und es dauerte nicht lange, so bat Sir John, welcher ohne Zweifel fürchtete, daß ich mich langweilte, mich um die Erlaubnis, mir einige seiner Freunde vorzustellen. Wir empfingen demzufolge einmal wöchentlich, dann zweimal, dann dreimal, dann alle Tage. Sir John, dem ich meine niedrige Herkunft ebensowenig verschwiegen hatte, wie ich das auch sonst getan hatte, fragte mich wie besorgt, ob ich imstande sein würde, die Rolle einer Herrin vom Hause zu spielen. Gleich vom ersten Tage an aber war er in dieser Beziehung beruhigt. Es ist dies eines der eigentümlichsten Geschenke, welche die Natur mir verliehen hat. Sie schuf mich zur großen Dame und in dieser Beziehung hatte ich mir keine Ausbildung anzueignen, sondern besaß sozusagen dieselbe bereits von meiner Geburt an. Eines Abends erinnerte der Admiral mich an jene Szenen aus »Hamlet«, welche zu Anfange unseres Verhältnisses einen so tiefen Eindruck auf ihn hervorgebracht. Er fragte mich, ob ich für die Freunde, welche den Tee mit uns einnahmen, nicht tun wollte, was ich für ihn allein getan. Da die Frage mit leiser Stimme an mich gestellt ward, so konnte ich ebenso leise antworten, daß es mir für den Augenblick an einigen der notwendigsten Requisiten, ganz besonders an wilden Blumen mangle, daß ich aber den nächstfolgenden Abend bereit sein würde, mich noch einmal vor ihm zu versuchen. Unsere Freunde wurden eingeladen, nächstfolgenden Abend wieder zu kommen, und Sir John deutete ihnen an, daß ich ihnen eine Überraschung bereiten würde. Am nächsten Tage durchwanderten wir, Sir John und ich, allerdings nicht die Wiesen, wie wir vor zehn Monaten getan, denn die Felder waren jetzt mit Schnee bedeckt, wohl aber die Kaufläden, wo künstliche Blumen zu haben waren, um hier die Kornblumen, den Rosmarin und die Maßlieben zu finden, welche noch auf drei oder vier Monate von der Erde verbannt waren.
Ich weiß nicht, welches wehmütige Gefühl sich meiner bemächtigte, als ich diese künstlichen Blumen anstatt natürlicher zu einem Strauße zusammenband. Sir John schien mir ebenfalls niedergeschlagen zu sein. Von Zeit zu Zeit bemerkte ich, daß er die Augen unverwandt auf mich geheftet hielt. Wenn dann unsere Blicke sich begegneten, so versuchte er zu lächeln. Seit einigen Wochen ging er alle Tage auf die Admiralität und empfing fortwährend Botschaften von derselben entweder in seiner Wohnung oder auf dem »Theseus«. Beinahe alle Tage erteilte er geheime Befehle und traf Anstalten, welche er mir zu verheimlichen suchte. Es war augenscheinlich, daß in unserem Geschicke irgendeine Veränderung vorzugehen im Begriffe stand.
Der Abend kam, die Freunde vom gestrigen Tage fanden sich wieder ein. Sie waren sehr neugierig in bezug auf die Überraschung, die ich ihnen bereitete und welche Sir John ihnen mit einer gewissen Feierlichkeit versprochen. Nach dem Tee oder vielmehr während des Tees begab ich mich aus dem Salon in mein Schlafzimmer. Hier verwandelte ich mich binnen wenigen Augenblicken in Ophelia, und gerade in dem Momente, wo man am wenigsten erwartete, mich wieder erscheinen zu sehen, öffnete ich die Tür. Ein einstimmiger Ruf verkündete, daß ich den beabsichtigten Effekt machte. Mein Erfolg war unermeßlich. Zum ersten Male debütierte ich vor Zuschauern. Bis jetzt hatte ich bloß für mich allein oder für eine einzige Person deklamiert, ein einziges Mal war mir von einem unbekannten Zuhörer Beifall gespendet worden. Was Sir John betraf, so hatte ich von ihm mehr als Beifall erlangt und die Wirkung, welche ich dieses zweite Mal hervorbrachte, erschien mir noch größer als die erste. Der Enthusiasmus war ein allgemeiner. Man rief »Da capo! da capo!« Man bat den Admiral, mich zu einer nochmaligen Vorführung der Szene zu bewegen, aber ich weigerte mich hartnäckig. Ich war überzeugt, daß die Fehler, welche den Augen meiner Zuschauer bei dieser ersten Probe entgangen waren, bei der zweiten klar zu Tage treten würden. »Wenn jedoch,« sagte ich, »einer dieser Herren die Rolle des Romeo übernehmen wollte, so würde ich gern bereit sein, die Julia in der Balkonszene zu spielen.« Unglücklicherweise waren Sir Johns Gäste im Bereiche des Vergnügens besser bewandert als in dem der Literatur und folglich mit der Muse Shakespeares nicht so vertraut, daß sie die von mir ihnen zugemutete Aufgabe zu lösen vermocht hätten.
Mit einem lebhaften Gefühl der Reue und Trauer dachte ich jetzt an den armen Harry, welcher mir in Miß Arabellas Garten einen so poetischen und liebeerfüllten Romeo improvisiert hatte. Der Schleier der Nacht, der sich über sein Gesicht gebreitet und mir seine Züge verhüllt, so daß nur seine Stimme zu mir gedrungen war, ließ dieser Erinnerung etwas ungemein Romantisches und Geheimnisvolles. »Wie schade,« sagte Sir John, »daß mein Freund Featherson nicht in London ist, er, der den Shakespeare so gut auswendig kann wie Garrick. Sobald ich Sheridan zu sehen bekomme, werde ich ihn fragen, wo er ist.« – »Er ist ja hier,« antwortete einer unserer Gäste. – »Wissen Sie das gewiß, Sir George?« fragte der Admiral. – »Jawohl. Ich habe ihn gestern gesehen und gesprochen.« – »Kann man erfahren, wo er wohnt?« – »Nichts leichter als dies. Ich werde mich bei seinem Onkel erkundigen, der sein Hotel auf dem Haymarket hat.«
Ich weiß selbst nicht, warum ich den Worten, welche der Admiral und Sir George gewechselt, mit der größten Aufmerksamkeit, ja sogar mit einem gewissen Herzklopfen zugehört hatte. Der Admiral drehte sich nach mir herum. »Und,« fragte er, »wenn man nun Featherson ausfindig macht, werden Sie sich dann dazu verstehen, mit ihm die beiden Szenen zu spielen?« – »Jawohl, sehr gern,« antwortete ich. »Aber,« setzte ich lächelnd hinzu, »warum wollen Sie dieselben nicht selbst lernen?« – »Ach,« antwortete Sir John mit einem Seufzer, »ich könnte mich fast versucht fühlen, es zu tun. Harry wird sich jedoch dieser Aufgabe jedenfalls besser entledigen als ich.« – »Harry!« rief ich. »Wer ist dieser Harry?« – »Harry, meine liebe Emma, ist Feathersons Taufname.« – »Ich bitte um Entschuldigung,« sagte ich. – »Haben Sie vielleicht einen Harry gekannt?« fragte mich Sir John mit einer gewissen Neugier. – »Allerdings habe ich diesen Namen einmal nennen gehört,« antwortete ich; »es war nicht der eines vornehmen Lord, sondern der eines armen Künstlers, und mein Harry,« setzte ich lachend hinzu, »hatte sicherlich mit Sir Harry Featherson nichts gemeinsam.« – Man kam überein, daß Sir George Sir Harry ausfindig machen und daß man, wenn man ihn fände, die Aufführung der beiden Szenen aus »Romeo und Julia« mit ihm arrangieren sollte.
Sir George hatte sich nicht getäuscht. Lord Featherson war nach einer Reise von fünf oder sechs Monaten auf dem Kontinent nach London zurückgekehrt. Sir George hatte seine Adresse durch seinen Onkel erfahren. Er wohnte in einem prachtvollen Hause in Brook Street an der Ecke von Grosvenor Square. Zu Hause getroffen hatte er ihn jedoch nicht, aber ohne zu sagen, wovon die Rede war, ihn für den nächstfolgenden Abend zu Sir John oder vielmehr zu mir bestellt. Ich nahm an allem, was diesen Unbekannten betraf, ein eigentümliches Interesse, welches ich mir selbst nicht erklären konnte. Mit Ungeduld erwartete ich den Abend des nächstfolgenden Tages. Ich verwandte auf meine Toilette mehr Sorgfalt als gewöhnlich und wäre, ich weiß selbst nicht warum, außer mir gewesen, wenn ich Sir Harry nicht einnehmend erschienen wäre.
Zwischen neun und zehn Uhr fanden sich unsere ersten Gäste ein. Jedesmal, wenn die Tür sich öffnete, drehte ich mich rasch herum, es war aber schon halb elf, als der Diener endlich Sir Harry Featherson meldete. Meine Unruhe war Sir John nicht entgangen. Ebenso wie meine Blicke wendeten auch die seinigen jedesmal, wenn die Tür sich öffnete, sich nach derselben, und als man Sir Harry Featherson meldete, fühlte ich, wie Sir John mich scharf ins Auge faßte. Sir Harry trat ein. Es war ein allerliebster junger Mann von drei- bis vierundzwanzig Jahren mit blauen Augen, prachtvollen Zähnen und zartem, frauenhaftem Teint. Er hatte während der sechs Monate, die er in Frankreich verlebt, sich einen hohen Grad französischer Ungezwungenheit angeeignet und schien auf der Überfahrt über den Kanal jene britische Steifheit abgestreift zu haben, welcher sich zu entledigen meinen Landsleuten so schwer wird. Die erste Person, die er mit den Augen suchte, war Sir John. Er ging sofort auf ihn zu, unterwegs aber richteten sich seine Augen mit einem Ausdruck seltsamen Erstaunens auf mich, während seine Füße am Boden zu wurzeln schienen. Ich errötete, ohne zu wissen warum. Sir John sah Harrys Erstaunen und mein Erröten. Sein Blick schweifte von ihm zu mir und von mir zu ihm.
Dieses Gefühl war aber für mich allein bemerkbar. Nachdem er seinem Freund, den er lange nicht gesehen, die Hand gedrückt, führte er mir ihn zu, um mir ihn vorzustellen. Sir Harry machte mir mit bewegter Stimme einige Komplimente und ich antwortete darauf, doch ich weiß nicht was für unzusammenhängende Worte. Seine Stimme machte einen gewaltigen Eindruck auf mich, denn sie besaß eine unglaubliche Ähnlichkeit mit der des unbekannten jungen Künstlers, welcher in Miß Arabellas Garten mit mir die Rolle des Romeo gespielt hatte. Nachdem Sir Harry mich begrüßt, ging er, um seinen andern Freunden die Hand zu drücken. Der Admiral blieb allein bei mir. »Sie kennen wohl Sir Harry?« fragte er mich im Tone sanften Vorwurfs, indem er mir die Hand drückte. – »Ich schwöre Ihnen,« antwortete ich, »daß ich ihn heute zum erstenmal sehe.« – »Sie wissen, Emma, daß ich alles glaube, was Sie mir sagen.« – »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.« Er betrachtete mich mit zärtlichem Blick. »Mit solchen Augen und mit einem solchen Munde lügt man nicht,« murmelte er, wieder mit sich selbst sprechend. – »Besonders,« setzte ich hinzu, »wenn man kein Interesse am Lügen hat.« Ich war selbst fest überzeugt, daß ich die Wahrheit spräche und alles war in mir wahr, Ton sowohl als Blick.
Sir John ward dadurch vollständig beruhigt. Sir George brachte nun das Gespräch auf den Gegenstand, wegen dessen man sich versammelte, und fragte Sir Harry, ob er immer noch so große Vorliebe für das Theater habe und ob er seinen Shakespeare immer noch auswendig wisse. Sir Harry lächelte wie bei einer Erinnerung. »Ich habe,« sagte er, »seit sechs Monaten viel vergessen, oder ich bin vielmehr bemüht gewesen, viel zu vergessen. Dennoch gibt es gewisse Dinge, die ich nicht vergessen kann.« »Wissen Sie noch die beiden Liebesszenen zwischen Romeo und Julia?« fragte Sir John Payne. Sir Harry lächelte wehmütig. »Diese beiden Szenen,« sagte er, »gehören eben zur Zahl derjenigen, welche ich vergessen möchte, aber nicht vergessen kann.«
Ich sah ihn an, wie um ihn zu befragen, seine Physiognomie sagte aber durchaus nichts mehr, als was sein Mund gesagt hatte. »Nun dann, Emma,« sagte Sir John, »setzen Sie meinen Freund Harry Featherson von unserem Wunsche in Kenntnis. Ganz gewiß wird er den Bitten einer schönen jungen Dame eher Gehör schenken als den unsrigen.« – »Um was handelt es sich?« fragte Sir Harry. – »Um eine Bemühung, der Sie sich hoffentlich unterziehen werden, um dem Wunsche des Admirals und seiner ehrenwerten Freunde zu genügen,« antwortete ich. »Ich bin eine leidenschaftliche Verehrerin, ich will nicht sagen des Theaters, denn die Bühne werde ich wahrscheinlich niemals betreten, wohl aber der Deklamation. Neulich spielte ich einmal abends vor diesen Herren die Szene Ophelias aus dem vierten Akte von ›Hamlet‹, und ich machte mich verbindlich, die beiden Liebesszenen zwischen Romeo und Julia zu spielen, wenn jemand die Rolle des Romeo übernehmen wollte. Keiner dieser Herren wußte diese Rolle auswendig und man nannte Ihren Namen als den eines vollendeten Künstlers. Man beklagte Ihre Abwesenheit, versicherte aber dann, Sie seien wieder da. Sir George übernahm es endlich, Ihnen eine Einladung zum Tee bei uns zu überbringen, und alle nahmen sich für den Fall, daß Sie in die Ihnen gelegte Schlinge gingen, vor, Sie nicht eher wieder fortzulassen, als bis Sie sich verbindlich gemacht, wenigstens auf einen Abend mein Romeo zu sein. Sie haben jetzt gehört, was Sir John Payne gesagt hat, und welche Hoffnung er auf die von mir Ihnen vorgetragene Bitte baut. Ich hoffe, daß Ihre Galanterie Sie bewegen wird, ihn nicht in seiner Erwartung zu täuschen.«
Sei es nun, daß meine Worte gut gewählt schienen, oder daß meine Stimme einen Ausdruck von sanfter Überredung angenommen, kurz, die sämtlichen Herren zollten mir lauten Beifall, als ob ich eine förmliche Tirade losgelassen hätte. Nach einem solchen Erfolg bei dem Publikum wäre es sehr zu verwundern gewesen, wenn ich bei Sir Harry meine Absicht nicht erreicht hätte. Dieser begnügte sich jedoch damit, daß er sich verneigte und mir stammelnd antwortete, er stehe mir zu Befehl. Man umringte mich, man wünschte mir Glück und machte es sich zu einem förmlichen Fest, uns zu sehen und uns die beiden versprochenen Szenen spielen zu hören. Die Frage war bloß, wo Sir Harry sein Kostüm als Romeo hernehmen sollte. Was mich betraf, so besaß ich das Julias bereits. Sir Harry antwortete jedoch, da man sich von dieser improvisierten Vorstellung ein so großes Vergnügen verspräche, so dürfe dasselbe durch nichts verzögert werden. Er würde sich deshalb ein Kostüm verschaffen und den nächstfolgenden Abend die Szene mit mir spielen. Dicht an das Haus stieß ein ziemlich großes Gewächshaus und schon den nächstfolgenden Morgen ließ Sir John Payne einen Tischler mit fünf bis sechs Gesellen holen, welche einen Balkon aufschlugen. Man umgab die Estrade mit Tropenpflanzen, schmückte sie mit Blumen und um zwei Uhr nachmittags war das Theater fertig.
In diesem Augenblicke kam ein Bote von der Admiralität, welcher sehr eilige Depeschen überbrachte. Sir John las dieselben, ward bleich und sagte mit sichtbar veränderter Stimme zu dem Boten: »Meldet den Lords, daß ich ihnen pünktlich gehorchen werde.« – Ich bemerkte die Aufregung des Admirals und während der Bote sich entfernte, ging ich auf ihn zu, faßte ihn beim Arm und fragte ihn, ob die Depesche vielleicht eine schlimme Nachricht enthielte. »Ja, eine sehr schlimme Nachricht,« entgegnete er, indem er sich bemühte zu lächeln. »Die Lords der Admiralität halten eine Nachtsitzung und ersuchen mich, derselben beizuwohnen.« – »Dann,« sagte ich, »verschieben wir unsere heutige Abendgesellschaft auf einen anderen Tag.« – »Nein,« sagte er, »im Gegenteil; wenn unsere Gesellschaft nicht heute abend stattfindet, wer weiß dann, wann wir uns wieder zusammenfinden werden. Ich brauche erst um Mitternacht von hier fortzugehen und wir haben daher vollauf Zeit, unsere beiden Szenen zu spielen. Mittlerweile kommen Sie und schenken Sie mir einige Minuten; ich werde Ihnen dankbar dafür sein.« Ich betrachtete ihn mit unruhigem Blick. Warum sollte Sir John, der mich doch ganz allein für sich besaß, mir für einige Minuten, die ich ihm schenkte, dankbar sein? Ich wagte nicht ihn deshalb zu befragen, und da er seinen Arm um mich geschlungen, so ließ ich mich von ihm hinwegführen.
Der Abend kam. So wie die Zeit verging, ward Sir John immer trauriger und ich selbst fühlte mich, ich wußte nicht warum, von einem unglaublichen Frösteln ergriffen. Das Herz schnürte sich mir zusammen und dennoch besaß dieses Gefühl zugleich einen gewissen Reiz. Es war mir, als wenn ich etwas Unbekanntes zugleich fürchtete und hoffte. Ich dachte mir Sir Harry in seinem schwarzen Kostüm. Ich glaubte, Romeos Wams müßte zu seinem aristokratischen Gesicht wunderschön stehen. Im Laufe des Tages hatte er dieses Kostüm geschickt und man hatte es in die an das Treibhaus stoßende Wohnung des Gärtners getragen. Aus dieser sollte Harry herauskommen, um am Fuße meines Balkons zu erscheinen. Um neun Uhr fand er sich in seiner gewöhnlichen Kleidung ein. Er schien vor Freude förmlich zu strahlen und diese Freude beleuchtete sein Gesicht wie eine Glorie. Ich konnte nicht umhin ihn sehr schön zu finden und der Ton seiner Stimme machte, wie am Abend vorher, einen gewaltigen Eindruck auf mich.
Er kam auf mich zu, küßte mir die Hand und sagte zu mir: »Guten Abend, teure Julia.« – Diesmal war ich unruhig und verlegen und gab keine Antwort. Ich wäre kaum imstande gewesen, eine zweite Rede nach Art der ersten zu halten. Zum Glück war dies nicht nötig, weil schon alles im voraus besprochen war. Um halb zehn Uhr beschäftigte sich jeder von uns mit den Einzelheiten seiner Toilette. Ich bin stets, selbst mit den kompliziertesten Toiletten, sehr rasch fertig gewesen, denn ich trug, ausgenommen bei großer Gala, mein Haar stets ohne Puder. Die Herren gingen hinunter in das Gewächshaus, welches ganz allerliebst erleuchtet war. Zwischen den beiden Szenen sollte uns der Tee serviert werden. Als ich fertig war, ward Sir Harry durch eine im Innern angebrachte Klingel in Kenntnis gesetzt, daß er nun auftreten könne.
Ich hatte mich nicht geirrt. Das mittelalterliche Kostüm stand ihm bewundernswürdig gut und er war auf diese Weise vollkommen schön. Er näherte sich meinem Balkon wie ein vollendeter Künstler oder wie ein leidenschaftlicher Liebhaber und begann die schon in einem früheren Kapitel mitgeteilten Verse zu deklamieren. Gleich bei den ersten Worten zuckte ich zusammen. Es war wirklich dieselbe Stimme, es war wirklich dieselbe Betonung, die ich in Miß Arabellas Garten gehört. Entweder lag hier ein unerhörtes Wunder von Ähnlichkeit vor, oder ich hatte meinen Harry wiedergefunden, den ich für immer verloren geglaubt. Andererseits aber war es unmöglich, daß der edle Sir Harry Featherson derselbe wäre wie der bescheidene Künstler, mit dem ich mich auf so malerische und so geheimnisvolle Weise in Beziehung gesetzt. Es war immer noch besser, an eine allerdings unwahrscheinliche, aber doch mögliche Ähnlichkeit der Stimme, als an eine mehr als unwahrscheinliche Identität zu glauben. Auf alle Fälle fühlte ich mich durch den Zauber dieser Stimme unwiderstehlich hingerissen, und als ich auf dem Balkon erschien, trugen meine Züge ohne Zweifel den Ausdruck des Geistes meiner Rolle, denn die um Sir John versammelten Zuhörer spendeten mir einstimmigen Beifall.
Man weiß wie jener Liebesdialog beginnt, wo Julia anfangs spricht, ohne Romeo zu sehen und während sie sich allein glaubt, und wo Romeo spricht, während er die Geliebte in kurzer Entfernung erblickt, aber ohne das Wort an sie zu richten zu wagen, und wie die beiden Stimmen, welche sich die eine an die Einsamkeit, die andere an die Nacht richten, zuletzt einander antworten. Die Szene war natürlich ganz dieselbe, wie ich sie früher mitgeteilt, nur ward sie diesmal noch durch den Glanz der Beleuchtung, den Anblick der Personen und das Bravorufen der Zuschauer belebt. Ich habe von dem Beifall gesprochen, den man mir spendete, als ich auftrat. Dieser Beifall wendete sich auch Sir Harry zu, als dieser seinerseits sprach. Die Szene hatte für mich mit einem seltsamen Realismus ihren Fortgang.
Ich war nicht mehr Emma Lyonna und mein Mitspieler war nicht mehr Sir Harry. Sir Harry war Romeo und ich war Julia. Mein Blick lenkte sich infolge des Beifalls auf die Gruppe der Zuschauer, und es war mir, als sähe ich Sir John sich eine Träne trocknen. Diese Träne fiel mir glühend aufs Herz. Glücklicherweise hatte mein Anbeter seiner Rolle gemäß mich in diesem Augenblick ins Zimmer zu rufen, und ich verließ, um diesem Rufe zu entsprechen, den Balkon. Während dieser wenigen Sekunden erholte ich mich, obschon es schien, als ob von diesem Augenblicke an der Strom meines Lebens eine andere Richtung genommen hätte. Zwei- oder dreimal murmelte ich unwillkürlich mit leiser Stimme: »Sir Harry! Sir Harry! Sir Harry!« als ob ich »Romeo« gemurmelt hätte. Ich kehrte auf den Balkon zurück, meine Sehkraft war getrübt, mein Herz gleichsam berauscht, und als ich an den Vers kam:
»Ha, meine Arme würden dich ersticken,«
da drückten sich meine Arme fest auf die Brust, und ich umarmte nicht einen Traum, nicht einen Schatten, nicht ein Phantom, sondern wie Psyche den Liebesgott selbst.
Als ich ganz verstört wieder in mein Zimmer zurückkehrte, während Romeo, noch am Fuße des Balkons stehend, die Verse sprach, welche seinem Abgang vorausgehen, sah ich mich Sir John dicht gegenüber. Ich fuhr zusammen. Er zog meinen Kopf an seine Brust, drückte ihn fest daran und sagte: »Ach arme Julia! wie liebst du Romeo!« – Ich verstand den zärtlichen Vorwurf, der in diesen wenigen Worten lag. Ich verstand, daß Sir John das, was ich ihm in bezug auf Sir Harry gesagt, nämlich, daß ich diesen noch nie gesehen, bezweifelte. »Hören Sie mich an, Sir John,« sagte ich zu ihm. »Ich habe noch niemals gelogen und Sie, der Sie so gut gegen mich gewesen sind, würde ich weniger belügen als sonst jemand. Ich werde Ihnen daher alles sagen.« – »O nein, nein,« hob er wieder an, indem er zu lächeln versuchte. – »Ich will es aber,« entgegnete ich beharrlich. Mit wenigen Worten erzählte ich ihm, was mir in Miß Arabellas Garten in jener Nacht begegnet war, wo ich, während ich allein zu deklamieren glaubte, dort einen unbekannten Mitakteur gefunden, ich sagte ihm von dem Briefe, den ich den nächsten Tag empfangen, und wie, weil ich gerade denselben Tag mit Amy zu Sir John gegangen, um ihn um Dicks Freilassung zu bitten, ich den angeblichen Studenten von Cambridge nie wiedergesehen. Allerdings hatte ich gleich bei den ersten Worten, welche Sir Harry beim Eintritt in den Salon gesprochen, seine Stimme wiederzuerkennen geglaubt, allerdings hatte ich bei den ersten Versen, die er beim Auftreten als Romeo gesprochen, keinen Zweifel mehr gehegt, dennoch aber hatte ich, als ich Sir John versicherte, daß ich Sir Harry niemals gesehen, nichts als die reine Wahrheit gesagt.
»Was wollen Sie, mein Freund?« setzte ich hinzu. »Wenn es von Seiten eines schwachen Wesens wie ich nicht allzu anmaßend wäre, so würde ich sagen, mein Leben sei einem Verhängnis unterworfen, gegen welches ich nichts vermag.« Sir John antwortete nicht, sondern seufzte bloß. In diesem Augenblick hörte ich unsere Zuschauer, welche mich, wie man im Theater zu tun pflegt, herausriefen. »Kommen Sie, liebes Kind,« sagte Sir John, »empfangen Sie die Huldigungen, welche Ihnen mit Recht gebühren.« Und er führte mich mit sanfter Gewalt zurück in das Gewächshaus, wo ich, sobald ich erschien, von allen umringt und beglückwünscht ward, ausgenommen von Sir Harry, der sich abseits hielt, dessen Augen mir aber mehr sagten als alle Beifallsbezeigungen seiner Freunde, wie stürmich und übertrieben dieselben auch waren.
Die Vorstellung war noch nicht zu Ende. Nach der Balkonszene blieb uns noch die Fensterszene zu spielen übrig. Nach dem Ausdruck der Sehnsucht hatten wir den des Glücks zu malen. Ich fürchtete diese zweite Leistung sehr und bat, Ermüdung vorschützend, Sir John leise und seine Freunde laut, mir das weitere zu erlassen. Das krampfhafte Jucken meiner Muskeln aber, mein funkelnder Blick und der fieberhafte Klang meiner Stimme verrieten im Gegenteil, daß ich mehr der Ermüdung als der Ruhe bedurfte. Die Zuhörer beharrten auf ihrem Verlangen. Mein Herz stimmte mit diesen Bitten zu sehr überein, als daß ich lange hätte widerstehen können. Ich gab nach. Diesmal hatten wir, Sir Harry und ich, wie man sich erinnern wird, gemeinschaftlich auf dem Balkon zu erscheinen. Mein Arm mußte seinen Hals umschlingen, meine Augen sich in die seinigen verlieren und unser beider Herz vor Liebe beben. Sir Harry sah sich daher in dieser improvisierten Kulisse einen Augenblick lang mit mir allein. Er näherte sich mir, umschlang mich mit seinem Arm und drückte mich an sein Herz, indem er das einzige Wort murmelte: »Endlich!« Ich ward wie von einem elektrischen Schlag durchschauert. Meine Augen schlossen sich, ich schlang meine Arme um Romeos Hals, indem ich einen leisen Schrei entschlüpfen ließ. Dann weiß ich nicht mehr, wie es geschah, aber es war als würden meine Lippen von einer Flamme berührt. Es war nicht der erste Kuß, den Julia empfing, wohl aber der erste, den Romeo ihr gab.
Ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe. Sir Harry zog mich in der Richtung des Fensters. Ich machte eine gewaltige Anstrengung über mich selbst und war wieder Herrin meines Willens. Eine ganze Nacht der Liebe hätte mich nicht besser auf jenen so berauschenden und zugleich so schmerzlichen Abschied vorbereiten können, welcher der ewigen Trennung der Liebenden von Verona vorangeht.
Unser Erscheinen ward mit einstimmigem Beifall begrüßt. Die Reihe des Beginnens war an mir. Selbst die studierteste Kunst hätte in meine Stimme keinen so wahren Ausdruck legen können wie der Zustand, in welchem sich mein Herz befand. Die schönen Verse Shakespeares entquollen meinem Munde wie der süßeste Honig, und als Sir Harry antwortete, er verlange nichts inniger, als bei mir zu bleiben und für mich zu sterben, verkündete ein dreifacher Beifallssturm, daß jeder bereit sei, es ebenso zu machen wie der falsche Romeo. Unsere Szene hatte ihren Fortgang und machte alle Phasen durch, womit Shakespeares gewaltiges Genie sie koloriert hat. Als Romeo aber sich meinem Arm entwand, war es mir, als löste meine Seele sich von mir, und ich sank wie geknickt auf die Knie nieder. Man nahm das, was nur eine Schwäche des Körpers war, für eine Begeisterung des Herzens. Ich spielte den übrigen Teil der Szene über den Balkon hinausgebeugt und mich an das Geländer anklammernd. Als Romeo sich, mir sein letztes Lebewohl zuschickend, entfernte, machte mein Trennungsschmerz sich auf eine Weise Luft, daß man nicht anders glauben konnte, als es sei wirklich der Schmerzensschrei eines Körpers, der seine Seele sich losreißen fühlte.
Vergebens würde ich versuchen, den Enthusiasmus, welchen diese Szene hervorrief, und den wahnsinnigen Beifall, der ihr folgte, zu schildern. Was mich betraf, so war ich halb ohnmächtig auf dem Balkon zurückgeblieben. Sir John näherte sich mir, richtete mich in seinen Armen empor und trug mich mehr, als er mich führte, in die Mitte seiner Freunde zurück. Sir Harry bekam ebenfalls seinen Anteil an den Lobsprüchen, die er aber bescheiden ablehnte und ausschließlich mir zuwies. Sir John faßte unsere beiden fieberhaft glühenden Hände in die seine, welche kalt und feucht war, und sagte: »Wenn Romeo und Julia einander so geliebt hätten, wie ihr, so würde der Tod, so unerbittlich er sonst auch ist, nicht den Mut gehabt haben, sie zu trennen.«
Ich betrachtete ihn mit Erstaunen und zog meine Hand zurück, die er mir erst nach einem feurigen Druck zurückgab. Wir tranken Tee, dann zog Sir John seine Uhr heraus. »Meine Herren,« sagte er, »um zwölf Uhr bin ich genötigt, Sie zu verlassen. Die Admiralität hält eine Nachsitzung. Wir haben also noch eine Viertelstunde miteinander zuzubringen.« Dann nahm er mich beiseite und fuhr fort: »Ihnen, liebe Emma, sage ich nicht Lebewohl. Es ist möglich, daß die Sitzung zeitig genug endet, um mir zu gestatten, wiederzukommen und die Nacht bei Ihnen zuzubringen. Warten Sie jedoch nicht auf mich, sondern legen Sie sich zu Bett und schlafen Sie. Ich habe meinen Schlüssel. Machen Sie sich daher um mich keinerlei Unruhe.« Ich weiß nicht, warum mich bei diesen Worten ein kalter Schauer durchrieselte.
»Können Sie denn nicht von dieser Sitzung wegbleiben?« fragte ich, ohne recht zu wissen, ob ich auch wirklich wünschte, daß er bliebe. – »Unmöglich,« antwortete er. Dann kehrte er an den Teetisch zurück, um welchen herum seine Freunde gruppiert waren, plauderte und machte eine sichtbare Anstrengung, seine Gemütsbewegung hinter einer erheuchelten Heiterkeit zu verbergen. Die Viertelstunde verging. Man hörte die Mitternachtsstunde schlagen. Sir John zog zum zweitenmal die Uhr. Sie stimmte mit dem Schlage der Turmuhr überein. Die Herren begriffen, daß es Zeit für sie war, sich zu entfernen. Sie nahmen daher Abschied von mir, Harry ebenso wie die andern, aber mit einem Blick tiefer Trauer, dann kam Sir John auf mich zu, küßte mich auf die Stirn und sprach die beiden Verse Romeos:
»Es senke sich der Schlummer leis' auf dich herab,
So wie die Biene auf den Kelch der Rose.«
Ich konnte bloß durch ein Lächeln antworten, welches ebenso traurig war, wie das seinige. Er warf mir einen letzten Blick zu, ergriff Sir Harrys Arm und war mit ihm der letzte, der das Zimmer verließ. Als die Tür sich hinter ihm schloß, fühlte ich mich so einsam und so bedrückt, als ob ich mich in der Gruft der Capulets befunden hätte.
Ich bewunderte, während ich zugleich erschrak, die seltsamen Verkettungen, womit das Schicksal die verschiedenen Episoden meines Lebens miteinander in Verbindung brachte, ohne daß mein Wille irgendwelchen Anteil daran hatte.
In der Tat hatte ich jenen unbekannten Künstler, jenen bescheidenen Sir Harry, der nur wie ein Phantom mitten in der Finsternis an mir vorübergegangen war und auch nur die Spur eines solchen hinterlassen hatte, beinahe vergessen. Plötzlich kommt Sir John auf den Einfall, seinen Freunden einen Begriff von meinem mimischen Talent zu geben. Ich spiele die Wahnsinnsszene der Ophelia. Man bittet mich, dieselbe zu wiederholen. Ich erbiete mich, wenn jemand mitspielen will, die eine oder die andere der beiden Liebesszenen aus »Romeo und Julia« aufzuführen. Niemand weiß die eine oder die andere auswendig. Einer von Sir Johns Freunden nennt Sir Harry Feathersons Namen. Dieser Name Harry macht mich stutzig. Sir Harry Featherson, der seit sechs Monaten verreist gewesen, ist seit kaum zwei oder drei Tagen zurückgekehrt. Der Admiral Sir John Payne beauftragt Sir George, ihn einzuladen. Er kommt und der Zufall, das Verhängnis will, daß Sir Harry Featherson und der Student Harry ein und dieselbe Person sind.
Was hatte ich mir bei diesem allem vorzuwerfen? Nichts, außer höchstens die Gefühle, die ich bei seinem Anblick, bei seinen Worten, bei seiner Berührung empfunden. Stand es aber wohl in meiner Macht, diese Gefühle zu empfinden oder nicht? Und war es nicht schon viel, daß ich die Kraft hatte, sie zu bemeistern?
Welche Einwirkung sollte diese neue Begegnung auf mein Leben äußern? Was dies betraf, so war ich fest entschlossen, die Verantwortlichkeit dafür nicht auf mich zu nehmen.
Ich hatte Sir John alles gesagt. Ich wollte ihm nun auch bei seiner Nachhausekunft sagen, von welcher Art die Empfindungen seien, welche Sir Harrys Nähe mir eingeflößt. An ihm war es dann, über mein Leben zu entscheiden, indem er mich entweder von London entfernte oder mir erlaubte zu bleiben und folglich Sir Harry wiederzusehen.
Bei diesem Entschluß blieb ich stehen. Ich empfand für Sir John nicht das, was man eigentlich Liebe nennt, wohl aber war ich durchdrungen von Hochachtung wegen seines edelmütigen Charakters und von Dankbarkeit für seine mir bewiesene Güte und Freigebigkeit. Ihn täuschen, dies würde für mich, wie ich recht wohl fühlte, ewige Reue zur Folge gehabt haben. Nachdem ich einmal diesen Entschluß gefaßt, fühlte ich mich ruhiger. Sir Johns Hand, dies wußte ich bestimmt, leitete mich sicherlich wie die eines Freundes, und ohne sein eigenes Interesse zu Rate zu ziehen, wählte er für mich die am wenigsten schmerzliche Bahn.
Ich verließ das Gewächshaus, kehrte in mein Zimmer zurück, kleidete mich aus und legte mich nieder. Da er mir gesagt, er würde, wenn es ihm möglich wäre, wieder nach Hause kommen, so erwartete ich ihn, denn ich war überzeugt, daß er sein Wort halten würde. Ich fühlte jedoch, daß die Nacht für das Geständnis, welches ich ihm abzulegen hatte, niemals dunkel genug sein würde, und deshalb löschte ich alle Lichter aus, selbst das Nachtlicht. Es verging ziemlich lange Zeit, während welcher meine Zofe und die andern Dienstleute sich zu Bett begaben. Ich hörte die Uhr eins, dann zwei schlagen, ohne daß es mir in der Ungeduld des Wartens und bei den vielen Gedanken, die mich beschäftigten, gelungen wäre, einzuschlafen. Es hatte eben halb drei geschlagen, als es mir war, als hörte ich das Geräusch eines sich behutsam bewegenden Trittes auf dem Fußboden, dann hörte ich wie die Tür des an mein Schlafzimmer stoßenden Toilettekabinetts sich leise öffnete, dann trat ein Augenblick Schweigen ein. Ich zweifelte nicht, daß es Sir John wäre, welcher wieder nach Hause käme. Er hatte den Schlüssel zu dem äußern Tor des Hotels, um zu jeder Stunde ins Haus gelangen zu können, und er überraschte mich auf diese Weise sehr oft. Einen Augenblick lang schien der Entschluß, den ich gefaßt, nahe daran, wieder in den Hintergrund zu treten; ich raffte jedoch alle meine Willenskraft und, wenn ich so sagen darf, meine ganze Redlichkeit zusammen. Endlich öffnete sich die Tür. Das Kabinett war ebenso finster wie mein Schlafzimmer. Er näherte sich daher tastend und durch meine Stimme geleitet, meinem Bett. Er schloß mich in seine Arme, ich drängte ihn aber sanft zurück, indem ich ihm sagte, ich hätte ihm ein Geständnis zu tun. Hierauf erzählte ich ihm alle meine Empfindungen vom vorigen Abend ebenso wie von den früheren, von dem Augenblick an, wo ich Sir Harry nennen gehört, bis zu dem, wo ich die Gewißheit erlangt, daß Sir Harry Featherson und mein junger Student aus dem Garten eine und dieselbe Person seien. Ich verhehlte ihm nichts von dem, was ich empfunden, als der falsche Romeo mich mit seinem Arme umschlungen, als sein Mund den meinigen berührt, als er mir endlich jenen Abschiedsgruß zugeworfen, der mir alle Fassung geraubt, und ich ging sogar so weit, ihm zu sagen, daß selbst in diesem Augenblicke, wo ich in seiner Nähe wäre, wo ich in seinen Armen, an seinem Herzen ruhte, Sir Harry es wäre, an den ich dächte und nach dem ich mich sehnte.
Zu meinem großen Erstaunen ward dieses Geständnis durch einen Freudenschrei beantwortet. Der Mann, welchem ich dieses Geständnis getan, war nämlich nicht Sir John Payne, sondern Sir Harry Featherson. Ich erkannte ihn an diesem Rufe, an meinem in seinem Delirium tausendmal wiederholten Namen, an dieser Stimme, die mir bis in die Seele drang. Nach dem Geständnisse, welches ich getan, konnte für mich von Widerstand keine Rede mehr sein, und ich gab mich dem Schicksale hin, welches einmal über mich verhängt war. Mit zwei Worten erklärte Sir Harry mir die seltsame Verwechselung, welche dem Wunsche meines Herzens so wohl entsprach. Der Admiral hatte in dem Augenblicke, wo er mit dem Geschwader, welches er kommandierte, nach Amerika abging, meine Liebe zu Sir Harry und Sir Harrys Liebe zu mir recht wohl bemerkt. Man hat seine Fragen und meine Antworten gesehen. Ohne Zweifel hat er sich überzeugen wollen, daß ich ihm die Wahrheit gesagt. Er hatte, als er das Gewächshaus verlassen, Sir Harry beim Arm genommen, ihn mit in seinen Wagen steigen lassen und die Frage sofort mit den Worten zur Sprache gebracht: »Sie lieben Emma, und Emma liebt Sie?« Sir Harry hatte ihm hierauf mit derselben Einfachheit wie ich alles gesagt. Sir John hatte einen Augenblick nachgedacht, dann Harrys Hand ergriffen, ihm einen Schlüssel hineingedrückt und dabei bloß die vier Worte gesagt: »Machen Sie sie glücklich.« Dann hatte er ihn umarmt und Abschied von ihm genommen. Dieser Schlüssel, den er ihm gegeben, war der zu dem kleinen Hause in Piccadilly. In dem Augenblicke, wo Sir Harry mir diese Geschichte erzählte, war der Admiral bereits in See gegangen und steuerte mit vollen Segeln nach Amerika.
So verfügte das Schicksal abermals über mich, ohne mir zwischen dem Guten oder dem Schlimmen freie Wahl zu lassen. Das Haus, welches ich bewohnte, war von Sir John Payne in meinem Namen auf ein Jahr gemietet. Alles, was es enthielt, war deshalb mein, dennoch aber widerstrebte es mir, diese Gemächer, wo mich alles an Sir John Payne erinnerte, mit einem anderen Manne zu bewohnen. Ich verlor keine Zeit, dies Sir Harry zu sagen, Er sah es ebenso ein als ich, und am nächsten Tage übergab ich, indem ich bloß den Türkis, welchen der Admiral am ersten Tage, wo ich ihn gesehen, mir an den Finger gesteckt und die wenigen Guineen, die sich noch in meiner Börse vorfanden, mitnahm, die Schlüssel des Hauses Sir Johns Intendanten und ging mit Sir Harry in die Wohnung, welche dieser in Brook Street an der Ecke von Grosvenor Square inne hatte. Sir Harry war kaum dreiundzwanzig Jahre alt. Er war deshalb von dem ganzen Feuer der Jugend beseelt, und da er keine der Rücksichten zu nehmen hatte, welche dem Admirale Sir John Payne durch seine offizielle Stellung geboten wurden, so riß er mich mit sich in den heitern, glänzenden Strudel hinein, welchem er in seiner Eigenschaft als reicher, eleganter Gentleman angehörte. Das Leben, welches Sir John Payne mit mir nur in Paris führen konnte, weil er in Paris volle Freiheit genoß, führte Sir Harry in London.
Bis jetzt hatte er, da er niemanden hatte, der die Honneurs seines Hauses gemacht hätte, keine Gesellschaften empfangen, sobald ich jedoch bei ihm war, versammelte er seine Freunde dreimal wöchentlich. Man legte an diesen Abenden Bank und verlor oder gewann ungeheure Summen. Ich lernte dadurch Geschmack am Spiele finden, eine verderbliche Gewohnheit, von der ich mich niemals wieder vollständig freimachen konnte.
Der Frühling kam und mit ihm die Wettrennen. Das in Epsom war damals noch etwas Neues und folglich in großer Aufnahme. Ich brauchte Sir Harry nicht erst zu bitten, mich hinzuführen, denn jede Gelegenheit, Ausgaben zu machen, war ihm willkommen. Er kaufte einen Wagen und prachtvolle Pferde und an dem bestimmten Tage machten wir uns mitten in dem fürchterlichen Tumult, welcher sich bei dergleichen Gelegenheiten entwickelt, auf den Weg zum Wettrennen.
Ich werde nicht versuchen das Schauspiel zu schildern, welches zweimalhunderttausend Menschen darbieten, die von allen Gattungen Wagen, Chaisen, Landaus, Kaleschen, Phaëtons usw. nach dem betreffenden Schauplatz befördert wurden. Wer es gesehen hat, bedarf einer solchen Schilderung nicht, denn hätte er es auch nur einmal gesehen, so wird doch dieser Anblick ewig in seiner Erinnerung bleiben, und denen die es nicht gesehen haben, würde doch eine selbst noch so ausführliche Beschreibung kein angemessenes Bild davon gewähren. Die Eleganz seiner Equipage, die Livree seiner Diener und sein Name verschafften Harry, sobald er sich nannte, einen Platz in den ersten reservierten Reihen. Wir kamen hier zufällig neben eine Equipage, die nicht weniger elegant war als die unsrige. Zwei Damen nahmen die Hintersitze dieses Wagens ein oder sie standen vielmehr, wie dies bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich ist, darauf und bedienten sich des niedergeschlagenen Verdecks zum Sitzen. Ich warf die Augen auf sie und zuckte zusammen. Es waren zwei Pensionärinnen aus Mistreß Colmans Institut, welche mich zweimal beleidigt hatten, einmal auf dem Pachthofe, wo sie Milch essen wollten, und das zweitemal auf der Wiese, wo ich Mr. Thomas Hawardens Kinder spazieren führte.
Die Leser dieser Memoiren werden jedenfalls die Namen dieser beiden Personen längst vergessen haben, ich jedoch erinnerte mich derselben sofort. Die eine war Clarisse Dandy, die andere Clara Sutton.
Ein sehr eleganter Gentleman, der ohne Zweifel der Gatte der einen oder der anderen dieser Damen war, stand auf dem Kutschbock. In demselben Augenblicke, wo ich sie erkannte, erkannten sie mich ebenfalls und nachdem sie eine Weile mich angesehen und miteinander geflüstert, stieg Clara Sutton auf den Vordersitz und sagte dem Herrn einige Worte ins Ohr. Der Herr drehte sich nach mir herum, sah mich aufmerksam an und befahl dann seinem Kutscher, diese Wagenreihe zu verlassen und anderswo Halt zu machen. Der Kutscher gehorchte sofort und der Wagen entfernte sich, so daß ein leerer Raum entstand. Sir Harry hatte von dem, was soeben geschehen, nichts gesehen, weil er aufmerksam nach den Rennpferden ausschaute. Als er sich nach mir herumdrehte, sah er, daß mir große Tränen über die Wangen herabrollten. Es war dies seit langer Zeit das erstemal, daß ich weinte. Ich hatte es beinahe verlernt. Dieser Schimpf lehrte mich es wieder.
Sir Harry liebte mich wahrhaft und aufrichtig. Mit großer Beharrlichkeit fragte er, was die Ursache meines Kummers sei. Ich verhehlte ihm denselben so lange ich konnte, endlich aber gab ich seinen Bitten nach und zeigte ihm den leeren Raum.
Er verstand nicht sogleich, was ich damit sagen wollte, und ich mußte ihm daher das Geschehene näher auseinandersetzen. Er wollte wissen, wer die Personen wären, welche mir diese Beleidigung angetan, und ich erzählte ihm, es seien zwei meiner früheren Mitschülerinnen, welche, da sie mich erkannt und ohne Zweifel gewußt, mit welchem Rechte ich mich in Sir Harrys Wagen befände, sich geschämt, in meiner Nachbarschaft zu bleiben. »Das ist nicht möglich!« rief Sir Harry erbleichend. – »Ach,« entgegnete ich, »leider ist es nur allzu wahr.« – »Das werden wir sogleich sehen,« sagte er. Mit diesen Worten setzte er sich auf den Kutschbock, nahm dem Kutscher die Zügel ab und fuhr unsern Wagen wieder dicht neben den, in welchem sich die beiden Damen befanden. Kaum aber hatten wir diesen Platz eingenommen, als auf Befehl des Gentleman, welcher diese Damen begleitete, ihr Wagen sich abermals in Bewegung setzte und wieder den Platz wechselte.
Sir Harry ward leichenblaß. Er zog sein Notizenbuch aus der Tasche, riß ein Blatt heraus, schrieb auf dasselbe einige Worte mit Bleistift, rief einen seiner Diener und sagte: »An Mylord Camberwell.« Ich ahnte, daß diese mit Bleistift geschriebenen wenigen Worte nichts anderes als eine Herausforderung seien, und ich bat Sir Harry, das Blatt nicht abzusenden. »Liebe Emma,« sagte er zu mir, »haben Sie die Güte, sich nicht in diese Angelegenheit zu mischen. Nicht Sie hat man beleidigt, sondern mich.« Er sprach diese Worte in so festem Tone, daß ich einsah, es würde vergeblich sein, auf meinem Verlangen zu beharren.
Fünf Minuten später brachte der Diener die Antwort. »Sehr schön,« sagte Harry, nachdem er gelesen. Dann steckte er das Blatt in die Westentasche. Ich bat ihn, das Wettrennen zu verlassen und mich nach London zurückzubringen. »Nach den ersten drei Rennen soll es geschehen, liebe Emma,« entgegnete er. »Ich habe mit Lord Greenville um zweitausend Guineen gewettet und will wissen, ob ich verloren oder gewonnen habe.« Ich ahnte, daß dies nicht der eigentliche Grund von Sir Harrys Weigerung sei. Als das erste Rennen beendet war, ging er allerdings nach der Rennbahn; dies tat er aber bloß, um zwei seiner Freunde, von welchen der eine Sir George war, beiseite zu nehmen. Er sprach eine Weile mit ihnen, dann kehrte er mit lächelndem, obschon immer noch ein wenig bleichem Gesicht zu mir zurück und sagte:
»Nun, das erste Rennen habe ich gewonnen. Sie bringen mir Glück, liebe Emma.« Mit diesen Worten nahm er seinen Platz neben mir wieder ein. Beim zweiten Rennen verlor er, gewann aber beim dritten wieder, und dies war der Hauptgewinn. Zwischen dem zweiten und dritten Rennen hatten seine Freunde sich ihm genähert, um mit ihm zu sprechen. Er hatte rasch einige Worte mit ihnen gewechselt und damit war alles gesagt. Als das dritte Rennen vorüber war, befahl Sir Harry seinem Kutscher, uns nach London zurückzufahren.
Bei der zu diesem Zwecke erforderlichen Bewegung kreuzte Sir Harrys Wagen sich mit dem des Lord Camberwell, und die beiden Herren begrüßten einander mit der ausgesuchtesten Höflichkeit und mit lächelndem Munde. Bangen Herzens kehrte ich nach London zurück. Am Abend fanden sich Sir Harrys beide Sekundanten bei ihm ein. Die drei Herren begaben sich in ein Zimmer und hatten bei verschlossenen Türen eine Konferenz, welche beinahe eine Stunde dauerte. Als sie fort waren, wollte ich etwas Näheres wissen, Sir Harry aber weigerte sich, mir irgendwelche Aufklärung zu geben. Gegen neun Uhr abends schickte ihm Lord Greenville den Betrag der verlorenen Wette – zweitausend Guineen, wie Sir Harry mir gesagt hatte. »Hier,« sagte er zu mir, »ich habe in Ihrem Namen gewettet und diese Summe gehört daher Ihnen.« Und er warf das Geld in das Schubfach meiner Toilette. Ich achtete kaum auf das, was Sir Harry zu mir sagte, so sehr waren meine Gedanken mit dem Vorfalle in bezug auf Lord Camberwell beschäftigt. Ein Uhr morgens zog Sir Harry sich in sein Zimmer zurück, indem er mich in dem meinigen ließ. Ich sah ein, daß er der Einsamkeit und des Schlafes bedurfte, da er den nächstfolgenden Tag eine Ehrensache auszumachen hatte.
Was mich betraf, so machte ich mich darauf gefaßt, die ganze Nacht kein Auge zuzutun. Sir Harry hatte die Verbindungstür, welche unsere beiden Zimmer trennte, verschlossen. Ich stand auf und lugte durch das Schlüsselloch. Er saß an seinem Sekretär und schrieb. Er war ein wenig bleich, schien aber vollkommen ruhig zu sein. Ich legte mich wieder zu Bett. Ich hörte der Reihe nach alle Stunden der Nacht schlagen. Gegen sechs Uhr morgens schloß ich, von der Müdigkeit überwältigt, die Augen und schlief wider Willen ein. Als ich wieder erwachte, war es heller Tag. Ich hatte zwar unruhig, aber doch drei Stunden lang geschlafen. Ich sprang aus dem Bett und öffnete die Tür von Sir Harrys Zimmer. Dieses Zimmer war leer. Ich warf ein Negligé über, klingelte dem Diener und befragte ihn. Sein Herr hatte am Abend vorher befohlen, daß der Wagen früh dreiviertel auf Sieben angespannt sein solle. Schlag sieben Uhr hatten Sir Harrys Sekundanten ihn abgeholt und alle drei waren dann zusammen fortgefahren. Es stand nicht zu bezweifeln – Sir Harry war fort, um sich zu schlagen.
Über zwei Stunden lang war ich eine Beute der furchtbarsten Angst und Unruhe. Gegen elf Uhr hörte ich endlich das Geräusch eines in den Hof hereinrollenden Wagens. Ich eilte an das Fenster und sah Sir Harry mit seinen Freunden aussteigen. Ich stieß einen Freudenschrei aus und eilte nach der Treppe. Sir Harry hatte sich auf Pistolen geschlagen, sein Gegner hatte eine Kugel in den Schenkel bekommen; er selbst war unversehrt geblieben. Dieses Duell machte in der eleganten Welt von London großes Aufsehen. Natürlich stellte man die Sache in dem Lichte dar, welches mir am ungünstigsten war. Man behauptete, ich hätte Sir Harry erst aufgefordert, dem Wagen, der sich von uns entfernt, nachzufahren, während ich doch im Gegenteil in der Überzeugung, daß ich abermals beleidigt werden würde, alles mögliche getan, um Sir Harry abzuhalten, unsern ersten Platz zu verlassen. Während der ganzen Zeit, welche Lord Camberwells Wiederherstellung in Anspruch nahm, schickte Sir Harry jeden Tag zu ihm, und ließ sich nach seinem Befinden erkundigen.
Der Sommer nahte heran. Sir Harry besaß ein prächtiges Landgut in Up-Park in der Grafschaft Sussex. Dorthin führte er mich nun und gewährte mir alle Rechte einer Frau vom Hause. Der usurpierte Titel Mylady, welchen mir Sir Harrys Freunde, die Tischgenossen seines Schlosses und die Schmarotzer seines Reichtums gaben, genügte meiner Eigenliebe, so lange wir unter uns blieben. Sobald wir aber einmal die Mauern der prachtvollen Villa im Rücken hatten, war Mylady Featherson weiter nichts als die Abenteurerin Emma Lyonna, das heißt eine »Unterhaltene«, die vielleicht ein wenig schöner war als die andern, keinesfalls aber achtbarer als diese. Die Folge hiervon war von seiten unserer in gesetzlichen Verhältnissen lebenden Nachbarn eine Kundgebung von Verachtung, welche bei jeder Gelegenheit zu Tage trat und mich im tiefsten Herzen verwundete. Allerdings, über den kleinen Hof, welchen Sir Harry mir bereitet, herrschte ich als Königin, ich war Königin der Wettrennen, der Feste und der Jagden. Während der drei oder vier Monate, welche wir in Up-Park verbrachten, lernte ich reiten und erlangte hierin einen hohen Grad von Eleganz und Sicherheit. Abends fuhr ich fort Szenen aus Dramen vorzuführen und durch plastische Attitüden die berühmtesten Frauen des Altertums nachzuahmen. Mit Hilfe der außerordentlichen Beweglichkeit meiner Züge und der prachtvollen Kostüms, die ich nach den besten Zeichnungen, welche man von jenen berühmten Persönlichkeiten auftreiben konnte, fertigen ließ, gelang es mir, eine genaue Vorstellung von denselben zu geben, und oft hatte ich nicht einmal nötig zu sagen, wer die Heldin aus der griechischen, jüdischen oder römischen Geschichte, die ich vorstellen wollte, war, denn die Zuschauer errieten es sofort von selbst.
Es möchte schwierig sein, zu sagen, auf welche Summe sich die täglichen Ausgaben für diese königliche Villegiatur beliefen. Zwei- oder dreimal reiste Sir Harry selbst nach London, um das zur Fortführung dieses Luxus notwendige Geld zu holen. Der Intendant, welcher für die ersten Bedürfnisse gesorgt, hatte endlich geschrieben, daß, da Sir Harrys Einkünfte schon auf zwei Jahre im voraus erschöpft wären, es schwierig sein würde, eher wieder Geld aufzutreiben, als bis Sir Harry, nachdem er sein fünfundzwanzigstes Jahr zurückgelegt, die Verwaltung seines Vermögens selbst in die Hände bekäme, welches dann allerdings ein ungeheures sein würde. Gegen Ende des Monats Juli sah er sich in großer Geldverlegenheit, daß er, um nach London reisen und eines seiner gewohnten Anlehen dort aufnehmen zu können, sich wegen Bestreitung der Reisekosten an mich wendete. Seine Freunde, welche diesen unvermeidlichen Ruin schon von weitem kommen gesehen, waren einer nach dem andern verschwunden. Die beiden letzten reisten mit ihm zugleich nach London ab und versprachen mit ihm wiederzukommen. Ich allein, ich sah nichts, ich ahnte nichts, sondern glaubte, Sir Harrys Börse sei eben so unerschöpflich wie die des Fortunatus. Drei Tage wartete ich, ohne mich sonderlich zu beunruhigen. Noch zwei Tage vergingen, ohne daß Nachricht kam – erst am Morgen des sechsten, seitdem Sir Harry Up-Park verlassen, empfing ich einen Brief von ihm. Dieser Brief war ein Donnerschlag. Er lautete wie folgt:
»Meine arme Emma!
Ich bin vollständig ruiniert – wenigstens für den Augenblick. Ich schulde ziemlich fünfzigtausend Pfund Sterling. Meine Familie will mich den Klauen der Wucherer und Advokaten nur unter der Bedingung entreißen, daß ich mich vollständig ändere. Unter dieser Änderung versteht man zunächst und vor allen Dingen die Verzichtung auf das Teuerste, was ich in der Welt besitze, das heißt auf Sie. Um meines guten Verhaltens und Gehorsams während der zwei oder drei Jahre, die mich noch von meiner Volljährigkeit trennen, sicher zu sein, verbannt man mich nach Indien, wo meine Familie mir eine Kompagnie gekauft hat. Alles dieses ist erst diesen Morgen festgesetzt worden. Heute abend bringt man mich auf das Schiff und wenn Sie diesen Brief erhalten, so schwimme ich schon auf offenem Meere. Leben Sie wohl, meine teure Emma! Sie haben mir acht Monate eines Glückes bereitet, welches nur wenigen Menschen beschieden ist. Verzeihen Sie, daß ich es Ihnen so übel vergelte. Ich, der ich Sie geliebt, ich liebe Sie noch und werde Sie stets lieben. Harry.«
Noch an demselben Tage fanden sich Gerichtsbeamte ein, um eine Liste über die von Sir Harry Featherson in dem Schlosse zu Up-Park gelassenen Gegenstände aufzunehmen, welche den Gläubigern, deren gerichtlichen Schritten man Einhalt getan, zum Pfand dienen sollten. In derselben Stunde verließ ich das Schloß und nahm weiter nichts mit, als die mir persönlich gehörenden Effekten und eine Summe von ungefähr zweihundertundfünfzig Pfund.
Diese Gemütserschütterung war eine der heftigsten, die ich in meinem Leben erfahren. Bis jetzt war ich von der Armut zum Luxus, vom Unglück zum Glück emporgestiegen. Plötzlich aber zerbrach gleichsam etwas in der Maschinerie meiner Existenz und ich hörte auf an meine Unverwundbarkeit zu glauben.
Ich liebte Harry von ganzer Seele, und meine Seele ward dadurch, daß diese Liebe mir geraubt ward, vollständig zerrissen. Diese Liebe wurzelte in meinem ganzen Sein und dieses hatte daher nicht eine Stelle, welche dadurch nicht schmerzhaft berührt worden wäre. Auf die moralische Saite, die durch den ersten Schlag getroffen worden, folgte die materielle. Von dem Augenblicke an, wo ich mich von dem Schlage wieder emporrichtete, mußte ich mich mit den Sorgen für meinen Lebensunterhalt beschäftigen und für ein bekümmertes Herz ist dies eine furchtbare Aufgabe. Wo sollte ich hin? Was sollte aus mir werden? Wo sollte ich ein Obdach finden? Auf welchen Stein sollte ich mein Haupt niederlegen? Alles dies wußte ich nicht, und diese Fragen legte ich mir vor, während ich unter einem Baum der Allee saß, deren Staub ich noch acht Tage vorher unter den Rädern einer eleganten Equipage oder unter den Hufen eines stolzen Rosses aufgewirbelt. Ich hatte mir in der benachbarten Stadt einen Wagen gemietet, diesen mit meinen zwei oder drei Koffern beladen und darin Platz genommen. Als der Kutscher mich fragte: »Wo soll ich Sie hinfahren, Madame?« wußte ich nicht, was ich ihm antworten sollte. »Fahrt immer die Straße entlang,« sagte ich. – »Welche denn?« fragte er wieder. – »Diese da.« – »Aber bis wohin denn?« – »Bis in das erste Dorf oder bis an die erste Stadt.« – »Der erste Marktflecken ist Nutley.« – »Nun, dann fahret nach Nutley.« Der Kutscher setzte, nicht wenig erstaunt, seine Pferde in Bewegung. Nach Verlauf von drei Stunden machte er Halt auf dem Marktplatze eines großen Dorfes, welches in einer reizenden Gegend am Fuße einer Anhöhe lag. »Nun sind wir in Nutley,« sagte er zu mir. – »Erkundigt Euch, ob es hier ein kleines Haus zu vermieten gibt, welches von einer Dame allein mit ihrer Dienerin bewohnt werden kann.« – Er warf die Zügel dem Pferde auf den Hals und begann zu suchen, was ich begehrte. Ich blieb stumm und unbeweglich im Wagen sitzen, wieviel Minuten oder wieviel Stunden weiß ich nicht zu sagen, ich hatte den Sinn für den Lauf der Zeit verloren. Der Kutscher kam endlich zurück. Am andern Ende des Dorfes hatte er wirklich ein kleines Haus gefunden, was nach seiner Meinung ganz für mich paßte. »Fahret mich hin,« sagte ich zu ihm. Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung und hielt nach kurzer Zeit vor einem kleinen Hause, welches im Schatten einiger Bäume stand und von einem Blumengärtchen umgeben war.
Dieser Garten war mit einer lebendigen Hecke umzäunt und diese mit einem hölzernen Einlaßpförtchen versehen, welches ebenso wie die Fensterläden grün angestrichen war. Die Eigentümerin hatte es in der Obhut einer alten Frau gelassen und diese beauftragt, es zu vermieten, wenn sie einen Liebhaber dazu fände.
Die Eigentümerin, die kein anderes Vermögen besaß als dieses kleine Haus und eine kleine Rente von fünfzig Pfund, wovon sie lebte, war zu ihrem Bruder, einem Stabsoffizier außer Dienst, gerufen worden, der kürzlich seine einzige Tochter verloren. Das Haus war so geblieben, wie sie es verlassen, das heißt vollständig möbliert – bescheiden, aber sauber.
Ich brauchte bloß einen Blick auf das Haus zu werfen, um zu sehen, daß es in jeder Beziehung dem Zustand meines Herzens und meiner Mittel entsprach. Es war abgelegen, so daß mein Herz hier die Ruhe finden konnte, deren es bedurfte. Es war bescheiden und ich gewann infolge dieses Umstandes, so wenig reich ich auch war, Zeit, einen Entschluß in bezug auf das zu fassen, was mir in Zukunft zu tun übrigblieb. Der Mietzins war dreißig Pfund jährlich. Ich bezahlte sechs Monate voraus unter der Bedingung, daß es mir freistünde, das Haus zu verlassen, wenn ich nichts weiter bezahlen wollte, und vorausgesetzt, daß ich es dann im Laufe der sechs ersten Monate verließe. Mein Vermögen schmolz demzufolge bis auf zweihundertunddreißig Pfund oder fünftausendsiebenhundertundfünfzig Franks zusammen. Wenn ich in diesem Hause bleiben und darin fern von der Welt leben wollte, so hatte ich so ziemlich drei Jahre Ruhe vor mir. Zwei Stunden später war ich in das Haus eingezogen, zu welchem selbst meine einfachste Toilette allerdings einen seltsamen Kontrast bildete. Dennoch, wenn ich mit dieser bescheidenen, aber reizenden Wohnung den Punkt verglich, von welchem ich ausgegangen war, so fand ich, daß ich bei meinem Sturze wenigstens noch in der Hälfte der Höhe mich festgeklammert hatte. Für ein Pfund monatlich und freie Beköstigung verstand die alte Aufwärterin sich dazu, bei mir zu bleiben und alle häuslichen Vorrichtungen zu besorgen. Das erste, woran ich dachte, mir einige Kleider fertigen zu lassen, welche mit der neuen Existenz, die ich zu führen im Begriff stand, besser übereinstimmten. Ich ließ sie von schwarzer Seide fertigen. Auf alle Fragen nach meinem Namen antwortete ich, ich hieße Mistreß Heart, ich wäre Witwe und wolle die ersten Monate meines Schmerzes und meines Witwenstandes in Einsamkeit und Zurückgezogenheit zubringen. Ich war noch sehr jung, um schon Witwe zu sein. Man glaubte von meiner Erzählung natürlich bloß soviel man wollte. Mir kam darauf wenig an, denn ich hatte ja mit niemandem Umgang.
Die ersten acht Tage meiner Zurückgezogenheit vergingen ganz in der Hingebung an jenen physischen und moralischen Schmerz, von welchem schwere Schicksalsschläge des Lebens begleitet zu sein pflegen. Allmählich kehrte dann die Ruhe, wenn auch nicht in mein Herz, doch wenigstens in meinen Geist zurück, und ich konnte meine Lage mit prüfendem Blick ins Auge fassen. Ich hatte einen Mann verloren, den ich liebte; aber war dieser Mann der Trauer wert, welche ich ihm widmete? War seine Handlungsweise gegen mich die eines Gentleman gewesen? Hatte er bei dem Ruin seines Vermögens an mich gedacht? Hatte er sich gefragt, was aus mir werden sollte? Hatte er versucht, mir eine jener Existenzen zu gründen, welche sonst den unglücklichen Frauen beschieden zu sein pflegen, die ihr Leben der Liebe geweiht haben?
Ich mußte mir gestehen, daß er von all diesem nichts getan. Welch' ein Unterschied zwischen seiner Handlungsweise und der Sir John Paynes. Von dem Augenblick an, wo ich dahingelangt war, daß ich Sir Harry mit Unparteilichkeit beurteilte und nach seinem wahren Werte würdigte, war ich nahe daran, mich über seinen Verlust zu trösten. Er war allerdings ein schöner, eleganter junger Mann; mein Gedächtnis erinnerte mich aber unter den Freunden Sir Johns und den seinigen an fünf oder sechs junge Männer, die ebenso schön und ebenso elegant waren als er. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde ich ohne den geheimnisvollen Vorfall, mit Hilfe dessen er sich in mein Leben eingeführt und der eine unauslöschliche Spur darin zurückgelassen, auf ihn nicht mehr geachtet haben als auf einen andern, und er wäre unbemerkt an mir vorübergegangen.
Was die Situation betraf, in der ich mich befand, so war dieselbe jedenfalls viel besser, als die bei meiner ersten Ankunft in London. Wenn ich in Zurückgezogenheit und Einsamkeit leben wollte, so hatte ich eine lange Reihe von ruhigen Tagen vor mir.
Wollte ich in London wieder mit demselben Glanz auftreten, wie ich es verlassen, so hatte ich einen oder zwei Monate Luxus jener Gesellschaft in die Augen zu werfen, unter welcher ich gelebt, und in welche ich stets unter denselben Bedingungen zurückkehren konnte.
Ich warf, nachdem ich diese Betrachtungen angestellt, einen Blick in meinen Spiegel. Ich sah jünger, schöner und frischer aus als jemals, und wenn auf meinem Gesicht noch einige Spuren von den vergossenen Tränen zurückgeblieben waren, so wurden sie bereits durch ein halbes Lächeln verwischt. Nach dem geräuschvollen Leben, welches ich geführt, nach den festlichen Tagen, nach den durchspielten Nächten empfand ich nur ein Bedürfnis, nämlich das einiger Wochen Ruhe. Die heitere Ruhe meines Herzens war getrübt wie die Reinheit eines Sees nach einem Sturme. Man mußte ihm Zeit lassen, seine Durchsichtigkeit wieder zu gewinnen. Die ersten Tage der Einsamkeit, die ich in diesem kleinen Hause in Nutley verlebte, waren daher nicht ohne einen gewissen melancholischen Reiz, nach welchem ich mich zuweilen, selbst auf der Höhe meines Glanzes, zurückgesehnt habe.
Ich fragte mich, ob dieses ruhige, bequeme Leben, wo ein Tag dem andern glich, beim Lichte besehen, nicht eigentlich das sei, für welches die Natur uns bestimmt hat. Dennoch aber antwortete auf diese Frage eine geheime Stimme, daß ich nicht zur Zahl der Menschen gehöre, für welche die Natur die Ruhe der Mittelmäßigkeit und die stillen Freuden der Einsamkeit aufgespart hat. Ich gehörte vielmehr zu jenen außergewöhnlichen Organisationen, die den Kampf und den Sieg oder die Niederlage bedürfen, welche die Folge davon sind. Auf welchem Theater sollte dieser Kampf meiner Zukunft gegen das Schicksal beginnen? Ich wusste es nicht; ich, die Athletin des Luxus und der Laune, fühlte aber, daß die augenblickliche Ruhe, in welche ich mich versenkt, nur die schnell vergängliche war, welche dem Kampfe vorangeht.
Ich blieb zwei Monate in Nutley, fast ohne die Schwelle meines Gartens zu überschreiten. Während dieser zwei Monate hatten alle Bestrebungen meiner Jugend Zeit gehabt, in mir wieder aufzuleben. Die Wunde meines Herzens hatte sich um so leichter geschlossen, als ich mir sagte, daß bei Sir Harrys gezwungener Untreue meine Eigenliebe nicht zu leiden gehabt habe, denn unsere Trennung hatte ihren Grund nicht in einem Erkalten seiner Leidenschaft, sondern in dem Zwange, der durch Ereignisse auf ihn ausgeübt worden, welche mächtiger waren, als sein Wille.
Bei einem derartigen Bruche – ich sollte dieses weibliche Geheimnis vielleicht nicht der Öffentlichkeit preisgeben – blutet unser Dünkel mehr als unsere Liebe, und das Weib, welches zu sich sagen kann: »Ich habe mich von meinem Geliebten getrennt, aber ich bin überzeugt, daß er mich immer noch liebt,« ist weit näher daran, über die Trennung getröstet zu werden, als die, welche sich sagt: »Ich bin von meinem Geliebten getrennt, weil er mich nicht mehr liebt.« Die Folge hiervon war, daß ich im Laufe des zweiten Monats meiner Einsamkeit mich von neuem nach jenem Strudel hingezogen fühlte, der mich seit einem Jahre mit sich fortgerissen. Ich beschloß demgemäß nach London zurückzukehren, und das Glück aufs neue zu versuchen.
Es war mir bis jetzt so treu gewesen, daß ich hoffen konnte, es werde mich nicht schon zu Anfange meiner Laufbahn wieder verlassen. Übrigens hatte ich mich, so wie das Nachdenken oder vielmehr die Erinnerung in mich zurückgekehrt und es in meinem Geiste Tag geworden war, auf eine Hilfsquelle besonnen, die mir vielleicht noch übrigblieb.
Ich hatte mein kleines Haus in Piccadilly in meiner Eile, Sir Harry aus meiner Vergangenheit hinaus zu folgen, so schnell verlassen, daß ich nicht mehr an das reiche Geschenk gedacht hatte, welches Sir John mir in dem kostbaren Mobiliar gemacht, das in diesem Hause sich befand.
Jetzt empfand ich den inbrünstigen Wunsch, dieses Haus, den Zeugen der ersten Tage meines Glücks, das heißt meines Stolzes, wiederzusehen.
Für mich beruht nämlich – und dies ist eben das, was meinen Untergang herbeigeführt hat – das Glück mehr in der Befriedigung des Stolzes als in der Liebe.
Ich erinnerte mich unklar, Sir Johns Intendanten sagen gehört zu haben, daß die Miete des Hauses auf ein Jahr im voraus bezahlt wäre, und daß alles, was sich in diesem Hause befände, mir gehöre. Allerdings ward diese Schenkung durch keine Urkunde verbrieft, und wenn meine Erinnerung mich täuschte, wenn der Mietkontrakt in Sir Johns Namen anstatt in dem meinigen abgeschlossen – ein Umstand, womit ich mich niemals ernst beschäftigt – oder wenn der Intendant ein unredlicher Mann war, so war es mit dieser ganzen reichen Hoffnung aus.
Es trat ein Augenblick ein, wo ich den Zweifel nicht mehr ertragen konnte, und wo ich beschloß aufzubrechen und mich von der Wirklichkeit, mochte diese nun sein, welche sie wollte, zu überzeugen. Es kam alle Tage eine Personenpost durch Nutley, welche von Lemes nach London und von London nach Lemes ging. Ohne meiner Aufwärterin zu sagen, ob ich wiederkäme oder nicht – was ich nicht nötig hatte, da ja die Miete auf mehr als drei Monate bezahlt war – übergab ich ihr die Schlüssel, nahm einen Platz in der Personenpost und reiste nach London ab, wo ich am nächstfolgenden Tage früh anlangte. Ich rief eine Droschke herbei, ließ meinen Koffer aufladen und befahl mit bewegter Stimme und hochklopfendem Herzen, mich nach Piccadilly zu bringen.
Als die Droschke vor der mir so bekannten Fassade des trauten Hauses Halt machte, wo eine für mein Leben so wichtige Frage entschieden werden sollte, drohten meine Kräfte mir untreu zu werden, und ich zögerte an die Tür zu pochen. Plötzlich aber und wie um diesem meinem Zögern ein Ende zu machen, öffnete sich die Tür, um eine Frauensperson hinaustreten zu lassen und ich stieß einen Freudenruf aus. Diese Frauensperson war nämlich keine andere als Amy Strong, welche, wie man sich erinnert, von jeher einen so großen Einfluß auf die Ereignisse meines Lebens geäußert. Auch diesmal schien das Fatum sie mir in den Weg zu führen. Sie erkannte mich in demselben Augenblicke wo ich sie selbst erkannte, und wir warfen uns einander in die Arme. Hinter ihr stand der Kastellan des Hauses ehrerbietig mit dem Hut in der Hand. Als er mich erkannte, öffnete er sofort beide Torflügel, damit der Wagen hereinfahren könnte. Der Wagen fuhr herein und machte am Fuße der Treppe Halt. Der Kastellan öffnete den Schlag, und da ich zögerte, eine Frage an ihn zu richten, so sagte er: »Sie sind sehr lange abwesend gewesen, Mylady, aber Sie werden alles noch so finden, wie Sie es verlassen haben.« Mit diesen Worten überreichte er mir den Schlüssel zur ersten Etage, welche die war, die ich bewohnte. Es war augenscheinlich, daß in der Tat nichts verändert worden war, und daß alles, was das Haus enthielt, wirklich mir gehörte.
Ich kehrte in diese beglückende Wohnung, die ich auf so unverhoffte Weise wiederfand, mit einem tiefen Gefühl von Freude zurück, und durch Tränen des Dankes gegen Sir John hindurch sah ich mein teures blaues Zimmer, das Zimmer meiner Träume, und den großen, mir von Dick prophezeiten Goldrahmenspiegel wieder. Der armen Amy ging es nicht sonderlich gut. Ich war von jeher ihre Vorsehung gewesen, fünf- oder sechsmal war sie hier gewesen, um etwas von mir zu erfahren und meine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Allemal aber hatte man ihr gesagt, daß ich nicht da sei und daß man meinen dermaligen Aufenthaltsort nicht kenne. Eben hatte sie einen letzten Schritt dieser Art und zwar ohne bessern Erfolg getan, als wir uns auf der Schwelle begegneten, welche sie trostlos wieder passierte und welcher ich mich zitternd näherte. In der Vereinsamung, in der ich mich befand, erschien mir diese Begegnung wie ein Segen des Himmels. Ich schlug Amy vor, bei mir zu bleiben, und ohne daß etwas über die Stellung gesprochen ward, welche sie in dem Hause einnehmen sollte, nahm sie mein Anerbieten an.
Wenn ich die Situation richtig ins Auge faßte, so hatte ich nur zwei Wege einzuschlagen. Das Mobiliar des Hauses in Piccadilly gehörte mir, denn Sir John hatte es mir geschenkt. Durch den Verkauf konnte eine Summe von vielleicht zweitausend bis zweitausendundfünfhundert Pfund daraus gelöst werden. Ich konnte also mit dem, was ich noch besaß, etwa sechzigtausend Franks oder eine Rente von hundert bis hundertundzwanzig Pfund Sterling realisieren. Wenn ich mich dazu verstand, der Welt, dem Luxus, dem eleganten Leben zu entsagen, wenn ich wieder in mein kleines Haus zu Nutley zurückkehrte, so brauchte ich mich wegen der Zukunft nicht zu ängstigen, denn meine Existenz war dann gesichert. Wollte ich dagegen die betretene Bahn, nämlich die der Abenteuer, der Laune und des Zufalls, weiter verfolgen, so mußte ich die Möbel und das Haus behalten, neue Liebesverhältnisse anknüpfen und es auf das weitere ankommen lassen. Leider drängte mein Charakter mich nur allzusehr zu diesem letzteren Entschlusse, und Amy, welche mir gegenüber die Rolle spielte, welche vor sechstausend Jahren die Schlange der armen, leichtsinnigen Eva gegenüber gespielt, ermutigte mich, diesen Entschluß zu fassen.
Man errät, daß es dieser war, für den ich mich entschied.
Gott, der ein Gott des Erbarmens und nicht ein Gott der Rache ist, verlangt, hoffe ich, nicht, daß ich in allen seinen Einzelheiten das Jahr erzähle, welches zunächst verfloß und welches das neunzehnte meines Lebens war.
Alle Phasen jener beklagenswerten Existenz eines weiblichen Wesens, welches von seiner Schönheit lebt, wurden durchgemacht, alle Schmerzen derselben erschöpft, alle Schmach bis auf den letzten Tropfen getrunken.
Wenn ich alle diese Einzelheiten verschweige, so geschieht dies nicht, weil ich sie vergessen hätte. Ich unterlasse diese Erzählung bloß, weil die Kraft mir fehlt, denselben Weg in der Erinnerung noch einmal zu durchwandeln. Ich werde daher bloß sagen, daß gerade ein Jahr nach meiner Rückkehr in das kleine Haus von Piccadilly ich dasselbe, nachdem ich meine Möbel, meine Schmucksachen, meine Spitzen verkauft, weit ärmer verließ, als ich das Schloß von Up-Park verlassen, denn ich besaß von allen Trümmern meines ehemaligen Glanzes weiter nichts mehr, als das seidene Kleid, welches ich auf dem Leibe trug. Wie war ich auf eine so tiefe Stufe des Mangels und des Elends herabgesunken, daß selbst Amy, diese erste und hartnäckige Ursache meines Ruins, mich verlassen hatte? Nur das Verhängnis, welches mich von der Stufenleiter der Menschheit herabstürzen wollte, um mich sämtliche Sprossen derselben von neuem erklettern zu lassen, könnte dies sagen.
Jeder einzelne Umstand jenes furchtbaren Tages ist meiner Erinnerung gegenwärtig.
Es war Freitags am 26. Oktober 1782, elf Uhr vormittags, an einem jener kalten, nebeligen Tage, wie es deren nur in London gibt, als ich das kleine Haus in Piccadilly verließ. Mein Frühstück hatte in einem Stück Brot und einem Glas Wasser bestanden und ich wußte nicht gewiß, ob ich wieder ein Stück Brot zu meinem Mittagsmahle haben würde. Ich ging Piccadilly hinauf bis Old Bondstreet, ohne zu wissen, wohin ich ging, ohne mir ein Ziel gesteckt zu haben. Ich ging immer geradeaus wie ein Blinder, indem ich an die mir Begegnenden anstieß und gegen andere Hindernisse anrannte. Es dauerte nicht lange, so sah ich mich in Oxford Street. Nur der Zufall hatte mich hierhergeführt. Hier orientierte ich mich. Ich befand mich Miß Arabellas Hotel beinahe gegenüber. Ich blieb einen Augenblick stehen. Während dieses Augenblickes kam ein Wagen aus dem Hofe heraus und fuhr bis an den Fuß des Perrons. Eine in eine kostbare, mit Spitzen besetzte Atlasmantille gehüllte Dame stieg in Begleitung eines eleganten Kavaliers ein. Der Wagen schloß sich wieder und fuhr, mich mit Kot bespritzend, vorüber. Diese Dame war Miß Arabella. Was den Kavalier betraf, der wahrscheinlich ein neuer Bewunderer war, so kannte ich denselben nicht. Der Wagen verschwand in Highstreet.
Warum blieb diese Person, die wahrscheinlich auch nicht von besserer Herkunft war als ich, die sicherlich nicht schöner war als ich, reich und glücklich, während ich, nachdem ich ebenso reich und ebenso glücklich gewesen wie sie, jetzt arm und elend sie an mir vorüberfahren und mich mit Kot bespritzen sah?
Dies schien mir eine unerklärliche Grausamkeit des Schicksals zu sein.
Vielleicht eine halbe Stunde blieb ich unbeweglich an derselben Stelle stehen und wäre ohne Zweifel noch länger stehen geblieben, ohne zu wissen, warum ich nicht weiterging, wenn sich nicht allmählich eine Menschenmenge um mich gesammelt und ein Polizeier, sich hindurchdrängend, mich gefragt hatte, was ich gleich einer Bildsäule stumm und mit den Füßen im Kote stehen bliebe?
Ich antwortete, ich hätte eine Dame von meiner Bekanntschaft in ihrem Wagen aus dem Hause Nr. 23 herauskommen gesehen und erwartete nun ihre Rückkunft, um mit ihr zu sprechen.
»Geht nur Eures Weges weiter,« sagte der Polizeier in rauhem Tone zu mir; »zu dieser Stunde des Tages haben Frauenzimmer Eurer Art nicht das Recht, auf den Trottoirs stehen zu bleiben.«
Diese Worte drangen mir ins Herz wie ein glühendes Eisen. Ich raffte mich auf und ging durch Deanstreet nach dem Strand hinunter.
Kaum hatte ich einige Schritte zurückgelegt, so sah ich mich Mr. Plowdens Kaufladen gegenüber, in welchem ich, wie man sich erinnert, einen Monat als Ladenmamsell fungiert. Das Leben war hier für mich weder glücklich noch glänzend, wenigstens aber ruhig gewesen. An der Stelle, wo ich während jenes Monats gesessen, sah jetzt ein anderes junges Mädchen von meinem Alter. An ihren sanften, zufriedenen Zügen sah man mit leichter Mühe, daß sie dadurch, daß sie Mr. Plowdens Ladenmamsell geworden, das Ziel ihrer Wünsche und ihres Ehrgeizes völlig oder doch beinahe erreicht hatte.
Die rauhen Worte des Polizeiers waren mir noch zu frisch in der Erinnerung, als daß ich vor Mr. Plowdens Laden ebenso stehengeblieben wäre, wie ich vor Miß Arabellas Hotel stehen geblieben war.
Ich ging den Strand hinauf bis King Williamstreet und dann diese entlang nach Leicester Square.
Gerade, als ob ich Stufe um Stufe die Leiter meiner Erinnerungen hinaufsteigen sollte, fand ich hier jenes kleine Haus Mr. Hawardens wieder, wo ich bei meiner ersten Ankunft in London so wohlwollende und gastfreie Aufnahme gefunden. Vom Strand an war ich im Regen gegangen, welcher jetzt immer heftiger zu fallen begann. Meine Abgestumpftheit hatte jedoch einen solchen Grad erreicht, daß ich nicht bemerkte, wie ich bis auf die Haut durchnäßt war. Das kleine Haus hatte immer noch seinen soliden puritanischen Anstrich. Ich setzte mich auf die Stufen einer Art ambulanten Theaters, welches auf der Mitte des Platzes aufgeschlagen war.
Vor mir hatte ich die Tür von Mr. Hawardens Haus. Über zwei Stunden blieb ich so im Regen sitzen und fühlte, wie sich allmählich in mir der Hunger zu regen begann. Dennoch war ich zu stolz, um in diesem gastlichen Haus ein Stück Brod zu erbetteln. Unglücklicherweise waren zwei der Hilfsquellen, auf welche ich in der bedrängten Lage, in der ich mich befand, hätte rechnen können, mir gegenwärtig verschlossen. Mr. Sheridan, dessen Namen ich so oft genannt, war durch den Brand des Drury-Lane-Theaters, dessen Direktor er war, und wo ich ein Unterkommen hätte finden können, in die Unmöglichkeit versetzt, mir nützlich zu sein. Was Romney betraf, so hatte dieser mir niemals seine Adresse gegeben. Ich glaubte mich bloß zu entsinnen, daß er in der Nähe von Cavendish-Square oder in Cavendish-Square selbst wohnte. Diese Erinnerung war jedoch zu unbestimmt, als daß ich auf dieselbe hin sein Haus aufzusuchen vermocht hätte.
Ich bedurfte aber rascher und wirksamer Hilfe. Ich hatte Hunger, ich wußte nicht, wo ich etwas zu essen hernehmen, die Nacht brach ein und ich wußte nicht, wo ich ein Nachtlager finden sollte. Ich hob die Augen gen Himmel, um den Zorn desselben durch einen flehenden Blick zu entwaffnen zu suchen.
In diesem Augenblick fuhr ein Wagen wenige Schritte von der Stelle entfernt vorüber, wo ich saß. Er machte Halt, der Schlag öffnete sich. Eine Frau von vierzig bis fünfundvierzig Jahren in einem prachtvollen indischen Kaschemirshawl stieg aus und kam trotz des auf mich und auf sie herabrieselnden Regens auf mich zu. In den Zügen dieser Frau lag ein Gemisch von Zynismus und Gemeinheit, welches mit ihrer eleganten Toilette in offenem Widerspruch stand. Da ich nicht glauben konnte, daß sie mit mir sprechen wollte, so ließ ich meine Stirn wieder auf meine beiden Hände herabsinken. Sie berührte mich an der Schulter. Ich richtete den Kopf wieder empor. Die Frau stand vor mir. Sie heftete einen frechen Blick auf mich und murmelte ziemlich laut: »Meiner Treu, sie ist hübsch; sie ist sehr hübsch!« Erstaunt sah ich sie an. Was wollte diese Frau von mir? »Warum bleiben Sie hier im Regen sitzen?« fragte sie mich. – »Weil ich nicht weiß, wo ich hin soll,« antwortete ich. – »Na,« sagte sie, »wenn man ein so hübsches Gesicht hat, wie Sie, so kommt man nicht so leicht in Verlegenheit, ein Nachtlager zu finden.« – »Aber dennoch befinde ich mich in dieser Verlegenheit, wie Sie sehen.« – »Warum sind Sie so bleich?« – »Weil mich friert und hungert.« – »Sie sind doch nicht krank?« – »Nein, aber ich werde es wohl werden, wenn ich die Nacht auf der Straße zubringen muß.« – »Wer zwingt Sie denn, die Nacht auf der Straße zuzubringen?« – »Habe ich Ihnen nicht schon gesagt, daß ich nicht weiß, wo ich hin soll?« – »Kommen Sie mit mir.« – Ich sah sie wieder an. – »Wer sind Sie?« fragte ich sie. – »Ich bin jemand, der Ihnen bietet, was Sie nicht haben, – Nahrung, Wohnung, Kleider, Geld.« – »Und was verlangen Sie dafür?« – »Das wird man Ihnen später sagen. Jetzt machen Sie schnell. An Zeit fehlt es mir allerdings nicht, wohl aber ruiniere ich meinen Shawl und meinen Hut, wenn ich noch länger hier mit Ihnen plaudere.« – Ich zögerte. »Gute Nacht denn, schönes Kind,« sagte die elegante Frau und tat einen Schritt, um sich wieder zu ihrem Wagen zurückzuverfügen. »Madame! Madame!« rief ich ihr nach. – »Nun, haben Sie sich entschlossen?« – »Wenn mir morgen die Absichten, welche Sie mit mir haben, nicht zusagen, wird es mir dann freistehen, Sie wieder zu verlassen?« – »Jawohl; aber es versteht sich, daß Sie mir dann die Auslagen wieder erstatten, die ich vielleicht für Sie gemacht haben werde.« – »Ich folge Ihnen, Madame.« – Ich erhob mich. Der Regen troff mir von den Kleidern herab. – »Setzen Sie sich auf den Vordersitz und schmiegen Sie sich so viel als möglich zusammen.« Ich gehorchte.
Sie schüttelte den Kopf. »Sie befinden sich in einem traurigen Zustand! – Apropos, Sie haben doch nicht etwa eine Geschichte mit der Polizei auszumachen?« – »Ich?« – »Ja, Sie.« – »Wie sollte ich etwas mit der Polizei auszumachen haben? Ich habe erst diesen Morgen meine Wohnung verlassen.« – »Ah, Sie hatten eine Wohnung?« – »Ja.« – »Und wo befand sich Ihre Wohnung?« – »In Piccadilly.« – »Piccadilly ist aber keines unserer Quartiere.« – »Keines Ihrer Quartiere? Ich verstehe Sie nicht.« Die elegante Frau sah mich wieder an und spitzte die Lippen. »Das ist wohl möglich,« sagte sie. »Sie haben wirklich ein ehrliches Gesicht und das macht sich sehr gut.« – »Madame,« sagte ich, über diese triviale Ausdrucksweise fast erschreckend, »wenn Sie das Anerbieten, welches Sie mir gemacht haben, bereuen, so bin ich bereit, wieder auszusteigen.« – »Nein, nein, bleiben Sie.« – Dann schlug sie die Wagentür selbst zu und sagte zu dem Kutscher: »Nach Hause!« – Zehn Minuten später hielt der Wagen an der Tür eines Hauses in Haymarket, dessen Fenster sämtlich geschlossen waren.
Es fror mich sehr, als ich aber dieses Haus betrat und die Tür sich hinter mir schließen hörte, fror mich noch mehr. Es war mir, als träte ich in ein Grab. Es war auch in der Tat ein Grab, ein Grab der Keuschheit und Tugend, welches man niemals wieder verläßt, ohne die Spuren jenes moralischen Todes an sich zu tragen, welche noch weit furchtbarer sind als die des physischen.
Mein dringendstes Bedürfnis, selbst noch vor dem der Speise und des Trankes, war ein vollständiger Wechsel der Kleidung und ein Bad. Mistreß Love – war dieses Wort, welches »Liebe« bedeutet, ein Spitzname, den ihr die Stammgäste ihres Hauses gegeben, oder eine Laune des Zufalls? – Mistreß Love begriff dieses doppelte Bedürfnis sehr gut, denn sofort nach unserer Ankunft gab sie Befehl, ein Bad zu bereiten und dann wurden frische Wäsche und ein Negligé in das Zimmer gebracht, welches sie für mich bestimmte. Als ich dieses Zimmer betrat, sank ich fast bewußtlos, vernichtet, erstarrt und kaum bemerkend, was um mich her vorging, in einen Lehnstuhl. Mistreß Love beaufsichtigte mit auffallendem Eifer alles selbst und ihr Blick verwendete sich keinen Augenblick von mir. Als das Bad bereitet war, wollte sie selbst die Dienste einer Zofe bei mir verrichten. Sie unterzog sich diesem Amt mit einer Sorgfalt, die ich mir nicht erklären konnte, um die ich mich aber in der Stumpfheit, in welcher ich befangen war, weiter nicht kümmerte.
Mein Kleid klebte mir auf den Schultern – man trug zu jener Zeit sehr enge Kleider. Mistreß Love riß es ohne weiteres auf und durchschnitt den Senkel meines Schnürleibes mit der Schere. Ehe noch viele Augenblicke vergangen waren, sah ich mich nackt. Obschon ich mich nur in Gegenwart einer Frau befand, so empfand ich doch ein rasch aufsteigendes Gefühl von Scham, welches meine Wangen rötete. Ich flüchtete mich in meine Badewanne, deren durchsichtiges Wasser mir nur einen ungenügenden Schleier ließ. Als ich in dieses laue Wasser hineinkam, empfand ich ein unaussprechliches Gefühl von Wohlbehagen. Meine Brust weitete sich und mein Atemzug ward regelmäßig und leicht. »Ach, Madame,« sagte ich, ohne mich um den Grund zu kümmern, der meine seltsame Wirtin bewog, so an mir zu handeln, »wie danke ich Ihnen!« – »Schon gut, schon gut,« sagte sie. »Man wird Sie pflegen, liebe Kleine; seien Sie unbesorgt. Sie sind schön genug dazu.« Dann zog sie die Klingel, verlangte eine Tasse Bouillon und fügte leise einen Befehl hinzu, den ich nicht verstand. Es herrschte in diesem Hause ein seltsames Gemisch von Luxus und Gemeinheit. Ein Dienstmädchen, welches für eine Kammerzofe zu elegant und für eine Dame nicht elegant genug war, brachte eine ausgezeichnete Bouillon in einer Tasse von gewöhnlichem Porzellan.
Meine Lippen näherten sich dem Gefäß nur mit Widerstreben. Ich hatte seit einem Jahre luxuriöse Gewohnheiten angenommen. Ich, das arme Landmädchen, verstand jetzt nur von Silbergeschirr zu essen und aus Kristall oder chinesischem Porzellan zu trinken. Als ich getrunken, setzte Mistreß Love sich an das Kopfende meiner Badewanne, nahm einen Kamm, band mein Haar auf und kämmte es mit einer Sorgfalt und Geschicklichkeit, welche einem Friseur von Profession zur Ehre gereicht hätte. Nachdem sie dies getan, band sie mir das Haar wieder auf und arrangierte es mit einer Eleganz, die ich, als ich mich in einem Spiegel betrachtete, anerkennen mußte. In dem Augenblick, wo sie mit dieser Verrichtung fertig war, trat die Dienerin wieder ein und sagte Mistreß Love einige Worte ins Ohr. Diese Worte schienen ihr zur lebhaften Befriedigung zu gereichen. »Jetzt, liebe Kleine« sagte sie, »ist es, glaube ich, Zeit, daß Sie das Bad verlassen. Ein allzulanges Verweilen im lauen Wasser ist nicht bloß der Gesundheit, sondern auch der Schönheit nachteilig. Steigen Sie daher heraus, damit ich Sie selbst abtrocknen kann.« Ich hatte mir rasch die Gewohnheit angeeignet, mir alle Dienste bei der Toilette durch eine Zofe leisten zu lassen und ich folgte daher Mistreß Loves Aufforderung ohne weiteres Zögern. Das gutverschlossene, mit Teppichen belegte Zimmer war mild erwärmt.
Ich stieg aus der Badewanne, ohne wie Venus Aphrodite den Schleier meines langen Haares zu haben.
Mistreß Love näherte sich mir mit einem Negligégewand; plötzlich aber wendete sie sich zu der Dienerin und sagte: »Was ist das für grobe Leinwand? Haltet Ihr diese junge Dame denn für ein Schenkmädchen? Tragt diese Lappen fort und bringt Hemden und ein Negligé von Battist.« Die Dienerin entfernte sich. Ich sah ihr erstaunt nach und suchte mich wie eine antike Statue mit meinen beiden Händen zu verschleiern. Mistreß Love fing an zu lachen. »Ah,« sagte sie, »Sie kommen wohl aus einem Pensionat für junge Damen? Wenn dies der Fall ist, so hätten Sie mir es sagen sollen. Dann hätte ich erst Handschuhe angezogen, ehe ich Sie berührt hätte, und würde nur in gedämpftem Tone mit Ihnen gesprochen haben. Stehen Sie jetzt gerade und halten Sie die Hände in die Höhe, damit das Blut abwärtsströme.«
»Aber, Madame –«
»Frieren Sie?«
»Nein.«
»Nun, dann lassen Sie sich um alles andere unbesorgt und gestatten Sie mir, Sie mit Muße zu betrachten. Ich sage es noch einmal, Sie sind schön, sehr schön.« Diese Lobsprüche fingen an mich zu beunruhigen, ohne daß ich jedoch einen wirklichen Grund zur Unruhe gehabt hätte.
»Ich bitte Sie dringend, Madame,« sagte ich »gestatten Sie mir, mich wieder anzukleiden.«
»Man muß Ihnen doch erst passende Wäsche bringen. Obschon Sie sich übrigens so zieren, so bin ich doch überzeugt, daß Sie sich in dem Kostüm, welches Sie jetzt tragen, schon mehr als einmal im Spiegel betrachtet haben, denn sonst wären Sie nicht Weib. Indes, hier ist Ihre Wäsche, Sie können sich nun ankleiden. Gestatten Sie mir, Ihnen bloß noch eins zu sagen, nämlich daß, wenn Sie keine Törin sind, Sie Ihr Glück in den Händen haben; verstehen Sie mich?« – »Ja, Madame, ich verstehe, obschon nicht ganz.« – »Nun gut denn, Miß Clarissa, dann wird man Ihnen jemanden schicken, der sich deutlicher erklären wird. Kleiden Sie sich jetzt nach Belieben und mit Muße an und wenn Sie etwas brauchen, so klingeln Sie. Man wird Sie nicht warten lassen. Auf Wiedersehen, mein Kind! Zieren Sie sich nicht, und alles wird gut gehen.«
Mit diesen Worten entfernte sich Mistreß Love zugleich mit der Dienerin, welche die Wäsche auf einen Stuhl gelegt hatte. Als ich allein war, blieb ich einen Augenblick gedankenvoll und unbeweglich stehen. Ich dachte nicht mehr daran, daß ich nackt war, oder vielmehr ich dachte daran, um einen Blick in den Spiegel auf mich selbst zu werfen. Mistreß Love hatte, wie mir wenigstens schien, mir kein übertriebenes Lob gespendet und ich konnte den Vergleich mit den schönsten Marmorwerken des Altertums in der Tat recht wohl aushalten. Endlich, langsam, und Stück um Stück bekleidete ich mich mit der Wäsche, welche den aristokratischen Ansprüchen der Königin Anna von Österreich genügt haben würde. Alle meine luxuriösen Instinkte waren wieder erwacht und unaufhörlich summten Mistreß Loves Worte in meinem Ohr:
»Wenn Sie nicht töricht sind, so haben Sie Ihr Glück in den Händen.«
Und ich breitete die Arme diesem versprochenen Glück entgegen und murmelte:
»So möge es denn kommen! Ich bin bereit, es zu empfangen.«
Ich muß ein sehr schwaches und leicht in Versuchung zu führendes Wesen sein, denn ich hatte endlich begriffen, an was für einem Ort ich mich befand. Ich hatte das schändliche Handwerk erraten, welches meine freche Wirtin betrieb. Ich wußte, daß die Bewunderung, welche sie mir zollte, die des Roßkamms für das Pferd war, welches er kaufen oder verkaufen will, und bei dem Anblick meiner erfrischten Schönheit, bei der Berührung dieser feinen schmeichelnden Wäsche fand ich die Hoffnung wieder und erwachte wieder zum Leben.
In dem Augenblicke, wo ich mich in mein weites Negligé gehüllt und mit den nackten Füßen in allerliebste kleine seidene Pantoffeln gefahren war, sah ich meine Tür sich öffnen und man brachte einen vollständig gedeckten Tisch mit zwei Kuverts herein. Der Tisch trug eine Art Komfort und selbst Reichtum zur Schau. Ziseliertes Silbergeschirr, chinesisches Porzellan, holländische Leinwand – nichts fehlte. Nun war, wie ich schon bemerkt, dieser Tisch nicht für mich allein gedeckt. Das zweite Kuvert ließ auf einen unbekannten Gast schließen. Fortuna nahm, indem sie zu mir zurückkehrte, wieder ihre geheimnisvollen Gewohnheiten an, diesmal aber schien es, als benähme sie sich gegen die arme Emma ziemlich kavaliermäßig. Allerdings befand ich mich in einer so traurigen Lage, daß sie keine großen Rücksichten zu nehmen brauchte. Als der Tisch vor den Kamin gestellt war, öffnete die Tür sich wieder und ein Mann von vier- bis fünfundzwanzig Jahren trat ein. Derselbe war elegant gekleidet, obschon die Eleganz seines Kostüms mehr in dem Schnitt als in dem Stoff und in der Kostbarkeit seiner Kleider bestand. Er trug einen schwarzbesetzten Rock von granatfarbenem Sammet, eine gestickte Weste von weißer Seide, Beinkleider von Atlas und schwarzseidene Strümpfe. Ein weißes Halstuch, ein Hemd mit einem prachtvollen Busenstreif von englischen Spitzen, Schuhe mit Diamantschnallen und ein dreieckiger Hut mit schwarzer Seide garniert vervollständigten seine Toilette, welcher eine goldene Brille einen gewissen Charakter verlieh, der zwischen der Haltung eines Beamten und der eines Mannes der Wissenschaft schwankte. Als ich ihn erblickte, erhob ich mich zugleich verlegen und erzürnt. Da ich aber auch sofort einsah, daß das Haus und die Situation, in der ich mich befand, mir nicht das Recht gaben, mich gegen irgend jemanden zu »zieren«, wie Mistreß Love sagte, so sank ich zitternd in meinen Lehnstuhl zurück.
Der Unbekannte, welcher mich bald blaß, bald rot werden sah, begriff, welche Unruhe mich bewegte, und indem er sich mir mit ausgesuchter Höflichkeit näherte, sagte er: »Ich bitte um Entschuldigung, Miß, wenn ich vor Ihnen erscheine, ohne mich vorher anmelden zu lassen; ich möchte aber gern so bald als möglich erfahren, ob Sie eben so gut als schön sind.« Ich stammelte einige unverständliche Worte. Wie tief ich auch in diesen meinen Tagen des Mangels und Elends gesunken war, so war ich es doch noch nicht so weit, daß ich ohne Vorbereitung und ohne Übergang das Eigentum des ersten besten gewesen wäre. Wider Willen traten mir die Tränen in die Augen. »O,« rief ich, »dieses elende Weib! Sie hat keine Zeit verloren.« Der Unbekannte betrachtete mich mit einem gewissen Erstaunen und wie um sich zu überzeugen daß es wirklich aufrichtige Tränen wären, die ich vergösse.
»Miß,« hob er wieder an, »meine Erfahrung in bezug auf menschliche Physiognomien verrät mir auf den ersten Blick, daß ich es mit einer Person von Distinktion zu tun habe, die durch ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände, nach welchen ich nicht das Recht habe zu fragen, in eine falsche Stellung versetzt worden ist. Ich beeile mich daher, Sie zu beruhigen. Ich komme nicht, um mit Ihnen von Liebe zu sprechen, obschon Ihre Schönheit jede andere Konversation von Ihnen fern zu halten scheint.« – »Ach, Sir,« rief ich, »die Schönheit ist zuweilen ein sehr großes Unglück.« Der Unbekannte lächelte. »Sie ist,« sagte er, »ein großes Unglück, über welches ich die Frauen, die davon heimgesucht worden, sich sehr leicht trösten gesehen habe. Die Schönheit, Miß, ist die sich auf Erden offenbarende Gottheit. Gestatten Sie daher einem Apostel des großen allgemeinen Kultus, Ihnen seine Huldigung zu Füßen zu legen.« Ich lächelte trotz des pathetischen Tones, mit welchem der Unbekannte diese letzten Worte gesprochen hatte. »Verzeihen Sie, Sir,« antwortete ich, »ich glaube, Sie haben mir eben versprochen, nicht von Liebe zu sprechen.« – »Und inwiefern bin ich meinem Versprechen untreu geworden? Eine Huldigung ist keine Liebeserklärung.« Ich verstand immer weniger. »Nach dem, was Ihre Wirtin mir mitgeteilt hat,« fuhr der Unbekannte fort, »bedürfen Sie der Speise und des Trankes. Setzen Sie sich daher zu Tische und essen Sie. Ich werde neben Ihnen Platz nehmen, um Ihnen Gesellschaft zu leisten und ganz besonders, um die Ehre zu haben, Sie zu bedienen.« Ich konnte eine solche Einladung, besonders da ich buchstäblich vor Hunger ganz kraftlos war, nicht zurückweisen. Ich rückte meinen Stuhl an den Tisch. Der Unbekannte, welcher sich noch nicht gesetzt, rückte ebenfalls einen Stuhl an den Tisch und nahm mir gegenüber Platz. »Miß,« hob er dann an, indem er ein kaltes Huhn anspießte und es mit bewundernswürdiger Gewandtheit zu tranchieren begann, »ein lateinischer Dichter Namens Horaz sagt: ›Die Angelegenheiten, welche am leichtesten zu einem guten Resultat gelangen, sind die, welche man bei Tische verhandelt, denn der Wein ist für die Gedanken das, was das Wasser für die Pflanzen ist; er bringt sie zum Sprossen und Blühen!‹ Essen Sie daher und trinken Sie, besonders um Ihre Gefühle wieder in ein richtiges Gleichgewicht zu bringen. Dann wollen wir von dem Geschäft sprechen, welches mich hierherführt, und welches vielleicht für Sie und für mich eine Goldmine werden kann.« Indem er gleichzeitig einen Flügel von dem Huhn auf meinen Teller legte, füllte er mein Glas zur Hälfte mit vortrefflichem Bordeauxwein.
Der gebieterische Wille der physischen Bedürfnisse ist eine der größten Demütigungen für unsere arme Menschennatur, denn dadurch geben sich die Schwäche und Gebrechlichkeit derselben kund. Ich habe schon gesagt, welche Veränderung jenes laue Bad, jene milde Atmosphäre, jene seidenweiche Wäsche in mir hervorruft. Ein delikates Souper, welches mir von meinem Unbekannten mit aller Rücksicht serviert ward, die er gegen eine Herzogin an den Tag gelegt haben würde, gab mir so viel Ruhe und Heiterkeit zurück, als mit einer so unsicheren Lage wie die meinige verträglich war. Das Wichtigste hatte ich jedoch noch zu erfahren, nämlich die Geschäftsangelegenheit, welche der Unbekannte mir vorzutragen hatte. Wie oft ich ihn aber auch daran erinnerte, so ging doch die Mahlzeit vorüber, ohne daß er ein Wort davon gesprochen hätte.
Während dieser ganzen Zeit blieb er die personifizierte Artigkeit und Höflichkeit. Seine Konversation war die eines unterrichteten Mannes von Distinktion, obschon mit einem gewissen Anflug von Pedanterie, wie sie besonders Ärzten, Advokaten oder mit einem Worte Männern der Wissenschaft eigen zu sein pflegt.
Als das Souper beendet war, bat mein Tischgenosse mich um meine Hand. Ich reichte sie ihm; er faßte sie zwischen die seinigen, fühlte mir an den Puls und sagte: »Jetzt, Mademoiselle, wo in Ihren Empfindungen ein vollkommenes Gleichgewicht wieder hergestellt zu sein scheint, wo Ihr Puls regelmäßig seine achtundsechzigmal in der Minute schlägt, wo Ihr Magen mit Hilfe einer ruhigen und leichten Verdauung eine sanfte Wärme in Ihrem ganzen Körper verbreitet, wo folglich Ihr Hirn sich in dem geeignetsten Zustand befindet, um einen wichtigen Entschluß zu fassen, will ich Ihnen sagen, wer ich bin und welche Macht mich hierherführt.« Ich öffnete Augen und Ohren gleichzeitig. »Ich bin,« fuhr der Unbekannte fort, »der Doktor Graham, der Freund Mesmers und Cagliostros, der Demonstrator der megalanthropogenetischen Wissenschaft. Mein Ruf ist in London schon sehr groß und meine unbestreitbaren Erfolge haben mir den Weg zum Reichtum geöffnet.« – »Ach, Doktor,« sagte ich lächelnd, »ich freue mich sehr, die Bekanntschaft eines so ausgezeichneten Mannes wie Sie zu machen. Einer meiner Freunde, dessen Namen ich Ihnen nicht nennen kann, der aber auch ein Freund von Ihnen war, hatte mir immer versprochen, mich in eine der Sitzungen zu führen, welche Sie in Old Bailey gaben. Nicht wahr, dort hielten Sie Ihren Kursus?« – »Sehr richtig, Miß. Ich sehe, daß ich mich nicht irrte, als ich Sie gleich auf den ersten Blick für eine Person hielt, die durch ihren Geist einen eben so hohen Standpunkt einnimmt, als durch ihre Schönheit. Brauche ich Ihnen jetzt noch zu erklären, von welcher Art die wissenschaftliche Arbeit ist, mit welcher ich mich befasse?« – »Sie werden mir dadurch ein großes Vergnügen machen, Doktor, obschon ich weiß, daß diese wissenschaftliche Arbeit darin besteht, daß Sie an einer Wachsfigur in Lebensgröße die verborgensten Geheimnisse der Natur, von dem des Blutumlaufes bis zu dem noch verborgeneren der menschlichen Fortpflanzung, demonstrieren. Diese Wachsfigur, welche Sie die Göttin Hygiea getauft haben, liegt auf einem Bette, welches Sie das Bett Apollos nennen. Ist es so, Doktor?« – »Sie haben ganz recht, Miß. Wohlan, wenn meine Demonstrationen die Menge schon anlocken, wenn ich dieselben an einer einfachen Wachsfigur vornehme, bedenken Sie, wie noch viel ungeheurer der Andrang sein würde, wenn diese Demonstrationen mit einer lebenden Person vorgenommen würden, die mit einer so vollkommenen Schönheit wie die Ihre begabt wäre.« – »Aber, Doktor,« antwortete ich, »Sie, für den die Natur keine Geheimnisse hat, Sie müssen wissen, daß die Schönheit des Gesichtes nicht unbedingt von der Schönheit des Körpers begleitet ist und daß nur wenig Modelle, wie man sagt, als Muster für das Ensemble gelten können. Kleomenes mußte, wie ich von unterrichteteren Personen, als ich bin, sagen gehört, von fünfzig jungen Griechinnen die Schönheiten entlehnen, aus welchen er seine medizäische Venus zusammensetzte.« – »Gerade das ist es, was mich bis jetzt aufgehalten hat. Ich suchte dieses Modell; vor zwei Stunden glaubte ich noch, daß es nicht zu finden sei; gleichwohl aber bin ich ihm endlich in Ihnen begegnet.« – »In mir, Doktor? Erlauben Sie mir aber, Ihnen zu sagen, daß Sie von mir noch nichts weiter kennen, als mein Gesicht und daß ich von der Vollkommenheit, welche Sie suchen, hundert Meilen weit entfernt sein kann.« – »Da irren Sie sich, Miß,« hob der Doktor mit der größten Ruhe wieder an. »Eben weil ich weiß, daß Sie die Verschmelzung aller Schönheiten sind, komme ich, um Ihnen eine Assoziation anzutragen, die uns beide zum Reichtum führen wird.« – »Wie, Sie wissen es?« fragte ich mit immer größerem Erstaunen. »Wer hat es Ihnen denn gesagt?« – »Man hat es mir nicht gesagt, Miß, ich habe es gesehen.« – »Sie haben es gesehen? Wo denn und wie denn?« – »Mistreß Love, welche schon längst von mir beauftragt ist, die vollkommene Schönheit zu suchen, ließ mich von Ihrer Ankunft benachrichtigen und ich eilte herbei. Als Sie aus dem Bade stiegen, befand ich mich in dem Nebenzimmer. Ich sah Sie durch eine im Wandgetäfel angebrachte Öffnung, und Sie blieben lange genug in jenem Zustande, daß keine Ihrer Vollkommenheiten mir entgehen konnte. Was Mängel betrifft, so habe ich deren vergebens gesucht. Es war mir nicht möglich, auch nur einen einzigen zu finden.«
Ich stieß einen Ruf des Entsetzens aus. »Aber wissen Sie, daß Sie da etwas sehr Unrechtes getan haben, Doktor?« rief ich. – »Miß,« antwortete er ganz ruhig, »wenn ich die Ehre gehabt hätte, Sie vor zwei Stunden so zu kennen, wie ich Sie jetzt kenne, so würde ich mir nicht erlaubt haben, Sie auf diese Weise zu belauschen. Da ich Sie aber in dem Hause der Mistreß Love fand, da ich wußte, auf welche Weise Sie von dieser in Leicester-Square aufgenommen worden, so konnte ich nicht vermuten, daß ich da, wo ich einen einfachen böhmischen Kiesel zu finden erwartet, einem Diamanten begegnen würde.« – »O Doktor, Doktor!« rief ich. – Und ich barg das Gesicht in beiden Händen. Der Doktor wartete geduldig, bis ich die Hände wieder vom Gesichte nahm, und faßte sie dann in die seinigen.
»Hören Sie mich an,« sagte er, »der Zufall bietet Ihnen heute eine Gelegenheit, wie Sie nie wieder eine finden werden. Sie haben die Wahl zwischen langem Elend und Mangel und ewiger Schmach und einem raschen sicheren Reichtum, welcher keine andere Grenze haben wird, als Ihren Willen. Sie sind schön, Sie sind jung, Sie sind gebildet. Ehe Sie noch ein Jahr in diesem nichtswürdigen Haus verweilt haben, wird Ihre Jugend entschwunden, Ihre Schönheit verwelkt, Ihre Bildung untergegangen sein. Anstatt der öffentlichen Bewunderung eine Stunde für eine Summe zu schenken, welche nach Verlauf von drei Monaten Ihnen die Unabhängigkeit Ihres ganzen Lebens sichert, verkaufen Sie hier Ihre Tage und Ihre Nächte zu einem elenden Preise. Sie gehören dem ersten besten Trunkenbold. Sie sind das Spielwerk des ersten besten Matrosen, der eine Guinee in der Tasche hat; die Genossin verworfener Kreaturen, die Sklavin einer gemeinen Zwischenhändlerin. Bei dem Doktor Graham sind Sie die Göttin Hygiea; bei Mistreß Love sind Sie das Mädchen Heart. Hier gehört nichts Ihnen, nicht einmal der Hut, nicht einmal das Kleid, nicht einmal das Hemd, welches Sie auf dem Leibe tragen, während Sie auf dem Trottoir von Haymarket hin- und herwandeln. Dort, bei mir, werden Sie von heute an wieder Ihre entschwundene Größe aufbauen, von welcher Ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach nichts geblieben ist als der Ring, welchen Sie am Finger tragen. Sie scheuen sich wohl, vor den Blicken der Zuschauer sich im Zustand der Nacktheit zu zeigen? Dies würde ich begreifen, wenn Sie nicht so entzückend schön wären. ›Die Scham,‹ sagt ein mir befreundeter Philosoph, ›ist weiter nichts als das Gefühl einer Unvollkommenheit.‹ Sehen Sie doch die Tänzerin des großen Theaters. Ist sie unter ihrem Trikot und ihrem Tüllkleid bekleideter, als Sie unter Ihrem Gazeschleier hinter dem Geländer sein werden, welches verhindern wird, daß man in Ihre unmittelbare Nähe gelange? Es liegt, glauben Sie mir dies, in der Schönheit eine ehrfurchtgebietende Majestät und die bis zur Begeisterung gesteigerte Bewunderung schließt die Begierde aus. Urteilen Sie hierüber nach mir selbst. Ich sah Sie, als Sie aus dem Bade kamen, nicht wahr? Sie befinden sich hier in einem Hause, wo man bloß zu wünschen braucht, um zu besitzen. Was habe ich aber getan, nachdem ich Sie gesehen? Bin ich vielleicht ohne weiteres gekommen, um Ihnen zu sagen: ›Ich finde Sie nach meinem Geschmack; Sie müssen mir gehören?‹ – Nein, ich komme vielmehr, um ehrerbietig und das Knie vor Ihnen beugend zu sagen: ›Königin der Schönheit, wollen Sie, daß ich Ihnen einen Altar errichte?‹ Sie sprachen von jenen jungen Mädchen in Sparta und Athen, welche als einfache Sterbliche jede ihren Anteil zu der göttlichen Schönheit lieferten. Zögerten sie wohl, sich dem großen Künstler, der sie in der Gegenwart vergötterte und in der Nachwelt berühmt machte, nackt zu zeigen? Nein, mit Stolz und Freude warfen diese Mädchen selbst den letzten Schleier weg und suchten ihre geheimsten Schönheiten geltend zu machen. Als die Kurtisane Mnesarete wegen Ruchlosigkeit gegen die Götter in Athen verurteilt werden sollte, was tat ihr Verteidiger Hyperides? Er löste ihren Gürtel und ließ ihre Tunika fallen, so daß er sie auf diese Weise zwang, unvermutet und plötzlich ihren Richtern in ihrer niederschmetternden Schönheit zu erscheinen, und der Areopag erklärte sie hierauf nicht bloß für unschuldig, sondern sank auch auf die Knie nieder. Wohlan, auch für Sie gilt es jetzt, entweder zu ewiger Schmach verurteilt oder zur Königin gekrönt zu werden. Es liegt, glauben Sie mir, mehr Keuschheit darin, wenn man seine Tunika einmal täglich vor zweihundert Personen fallen läßt, als wenn man zehnmal täglich unter vier Augen mit dem ersten besten den Gürtel löst. Ich verlasse Sie jetzt, überlegen Sie sich, was ich gesagt habe. Ich bin von der Richtigkeit Ihrer Ansichten so überzeugt, daß ich nur an Sie selbst appelliere, und Ihres Zartgefühls so sicher, daß ich Ihnen das Honorar für fünfzehn Abende, zu fünfundzwanzig Pfund jeder, das heißt dreihundertundfünfundsiebzig Guineen hier lasse. Wenn Sie meine Anträge ablehnen, so werden Sie mir diese dreihundertfünfundsiebzig Guineen zurücksenden, und ich werde dann wissen, was dies zu sagen hat. Wenn ich bis übermorgen nichts empfange, so werde ich Sie dann in meinem Wagen abholen. Berechnen Sie, was fünfundzwanzig Guineen täglich ein Jahr lang oder auch nur sechs Monate, oder auch nur drei Monate ausmachen – zweitausendzweihundertfünfzig Pfund Sterling, beinahe ein Vermögen. Bedenken Sie, daß ich für diese ungeheure Summe von Ihnen weiter nichts verlange, als eine Stunde täglich, eine Stunde, während welcher Sie keine Gebärde zu machen und kein Wort zu sprechen brauchen, während welcher Sie die Augen schließen und zu schlafen scheinen, ja, wenn es sein muß, wirklich in magnetischem Schlafe befangen sein können. Ihr Gesicht wird mit einem Schleier bedeckt sein, der dicht genug ist, damit niemand, wenn er Ihnen den nächstfolgenden Tag begegnet, sagen könne: ›Dies ist die prachtvolle Statue, welche ich gestern gesehen.‹ Und nun, Miß Heart, reichen Sie mir Ihre schöne Hand zum Kusse. Ich entferne mich und ich hoffe.«
Und indem Doktor Graham auf meinem Tische vier Rollen, drei jede zu hundert und eine von fünfundsiebzig Guineen zurückließ, küßte er mir ehrerbietig die Hand, verneigte sich und verließ das Zimmer. Ich blieb erst stumm und beinahe unbeweglich sitzen. Meine einzige Bewegung bestand darin, daß ich dem Doktor mit den Augen folgte, bis die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte. Auf alles, was er mir gesagt, hatte ich kein Wort der Entgegnung gefunden, in meinem Gemüt aber fand ein gewaltiger Kampf statt. Die Gastfreundschaft, welche ich empfangen und die sich durch Mangel, Not, Obdachlosigkeit und Hunger bis zu einem gewissen Grade erklären ließ, war unerträglich. Wenn ich nur drei Tage lang davon Gebrauch machte und mich in die Folgen davon fügte, so ward mein ganzes Leben dadurch befleckt und hatte nicht einmal die Entschuldigung eines Gewinnes, der mit dem Opfer im Verhältnis gestanden hätte. Bei dem Doktor dagegen war, wie er gesagt hatte, die Nacktheit der Bildsäule durch den Schleier des Reichtums bedeckt. Ich spielte die Rolle der Danae, aber mit dem goldenen Regen, der in dieser Welt so vieles abwäscht. Auf der einen Seite handelte es sich um Entwürdigung, auf der andern nur um Keckheit. Ich streckte die Hand aus. Ich nahm die vier Rollen eine nach der andern in die Hand; ich öffnete sie, ich ließ die Guineen in meinen Schoß fallen, ich wühlte mit den Händen in diesem Gold, ich ließ es in klirrenden Kaskaden aus den Händen wieder in meinen Schoß herabregnen, bis ich davon geblendet war. Ich sagte mir, daß es bloß auf mich ankäme, zehn-, zwanzig-, ja hundertmal so viel zu haben, daß ja, da mein Gesicht verhüllt bleibe, mich niemand erröten machen könne, wenn er mich später wiedersähe. Ich sagte mir mit einem Worte alles, was der Stolz und die Notwendigkeit dem bedrängten wankenden Herzen eines menschlichen Wesens einflüstern können, welchem die Natur Instinkte eingepflanzt, gegen welche die Gesellschaft Gesetze gegeben und welches jung, schön, intelligent, vor Mangel und Hunger keine andere Zuflucht hat als die Prostitution. Das Ergebnis aller dieser Betrachtungen bestand darin, daß ich die dreihundertfünfundsiebzig Pfund Sterling dem Doktor Graham nicht zurückschickte. Am dritten Tage kam er demgemäß gegen elf Uhr morgens, wie er versprochen, um mich in seinem Wagen abzuholen. Noch denselben Abend lag ich, das Gesicht mit einem dichten Schleier und den Körper mit einem durchsichtigen Schleier bedeckt, in dem magnetischen Schlafe, den ich gegen mein empörtes Schamgefühl zu Hilfe gerufen, auf dem Apollobette und diente dem Doktor Graham als Subjekt bei seinen megalanthropogenetischen Demonstrationen.
Nur London, dieses eigentümliche Gemisch von erkünstelter Verschämtheit und wirklicher Schamlosigkeit, erklärt das ungeheure Aufsehen, welches diese menschliche Schaustellung machte, welcher die Polizei, die in allen andern zivilisierten Ländern der Welt eingeschritten sein würde, nicht das mindeste Hindernis in den Weg legte. Man schlug sich buchstäblich, um Eingang zu erzwingen, und obschon der Eintrittspreis ein Pfund Sterling betrug, so war doch der Salon, in welchem der Doktor Graham seine Vorlesungen hielt, alle Abende gefüllt. Sobald als die Zuschauer fort waren, weckte mich der Doktor. Ich kleidete mich wieder an, wir soupierten gemeinschaftlich und zogen uns dann jedes in sein Zimmer zurück. Niemals – ich muß dieses sagen – richtete während der zwei oder drei Monate, die ich bei ihm blieb, der Doktor auch nur ein Wort an mich, welches nicht ein Beweis von Sympathie und Achtung gewesen wäre.
Mir, die ich vor Gott geschworen, alles zu sagen, kommt es nun zu, den Leser in die geheimsten Tiefen, ich will nicht sagen des Frauenherzens, denn Gott bewahre mich davor, der Ausdruck meines ganzen Geschlechts sein zu wollen, wohl aber eines Frauenherzens hinabsteigen zu lassen. Auch Rousseau hat in seinen »Bekenntnissen« nicht die Menschen, sondern den Menschen gemalt, und dieses Werk gilt trotz der seltsamen Enthüllungen, welche es enthält, für ein schönes Buch. Ich möchte, indem ich keines der Geheimnisse meines Herzens den Augen des Physiologen entziehe, ein Buch schreiben, welches dem Rousseaus nicht den Rang streitig macht, wohl aber mit demselben wetteifert.
Ich komme demgemäß zu einem neuen Geständnis.
Alle Abende beim Souper erzählte mir der Doktor, ohne Zweifel damit ich nicht auf den Einfall käme, den Lauf seiner einträglichen Sitzungen zu unterbrechen, die einstimmigen Lobsprüche, welche an dem Bett, auf welchem ich ruhte, laut wurden, Lobsprüche, die für mich nicht einmal ein eitles Geräusch waren, denn die Schwere meines Schlafes konnte durch kein Geräusch, von welcher Art es auch sein mochte, durchdrungen werden. Die Folge hiervon war, daß, weil mir fortwährend gesagt ward, selbst Venus habe in dem Netz, in welchem ihr Gemahl sie gefangen hielt, unter den Göttern des Olymps keine größere Bewunderung erregt als die, welche ich bei den Bewohnern der Erde erweckte, endlich in mir der Wunsch entstand, mit meinen eigenen Ohren jene berauschende Melodie zu hören, welche man das Lob nennt.
Ebenso wie alle meine Wünsche, ward auch dieser sehr bald unüberwindbar und da er selbst, ohne daß ich den Doktor davon zu unterrichten brauchte, leicht zu befriedigen war, so beschloß ich, ihm Raum zu geben. Demzufolge tat ich am dritten oder vierten Tage gleich bei den ersten magnetischen Strichen, die Doktor Graham machte, als ob ich fest schliefe, und mit geschlossenen Augen, aber offenen Ohren und das Gesicht mit dem Battisttuche bedeckt, wodurch es den Blicken der Zuschauer entzogen ward, schickte ich mich an, jene Reihe glühender Lobsprüche zu hören, welche, wie der Doktor vorgab, meine Schönheit den Bewunderern der Form abnötigte. Graham hatte durchaus nicht zu viel gesagt. Niemals stieg das Lob in duftigerem Weihrauch auf dem Altar der Göttin von Gnyda und Paphos empor, als um die Estrade herum, auf welcher ich lag. Es war als ob jeder Bewunderer erriete, daß mein Schlaf ein verstellter sei und daß ich hören könnte, so daß er das Lob in der Hoffnung übertriebe, den Lohn dafür zu erhalten. Ich trank das süße Gift bis auf den letzten Tropfen. Von diesem Augenblicke an nahm ich mir vor, wach zu bleiben. Das Honorar an Lobsprüchen hatte für mich mehr Wert als das an Geld.
Was den Doktor betraf, so machte er so glänzende Einnahmen, daß er, ohne daß ich es von ihm verlangte, das Honorar für meine Sitzungen verdoppelte und ich jeden Abend, anstatt fünfundzwanzig, nun fünfzig Pfund erhielt. Fünf oder sechs Abende vergingen in jenem Rausche, von welchem jeder Erfolg begleitet zu sein pflegt. Mitten in dieser Sitzung aber drang mir ein Wort wie ein spitziges Eisen in das Herz, so daß ich zusammenzuckte. »Wie schade,« sagte eine Stimme, »daß ein wahrscheinlich häßliches Gesicht eine so seltene Vollkommenheit der Formen verunziert.« – »Warum glauben Sie, daß diese prachtvolle Statue ein ihres Körpers unwürdiges Gesicht habe?« fragte eine zweite Stimme. »Graham sagt im Gegenteile, dieses Gesicht sei von vollendeter Schönheit,« – »Wenn dies der Fall wäre,« sagte die erste Stimme, »würde er es denn wohl so sorgfältig verhüllen?« – Die zweite Stimme fand ohne Zweifel diese Bemerkung so richtig, daß sie nichts darauf antwortete. Am zweiten und am drittnächsten Tage wurden andere dergleichen Bemerkungen gemacht, welche meiner Eigenliebe die furchtbarsten Qualen bereiteten. Der Doktor Graham sah mir an meiner mürrischen Miene wohl an, daß mir etwas im Kopfe herumging, was ich nicht gestehen wollte. Er befragte mich mit seiner gewohnten Artigkeit, aber ich gab ihm keine Erklärung.
Es verbreiteten sich in London in bezug auf mein Gesicht die widersprechendsten Gerüchte. Niemand wollte sich an die natürliche Ursache halten. Die einen sagten, sie wüßten aus guter Quelle, daß ich durch die Blattern entstellt worden, die andern, daß eine breite Brandwunde eine meiner Wangen durchfurche. Alle diese Behauptungen hörte ich und es erwachte in meinem Herzen eine förmliche Wut darüber. Ich träumte den Augenblick, wo die von mir angesammelte Summe bedeutend genug sein würde, um mich der weiteren Fortsetzung dieser Schaustellung zu überheben, an deren schmachvolle Seite ich mich gewöhnt, während ich mich an die zweifelhafte Seite derselben nicht gewöhnen konnte. Endlich eines Tages, als eine Diskussion dieser Art sich wieder in meiner Umgebung entsponnen hatte, konnte ich nicht mehr an mich halten. Eine Bewegung warf das Battisttuch, welches mein Gesicht verschleierte, herab und meine Züge erschienen völlig unverhüllt. Die Augen waren geschlossen, auf den Lippen aber ruhte der Ausdruck herausfordernden Trotzes. Ein Ruf der Bewunderung ließ sich hören. Einen Augenblick glaubte ich, die Zuschauer würden in ihrem Enthusiasmus das Geländer niederbrechen. Der Doktor Graham sah sich genötigt, sich rasch zwischen sie und mich zu stellen.
Dieses Ereignis, welches die Wirkung des Zufalls zu sein schien, führte den Salons des Doktors eine neue Masse von Zuschauern zu. Noch denselben Abend war die Neuigkeit, daß ich von Gesicht eben so schön sei, wie von Körper, in aller Munde; den nächstfolgenden Tag stand sie in allen Zeitungen zu lesen. Ebenso getäuscht wie die andern brachte Doktor Graham das Herabfallen meines Schleiers ebenfalls auf Rechnung eines Zufalls, dieser hatte aber für ihn ein so wunderbares Resultat herbeigeführt, daß er mich bat, mir künftig meine Schaustellung mit unverhülltem Antlitz gefallen zu lassen. Ich tat, als ob ich seinen Bitten nachgäbe, während ich doch nur den Einflüsterungen meiner Koketterie folgte. Mein Erfolg stieg immer höher. Die Einnahmen des Doktors erreichten die höchste Ziffer. Nach Verlauf eines Monats hatte er eine Summe von beinahe dreißigtausend Pfund Sterling realisiert. Eines abends erschrak ich beim Klange einer Stimme, deren Ton mir nicht unbekannt war. »Sie ist es,« murmelte die Stimme. Einen Augenblick darauf fügte sie hinzu: »Sie ist noch schöner, als ich glaubte.« Ich wagte nicht; die Augen aufzuschlagen. Meine geschlossenen Augenlider waren der letzte Wall, hinter welchen sich meine Keuschheit geflüchtet hatte. Augenscheinlich war es jemand, der mich kannte, jemand, dem ich im Laufe meines vergangenen Lebens begegnet war. Wie sehr ich aber auch mein Gedächtnis zu Hilfe nahm, so erinnerte dieser Klang mich doch an keine der Personen, welche ich während meines Verhältnisses zu Sir Harry Featherson, oder zu Sir John Payne, oder auch später gesehen. Ich mußte daher noch weiter zurückgehen, zu Erinnerungen, welche der Zeit vor meiner Ankunft in London angehörten. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß die Stimme, die ich so eben gehört, die eines Mannes war.
Als die Sitzung geschlossen ward, blieb eine einzige Person hinter den anderen zurück. An ihrer Stimme erkannte ich in ihr die, auf deren Namen ich mich vergebens zu besinnen suchte. »Mein lieber Graham,« sagte sie, »Sie müssen von Miß Emma Lyonna durchaus die Gunst erlangen, um welche ich Sie bitte.« – »Erstens heißt die Person, von welcher Sie diese Gunst zu erlangen wünschen, nicht Emma Lyonna, sondern Miß Heart,« antwortete der Doktor.« – »Es ist wohl möglich, daß sie sich Ihnen gegenüber, lieber Doktor, Miß Heart nennt, für mich aber heißt sie Emma Lyonna. Auf alle Fälle stellen Sie mich ihr vor. Ich hoffe, daß sie mich nicht ganz vergessen haben wird.« – »Heute abend? Unmöglich!« – »Ich sage auch nicht heute abend, sondern morgen.« – »Nun gut denn, morgen.« – »Abgemacht.« – »Falls sie sich nämlich nicht weigert.« – »In diesem Fall habe ich natürlich weiter nichts zu sagen, ich hoffe aber, daß sie sich nicht weigern wird. Adieu, mein lieber Graham.« – »Adieu, mein lieber Romney,« Also Romney war es! Als der Doktor, nachdem er ihn hinausgeleitet, wieder zurückkam, fand er mich bereits angekleidet. Natürlich konnte ich nicht zuerst von Romney zu sprechen anfangen. Der Doktor hätte ja dann sofort gewußt, daß ich nicht geschlafen hatte. Während des Soupers brachte er die Sache jedoch selbst zur Sprache und fragte mich, ob ich einen Maler namens Romney kennte. Ich antwortete in gleichgültigem Tone, daß ich vor drei oder vier Jahren an den Ufern des Dee allerdings einem Maler dieses Namens begegnet wäre, welcher eine Skizze von mir gemacht und mir fünf Guineen für jedesmal geboten, wo ich mich dazu verstehen würde, ihm als Modell zu dienen. »Würden Sie sich dazu verstehen, ihn wiederzusehen?« fragte mich der Doktor. »Er befand sich heute abend unter der Zahl meiner Zuhörer. Er hat Sie erkannt und wünscht lebhaft, Ihnen vorgestellt zu werden. Ihr Porträt, von Romney gemalt, ist ein Paß, der Ihnen das Tor der Nachwelt öffnet.« Ich antwortete, daß ich ihn mit Vergnügen wiedersehen würde; da ich ihn aber über gewisse Dinge meiner Vergangenheit zu befragen wünschte, so wollte ich ihn bei mir und ohne Zeugen empfangen. Graham verneigte sich. »Sie wissen,« sagte er, »daß Sie unumschränkte Herrin Ihres Tuns und Lassens sind. Versprechen Sie mir bloß, daß, welchen Einfluß Romney auch auf Sie äußern möge, Sie sich doch nicht von ihm bestimmen lassen wollen, unsere Sitzungen vor Ablauf von zwei Monaten aufzugeben. In zwei Monaten werde ich ein Vermögen realisiert und die Freude haben, auch Sie auf lange Zeit vor Mangel gesichert zu sehen.« Ich gab Doktor Graham mein Wort, indem ich ihm einfach die Hand reichte. Er hatte sich gegen mich zu redlich benommen, als daß ich ihm nicht diesen Beweis von Dankbarkeit hätte geben sollen. Als ich am nächstfolgenden Morgen meiner Gewohnheit gemäß allein mit dem Doktor frühstückte, fand ich unter meiner Serviette zwei Diamant-Ohrgehänge, die jedes fünfhundert Pfund Sterling wert waren. Ich stand im Begriffe sie anzuprobieren, und mit dem Feuer, welches sie warfen, mich selbst zu blenden, als ich an der Tür jene fünf oder sechs lauten raschen Schläge vernahm, welche in London einen aristokratischen Besuch ankünden. Ich zweifelte nicht, daß es Romney sei. In der Tat öffnete sich fünf Minuten später die Tür und ich sah meinen alten Bekannten vom Ufer des Dee eintreten.
Ich hatte mir bereits gesagt, daß in Romneys Gegenwart nur eine große Unbefangenheit meine schiefe Stellung einigermaßen decken konnte. Hätte ich nach dem, was er am Abend zuvor gesehen, eine zurückhaltende Miene annehmen wollen, so wäre ich sehr töricht gewesen. Ich erhob mich daher bei seinem Eintritt, ging ihm entgegen, bot ihm mit dem Lächeln einer alten Bekannten die Hand und hieß ihn willkommen. »Meiner Treu, liebe Emma,« sagte er, »Sie bereiten mir fortwährend Überraschungen. Schon dreimal habe ich Sie gesehen. Zweimal glaubte ich, ich könnte Sie niemals schöner wiederfinden. Schon zweimal habe ich mich getäuscht und wahrscheinlich bin ich bestimmt, mich auch ein drittes Mal zu täuschen.« – »Wollen Sie mir eine Liebeserklärung machen?« fragte ich ihn. »Dann knien Sie gefälligst nieder. Wollen Sie aber bloß als Freund mit mir sprechen, so nehmen Sie gefälligst an meiner Seite Platz.« – »Da Sie die Sache so nehmen,« entgegnete Romney, »so erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich die Stellung eines Freundes erst dann einnehmen will, wenn ich die Hoffnung auf eine noch beneidenswertere verloren haben werde. Sehen Sie mich demgemäß zu Ihren Füßen, teure Emma. Ich sage Ihnen, daß Sie in der Tat das Schönste sind, was ich je auf Erden gesehen, und daß es in meinem Leben nur einen glücklicheren Tag geben wird, als den, wo ich Ihnen sage: Emma, gestatten Sie mir, Sie zu lieben, nämlich den, wo Sie zu mir sagen werden: Romney, ich liebe Sie.« – »Ich habe nichts dagegen, daß Sie mich lieben, mein bester Romney,« entgegnete ich. »Kommen Sie aber und lassen Sie uns plaudern. Ich muß nämlich von Ihnen selbst wissen, ob Sie mich noch würdig finden, Sie zu lieben, wenn ich Ihnen alles gesagt haben werde, was geschehen ist, seitdem mir uns gesehen.« – »Ah!« sagte er, »Sie begnügen sich nicht bloß damit, schön zu sein, sondern Sie besitzen auch Welt und Geist. Wollen Sie denn, daß ich geradezu den Verstand verliere?« – »Wenn dies der Fall wäre, so würde ich wahrscheinlich bloß die Hälfte der Arbeit zu verrichten haben, die andere Hälfte ist jedenfalls von Miß Arabella schon besorgt.« – »Haben Sie Miß Arabella wieder einmal gesehen?« – »Ich sage Ihnen ja, daß ich Ihnen eine ganze Beichte abzulegen habe. Hören Sie mich daher an.«
Und halb ernst, halb traurig, immer aber kokett, denn ich wollte ihm gefallen, erzählte ich Romney alles, was in meinem Leben seit dem Tage geschehen, wo ich ihn zum ersten Mal gesehen – wie ich ganz besonders in der Hoffnung, ihn wiederzusehen, nach London gekommen, wie ich, da ich ihn abgereist gefunden, Mr. Hawarden aufgesucht. Dann entrollte ich ihm die ganze seltsame Kette der Ereignisse meines Lebens und wunderte mich unaufhörlich, daß ich ihm nicht ein einziges Mal in jener Welt von Gentlemen und Künstlern begegnet war, die ich während der vierzehn oder fünfzehn Monate gesehen, welche ich bei Sir John und Sir Harry verlebt. Romney hatte seinerseits viel von mir sprechen gehört, ohne zu ahnen, daß die Rede von mir sei. Mein Auftreten als Ophelia und Julia hatte in der künstlerischen Welt Aufsehen gemacht und er hatte auch gewünscht, mich zu sehen. Sein ganz der Kunst und den Vergnügungen gewidmetes Leben hatte ihn jedoch nach andern Richtungen hingelockt, und waren wir uns auf diese Weise nicht begegnet. »Jetzt,« sagte Romney zu mir, »sind Sie zu reich, als daß ich mich erböte, Ihnen jede Sitzung mit fünf Guineen zu bezahlen, und Sie sind an der Reihe mir Almosen zu spenden. Sind Sie in bezug auf Ihr Herz und Ihre Person noch frei?« – »Ja, frei wie die Luft!« – »Und der Doktor Graham?« – »Dieser ist mein Impresario, weiter nichts. Ich stehe jedoch in einem Ehrenkontrakt mit ihm. Er hat mich dem Mangel und was noch schlimmer ist als dieser, der Schande entrissen und ich habe ihn dafür reich gemacht.« – »Wohlan,« sagte Romney, »es kann sich alles arrangieren. Sie werden Graham reich und mich berühmt machen. Später werden Sie in Ihren weichherzigen Augenblicken überlegen, ob Sie nicht gleichzeitig mein Glück machen können. Es würde dann wenig Existenzen geben, welche besser angewendet wären, wie die Ihrige.« Wir verabredeten, daß ich schon den nächstfolgenden Tag auf eine Stunde nach Cavendish Square in Romneys Atelier gehen und dieser eine Reihe Studien nach mir beginnen sollte. Wir verließen einander als zwei zärtliche Freunde, die nur noch einen Schritt zu tun haben, um ein Liebespaar zu werden. Es war lange her, daß mein armes Herz seine Beschäftigung gehabt hatte. Ich hatte für Romney stets große Sympathie gehegt, und ich war, wie ich ihm gesagt, von allen Verbindlichkeiten frei.
Obschon er beinahe fünfundvierzig Jahre alt war, so besaß er doch die dreifache Jugend der Kraft, der Eleganz und des Rufes.
Mehr konnte selbst eine Dame, die größere Ansprüche als ich hätte machen können, nicht wünschen. Ich konnte einen Augenblick glauben, daß ich Romney liebte, oder vielmehr ihn lieben würde.
Am nächstfolgenden Tag ging ich zu der verabredeten Stunde zu ihm. Er erwartete mich mit allen jenen kleinen Vorbereitungen, die man trifft, wenn man eine ersehnte Dame erwartet. Das Zimmer war mit Blumen und weichen Teppichen geschmückt. Ein prachtvolles Tigerfell war in eine Estrade gearbeitet, welche der glich, die ich bei dem Doktor Graham einnahm. Ein Kranz von Weinlaub erwartete augenscheinlich eine Erigone. Von dem Augenblicke an, wo ich bei Romney war, von dem Augenblicke an, wo ich nicht bloß freiwillig, sondern auf einen von mir selbst ausgesprochenen Wunsch hierherkam, wäre es lächerlich von mir gewesen, ihm etwas von dem, was er von mir erwartete, zu verweigern. Gleich am ersten Tage und innerhalb zwei Stunden entwarf er eine prachtvolle Skizze. Wir haben in England wenig Maler, beinahe alle aber, die wir haben, verstehen sich trefflich auf das Kolorit und Romney nimmt unter diesen den ersten Rang ein. Als ich wieder nach Hause kam, fand ich den armen Doktor Graham ein wenig unruhig. Seitdem er mich aus dem Hause in Haymarket mit in das seine genommen, war es das erstemal gewesen, daß ich letzteres verlassen. Ich beruhigte ihn über das, was ihn vor allen Dingen interessierte, das heißt über die Gewißheit, die ich ihm gab, daß ich mein verpfändetes Wort halten würde. Ich sagte ihm, was er schon wußte, weil Romney es ihm schon vor mir gesagt, nämlich, daß ich den berühmten Künstler seit langer Zeit kannte. Auch verschwieg ich ihm nicht die Herzensverbindlichkeiten, welche ich soeben mit ihm eingegangen war.
So verlebte ich drei Monate und schenkte dem Doktor Graham einen Monat mehr, als er von mir verlangte. Während dieser drei Monate machte Romney eine ganze Reihe Studien nach mir. Er beendigte die angefangene Erigone und fertigte eine Venus, eine Kalypso, eine Helena, eine Judith und eine Rebekka. Gegen die Mitte des vierten Monats verkündete der Doktor das Ende seiner Vorlesungen. Er hatte beinahe hunderttausend Pfund Sterling verdient. Die letzten Sitzungen waren auf so wahnsinnige Weise besucht, daß die Zuhörer einander fast erdrückten. Ich selbst hatte auf diese Weise acht- bis zehntausend Pfund Sterling erworben. Graham bot mir die Hälfte der Einnahme, wenn ich ihm auch noch ferner meine Mitwirkung leihen wollte. Ich weigerte mich. Ich ward dieser Schaustellungen müde; ich sehnte mich, wieder ein wenig dem Vergnügen zu leben. Noch nie war ich so reich gewesen, und ich glaubte mein Reichtum könne nie ein Ende nehmen. Romney erbot sich, mich in seine Wohnung aufzunehmen und ich ging auf sein Anerbieten ein.
So verbrachten wir drei Monate in der vollkommensten Eintracht. Romney empfing die ganze elegante Jugend von London in seinem Hause. Unter der Zahl seiner vornehmsten Gäste befand sich Lord Greenville, ein Nachkomme des alten edlen Geschlechts Warwick und derselbe, welchem Sir Harry bei den Wettrennen in Epsom zweitausend Pfund abgewonnen. Mitten unter den Huldigungen, die mir von allen Seiten dargebracht wurden, waren die seinigen die eifrigsten und, wie ich nicht umhin kann zu sagen, die ehrerbietigsten.
Als leidenschaftlicher Bewunderer der Formen hatte Romney mich in allen Stellungen der Antike reproduziert. Lord Greenville blieb ganze Stunden vor diesen Gemälden sitzen. Einige Monate lang gab seine Liebe sich nur durch die Bewunderung der Kopien und den Beifall kund, welche er dem Originale schenkte, wenn ich irgendeine historische Attitüde nachahmte, oder wenn ich eine Szene von Shakespeare deklamierte. Eines Abends, als ich den Monolog gesprochen, welchen Julia hält, ehe sie den betäubenden Trank zu sich nimmt, näherte er sich mir und sagte, indem er den Augenblick benützte, wo man ihn weder sehen noch hören konnte. »Sie müssen mein werden, Emma, oder ich verliere den Verstand.« Ich sah ihn an und lachte. »Bei meiner Ehre,« fuhr er fort, »ich spreche in allem Ernste.« – »Auf Ihr Wort als Edelmann?« – »Ja, auf mein Wort als Edelmann.« – »Nun, dann kommen Sie in einem Augenblicke, wo ich allein bin,« antwortete ich ihm. »Dann wollen wir weiter darüber sprechen.« – »Und zu welcher Stunde soll ich kommen, um Sie allein zu finden?« – »Das ist nicht meine Sache. An Ihnen ist es, aufzupassen, wenn Romney das Haus verläßt, und dann diesen Umstand zu benützen.« – »Gut,« sagte er. »Mehr verlange ich nicht von Ihnen.«
Am drittnächsten Tage sah ich ihn in dem Augenblicke in das Haus kommen, wo Romney dasselbe verlassen. »Da bin ich,« sagte er zu mir mit bewegter Stimme, indem er sich mir zu Füßen warf. – »Mylord,« sagte ich zu ihm, »wenn Sie mir zu Füßen liegen, dann können wir nicht über eine Angelegenheit sprechen die so wichtig ist wie die, über welche wir verhandeln wollen. Setzen Sie sich daher neben mich und lassen Sie uns plaudern.« – Lord Greenville sah mich mit erstauntem Blicke an. »O, Miß Emma, ich glaubte von Ihnen weniger kalt empfangen zu werden.« – »Warum aber sollte ich Sie anders empfangen?« entgegnete ich. »Ich liebe Romney, aber nicht Sie, wenigstens nicht in der Bedeutung, welche ich Ihrem Wunsche gemäß diesem Wort geben soll.« – »Und werden Sie mich niemals lieben?« –
»Das will ich nicht gerade gesagt haben, Mylord. Die Liebe besteht aus zwei Elementen oder vielmehr ich sollte sagen, sie besteht aus zwei Arten von Liebe – aus der Liebe, welche sich der Sinne eines Weibes auf den ersten Blick bemächtigt und welche der Schlag des sympathischen Funkens ist, und der Liebe, welche das Herz eines Weibes allmählich erfüllt und die das Ergebnis angenehmer Beziehungen und guten Einvernehmens ist. Wie jung ich auch bin, Mylord, so habe ich schon diese beiden Gattungen Liebe kennengelernt, und der Mann, welcher auf die zweite Weise geliebt worden, ist nicht der gewesen, der sich über seinen Anteil am meisten zu beklagen gehabt hätte. Wenn ich Sie auf die erste Weise hätte lieben sollen, so wäre es schon geschehen und ich würde es Ihnen sagen. Ich würde selbst Romney augenblicklich um Ihretwillen verlassen, denn die Sehnsucht eines Weibes nach einem andern Manne ist schon eine Untreue. Sie sind jedoch jung, schön, reich, von vornehmer Familie – ich kann Sie daher lieben, nicht wie ich Harry Featherson geliebt habe, sondern wie Sir John Payne und Romney von mir geliebt worden sind.« – »Ich glaube,« entgegnete Sir Charles Greenville, »es gibt ein französisches Sprichwort, welches sagt: Von einem bösen Schuldner muß man nehmen, was man kriegen kann. Ich werde mich diesem Sprichwort unterwerfen.« – »Nur, Sir Charles,« hob ich wieder an, »will ich Ihnen eins bemerklich machen, nämlich, daß ein Schuldner etwas schuldet, während ich dagegen nichts schulde.« – »Sie haben viel Witz, Miß Emma, und ich habe unglücklicherweise immer sagen hören, daß allzuviel Witz dem Herzen schade.« – »Ich weiß nicht, ob ich Witz habe, denn es hat mir noch niemand etwas darüber gesagt, daß ich aber ein Herz habe, dies weiß ich, denn unglücklicherweise hat dieses Herz gesprochen. Ich habe daher bis jetzt mehr meinem Herzen als meinem Witz zu mißtrauen gehabt. Erlauben Sie, daß diesmal mein Herz meinen Witz beauftrage, seine Angelegenheiten zu besorgen.« – »Ich höre, Miß Emma, ich gestehe aber, daß ich schaudere, indem ich Ihnen zuhöre.« – »Noch ist's Zeit. Machen Sie es wie Ulysses. Entweder vermeiden Sie das Vorgebirge der Circe, indem Sie Ihren Lotsen: ›Hinaus ins hohe Meer!‹ zurufen oder verstopfen Sie die Ohren mit Wachs.« – »Nein, ich will lieber Ihre Stimme hören und es auf die Gefahr, in ein Tier verwandelt zu werden, ankommen lassen. Übrigens sehen Sie, da ich Sie nach dem, was Sie mir gesagt haben, immer noch anhöre, so ist die Metamorphose schon halb bewirkt.« – »Nicht übel! Sie sind auch ein Mann von Witz, Mylord. Ich sehe, daß wir uns verstehen werden. Jetzt lassen Sie mich ausreden.« – »Ich höre Sie.«
»Ich bin beinahe zwanzig Jahre alt. Ich bin in einem Dorfe geboren und habe die Instinkte meiner Geburt überwunden. Ich habe keine Erziehung erhalten, Intelligenz, Lektüre und ein gutes Gedächtnis haben jedoch diesem Mangel abgeholfen. Ich habe Fehltritte begangen, ich bin gefallen, aber ich habe mich wieder erhoben. Ich bin arm und elend gewesen, ich habe Hunger und Durst gelitten; ich habe kein Obdach gegen Regen, Wind und Kälte gehabt, und jetzt bin ich in Sammt gekleidet, ich wohne umgeben von Meisterwerken der Kunst und ohne reich zu sein, kann ich, wenn ich bloß tausend Franks monatlich ausgebe, auf mein ganzes noch übriges Leben gegen Mangel geschützt sein. Wenn ich dem Doktor Graham noch drei Monate Sitzungen bewilligen wollte, so würde ich Millionärin. Ich habe aber nicht gewollt. Romney gefiel mir, und ich zog es vor, mich ihm zu geben.« – »Haben Sie bloß, um mir zu sagen, daß Romney so glücklich ist, von Ihnen geliebt zu werden, mich eingeladen, Sie zu besuchen, wenn er nicht zu Hause sein würde?« – »Ja wohl, sehr richtig! Da ich mit Ihnen von ernsthaften Dingen zu sprechen habe, denn es wird davon Ihre Zukunft oder die meinige abhängen, so muß ich mich gegen Sie mit aller Freimütigkeit aussprechen.« Sir Charles stieß einen Seufzer aus. – »Wollen Sie lieber den Verstand verlieren?« fuhr ich fort. – »Ich verstehe Sie nicht.« – »Haben Sie mir nicht gesagt: Sie müssen mein werden, Emma, oder ich verliere den Verstand?« – »Ja, das ist wahr.« – »Nun, da ich nur unter gewissen Bedingungen Ihnen gehören kann, so muß ich Sie von diesen Bedingungen in Kenntnis setzen.« – »Nun, dann nennen Sie dieselben.« – »Meine Situation ist, wie ich Ihnen bereits angedeutet, folgende: Ich habe Romney ohne große Liebe genommen, aber wie man einen liebenswürdigen Mann nimmt – um nicht mehr allein im Leben zu stehen, um mich auf etwas zu stützen. Romney liebt mich und ich hänge mit großer Zuneigung an ihm. Unser Leben ist angenehm, ich habe keinen Grund, es aufzugeben, ich müßte es denn – hören Sie wohl – um einer sozialen Stellung willen tun. Ich meine damit nicht in pekuniärer, sondern eben nur in sozialer Beziehung. Lieben Sie mich wirklich hinreichend, um den Verstand zu verlieren? Wenn dies der Fall, so lieben Sie mich auch hinreichend, um mich zu heiraten.«
Sir Charles Greenville hüpfte auf seinem Stuhl empor. »Sie zu heiraten?« rief er. Ich erhob mich und machte ihm eine tiefe Verbeugung. »Mylord,« sagte ich zu ihm, »wenn Sie geneigt sein werden, diesen Antrag anders als dadurch zu beantworten, daß Sie vor Überraschung auf dem Stuhle emporhüpfen, so werde ich die Ehre haben, Sie zu empfangen. Bis dahin gestatten Sie, daß ich mich der Ehre Ihrer Unterhaltung und des Vergnügens Ihrer Gegenwart beraube.« Hierauf verneigte ich mich abermals und begab mich in mein Zimmer, indem ich den Lord allein in dem Atelier zurückließ. Es vergingen drei oder vier Tage, ohne daß ich ihn wiedersah.
Romney fuhr fort vollkommen gut und freundlich gegen mich sein. Ich befriedigte als Geliebte seine Eigenliebe und als Modell seinen Kunstsinn, denn seine ausgezeichnetsten Leistungen auf dem Gebiete der Malerei datierten aus der Zeit unseres Verhältnisses. Er war zu jener Zeit so sehr in Aufnahme, daß er, so verschwenderisch er auch war, doch sich selbst zum Trotz jeden Tag zwanzig bis fünfundzwanzig Guineen auf die Seite legte, obschon er vier Pferde im Stalle, zwei schöne Equipagen und drei oder vier Diener hielt.
Dreimal wöchentlich empfingen wir Gesellschaft. Die drei andern Abende fuhren wir spazieren oder ins Theater.
Unser Verhältnis besaß alle Reize der Sympathie ohne die Stürme der Liebe.
Am vierten Tage, nachdem ich die Erklärung mit Lord Greenville gehabt, erschien er bei mir wieder. Ich empfing ihn gerade so, als ob nichts zwischen uns vorgefallen wäre. Ich fühlte mich von ihm weder angezogen noch abgestoßen. Ich hatte ihm Bedingungen gestellt, ohne zu wünschen, daß er sie annähme. Ich hatte es mehr getan, um ihm gegenüber einen klar bestimmten Standpunkt einzunehmen, als weil ich von dem Wunsche beseelt gewesen wäre, wirklich Lady Greenville zu werden. Er näherte sich mir mehrmals und sprach leise mit mir, da er aber die Frage nicht mit dürren Worten anregte, so konnte er mir kein Wort entlocken, welches Bezug auf den Zustand seines Herzens gehabt hätte. Mochte Romney nun einsehen, daß Eifersucht von seiner Seite lächerlich gewesen wäre, oder mochte er mir vertrauen, mir, die ich bei ihm blieb, ohne etwas von ihm zu verlangen und ohne etwas von ihm zu empfangen, oder mochte er endlich unser Verhältnis, so wie ich selbst tat, als etwas betrachten, was für keinen von beiden Teilen verbindlich wäre, und was nicht länger dauern dürfe, als es uns beiden angenehm sein würde – kurz, er schien durch die Aufmerksamkeiten, die man mir bewies, niemals beunruhigt zu werden.
Einmal hatte er zu mir gesagt: »Nicht wahr, darüber sind wir einverstanden, daß wir beide nicht so töricht sind, uns zu hintergehen? Ich bin als Liebender und als Maler doppelt glücklich, Sie zu besitzen; aber ich dränge mich durchaus nicht auf. Sie verstehen mich, nicht wahr? Ich werde wahrscheinlich nicht der erste sein, der unseres Verhältnisses überdrüssig wird; sollte dies jedoch geschehen, so würde ich es Ihnen sagen, überzeugt, daß Sie mir meine Freimütigkeit verzeihen, und daß mir gute Freunde bleiben würden. Von Ihrer Seite verlange ich dasselbe.«
Ich hatte ihm hierauf die Hand geboten und damit war alles gesagt. Ich war fest entschlossen, ihn von Lord Greenvilles Liebe zu mir zu unterrichten, sobald nämlich diese Liebe sich auf bestimmtere Weise kundgeben würde.
Um mir keinen Vorwurf zu machen zu haben, hatte ich mir dabei fest vorgenommen, von den Künsten der Koketterie in bezug auf Lord Greenville keinerlei Gebrauch zu machen.
Mit dem Instinkt des Weibes fühlte ich, daß ihm gegenüber gerade in dem Mangel an Koketterie meine hauptsächliche Macht bestünde und meinen Triumph über ihn sichern würde. Am nächstfolgenden Tage, als Romney sich zu Lady Craven, welche später die bekannte Marquise von Anspach ward, begeben hatte, weil sie ihm zu ihrem Porträt sitzen wollte, meldete der Diener Lord Greenville. Ich antwortete, daß ich bereit sei, ihn zu empfangen. Sehr bleich und sehr aufgeregt trat er ein. Ich lud ihn lächelnd durch eine Gebärde ein, neben mir Platz zu nehmen. »Teure Emma,« sagte er zu mir, »es ist mir unmöglich noch länger in der Ungewißheit zu verharren, in welcher ich mich befinde.«
»Ungewißheit?« wiederholte ich. »Ich sollte im Gegenteile meinen, daß es in der Welt keine bestimmtere Situation geben könnte, als die, welche ich Ihnen bereitet.« – »Wenn ich frei wäre, so würde ich nicht in Ungewißheit leben. Beinahe hätten Sie mich nicht wieder gesehen.« – »Wieso? Sollten Sie mit dem Gedanken umgegangen sein, sich das Leben zu nehmen? Warten Sie dann wenigstens bis zum Monat Oktober – dies ist die Zeit der Selbstmorde.« – »Nein, ich will mich in Ihren Augen nicht so verdient oder lächerlich machen. Hören Sie die einfache Wahrheit. Sie wissen, oder Sie wissen nicht, daß ich einen sehr reichen Onkel habe. Er ist mein Onkel, weil er in erster Ehe mit einer Schwester meiner Mutter vermählt gewesen ist. Er ist von Geburt Schotte und Milchbruder des Königs Georg des Dritten, ein alter Gelehrter, Archäolog, Geolog und was weiß ich sonst noch alles. Er heißt Sir William Hamilton, und ich erwarte von ihm mein ganzes Vermögen, denn an väterlichem Erbteil besitze ich nichts oder doch nur sehr wenig.« – »Aber, Mylord, wovon bestreiten Sie dann Ihre Ausgaben?« – »Von dem Gehalte des Amtes, welches ich im Ministerium bekleide. Sobald aber das Ministerium wechselt und Mr. Fox, der mein Universitätsfreund ist und mir wohlwill, nicht mehr Minister ist, so verliere ich die fünfzehnhundert Pfund Sterling Gehalt, welche mein Posten mir einbringt, und ich habe dann weiter keine Zuflucht, als eben meinen Onkel. Wohlan, liebe Emma, dieser Onkel hat mir geschrieben, um mir zu sagen, was ich Ihnen eben mitteile, und mir das Amt eines ersten Gesandtschaftssekretärs in Neapel und später nicht bloß die Nachfolge auf seinem Posten, sondern auch die Aussicht auf sein unermeßliches Vermögen zu bieten. Einen Augenblick lang bin ich unschlüssig gewesen, ob ich annehmen oder ablehnen soll. Ich habe aber gefühlt, daß es mir unmöglich sein würde, fern von Ihnen zu leben, und deshalb habe ich abgelehnt.« – »Da haben Sie sehr unrecht daran getan.« – »Und Sie haben den Mut, mir das zu sagen?« – »Ja. Durch Ihre Weigerung haben Sie eine erste Torheit begangen, und wenn Sie mich heiraten – denn, wenn es wirklich wahr ist, daß Sie um meinetwillen geblieben sind, so werden Sie mich heiraten – und wenn Sie mich heiraten, sage ich, werden Sie eine zweite begehen.« – »Sie sprechen nicht sonderlich trostreich, Emma.« – »Ich spreche die Wahrheit. Glauben Sie mir, Mylord; wenn der Brief an Ihren Onkel noch nicht fort ist, so zerreißen Sie denselben; ist er fort, so schicken Sie einen zweiten nach, welcher den ersten widerruft. Wenn wir einander heiraten, so würden wir beide ein schlechtes Geschäft machen. Ich würde vielleicht höhersteigen, Sie aber würden ganz gewiß sich tiefergestellt sehen.« – »Soll dies heißen, daß Sie das Versprechen, welches Sie mir gegeben, wieder zurücknehmen und daß ich, selbst wenn ich mich erbiete, Sie zu heiraten, von Ihnen nichts zu hoffen habe?« – »Davon sage ich kein Wort, Mylord. Mein Versprechen ist gegeben, und ich werde es halten.« – »Ach,« sagte Lord Greenville, »das Unglück ist, daß es mir nicht einmal freisteht, eine Torheit, wie Sie es nennen zu begehen. Mein Vater wird, ehe ich volljährig bin, mir niemals erlauben, daß ich eine andere heirate, als die, welche er mir selbst gewählt haben wird, und selbst wenn ich volljährig bin, werde ich, wenn ich nach meinem Gutdünken heiraten will, einen harten Stand mit ihm haben und das Gesetz zu Hilfe rufen müssen.« – »Wie alt sind Sie jetzt?« – »Erst zweiundzwanzig und ein halbes Jahr.« – »Aber, Mylord,« entgegnete ich lachend, »ich für meine Person finde im Gegenteile, daß sich dies sehr glücklich trifft. Während der dritthalb Jahre, die Sie noch bis zu Ihrer Volljährigkeit zurückzulegen haben, werden Sie Zeit haben, sich zu überzeugen, ob Sie mich wirklich lieben, und dann in dritthalb Jahren wird sich das Weitere finden.« – »Wie, Sie sehen, welche Qualen ich leide und können auf diese Weise über mich spotten?« – »Ich sehe gar nicht, daß Sie Qualen leiden. Ich höre, was Sie mir sagen; dies ist alles.« – »Und Sie glauben meinen Worten nicht.« – »Erinnern Sie sich dessen, was Hamlet zu Polonius sagte: Worte! Worte! Worte!« – »Glauben Sie an meine Ehre, Miß Emma?« fragte Lord Greenville in ernstem Tone. – »Mehr als an Ihre Liebe, Mylord.« – »Glauben Sie an mein Wort als Edelmann?« – »Auf so lange als nötig ist, um einem Schwure Zeit zum Verdunsten zu geben.«
»Dann glauben Sie also an gar nichts?« – »O doch, ich glaube an die Unbeständigkeit der menschlichen Dinge.« – »Gesetzt, Miß Emma, ich machte mich positiv verbindlich, Sie, sobald ich volljährig bin, zu heiraten.« – »Dies würde allerdings etwas ernsthafter sein, ohne jedoch positiver zu werden.« – »Wieso?« – »Weil eine Person in meiner Stellung keinen gerichtlichen Prozeß anhängig macht, wenn ein ihr gegebenes Eheversprechen unerfüllt bleibt.« – »Wenn ich aber mein Versprechen nun so abfaßte, daß ich ehrlos würde, wenn ich es nicht erfüllte?« – »Dann könnte man sich die Sache weiter überlegen.« – »Würden Sie dies tun?« – »Wenn ich das Versprechen hätte, vielleicht.« – »Gut, noch heute abend sollen sie es haben.« – »Führen Sie mich nicht in Versuchung, Mylord.« – »Miß Emma,« sagte Sir Charles, indem er sich erhob, »ich liebe Sie mehr als irgend etwas auf der Welt, und wenn Sie nur durch eine Heirat die Meine werden können, wohlan, so sollen Sie mein Weib werden.« – »Ich will Ihnen noch einen letzten Gefallen tun, Mylord. Ich werde weder heute abend noch morgen meine Briefe öffnen, so daß Sie bis übermorgen Zeit haben, Ihr Wort zurückzunehmen. Da ich zwei Monate gewartet habe, so kann ich auch noch vierundzwanzig Stunden warten.«
Lord Greenville küßte mir die Hand und entfernte sich. Er stand im Rufe der größten Redlichkeit, so daß ich, wenn auch an der Erfüllung seines Versprechens, doch nicht an seinem guten Willen zweifeln konnte. Ich meinerseits fühlte, daß ich, indem ich so handelte, wie ich tat, mich weder von einer eigennützigen Berechnung noch von einem ehrgeizigen Wunsche leiten ließ, sondern, daß ich vielmehr wieder in die Gewalt jener unerklärlichen und unbekannten Macht geriet, welche über mein Schicksal verfügte und mich vorwärtsdrängte, indem sie mich fast bei jedem meiner Schritte im Leben eine Stufe der sozialen Leiter erklimmen ließ. Allerdings war ich schon einmal gefallen und der Sturz war ein sehr tiefer gewesen. Dennoch aber hatte ich mich von demselben wieder erhoben, wenigstens in gewisser Beziehung. Sir Johns und Sir Harrys Liebe war nur die Verherrlichung meiner Schönheit, Romneys Liebe dagegen war die Weihe der Kunst. Ich sagte mir, daß die Geschichte selbst für die Kurtisanen ihre Stufen hat. Nachdem ich Phryne gewesen, war ich LaÏs geworden, und nachdem ich LaÏs geworden, blieb mir weiter nichts übrig, als bis zur Aspasia zu steigen. Aspasia, die Freundin des Sokrates und des Alcibiades, Aspasia, die Gemahlin des Perikles, die das Gewicht ihres Wortes in die Angelegenheiten Griechenlands warf und über die Kriege von Samos, Megara und des Peloponnes entschied – Aspasia war mehr als eine gewöhnliche Kurtisane. Wohlan, ich weiß nicht welche Stimme mir leise zuflüsterte, daß es für mich nicht genug sei, LaÏs zu sein, sondern, daß ich auch Aspasia werden würde.
Romney trat ein. Er war zu sehr mein Freund, als daß ich ihm etwas von dem Geschehenen verschwiegen hätte. »Mein lieber Romney,« sagte ich zu ihm, »welchen Rat würden Sie einer Frau in meiner Stellung geben, welche Gelegenheit findet, einen künftigen Pair von England zu heiraten und Mylady zu werden?« »Ah!« sagte Romney, »hat Lord Greenville sich vielleicht endlich erklärt?« – »Sie hatten wohl bemerkt, daß er mich liebt?« – »Wie sollte ich das nicht bemerkt haben.« – »Gleichwohl aber haben Sie nie etwas davon gesagt.« – »Ich war überzeugt, daß Sie, sobald der geeignete Augenblick gekommen wäre, mir selbst davon sagen würden.« – »Mein lieber Romney, Sie sind ein liebenswürdiger Mann, und in der Tat, ich glaube, ich werde niemals den Mut haben, mich von Ihnen zu trennen.« – »Ja, liebe Emma, Sie können in der Tat überzeugt sein, daß wir niemals werden getrennt werden.« – »Aber dennoch, wenn ich Lord Greenville heirate?« – »Nicht die Körper sind es, die sich trennen, sondern die Seelen. Wird von dem Augenblicke an, wo Sie sich mit Vergnügen meiner erinnern und wo ich Ihrer mit Wonne gedenke, dies nicht die wahre wirkliche Gegenwart und, wie die Kirche in ihrer symbolischen Sprache sagt, die Gemeinschaft der Seelen sein? Fünfhundert, ja tausend Meilen voneinander entfernt, werden wir einander vielleicht mehr gegenwärtig sein, als Leute, die einander niemals verlassen haben.« – »Sie sprechen wie ein platonischer Philosoph, Romney.« – »Die Alten sagten: Wer jung stirbt, wird von den Göttern geliebt. Wohlan, ich habe immer geglaubt, daß es eine reizende Liebe sein müßte, welcher man nicht Zeit ließe alt zu werden, welche man in ihrer Blüte gepflückt und in eine Erinnerung eingesargt hat, so daß sie im Vergleich zu jeder andern jung und frisch bleibt, wie die Morgenröte des Frühlings.« – »Dann, meinen Sie also, Romney.« – Ich redete nicht aus. »Ich meine, daß Sie Ihrem Schicksal folgen, Emma.« – »Sie glauben also, daß ich einst die Gemahlin eines Pairs von England sein werde?« – »Was Sie sein werden, weiß ich nicht, wenn man mir aber nach einer Abwesenheit von vier oder fünf Jahren bei meiner Rückkehr sagte, daß Sie Königin von Großbritannien geworden seien, so würde mich dies nicht in Erstaunen setzen. Ich wäre nicht Romney, das heißt ich wäre nicht der erste Maler Englands, wenn ich nicht an die Allmacht der Schönheit glaubte.« – »Romney, es ist seltsam, aber was Sie mir da sagen, hat eine innere Stimme mir schon oft gesagt. Romney, ich gestehe ihnen beinahe mit Schrecken, ich glaube an mein Fatum.« – »Nun, dann folgen Sie diesem Fatum. Wenn es in dem Willen der Vorsehung beschlossen ist, so wäre es ruchlos, dagegen zu kämpfen.«
Am Abend empfing ich Lord Greenvilles Brief, aber, wie gesagt, ich öffnete denselben nicht. Sein Ungestüm erlaubte ihm nicht zu warten, und am Abend kam er selbst. Ich zeigte ihm den noch versiegelten Brief. Was Romney betraf, so war dieser gegen ihn so freundschaftlich wie gewöhnlich, vielleicht noch freundschaftlicher. »Wann werde ich Antwort von Ihnen erhalten?« fragte Lord Greenville. – »Morgen vormittag.« – »Gebe Gott, daß sie meinen Wünschen entspreche,« sagte Lord Greenville.
Am nächstfolgenden Morgen öffnete ich seinen Brief. Derselbe enthielt weiter nichts als die Worte: »Ich mache mich bei meiner Ehre verbindlich, Miß Emma Lyonna, sobald ich das Alter der Volljährigkeit erlangt haben werde, zu heiraten und will mich als Mann ohne Ehre betrachten lassen, wenn ich meinem Versprechen untreu werde.
1. Mai 1780. Lord Greenville.«
Ich zeigte Romney den Brief. »Zögern Sie auch nicht eine Minute lang,« sagte er zu mir. »Ihr Glück beruht in diesen vier Zeilen und sollte Lord Greenville jemals seinem Wort untreu werden, so würde ich die Aufgabe übernehmen, ihn als Ehrlosen zu brandmarken.« – »Dann behalten Sie diesen Brief,« sagte ich zu Romney. »Er ist in Ihren Händen besser aufgehoben als in den meinigen.« – »Von diesem Augenblicke an, liebe Emma,« sagte Romney, indem er meinen Brief in die Schatulle schloß, worin er seine kostbarsten Kleinodien verwahrte, »sind Sie meine Schwester und ich bin Ihr Bruder. Wenn mir ein Unglück zustieße, so würde ich dafür sorgen, daß dieser Brief Ihnen wieder zugestellt würde. Übrigens können Sie denselben, da er an Ihre Adresse lautet, zu jeder Zeit reklamieren.« – Ich begab mich in ein Zimmer, ergriff eine Feder und schrieb an Sir Charles Greenville: »Nehmen Sie acht Tage Urlaub. Holen Sie mich heute abend mit einem Wagen ab und führen Sie mich, wohin Sie wollen.
Emma Lyonna.«
Eine Stunde später empfing ich folgendes Billett: »Ich werde Ihrem Befehl gehorchen. Sie haben in Ihrer Antwort etwas weggelassen. Nach dem Namen Emma Lyonna hätten Sie nämlich die Worte: ›Lady Greenville‹ hinzusetzen sollen. Mit der Versicherung, daß Sie mich zum glücklichsten aller Menschen gemacht Charles Greenville.«
Im Laufe des Abends rollten wir in einer vierspännigen Equipage die nach Edinburg führende Straße entlang, während Romney allen unsern Freunden mitteilte, daß sie mich in dritthalb Jahren unter dem Namen und unter dem Titel Lady Greenville wiedersehen würden.
Ich glaube hinreichend das Gefühl dargelegt zu haben, welches mich an Lord Greenville, ich will nicht sagen fesselte, wohl aber ihm geneigt machte. Zunächst war es das Bewußtsein, daß er mich wirklich liebte, die Gewißheit, daß er ein ehrlicher Mann war, dann endlich und vielleicht noch mehr als alles dies der Ehrgeiz, der mich dem Glanz und dem Reichtum ebenso unwiderstehlich entgegentrieb, wie der Schmetterling zu der Flamme hingetrieben wird, die ihm gleichwohl den Untergang bringt. Lord Greenville besaß als mütterliches Erbteil ein kleines Schloß in Schottland am Forth, zwischen Muggleborough und Preston Pans, sechzehn englische Meilen von Edinburg. Hier machten wir Halt. Mr. Fox, dem er sich wahrscheinlich wohl gehütet hatte zu sagen, warum er eine solche Bitte an ihn stellte, hatte ihm einen Urlaub, nicht von acht Tagen, sondern von vier Wochen bewilligt. Dieses Verhältnis, welches beinahe drei Jahre dauerte und welches über das Schicksal meines Lebens entschied, ist vielleicht das, worüber ich in bezug auf Gemütsbewegungen am wenigsten zu erzählen habe. Nach dem Versprechen, welches Lord Greenville mir gegeben und durch welches er sich unwiderruflich gebunden erachtete, betrachtete und behandelte er mich als sein Weib. Ich meinerseits sah in ihm meinen künftigen Gatten und begegnete ihm, als ob er es schon wäre. Da ich mir über die Lage, in der er mich genommen, und ganz besonders über die, welche derselben vorangegangen war, durchaus keine Täuschung machte, so wußte ich das Opfer, welches er mir gebracht, vollkommen zu würdigen und war daher bedacht, ihn so glücklich zu machen, daß er während der dritthalb Jahre, die bis zu unserer gesetzlichen Vermählung noch vergehen mußten, sein Versprechen keinen Augenblick zu bereuen hätte.
Wir blieben auf seinem Schlosse nur so lange, als wir brauchten, um von unserer Reise auszuruhen; dann begannen wir Schottland zu besuchen. Wenn ich eine Prinzessin von königlichem Geblüt gewesen wäre, so hätte Lord Greenville mir nicht mit zarterer Aufmerksamkeit begegnen können, als er es tat. Meine Reise mit ihm war ein geschichtlicher Kursus, in welchem ich die Sagen von Wallace und Robert Bruce, von Montrose und von Charles Edward hörte. Ich sah das Zimmer, in welchem Rizzio ermordet, und das Schloß, in welchem Maria Stuart gefangen gehalten ward. Die vier Wochen vergingen sehr rasch und wir kehrten nach London zurück. In unserer Abwesenheit, hatte Lord Greenvilles Intendant ein Haus gemietet, welches die Aussicht auf den Green Park hatte und in welchem wir, der Lord und ich, jedes eine Etage bezogen. Mit seinem Gehalt und seinem persönlichen Vermögen hatte er ziemlich zweitausend Pfund Sterling jährlich. Es war dies im Verhältnis zu dem Luxus, den er entfaltete, ziemlich wenig; der Minister hatte ihm aber für den Fall, daß er an der Spitze der öffentlichen Angelegenheiten bliebe, versprochen, ein Mittel zur Erhöhung seines Gehaltes ausfindig zu machen. Lord Greenville hatte an seinen Onkel Sir William Hamilton geschrieben, daß er aus Anhänglichkeit an Fox in London bleiben würde, so lange dieser Minister wäre. Zugleich hatte er ihm das Versprechen, welches Fox ihm gegeben, mitgeteilt und ihn gebeten, ihm es möglich zu machen, die Erfüllung desselben abzuwarten.
Sir William Hamilton hatte ihm sofort eine Anweisung von tausend Pfund auf seinen Bankier geschickt. Lord Greenville fragte mich auf die zarteste und schonendste Weise, ob ich nicht Lehrer annehmen und durch diese meine Ausbildung vollenden lassen wollte. Ich sah ein, daß der Kreis von Kenntnissen, welcher Emma Lyonna, der nur dem Vergnügen huldigenden Abenteurerin, genügte, für Mylady Greenville nicht genügen würde, und ich bat Sir Charles, mir selbst einen Studienplan vorzuzeichnen. Von diesem Augenblicke an hatte ich Lehrer für die französische und italienische Sprache, für den Gesang, für die Zeichenkunst und den Tanz.
Man weiß, mit welcher Leichtigkeit ich lernte und mit welchem wunderbaren Gedächtnis ich begabt war. Obschon ich alle die genannten Dinge gleichzeitig trieb, so machte ich doch in jedem derselben reißende Fortschritte. Ich hatte von Natur eine gute reine Stimme. Es war als wäre die Musik für mich eine vergessene Kunst, deren ich mich bloß wieder zu erinnern glaubte. Das Italienische lernte ich gewissermaßen singend.
Was das Französische betraf, so widmete ich mich dem Studium dieser Sprache mit solchem Eifer, daß ich während der ganzen Zeit, welche mir die andern Übungen übrig ließen, stets ein in der Sprache Racines und Voltaires geschriebenes Buch in der Hand hatte.
Mein Leben war sonach ein vollständig verändertes. Jene tausend Vergnügungen, von welchen das Leben einer hübschen Frau begleitet zu sein pflegt, hatten den Studien einer ernsten Frau und wie ich nicht unerwähnt lassen darf, einer Familienmutter Platz gemacht. Nach Verlauf von zehn Monaten lieh nämlich eine kleine Tochter unserem Bunde einen noch vollständigeren ehelichen Anstrich. Zwei Monate vorher jedoch hatte uns in bezug auf unsere Finanzen ein schwerer Schlag getroffen. Das, was Sir William Hamilton vorausgesehen, war eingetroffen. Nachdem Charles Fox im Jahre 1782 das Ministerium Pitt gestürzt und mit der Leitung der auswärtigen Angelegenheiten betraut worden, hatte er den Frieden mit Amerika und Frankreich zustande gebracht. In diesem Triumph hatte er den Weg zur unumschränkten Macht zu finden geglaubt und, entrüstet über das gesetzwidrige Gebaren der ostindischen Kompanie, dasselbe laut gerügt und eine gerichtliche Untersuchung verlangt. Da er aber mit diesem Antrage im Oberhause durchfiel, so sah er sich genötigt, als Minister seine Entlassung zu geben und wieder zur Opposition überzugehen. Infolge dieses Rücktritts verlor Lord Greenville seinen Posten. Es blieben ihm daher in allem von seinem Privatvermögen zweihundertfünfzig bis dreihundert Pfund Sterling jährlich, Wie gewöhnlich nahm er seine Zuflucht abermals zu seinem Onkel, indem er ihm versicherte, daß Charles Fox jedenfalls sehr bald wieder ins Ministerium treten würde, dann würde seine, Lord Greenvilles Stellung eine weit bessere werden als je vorher, da er dann doch den Preis seiner Hingebung und Freundschaft erhalten mußte. Sir William Hamilton schickte abermals eine Anweisung auf eintausend Pfund Sterling. Mit dieser Summe, Lord Greenvilles Privatvermögen und meinen acht- bis zehntausend Franks Rente hätten wir bescheiden leben und bessere Tage abwarten können. Ich suchte auch Lord Greenville aus allen Kräften dazu zu bereden; mochte er nun aber wirklich an Charles Foxs Wiedereintritt in das Ministerium glauben, oder sein Hang zur Verschwendung über die Ratschläge der Vernunft den Sieg davontragen, kurz wir fuhren fort, in der bisherigen Weise zu leben. Die Folge hiervon war, daß wir sehr bald mit unseren Hilfsmitteln fertig waren. Mir blieb unter diesen Umständen nur eins zu tun übrig, nämlich mein kleines Vermögen zur Verfügung des Mannes zu stellen, dessen Namen ich nun bald tragen sollte. Dies tat ich auch. Nach achtzehn Monaten war auch diese Summe ausgegeben. Lord Greenville schrieb zum dritten Mal an seinen Onkel, erhielt aber diesmal keine andere Antwort als eine Weigerung, obschon zugleich mit der Einladung, sich, wenn es ihm konvenierte, unter den ihm bereits angetragenen Bedingungen in Neapel einzufinden. Diese Reise wäre aber unsere ewige Trennung gewesen und Lord Greenville verweilte keinen Augenblick dabei. Unsere Familie hatte sich um zwei Kinder vermehrt und unsere Mittel folglich noch unzureichender gemacht.
Allerdings ward Lord Greenville in drei Monaten volljährig und ich war überzeugt, daß er mit dem Tage dieser Volljährigkeit sein Versprechen lösen würde. Wenn aber dieses Versprechen auch erfüllt war, so war ich dann immer noch weiter nichts als Lady Greenville. Unsere Stellung ward wohl dadurch ein wenig verändert, der Stand unserer Finanzen aber blieb immer noch derselbe.
Die beschränkten Umstände, in welchen wir lebten, gingen allmählich geradezu in Mangel über. Ich verstehe jene Situation, wo Stolz, Gewohnheit und Instinkt alle Tage einen Kampf mit dem Bedürfnis zu bestehen haben, entweder nicht recht oder gar nicht zu schildern. Ich bin schon einmal rasch über meinen Sturz hinweggegangen. Mein Mut wird das zweitemal nicht größer sein als das erste. Ich konnte Lord Greenville nicht anders als dankbar sein, denn er erduldete alle diese Leiden aus Liebe zu mir. Dabei aber blieben seine Traurigkeit, seine Entmutigung von mir nicht unbemerkt. Ich besiegte sein Widerstreben, ein viertes Mal an seinen Onkel zu schreiben. Er schrieb. Lord Hamiltons Antwort war ein Donnerschlag für uns. Er schrieb, er habe sich nach der Situation seines Neffen erkundigt und erfahren, daß die Ursache seiner Bedrängnis in nichts weiter läge als in einer Liebe zu einer dieser Liebe unwürdigen Kurtisane. Zugleich kündete er seine nahe bevorstehende Ankunft in London an, indem er sagte, er wolle den Stand der Sache selbst beurteilen und würde, je nach dem, was er mit eigenen Augen gesehen, dann handeln.
Ein angefügtes Postskript sagte, wenn Lord Greenville die ihm schon gestellten Bedingungen annehmen wolle, so brauche er nur augenblicklich nach Neapel abzureisen und in London jenes unwürdige Geschöpf zurücklassen, für dessen Subsistenz in diesem Falle aus Mitleid in geeigneter Weise gesorgt werden würde.
Ich muß es Lord Greenville zum Lobe nachsagen, daß dieser Brief ihn zur größten Erbitterung reizte und er denselben unbeantwortet ließ. Durch diese edelmütige Gesinnung ward jedoch an unserer Situation nichts geändert. Nachdem wir uns in die Entbehrung des Überflüssigen gefügt, waren mir nun bei der Entbehrung des Notwendigen angelangt. Wir hatten sogar unsere letzten Schmucksachen verkauft, wir waren über ein Jahr Mietzins schuldig, die gerichtliche Klage gegen uns war bereits anhängig gemacht und es bedurfte nur einer letzten, vom Gesetze vorgeschriebenen Formalität, um uns mit unsern Kindern auf die Straße geworfen zu sehen. Wir waren bei jener äußersten Situation angelangt, wo ein neues Unglück sogar zu wünschen ist, so unmöglich war es, daß eine Katastrophe, wie schrecklich dieselbe auch sein möchte, unsere Lage verschlimmerte.
Plötzlich erfuhren wir, daß Sir William Hamilton sich seit acht Tagen in London befand, und sein Haus in Fleetstreet bewohnte. Man hatte uns nicht von dieser Ankunft in Kenntnis gesetzt. Ohne Zweifel hatte Sir William diese Zeit benutzt, um Erkundigungen über uns einzuziehen. Auf alle Fälle schwebte ein großes Unglück über unseren Häuptern. Als Lord Greenville diese Nachricht erhielt, faßte er einen plötzlichen Entschluß. »Meine liebe Emma,« sagte er zu mir, »ausgenommen durch eine Trennung können wir kaum unglücklicher werden, als wir bereits sind. Wohlan, unser Schicksal ruht in deinen Händen.« Ich betrachtete ihn mit Erstaunen. – »Höre mich an,« fuhr er fort. »Ich kenne meinen Onkel. Er ist Archäolog und liebt jede plastische Schönheit. Er verbringt sein Leben mitten unter den schönsten Marmorgebilden Griechenlands. Nun aber kenne ich keine Statue, wäre sie selbst von Praxiteles oder Lysippus, welche dir an Schönheit gleichkäme. Gehe daher zu meinem Onkel, wirf dich ihm zu Füßen, sprich für uns und unsere Sache ist gewonnen.« Wie betäubt durch eine solche Zumutung sah ich Charles mit erstauntem Blicke an. »Wie!« sagte ich dann zu ihm, »ich bin es, um welcher willen er dir zürnt, und du willst, daß ich es sei, die sich seinem Zorne aussetzt?« – »Er zürnt mir um deinetwillen, liebe Emma, weil er meine Liebe nicht begreift, und er begreift meine Liebe nicht, weil er dich nicht kennt. Wenn er aber dich einmal gesehen, wenn er deine unwiderstehliche Stimme einmal gehört haben wird, wenn deine flehenden Tränen vor ihm geflossen sind, dann wird er alles verstehen und verzeihen.« – Ich schüttelte den Kopf. Ich empfand ein heftiges Widerstreben, diesen Schritt zu unternehmen. »Dann,« sagte Charles, »bleibt uns nichts weiter übrig, als uns in unser Schicksal zu fügen, denn ich, das weiß ich gewiß, werde nichts von meinem Onkel erlangen, der meinen Besuch erwartet und sich im voraus gegen mich gepanzert hat, während du –«.
»Höre, Charles,« antwortete ich, »ich will nicht, daß du glaubest, ich könne dir deine Anhänglichkeit an mich so schlecht vergelten, daß ich mich weigerte, irgendeinen Schritt für dich zu tun, möge der so demütigend sein, als er nur immer wolle. Laß mir bis morgen Zeit, um mich auf dieses Erscheinen bei deinem Onkel vorzubereiten – morgen gehe ich.« – »Du wirst tun, was dein Wille dir gebietet, Emma,« sagte Charles, »glaube aber, daß die Zeit kostbar und daß es unklug ist, auch nur eine Minute zu verlieren. Bis morgen kann Lord Hamilton uns von seiner Anwesenheit benachrichtigen, und es kommt für uns viel darauf an, daß wir ihm zuvorkommen. Ziehe dein schlichtestes Kleid an, denn du bist niemals schöner als in deiner Einfachheit; gehe nach Fleetstreet – alle Welt kennt Sir William Hamiltons Haus; tritt keck ein, sprich mit deinem Herzen in deinem Namen, in dem meinigen, in dem unserer Kinder, und Gott wird das Übrige tun.«
Sir Charles sprach mit einer solchen Überzeugung, daß dieselbe auch mich für sich zu gewinnen begann. Indem ich Aufschub bis zum nächstfolgenden Tag verlangt, hatte ich bloß getan, was der Verurteilte tut, der um eine Frist bittet. Ich hatte versucht, den entscheidenden Augenblick hinauszuschieben, da der Entschluß aber einmal gefaßt war, so war es besser, ihn sofort in Ausführung zu bringen.
Mit der Festigkeit eines verzweifelten Entschlusses begab ich mich in mein Zimmer. Ich legte mein am wenigsten kostbares Kleid an, ich band mein Haar, welches ich immer ohne Puder trug, mit einem einfachen Bande zusammen, dann setzte ich einen großen Strohhut auf, warf eine kleine Mantille über die Schultern und erschien plötzlich wieder in dem Zimmer, in welchem Charles zurückgeblieben war. Bei dem Geräusch, welches ich bei meinem Wiedereintritt machte, richtete er den Kopf empor und stieß einen lauten Ruf aus. »O,« sagte er, »nie bist du schöner gewesen, teure Emma; wir sind gerettet!«
Anstatt einen Wagen zu nehmen, wollte ich vollständig demütig sein und machte mich zu Fuß auf den Weg nach Fleetstreet. Charles hatte recht. Ich brauchte nach Sir William Hamiltons Hause nur zu fragen und man zeigte es mir sofort. An der Tür des Hauses angelangt, fühlte ich, wie die Füße mir zu wanken begannen. Ich stützte mich an die Mauer und versuchte ein wenig Mut zu fassen. Sir William war zu Hause. Ein Lakai fragte mich nach meinem Namen, um mich anzumelden. Ich fürchtete, daß mir, wenn ich diesen Namen nannte, der Zutritt verweigert werden könnte. »Sagt Sir William nur,« antwortete ich, »daß ihn eine junge Frau zu sprechen wünscht.« Obschon ich jetzt über vierundzwanzig Jahre alt war, so sah ich doch noch so jung aus, daß der Lakai, der mich nicht als eine junge Frau anerkennen wollte, mich als ein junges Mädchen anmeldete. Ich hörte Sir Williams Stimme, welcher sagte: »Sie soll hereinkommen.« Ich drückte die Hand aufs Herz, um das ungestüme Klopfen desselben zu beschwichtigen. Ich war nahe daran zu ersticken. Der Lakai kam zurück, öffnete mir die Tür und forderte mich auf eintzutreten. Sir William saß an einem Tisch und las die Korrektur des Werkes, welches er unter dem Titel: »Beobachtungen über den Vesuv« im Begriff stand herauszugeben. Ich blieb auf der Schwelle der Tür stehen und wartete, bis er den Kopf emporrichten würde. Er gewahrte mich, verhielt sich einen Augenblick unbeweglich und sah mich an. Dann erhob er sich, kam einen Schritt auf mich zu und fragte: »Was wollen Sie, schönes Kind?« – Die Stimme versagte mir. Ich konnte bloß einen Schritt auf ihn zugehen und dann halb ohnmächtig auf den Teppich niedersinken. Als er meine Blässe und das Zittern bemerkte, welches sich meiner bemächtigt, zog er die Klingel, um Hilfe herbeizurufen. Der Lakai trat wieder ein. »Es ist ihr unwohl geworden, du siehst das selbst,« rief Sir William. »Komm', hilf mir!« – Der Lakai half Sir William mich auf ein Sofa tragen. Bei dieser Bewegung lösten die Bänder meines Hutes sich auf und mein Haar fiel herab. Wenn ich dies absichtlich und aus Koketterie herbeigeführt hätte, so hätte es nicht besser gelingen können, denn ich besaß das schönste Haar von der Welt. »Riechsalz! Riechsalz!« befahl Sir William.
Der Lakai brachte ihm ein Flacon; er setzte sich neben mich, lehnte meinen Kopf an seine Schulter und ließ mich das Salz atmen. Ich schlug die Augen wieder auf, welche ich während der letzten Minute mehr aus Furcht denn aus Mutlosigkeit geschlossen gehalten. »Ach, Mylord,« murmelte ich, »wie gütig sind Sie!« Und mit diesen Worten ließ ich mich zu seinen Füßen niedergleiten. Er betrachtete mich mit wachsendem Erstaunen. »Sie müssen etwas Unmögliches von mir verlangen wollen, Miß, da Sie zweifeln, es zu erhalten,« sagte er. Ich ließ mein Gesicht auf die Hände niedersinken und brach in Schluchzen aus. »O Mylord, Mylord,« sagte ich, ohne den Kopf emporzurichten, »wenn Sie wüßten, wer ich bin!« – »Und wer sind Sie denn?« – »Die Person, welche Sie auf der ganzen Welt am meisten hassen, Mylord.« – »Ich hasse niemand, Miß,« sagte Sir William. – »Nun denn, welche Sie am meisten verachten.« – Er legte seine flache Hand auf meine Stirn und richtete dieselbe in die Höhe. »Emma Lyonna,« stammelte ich. – »Unmöglich!« sagte er, indem er ein wenig zurückwich, »unmöglich!« – »Warum unmöglich, Mylord?« – »Mit einem solchen Gesicht ist man keine Verlorene.« – »Ein edles Herz wie das Ihres Neffen, Mylord, würde sich auch keiner Verlorenen gewidmet haben.«
»Ist aber denn das, was man mir gesagt hat, wahr, oder ist es nur ein Gewebe von Lügen?« – »Und was hat man Ihnen gesagt, Mylord? Ich bin bereit, Ihre Fragen offen und freimütig zu beantworten. Offenheit ist in meiner Lage die erste Tugend.« – »Man hat mir gesagt, Ihre Mutter sei eine Bauernmagd und Sie selbst hätten die Schafe gehütet.« – »Das ist wahr, Mylord.« – »Dann wären Sie Rinderwärterin in einer kleinen Provinzialstadt gewesen.« – »Auch das ist wahr.« – »Dann wären Sie nach London gekommen und hätten ein Asyl bei einem wackeren Arzte, Mr. Hawarden, gefunden, der Sie als Verkäuferin in einem Bijouterieladen untergebracht. Ihre schlimmen Neigungen hätten Sie jedoch bald bewogen, diese bescheidene Stellung wieder zu verlassen.« – »Alles dies ist wahr.« – »Hier aber beginnt ohne Zweifel die Lüge. Sie werden die Geliebte des Commodore Sir John Payne, dann die des jungen Sir Harry Featherson.« – Ich machte eine einfache Kopfbewegung, welche ein Zugeständnis andeutete. »Dann steigen Sie tiefer, immer tiefer herab. Sie werden die Mitschuldige des Charlatan Graham, die Maitresse des Malers Romney, endlich die meines Neffen, dem Sie sich, wie man mir versichert, nur unter der Bedingung ergeben, daß er Sie heirate und von welchem Sie sich ein Eheversprechen unterzeichnen lassen, mit dessen Hilfe Sie ihn zwingen, Ihr Sklave zu sein.«
»Ich bitte um zehn Minuten Zeit, Mylord, um mich zu rechtfertigen,« antwortete ich. Mit diesen Worten erhob ich mich und eilte aus dem Zimmer hinaus. – »Wo gehen Sie hin,« rief Sir William, »wo gehen Sie hin?« – »Ich komme sogleich wieder, Mylord.« – Ich eilte mehr fliegend als gehend die Treppen hinunter, sprang in eine eben vorüberfahrende Droschke und rief: »Nach Cavendish Square.« – Fünf Minuten später war ich in Romneys Wohnung. Das Glück wollte, daß er zu Hause war. »Lord Greenvilles Heiratsversprechen!« rief ich ihm zu. »Geben Sie es mir, mein lieber Romney.« – »Was ist Ihnen denn, meine arme Emma? Sie sind ja ganz verstört.« – »Es ist nichts – jenes Versprechen – ich bitte Sie inständig darum. Schnell! schnell!« – Romney eilte an einen Schrank, öffnete die schon erwähnte Schatulle und gab mir Lord Greenvilles Heiratsversprechen. – »Hier,« sagte er. »Wollen Sie mich aber in bezug auf das, was Sie damit machen wollen, nicht lieber erst zu Rate ziehen?« – »In solchen Dingen, lieber Romney, zieht man bloß sein eigenes Gewissen zu Rate. Ich danke Ihnen.«
Mit diesen Worten eilte ich aus dem Zimmer hinaus, ließ mich wieder nach Sir Williams Wohnung in Fleetstreet zurückfahren, ging mit derselben Schnelligkeit wieder die Treppe hinauf und zu Sir William hinein, welcher gedankenvoll und mit großen Schritten im Zimmer auf und ab ging. Ich ließ ihm nicht Zeit, mich zu befragen, sondern hielt ihm das Heiratsversprechen seines Neffen vor die Augen. »Was ist das?« fragte er. – »Haben Sie die Güte zu lesen, Mylord.« – Er las: »Ich mache mich bei meiner Ehre verbindlich, Miß Emma Lyonna, sobald ich das Alter der Volljährigkeit erlangt haben werde, zu heiraten und will mich als Mann ohne Ehre betrachten lassen, wenn ich meinem Versprechen untreu werde. Den 1. Mai 1780. Lord Greenville.«
»Nun und?« sagte Sir William nachdem er gelesen. »Das Vorhandensein dieses Versprechens war mir bekannt.« – »Sie irren sich, Mylord,« antwortete ich, »es ist nicht mehr vorhanden.« Mit diesen Worten näherte ich mich dem Feuer und warf das Papier in die Flammen, welche es sofort verzehrten. – »Was machen Sie da?« fragte Sir William. – »Nun ist Ihr Neffe durch nichts mehr gebunden, Mylord,« antwortete ich. »An Ihnen ist es nun, ihn so weit zu bringen, daß er mich verlasse.« – Und ohne auf seine Stimme, die mich rief, zu antworten, verließ ich das Zimmer und kehrte nach Hause zurück.
Charles wartete mit der größten Unruhe. »Wohlan,« fragte er, als er mich mit vom Gehen und von Gemütsbewegung gerötetem Gesicht wiederkommen sah, »was ist geschehen?« Ich erzählte ihm meine Unterredung mit seinem Onkel in allen ihren Einzelheiten. »Also,« sagte er, »du hast mein Eheversprechen verbrannt?« – »Ja, Mylord, und Sie sind frei.« – »Das heißt, liebe Emma, meine schriftliche Schuld hat sich dir gegenüber in eine Ehrenschuld verwandelt, das ist der ganze Unterschied.« »Hören Sie mich an, Mylord,« sagte ich. »Überlegen Sie sich alles wohl. Sie sind bei jenem wichtigen Moment angelangt, der über ein ganzes Leben entscheidet. Wenn Sie mich verlassen, so wird nicht bloß alle Welt Ihnen recht geben, sondern von demselben Augenblick an ist auch Ihre Zukunft gesichert, Ihr Glück gemacht. Bleiben Sie dagegen hartnäckig bei mir, so wendet sich die ganze Gesellschaft von Ihnen ab und Ihr Onkel sagt sich von Ihnen los und enterbt Sie. Sie können in materieller Beziehung nicht mit mir leben, ich aber wohl ohne Sie. Sobald Sie reich sind, geben Sie mir die zehntausend Pfund, welche wir zusammen vertan haben, zurück. Sie bitten Ihren Onkel, daß er die Zukunft unserer Kinder sichere und ich lebe und unsere Kinder leben. Bleiben Sie dagegen arm, so bleibe ich mit meinen Kindern auch arm und es wird unvermeidlich ein Tag kommen, wo Sie Ihre Aufopferung bereuen und wo unsere Kinder mir ihren Untergang zum Vorwurf machen werden.«
»Genug, Emma, genug!« rief Charles, indem er mich mit seinen Armen umschlang, wie um zu verhindern, daß man mich ihm entreiße. »Es mag geschehen, was Gott will, aber keine menschliche Macht soll uns trennen.« In diesem Augenblick stieß er einen lauten Schrei aus. Die Tür des Zimmers war offen stehen geblieben. Sein Onkel, welcher die Treppe heraufgekommen war, ohne zu gestatten, daß man ihn anmeldete und ohne daß wir ihn gesehen, stand auf der Schwelle der Tür und hatte alles gehört, was wir soeben gesprochen. »Mein Onkel!« rief Charles, indem er einen Schritt zurücktrat. – »Sie sehen, Mylord,« sagte ich zu Sir William, »daß ich tue, was ich kann und daß es nicht meine Schuld ist.« – »Laß mich mit dieser jungen Frau allein,« sagte Sir William zu Charles. Letzterer verneigte sich ehrerbietig und verließ das Zimmer. Sir William Hamilton näherte sich mir und bot mir die Hand. »Ich bin zufrieden mit Ihnen,« sagte er, »und ich hoffe, daß Sie den Weg, den Sie betreten, beharrlich weiter verfolgen werden.« – »Ich bitte um Verzeihung, Mylord,« antwortete ich. »Sie sehen aber, daß ich nicht erst durch Ihre Ratschläge ermutigt zu werden brauche. Die meines Gewissens werden mir hoffentlich genügen.« – »Gut. Aber, wie Sie eben diesem jungen Toren bemerklich machten, Sie haben Kinder.« – »Dies ist etwas anderes und meine Pflicht als Mutter gebietet mir, diese unschuldigen Wesen Ihrer Güte zu empfehlen.« – »Nach dem, was ich gehört, schuldet mein Neffe Ihnen eine Summe von zehntausend Pfund Sterling.« – »Das ist wohl möglich, Mylord, aber es ist dies eine Angelegenheit zwischen Ihrem Neffen und mir.« – »Wenn mein Neffe sich dazu versteht, Sie zu verlassen, so werde ich diese Summe verdreifachen.« – »Ich treibe mit meinem Geld ebensowenig Wucher wie mit meiner Liebe.« – »Aber was wollen Sie mit zwei- bis dreihundert Pfund jährlicher Rente machen?« – »Ich werde versuchen, mit meinen Talenten und Kunstfertigkeiten etwas zu verdienen.« – »Dann wollen Sie wohl Unterricht geben?« – »Warum nicht?« – »Was für Unterricht denn?« – »Im Französischen und Italienischen.« – »Sie sprechen französisch und italienisch?« – »Ja.«
Sir William redete mich in diesen beiden Sprachen nacheinander an und ich antwortete ihm so korrekt, daß er dadurch zufriedengestellt zu werden schien. »Wie es scheint, sind Sie auch musikalisch,« fuhr er fort, »denn ich sehe hier ein Piano und eine Harfe.« – »Allerdings spiele ich diese beiden Instrumente.« – »Dürfte ich Sie wohl bitten, sich vor mir hören zu lassen?« – »Sie haben das Recht zu fordern, Mylord.« – »Nein, nein, ich fordere nicht, ich bitte nur.« – »Dann würden Sie wohl entschuldigen, wenn ich Ihnen etwas sänge, was mit dem Zustand meines Herzens in Einklang steht?« – »Singen Sie, was Ihnen beliebt. Was es auch sein möge, so werde ich es mit Vergnügen hören.«
Ich gestehe, daß in diesem Augenblick wieder ein wenig Koketterie in meinem Herzen erwachte. Da ich nicht das Gefühl erraten konnte, welches Sir William veranlaßte, alle diese Fragen an mich zu richten, so betrachtete ich dieselben nur von der gefühllosen und egoistischen Seite. Ich fand es grausam, daß er mich in einer solchen Situation aufforderte zu singen, und da ich ihm gehorchen mußte, so wollte ich wenigstens von meinem Gehorsam so viel Nutzen als möglich ziehen. Ich rief das ganze mimische Talent zu Hilfe, welches die Natur mir verliehen. Ich setzte mich, nahm die Harfe zur Hand und lehnte die Stirn daran, während mein aufgelöstes Haar auf meine Schultern herabwallte. Mit zitternder Hand entlockte ich den Saiten des Instrumentes einige Akkorde und begann dann mit leise klagender Stimme ein Lied, welches ich in unseren Gesellschaftskreisen schon oft vorgetragen und womit ich stets den nachhaltigsten Erfolg erzielt. Nachdem ich geendet, ließ ich den Kopf auf die Schulter sinken und erwartete mit verhaltenem Atem unsere Rettung oder unsere Verurteilung. »Madame,« hob Sir William, auf den mein Gesang den gewaltigsten Eindruck gemacht, endlich an, »ich begreife nun, daß mein Neffe Sie anbetet. Sagen Sie ihm, daß ich ihn bitten lasse, mich morgen zu besuchen.« – Und nachdem Sir William sich ehrerbietig vor mir verneigt, entfernte er sich. Kaum war er zur Tür hinaus, als Charles, der vom Schlafzimmer aus alles mit angesehen und angehört, in den Salon hereingestürzt kam, mich in seine Arme schloß und mit freudestrahlenden Augen und hoffnungsvollem Herzen rief: »Ich wußte es wohl, daß du uns retten würdest!«
Man begreift, in welcher Gemütsbewegung dieser Tag für mich verging. Sir Charles nährte eine Hoffnung, welche ich, ich weiß nicht warum, nicht teilen konnte. Es schien mir, als ob hinter Sir Williams anscheinender Niederlage sich etwas Unbekanntes verberge. Auf alles, was Charles mir sagte, auf alle Projekte, die er entwarf, antwortete ich: »Morgen werden wir sehen.« – Der morgende Tag kam. Sir William Hamilton hatte keine Stunde bestimmt. Um neun Uhr morgens begab Sir Charles sich zu ihm. Ich blieb zu Hause. Ich wartete eine Stunde, die mir ein Jahrhundert zu sein schien. Nach Verlauf dieser Stunde kam Sir Charles wieder. Ich sah auf den ersten Blick, daß keine seiner Hoffnungen sich verwirklicht hatte. Er war bleich und vollständig niedergeschlagen. »Nun?« fragte ich ihn zitternd. Er zog einen Brief aus der Tasche.
»Mein Onkel ist unbeugsam,« sagte er dann. »Er verlangt unsere sofortige Trennung.« – »Hatte ich es nicht gesagt?« – »Wenn wir,« fuhr Charles fort, »uns dazu verstehen, so sichert er jedem unserer Kinder fünfhundert Pfund Renten, die im Todesfalle des einen auf die überlebenden Kinder vererben. Mir gewährt er auch ferner eine Rente von fünfzehnhundert Pfund und dir erstattet er die zehntausend Pfund Sterling wieder, welche wir zusammen vertan haben.« – »Und was haben Sie darauf geantwortet?« – »Ich habe mich geweigert.« – »Was ist das für ein Brief?« – »Ein Brief an dich.« – »Von Ihrem Onkel?« – »Ja, von meinem Onkel.« – »Lesen wir ihn.« – »Er ist für dich allein bestimmt und ich habe versprochen, daß du ihn allein lesen sollst.« – »Geben Sie her.« – »Soll ich dir etwas sagen?« fuhr Charles fort, indem er mich mit wehmütigem Blick betrachtete. – »Was ist es?« – »Mein Onkel liebt dich.« – Ich erschrak. – »Sie sind von Sinnen, Charles.« – »Nein, ich wollte darauf schwören.« – Ich ließ den Kopf auf die Brust herabsinken. Ein Blitz durchzuckte mich. Ich dachte an den Auftritt des vorigen Tages, an die bewundernden Blicke Sir Williams, an den schmeichelnden, liebkosenden Ton, in welchem er zu mir gesprochen. Ich näherte mich mit dem Briefe in der Hand dem Kamin und wollte ihn ins Feuer werfen. Charles tat mir Einhalt. »Emma,« sagte er in ziemlich festem Tone zu mir, »gestern warst du es, welche mich ermutigte, Mann zu sein, und ich war es, der allem Widerstand leistete, was du mir in bezug auf das Interesse unserer Kinder und das meinige sagen konntest. Heute bin ich es, der zu dir sagt: Emma, lies diesen Brief und denke über die darin enthaltenen Anträge reiflich nach, denn ich bezweifle nicht, daß wirkliche Anträge darin enthalten sind. Der Augenblick ist entscheidend, und wenn ich gestern das Recht zu haben glaubte, über mein Schicksal und das meiner Kinder zu verfügen, so glaube ich dagegen heute nicht das Recht zu besitzen, über das deinige zu verfügen und ein Hindernis für deine Zukunft und dein Glück zu sein.« Ich betrachtete Charles mit Erstaunen, da ich aber den Edelmut seines Herzens kannte, so war ich über den Beweggrund, der ihm diese Worte eingab, keinen Augenblick lang in Zweifel. »Ich habe,« hob er wieder an, »meinem Onkel versprochen, dir vollkommene Freiheit zu lassen, diesen Brief zu lesen. Lies daher, liebe Emma, und wenn er, wie ich nicht bezweifle, das Ultimatum meines Onkels ist, so entscheide über unser Schicksal.« Und indem er mich mit Tränen in den Augen umarmte, begab er sich in das Schlafzimmer und ließ mich in dem Salon allein.
Einen Augenblick lang blieb ich zitternd, während der Schweiß mir auf die Stirne trat, stehen. Dann taumelte ich und sank in einen Lehnsessel. Ich begriff in der Tat, daß ich unser aller Schicksal in den Händen hatte. Ich öffnete den Brief, aber ich konnte nicht sogleich lesen. Meine Augen waren wie von einer Wolke umflort. Allmählich wurden die Buchstaben sichtbarer, mein Blick ward frei und ich las: »Mademoiselle! Ich habe seit gestern mit der ganzen Kälte und Ruhe nachgedacht, die man selbst in meinem Alter bewahren kann, nachdem man Sie gesehen. Die Leidenschaft meines Neffen erklärt sich durch Ihre Eigenschaften, Ihre Vorzüge, mit einem Wort durch den Zauber Ihrer Person. Ich begreife nicht bloß, daß man Sie liebt, sondern auch, daß man Sie ewig liebt. Es gibt jedoch im Leben Verhältnisse, gegen welche es Wahnsinn wäre, kämpfen zu wollen, weil man vergebens versuchen würde, sie zu besiegen. Diese Verhältnisse haben wir gestern gemeinschaftlich besprochen und sie liegen in den Geständnissen, welche Sie mit so vieler Offenheit mir getan. Bedenken Sie selbst und sagen Sie mir, ob es möglich ist, daß Sie in derselben Stadt, welche Sie nach der Reihe als Sir John Paynes und Sir Harry Feathersons Maitresse, als Grahams Bundesgenossin, als Romneys Modell gesehen, die Gattin des Lord Greenville werden, auf die Gefahr hin, bei jedem Schritt, den Sie in den Straßen von London tun, einer Erinnerung an jene Vergangenheit zu begegnen, gegen welche alle Ihre Reue nichts vermag und die selbst durch die Allmacht Gottes nicht verwischt werden könnte. Ihre Ehe mit meinem Neffen wäre – selbst vorausgesetzt, daß ich dareinwillige und seine Stellung sichere – Ihr Unglück und das Unglück Ihrer Kinder. Sie sind fünfundzwanzig Jahre alt – Sie haben mir Ihr Alter selbst gesagt, denn meine Augen hätten Ihnen höchstens achtzehn gegeben – Sie sind fünfundzwanzig Jahre alt, mein Neffe ist erst vierundzwanzig und folglich ein Jahr jünger als Sie. Er tritt erst in das Alter der Leidenschaften. So schön, so verführerisch, so vollkommen Sie auch sind, so ist es gleichwohl möglich, daß er Ihnen später einmal untreu wird, und daß er dann Äußerungen der Reue über das Opfer fallen läßt, welches er Ihnen gebracht zu haben glaubt. Wenn Sie ihn, den ruinierten Mann ohne Zukunft, jetzt heiraten, so ist das Opfer auf Ihrer Seite, dies weiß ich wohl und ich bin der erste, der dies anerkennt. In den Augen der Welt dagegen würde das Opfer auf seiner Seite sein. Aus diesen Gründen mache ich Ihnen den Vorschlag: Werden Sie anstatt meine Nichte meine Tochter. Witwer und ohne Kinder, stehe ich allein auf der Welt. Mein schon seit seiner Jugend von mir stets entfernt gewesener Neffe ist für mich ein Fremdling. Ich liebe ihn mit der Liebe, die ich für meine Schwester hegte, aber nicht mit der, die ich für ihn selbst empfände. Er selbst hegt für mich, ohne daß er sich selbst Rechenschaft davon gibt, nur eine Neigung, deren Stärke sich nach dem Guten richtet, was ich ihm erzeigen kann. Wenn Sie dareinwilligen, meine Adoptivtochter zu werden, so verschwinden jene Unmöglichkeiten, welche sich einem ruhigen und glücklichen Leben für Sie in England entgegenstellen, von selbst, gerade so wie die Wasserfurche eines Schiffs verschwindet, welches aus einem Meere in das andere steuert. Ich nehme Sie mit nach Neapel, wo niemand Sie kennt, wo niemand Sie gesehen hat, wo Sie weder Emma Lyonna noch Miß Heart heißen, wo Sie weder Paynes noch Feathersons Maitresse, weder Grahams Bundesgenossin noch Romneys Modell sind, sondern wo Sie unter dem Namen, den es Ihnen belieben wird zu wählen, meine geliebte Adoptivtochter sind. Von meinem Reichtum spreche ich nicht. Ich habe sieben- bis achttausend Pfund Sterling Rente, ohne meinen Posten als Gesandter, welcher mir fünftausend Pfund jährlich einträgt. Dieses Gesamteinkommen teile ich in drei Teile – ein Teil gehört Ihnen, der zweite meinem Neffen, der dritte Ihren Kindern. Nein, ich spreche nicht von den Diensten, welche Sie mir leisten können. Ich zähle achtundfünfzig Jahre. Ich bedarf, in Ermanglung der Liebe, der Freundschaft und empfinde das Bedürfnis, daß man mich liebe, wie man einen alten Mann liebt. Wie lange habe ich wohl noch zu leben? Sechs, acht, vielleicht noch zehn Jahre. Berechnen Sie, wie rasch in Ihrem Alter zehn Jahre vergehen. Im schlimmsten Falle also, das heißt in zehn Jahren, wo Sie fünfunddreißig zählen und folglich in dem Alter stehen, wo das Weib oft noch seine volle Schönheit besitzt, sind Sie frei, reich und – erlauben Sie mir diese Worte, mit welchen ich durchaus keine verletzende Absicht verbinde – durch Ihre Hingebung an mich geläutert. Gestatten Sie mir, Ihnen noch zu sagen, daß ich in Neapel, einer der schönsten Städte der Welt, wohne und daß ich allen Grund habe zu hoffen, sie bis zu meinem Tode zu bewohnen. Ich bin der Freund des Königs und der Königin, ich bewege mich dort in einer Gesellschaft, über welche Sie sofort die Macht ausüben werden, welche Ihre Schönheit, Ihre Talente, mit einem Wort Ihre Überlegenheit Ihnen leihen. Diese Gesellschaft ist aus allen Talenten, aus allen Intelligenzen, aus allen Aristokratien, von der Geburt bis zu der des Genius, zusammengesetzt und während Sie hier die Sklavin der Vergangenheit sind, sind Sie dort die Königin der Zukunft. Nun, nachdem Sie gelesen haben, denken Sie nach. Ich erwarte Ihre Antwort mit größerer Ungeduld, als ein liebender Jüngling. Ich erwarte sie als egoistischer alter Mann. Übrigens wird dieselbe, möge sie ausfallen, wie sie wolle, nichts an den Gesinnungen ändern, die ich Ihnen gewidmet und unter welchen die Achtung den ersten Platz einnimmt.
William Hamilton.«
Dieser so einfache, so edle und so würdige Brief rührte mich tief, dies gestehe ich offen. Ich ließ meinen Arm am Körper, meinen Kopf auf die Brust herabsinken, und verfiel in langes Hinbrüten. Als ich den Kopf wieder emporrichtete, stand Sir Charles vor mir. An seinem wehmütigen Lächeln war leicht zu sehen, daß er erriet, was in meiner Seele vorging. Ich reichte ihm den Brief. »Lesen Sie,« sagte ich zu ihm.
Er warf die Augen darauf.
»Nein,« rief ich lebhaft, »nicht in meiner Gegenwart. Lesen Sie ihn allein, ebenso wie ich ihn allein gelesen habe. Auf alle Fälle ist das Herz Ihres Onkels ein edles und großmütiges.«
Charles ging wieder in das Schlafzimmer und ich blieb abermals allein im Salon. Allein? O nein, Sir Williams Brief hatte das Zimmer mit einer ganzen Welt unbekannter Phantome bevölkert. Noch einmal schienen das Schicksal, der Zufall, das Verhängnis, die Vorsehung über mich verfügen zu wollen, ohne meinem freien Willen und meinen eigenen Wünschen Spielraum zu lassen. Ich konnte mir die Kraft und Wahrheit der von Sir William Hamilton dargelegten Gründe in bezug auf meine Vermählung mit seinem Neffen nicht verhehlen. Alle diese Gedanken waren auch in mir mehr als einmal erwacht, und je näher ich dem von meinem Ehrgeiz geschaffenen Ziele gekommen, desto weniger hatte ich es in der Wirklichkeit wünschenswert gefunden.
Der Horizont dagegen, welchen Sir William mir geöffnet, strahlte in dem ganzen Feuer jener südlichen Sonne, welche ich bis jetzt bloß in den Strophen Tassos und Ariostos gesehen. Meine verderbliche Einbildungskraft, welche stets bereit war, mich in die grenzenlosen Regionen der Phantasie zu locken, entrollte hier ihre blendendsten Gebilde. Jene Krone einer Salonkönigin, welche ich durch Sir Johns Abreise, Sir Harrys Untreue und Lord Greenvilles Ruin verloren, mußte ich vollständiger und in größerem Umfange durch die Stellung wiedererobern, welche Sir William Hamilton in der Welt der Diplomatie einnahm.
Wenn ein Gesandter auch nicht selbst König ist, so ist er doch der Vertreter des Königtums und der anspruchsvollste weibliche Ehrgeiz kann sich mit dem Titel einer Gesandtin begnügen. Allerdings war ich, wenn ich Sir William Hamilton folgte, nicht Gesandtin, sondern bloß die Adoptivtochter eines Gesandten, und dies war ein großer Unterschied, da die Langweile und die Laune eines alten Mannes, wenn sie meiner überdrüssig ward, jeden Augenblick die Adoptivtochter, deren Stellung durch nichts verbürgt ward, auf den Standpunkt einer Emma Lyonna und selbst einer Miß Heart wieder herabsinken lassen konnte. Sir William hätte deshalb nicht beabsichtigen sollen, mich zu seiner Adoptivtochter, sondern zu seiner Gattin zu machen. Bei diesem Gedanken zuckte eine blendende Flamme an meinen Augen vorüber. Warum aber war diese Flamme so blendend? War Lord Greenville nicht von vornehmerer Herkunft als Sir William Hamilton? Stammte er nicht von den Warwicks, oder war er nicht wenigstens mit jener berühmten Familie Warwick verwandt, welche ihren Ursprung von jenem bekannten Grafen Richard Nevill herleitete, den man den Königmacher nannte?
Sir William stammte bloß aus einer guten schottischen Familie, dies war alles. Wenn daher ein Greenville, das heißt Warwick, es nicht verschmäht hatte, mir sein Wort zu geben, warum sollte dann Sir Hamilton, der allerdings reich war und eine hohe Stellung einnahm, der aber in bezug auf aristokratische Abkunft und Jugend nicht dieselben Verlockungen zu bieten hatte, wie sein Neffe, warum, frage ich, sollte Sir William zögern, eine Person, welche nur ein Wort zu sprechen brauchte, um Lady Greenville zu werden, zur Lady Hamilton zu machen? War ich wohl auf meinem bergaufführendem Wege stehen geblieben? Oder, wenn ich auch gefallen war, hatte dann mein sozusagen von der Vorsehung gefügter Sturz mich nicht immer wieder in höhere Regionen zurückgeführt, als die waren, aus welchen ich herabgestiegen?
War es jetzt, wo ich schon beinahe Lady Greenville war, schwerer Lady Hamilton zu werden, als es für Romneys Maitresse gewesen, Lady Greenville zu werden? Eines oder das andere mußte ich werden; dies war bei mir fest beschlossen.
Diese Betrachtungen hatten mich über eine Stunde lang ausschließlich beschäftigt. Der Stundenschlag der Uhr rüttelte mich aus meinem Hinbrüten auf. Ich hob die Augen empor und suchte Sir Charles.
Er hatte vollauf Zeit gehabt, den Brief seines Onkels zu lesen. Warum war er nicht schon wieder zu mir gekommen, um mit mir darüber zu sprechen?
Ich erhob mich, um zu ihm zu gehen, da er nicht zu mir kam. Ich trat in das Schlafzimmer, es war leer. Ich öffnete das Ankleidekabinett; dasselbe war ebenso leer wie das Schlafzimmer.
War Charles ausgegangen? Dies war wohl möglich, denn eine Lauftreppe führte aus dem Schlafzimmer in den Hausflur hinab. Ich sah mich ringsum und suchte etwas zu entdecken, was mir den Schlüssel zu diesem Rätsel gäbe.
Auf Charles Bureau lag Sir William Hamiltons geöffneter Brief. Neben diesem Briefe lagen folgende Zeilen von Lord Greenvilles Hand: »Ich hatte mich nicht geirrt, mein Onkel liebt Dich, Emma. Ich will nicht durch die Einwirkung, die ich auf Dein Herz haben konnte, Deinem Schicksal eine von mir ausgehende Richtung geben. Erst in acht Tagen werde ich wieder in dieses Zimmer zurückkehren, und dann aller Wahrscheinlichkeit nach Dich nicht mehr vorfinden. Um der Zukunft unserer Kinder, um unserer beider Ehre willen aber begnüge Dich mit keiner anderen Stellung als der einer Lady Hamilton.
Charles Greenville.«
Auch er hatte die Bahn gesehen, die sich mir hier eröffnete. Auch er glaubte, daß ich das Ziel erreichen könnte, welches mich gleich von vornherein geblendet, und welches ich mich allmählich gewöhnt zu betrachten, wie der Adler die Sonne betrachtet, ohne die Augen niederzuschlagen. Ich ergriff deshalb die Feder und schrieb: »Mylord! Ich habe Lord Greenville den Brief mitgeteilt, welchen Sie mir die Ehre erzeigt, mir zu schreiben. Er hat das Haus sofort verlassen und mir gesagt, daß er, weil er mir in bezug auf mein Schicksal, auf das seinige und das unserer Kinder vollständig freie Hand lassen wolle, erst in acht Tagen zurückkehren würde. Es ist folglich an mir, Ihnen zu antworten, Mylord, und ich werde es mit derselben Offenheit und Freimütigkeit tun, womit ich bis jetzt zu Werke gegangen bin. Wie sollte ich, da ich unwürdig bin, Sir William Hamiltons Nichte zu werden, würdig sein, seine Adoptivtochter zu werden? Nein, Mylord, es gibt etwas noch Einfacheres als alles dies, und dies besteht darin, daß ich weder Ihre Nichte noch Ihre Tochter werde, sondern ganz einfach Emma Lyonna bleibe. Ich verlasse London. Vor zwei Jahren verlebte ich drei Monate – vielleicht die glücklichsten meines Lebens – in einem reizenden kleinen Städtchen Namens Nutley. Ich kehre dahin zurück. Dem Willen Ihres Neffen – den ich Ihnen verspreche nicht wiederzusehen und den ich vollständig frei über sein Schicksal verfügen lasse – dem Willen Ihres Neffen gemäß, sage ich, werde ich dort allein leben, oder mich der Erziehung unserer Kinder widmen. Diese Kinder habe ich Ihnen empfohlen, Mylord, und bin deshalb in diesem Punkte außer Sorge. Ich irrte mich, Mylord, als ich glaubte, daß ich eine rechtschaffene Gattin, eine gute Mutter sein und einen Mann von Stand und Bildung glücklich machen könnte. Ich hatte mich geirrt, sage ich, denn Sie urteilen in dieser Beziehung anders. Aber auch Sie haben sich geirrt, indem Sie glauben, daß ich, indem ich eine falsche Stellung aufgebe, eine noch falschere einnehmen könnte. Meine Stellung als Lord Greenvilles Geliebte war in London geschaffen. Wer sagt mir, daß es mir gelingen würde, die Ihrer Adoptivtochter in Neapel zu schaffen? Nein, Mylord, so viel Ehre ist mir nicht bestimmt. Im Dunkel geboren, werde ich im Dunkel sterben. Diejenigen Tage, welche durch die Sonne erleuchtet worden, sind nicht meine glücklichsten gewesen. Leben Sie wohl, Mylord! Suchen Sie für Ihren Neffen eine vornehme und makellose Gattin. Machen Sie diese zu Ihrer Adoptivtochter und überlassen Sie die arme Emma ihrem Elend und ihrer Schande. Sie nennt sich Ihre Magd und hat nicht den Ehrgeiz, von Ihnen anders genannt zu werden.
Emma Lyonna.«
Ich ließ diesen Brief sofort an Sir William Hamilton befördern und traf dann die nötigen Anstalten zu meiner Abreise. Entweder war Sir William bei mir, ehe mein erster Koffer gepackt war, oder Lord Greenville kam, sobald er erfuhr, daß ich in Nutley war, mir dorthin nach. Im ersten Falle war dies ein Schritt vorwärts, im zweiten Falle war meine Situation dieselbe oder vielmehr eine bessere, weil ich, nachdem Lord Greenville das Haus verlassen, auch nicht darin hätte bleiben wollen.
Sir William Hamilton hatte meinen Brief nicht sobald erhalten, so kam er auch schon zu mir geeilt. Er fand mich mit den Anstalten zu meiner Abreise beschäftigt.
»Das, was Sie mir schreiben, ist also Ihr Ernst?« rief er. – »Jawohl, mein völliger Ernst, Mylord,« antwortete ich ihm. »Sie werden doch nicht voraussetzen, daß ich mir erlaube, Scherz mit Ihnen zu treiben?« – »Wenn Ihr Brief nun mich nicht zu Hause angetroffen hätte, und wenn ich, anstatt sofort, erst in zwei Stunden gekommen wäre?« – »Dann hätten Sie mich abgereist gefunden.« – »Hätten Sie mir dadurch zu entrinnen geglaubt?« – »Ihnen zu entrinnen? Ich verstehe nicht, Mylord. Ich fliehe Sie nicht, ich fliehe Lord Greenville nicht, ich fliehe niemanden, ich ziehe mich bloß zurück.« – »Ich wäre eine Stunde nach Ihnen, ja vielleicht sogar eine Stunde vor Ihnen in Nutley gewesen.« – »Und was hätten Sie in Nutley machen wollen, Mylord?« – »Ich hätte Ihnen gesagt, daß jetzt, wo ich Sie kenne, Emma, ich Sie nicht mehr entbehren kann und daß ich Sie bitte, unter dem Namen, den Sie selbst wählen werden bei mir zu bleiben!« Ich fühlte, wie ein Schauer des Stolzes mein Herz erfüllte.
»Mylord,« sagte ich, »Sie wissen wohl, daß ich von dem Onkel nur einen Titel annehmen kann, nämlich den, welchen ich dem Neffen verweigert habe.« – »Emma, sprechen Sie aus Ehrgeiz so?« – »Nein, Mylord, nicht aus Ehrgeiz, sondern aus Selbstachtung.«
»Und hat Ihnen niemand zu der Haltung, die Sie mir gegenüber beobachten, geraten, Emma?« – »O doch, Mylord.« – »Wer denn?« – »Ein Mann, ohne dessen Rat ich meinem Gewissen nach über nichts entscheiden darf.« – »Von wem sprechen Sie?« – »Von Lord Greenville.« – »Von meinem Neffen?« – »Gehen Sie in dieses Zimmer, Mylord, und auf dem Bureau werden Sie den Brief finden, den er mir geschrieben, bevor er unsere Wohnung verlassen. Lesen Sie.« Sir William ging in das Schlafzimmer und kam unmittelbar darauf mit dem Brief in der Hand zurück.
Er hatte sich kaum Zeit genommen, denselben zu lesen. »Miß Emma,« sagte er, »wollen Sie einem Manne, der nie etwas anderes als Ihr Vater sein wird, die Huld erzeigen, ihn Ihren Gatten zu nennen?« Die Füße versagten mir den Dienst. Ich sank in einen Lehnstuhl nieder, und kalter Schweiß perlte auf meiner Stirn. War es ein Traum? Bot der stolze Sir William Hamilton, welcher ausdrücklich in der Absicht von Neapel hierhergekommen, um die Ehe, welche ich im Begriffe stand mit seinem ruinierten Neffen einzugehen, zu vereiteln, mir wirklich seinen Namen, seinen Rang, sein Vermögen?
»Mylord,« sagte ich zu ihm, »wenn ich ein so glänzendes Anerbieten sofort annehmen wollte, so könnte es Ihnen später vorkommen, als hätten Sie sich übereilt. Machen Sie mir dieses Anerbieten morgen noch einmal, und ich werde dann darauf antworten.« – »Ich bin damit einverstanden, aber unter der Bedingung, daß Sie diese Antwort in der Kapelle des Hotels abgeben und daß wir noch denselben Abend nach Neapel abreisen.« – »Ich werde morgen von Ihnen nur Befehle zu empfangen haben, Mylord.« – »Und werden Sie mittlerweile erlauben, daß ich als Freund den Abend bei Ihnen zubringe?«
»Wollte ich Ihnen diesen Wunsch abschlagen, Mylord, so hieße dies Sie einer Gelegenheit zur Reue berauben.«
»Glauben Sie, daß ich mich langweilen werde?« – »Der Gesandte, der Freund eines Königs und einer Königin, der von der Aristokratie der Geburt und der Intelligenz umgebene Gelehrte wird, fürchte ich, an der Konversation der armen Schafhirtin aus dem Fürstentume Wales nur ein sehr mittelmäßiges Interesse finden.« – »Sie kommen mir vor wie die Prinzessinnen in unseren Volksmärchen, Emma. Sie haben eine Fee zur Pate gehabt. Sie haben von dem Namen, welchen sie Ihnen gegeben, einen Buchstaben abgeschnitten, um desto besser Ihr Inkognito zu wahren, und Sie heißen nicht Emma, sondern eigentlich Gemma, der Edelstein.« – »Mylord, Mylord, Sie sind gewöhnt mit einer Königin zu sprechen, Bedenken Sie, daß Sie in London sind und nicht in Neapel.« – »Diese Königin wird Ihre Freundin sein, Emma. Diese Königin wird Sie bitten, sie in Sachen der Anmut und des guten Geschmackes zu unterrichten. Diese Königin wird an dem Tage, wo Sie es wünschen, genötigt sein, ihre Krone Ihnen abzutreten.«
»Gibt die Königin, wenn Sie ihr dergleichen Dinge sagen, Mylord, die Hand zum Kusse?« – »Warum fragen Sie das?« – »Weil ich mich geneigt fühle, die Rolle der Vizekönigin einzuüben.« – Und ich reichte ihm die Hand.
Lord Hamilton ergriff dieselbe und küßte sie mit derselben Ehrerbietung, welche er der Königin Marie Karoline bewiesen haben würde. »Bei den Plänen, die ich für morgen habe,« sagte er dann, indem er meine Hand losließ und sich gegen mich verneigte, »werden Sie sich nicht wundern, wenn ich Ihnen sage, daß ich sehr viel zu tun habe. Erlauben Sie daher, daß ich Sie verlasse, und heben Sie den Abend, den Sie mir versprochen, mir auf.« Ich empfand selbst den Wunsch, allein zu sein, um mir Rechenschaft von den Gefühlen zu geben, welche sich in meinem Herzen und besonders in meinem Geiste durcheinandertummelten. Ich machte Sir William meine anmutigste Reverenz und sagte ihm, daß ich ihn um acht Uhr abends erwarten würde. Als er hinaus war, faßte ich mich mit beiden Händen am Kopfe. Es war mir, als müßte derselbe auseinanderspringen.
Brauche ich mich erst über die seltsame Situation, in der ich mich befand, auszusprechen? Nein; ganz wie Lord Greenville erraten, war Sir William Hamilton bis zum Wahnsinn in mich verliebt.
Erst um ein Uhr morgens verließ er mich berauscht, bezaubert, geblendet.
Am nächstfolgenden Tage vermählte, nachdem Sir William die Dispensation von dem gesetzlichen Aufgebote erkauft, ein protestantischer Geistlicher, der ihm seine Stelle verdankte, uns in einem zur Kapelle eingerichteten Zimmer des Hotels ohne Aufsehen, ohne Pomp und ohne andere Zeugen, als die, welche von dem Gesetze vorgeschrieben, und zur Gültigkeit des feierlichen Aktes erforderlich waren. Als die Zeremonie vorüber war, überreichte der Geistliche uns einem jeden eine Abschrift von dem von ihm ins Kirchenbuch aufgenommenen Trauungsprotokoll. Diesmal handelte es sich nicht um ein Eheversprechen wie das Lord Greenvilles, sondern um eine wirkliche Vermählung, die, obschon heimlich, doch vollkommen gültig war. Noch denselben Abend, nachdem die Angelegenheiten meiner Kinder und ihres Vaters von Sir William mit wahrhaft fürstlicher Freigebigkeit geordnet worden, verließen wir London und traten die Reise nach Neapel an.
Wir durchreisten einen Teil von Frankreich, Belgien und Deutschland. In Wien verweilten wir so lange, als Sir William Zeit bedurfte, um dem Kaiser Joseph dem Zweiten seine Huldigung darzubringen. Er hatte schon früher die Ehre gehabt, demselben vorgestellt zu werden, als Seine Majestät vor vier Jahren inkognito und ohne Gefolge unter dem Namen eines einfachen Edelmannes in Neapel gewesen war. Dann reisten wir weiter nach Venedig, Ferrara, Bologna und Rom. In Rom beschloß Sir William mit meiner Einführung in die italienische Welt den Anfang zu machen. Seine archäologischen Forschungen hatten ihn mehr als einmal in die Hauptstadt der Cäsaren geführt und er war mit den angesehensten Familien befreundet. Zu Anfang des Frühjahres 1788 langten wir hier an. Pius der Sechste saß seit dreizehn Jahren auf dem Stuhle des heiligen Petrus und war jetzt einundsiebzig Jahre alt. Gerade in dem Augenblick, wo wir in Rom anlangten, bot sich mir eine Gelegenheit dar, ihn zu sehen.
Bekanntlich empfängt der Papst keine Frauen, sondern begegnet ihnen bloß. Wenn irgendeine vornehme fremde oder römische Dame den Pontifex zu sehen wünscht, so läßt sie ihn um diese Gunst bitten, und er läßt ihr in der Regel antworten, daß er an dem und dem Tage, zu der und der Stunde, wenn es Sommer ist, im Garten des Quirinal, und wenn es Winter ist, im Garten des Vatikan spazieren gehen werde. Die Dame findet sich an dem bezeichneten Tage und zu der bezeichneten Stunde ein, begegnet Sr. Heiligkeit und empfängt den päpstlichen Segen.
Ich für meine Person konnte in meiner Eigenschaft als Protestantin nicht einmal auf eine solche Gunst hoffen, gleichwohl sollte ich auf einem noch einfacheren Wege dieser Ehre teilhaftig werden. Die Direktoren des Kollegs der Propaganda hatten von dem Papst die Zusicherung erhalten, einer ihrer akademischen Disputationen beizuwohnen. Für Sir William war nichts leichter als in seiner Eigenschaft als Gesandter Plätze zu erhalten. Da diese Plätze reserviert waren, so waren wir nicht genötigt, lange an der Tür zu stehen oder warten, sondern brauchten uns erst gerade zur bestimmten Zeit einfinden.
Kaum hatten wir Platz genommen, als ein großes Geräusch die Ankunft des heiligen Vaters verkündete.
Ich gestehe, daß ich sein Erscheinen mit großer Neugier erwartete. Es möchte schwer gewesen sein, einen schöneren Greis zu sehen, als Pius der Sechste war. Sein früher so schönes blondes Haar war allerdings weiß geworden, wallte aber immer noch in anmutigen Locken auf die Schultern herab. Das Gesicht sah ein wenig zu frisch aus, als daß man nicht einige Nachhilfe der Kunst hätte vermuten sollen; die Zähne aber waren schön und das Auge besaß eine merkwürdige Lebhaftigkeit. An dem heutigen Tage war dieses Auge vielleicht lebhafter als gewöhnlich. Man erzählte sich leise, daß Se. Heiligkeit sich soeben einem jener Zornesausbrüche hingegeben, welche der Schrecken seiner ganzen Umgebung waren und die oft durch die unbedeutendste Ursache hervorgerufen wurden.
Er hatte nämlich zu der Feierlichkeit, welcher er beiwohnen sollte, bei seinem Schneider ein neues Kleidungsstück bestellt; eine unglückliche Falte an demselben beeinträchtigte die Regelmäßigkeit der Formen, auf die er so stolz war. Er machte dem armen Teufel darüber lebhafte Vorwürfe, welchen dieser eine demütige Entschuldigung entgegenzustellen wagte. Diese Entschuldigung aber war trotz ihrer Demut durch eine kräftige Ohrfeige zurückgewiesen worden. Der Schrecken mehr als der Schmerz hatten eine Ohnmacht herbeigeführt, und der Schuldige war nur durch einen tüchtigen Aderlaß wieder zum Bewußtsein gebracht worden. Die Zeremonie begann. Alles ging wunderschön, bis die Sitzung zu zwei Drittteilen vorüber war. Die Direktoren des Kollegiums ließen nun in der Meinung, dem Papste dadurch eine Freude zu bereiten, indem sie ihm zeigten, wie weit die Kirche ihre Herrschaft erstrecke, da sie selbst unter der heißesten Zone Anhänger zähle, einen jungen Neger vom Kongo auftreten und dieser neubekehrte Afrikaner begann eine Rede, welche mir sehr gut ausgearbeitet zu sein schien, die aber gleich in ihrem Eingange von dem heiligen Vater unterbrochen ward, indem er sich erhob und sich unter unverkennbaren Zeichen der Unzufriedenheit entfernte. Nach Verlauf von einigen Sekunden ward die Ursache dieser plötzlichen Anwandlung von Übellaune bekannt. Pius der Sechste hatte sich weder um die Schönheit der Rede, noch um den Kongo, noch um den Breitegrad bekümmert, unter welchem es lag. Er hatte nur eines gesehen – einen sehr häßlichen Neger, dessen widerwärtige Physiognomie seine empfindlichen Sehorgane beleidigt hatte – und er hatte sich mit der Bemerkung entfernt, daß man ihm dergleichen Ungeheuer nicht wieder vor die Augen kommen lassen solle. Dies war alles, was die Direktoren des Kollegs der Propaganda durch ihre zarte Aufmerksamkeit gewonnen hatten. Dafür hatte einige Monate früher, am 6. Oktober 1787 – dieses Datum hatte sich wie das eines Festtages in die Erinnerung der ganzen Umgebung des Papstes eingegraben – die Vorsehung ihm eine große Freude bereitet. Die Prinzessin-Herzogin Signora Constanze Onesti war nämlich von einem derben Knaben entbunden worden.
Prinzessin-Herzogin nennt man in Rom die Gattin desjenigen der Neffen des Papstes, der von ihm zum Prinz-Herzog ernannt wird, die andern Neffen werden gewöhnlich Kardinäle. Die Prinzessin-Herzogin, das heißt die Gemahlin des Prinz-Herzogs Onesti Braschi, war, wie man behauptete, dem Papst in mehr als einer Beziehung lieb und wert – erstens als Nichte, weil sie seinen Neffen geheiratet, und zweitens als Tochter der Geliebten des Kardinals Rezzonico, der schönen Julia Falconieri. Bei Gelegenheit des eben erwähnten Ereignisses hatten in Rom große Festlichkeiten stattgefunden und sämtliche Kardinale und Prälaten hatten ihre Freude und ihre Anhänglichkeit dadurch zu erkennen gegeben, daß sie die Prinzessin-Herzogin mit Geschenken überhäuften.
Der Gemahl dieser Dame, den ich in den Soiréen, oder wie man dort sagt, den Conversazioni der Prinzessin Borghese, den am wenigsten langweiligen von allen römischen Konversationen – von dieser allgemeinen Langweiligkeit nehme ich jedoch die des alten Kardinals von Vernis aus, bei welchem man die ganze Ungezwungenheit des Landes fand, welches er repräsentierte – der Gemahl dieser Dame, welchem ich, sage ich, in den Conversazioni der Prinzessin Borghese begegnete, war ein ziemlich schöner Mann von athletischem Körperbau und aus seiner kleinen Stadt Cesena herbeigekommen, um Prinz-Herzog zu werden. Seine Unwissenheit war eine wahrhaft patriarchalische, und wenn man in Rom von einem an den äußersten Grenzen des Blödsinns angelangten Menschen sprechen wollte, so sagte man: »Er ist so dumm wie der Prinz-Herzog.«
Das erstemal, wo er nach seiner Ankunft von Cesena noch ganz stolz auf seine neue Würde und die Abstammung, welche ein römischer Gelehrter ihm ermittelt, sich bei der Prinzessin Borghese einfand, wünschte er ein Glas Wasser und bat die Herrin des Hauses darum. Er stand, während er dies tat, mit dem Ellbogen auf den Kaminsims gelehnt. »Ziehen Sie zweimal die Klingelschnur, die hinter Ihnen hängt,« sagte die Prinzessin zu ihm, »und Sie werden bekommen, was Sie wünschen.«
Der Prinz-Herzog gehorchte, ohne zu begreifen. Er kannte nicht den Gebrauch der Klingeln, welcher übrigens von Frau von Maintenon erfunden, nicht viel über hundert Jahre alt ist. Sein Erstaunen war daher groß, als er, sobald er die Schnur zweimal gezogen, einen Diener mit einem mit allerhand Erfrischungen beladenen Präsentierbrett eintreten sah. Man mußte, um seine Neugier zu befriedigen, ihm den Mechanismus der Klingelzüge erklären, der, wie wir nicht unterlassen dürfen zu bemerken, seine Bewunderung in so hohem Grade erregte, daß er den ganzen Abend davon sprach. Diese Bewunderung war so groß, daß der Prinz-Herzog, anstatt nach Hause zurückzukehren, sich nach dem Vatikan fahren ließ und seinen Onkel aus dem Schlafe weckte, um ihm die von ihm gemachte Entdeckung mitzuteilen.
Der Papst, welcher im Bett lag, zog die zu Häupten seines Bettes hängende Klingelschnur und sagte zu dem herbeieilenden Kammerdiener: »Geleitet Monsignore Onesti wieder hinaus, und ehe Ihr ihn ein andermal zu einer solchen Stunde einlaßt, erkundigt Euch erst, ob das, was er mir zu sagen hat, der Mühe verlohnt, daß man mich wecke.« Diese Unwissenheit des Prinz-Herzogs erstreckte sich auf alles. Wenige Tage nach dem eben erzählten Vorfall begegnete ich ihm bei der Marquise Bocca Paduli Gentili.
Man sprach von der englischen und französischen Literatur – von Shakespeare, Ben Johnson, Racine, Corneille und Molière.
Der Prinz-Herzog saß mit offenem Munde da. Er kannte keinen dieser Herren, sondern hörte sie jetzt zum ersten Mal nennen. Sir William nannte, als das Gespräch auf die, Ganganelli gewidmete, Tragödie: »Mahomet« kam, den Namen Voltaire. »Ach!« rief der Prinz-Herzog, indem er vor Freude in seinem Lehnstuhl emporhüpfte, »den kenne ich! Es ist ein deutscher Mönch, welcher der heiligen Kirche einen großen Schaden zugefügt hat.« Der gute Mann verwechselte Voltaire mit Luther.
Übrigens schien es, als ob ein Verhängnis diesen Dummkopf an unsere Schritte fesselte. Am nächstfolgenden Tage trafen wir uns an der Tafel des venetianischen Gesandten wieder. Man sprach von Wien und von der kaiserlichen Gemäldegalerie. Der Prinz-Herzog rief, von einer schönen Anwandlung von Kunstenthusiasmus ergriffen: »Wenn ich in Wien wohnte, so brächte ich mein ganzes Leben in dieser Galerie im Anschauen der ›Nacht‹ von Correggio zu.« Einer sah den andern an. Wir wußten alle, daß die »Nacht« von Correggio von August dem Dritten, König von Polen und Kurfürsten von Sachsen, der Galerie von Modena abgekauft worden, und daß dieses Gemälde sich in Dresden befand. Lord Harvey, Herzog von Bristol und Bischof von Derry in Irland, konnte sich nicht überwinden, einen solchen Beweis von Unwissenheit ungerügt hingehen zu lassen.
»In der Tat, Monsignore,« sagte er, »es tut mir leid, einem Mann von Ihrer Gelehrsamkeit widersprechen zu müssen, ich zögere aber nicht, Ihnen zu versichern, daß Sie sich irren, und daß das Gemälde, welches Ihnen den Wunsch einflößt, in Wien zu wohnen, um es mit aller Muße betrachten zu können, sich in diesem Augenblick nicht in Wien, sondern in Dresden befindet.«
»Wie,« entgegnete der Prinz-Herzog, »wollen Sie die Sache besser wissen als mein Onkel, der es mir gesagt hat, und der in seiner Eigenschaft als Papst unfehlbar ist?«
»Monsignore,« hob Lord Harvey wieder an, »der Grund, den Sie da anführen, ist nicht stichhaltig. Ich bin protestantischer Bischof, und erkenne folglich die Unfehlbarkeit Ihres Onkels nicht an.« Ich erwähnte vorhin den Stolz, welchen der Prinz-Herzog in bezug auf den Stammbaum an den Tag legte, welchen man ausdrücklich für ihn erfunden und der selbst den hinter sich ließ, welchen der Advokat Nicolas David für die Herzöge von Guise erfunden und welcher die Abstammung derselben von Karl dem Großen herleitete. Mit dem erstgedachten Stammbaume war es folgendermaßen beschaffen. Angelo Braschi stammte aus einer edlen, aber armen Familie von Cesena. Seine Schwester hatte einen kleinen Bürger dieser Stadt, namens Onesti, geheiratet, welcher Handelsgeschäfte trieb und nie auch nur den mindesten Anspruch darauf gemacht hatte, in die Carossen des Königs von Frankreich zu steigen. Dennoch aber, als der Neffe des Papstes von diesem zum Prinz-Herzog ernannt ward, mußte man für ihn eine dieses Ranges würdige Abstammung ausfindig machen.
Zum Glück las ein Genealog in der lateinisch geschriebenen Lebensgeschichte des heiligen Romaldus die Worte: »Romaldus, ex honestis parentibus natus.«
Der Genealog faßte die Worte beim Schopfe, nahm das Beiwort honestis für den Familiennamen des Heiligen und ließ mit großem typographischem Luxus ein Werk drucken, in welchem er bewies, daß der heilige Romaldus aus einer Familie Onesti stamme, mit welcher der Neffe des Papstes in gerader Linie verwandt sei. Kraft dieser, wie man leicht begreift, unbestrittenen Genealogie empfing der Erstgeborene des Herzogs – das Kind, dessen Geburt am 6. Oktober 1787 am Hofe von Rom so große Freude veranlaßt – von seinem Onkel in der Taufe den Namen Romoaldo.
Ich habe gesagt, daß die römischen Conversazion sehr langweilig waren; ich hätte sagen sollen für die andern, denn für mich boten sie ein so neues Schauspiel dar, daß sie amüsant oder vielmehr außerordentlich waren. Die Römerinnen sind allerdings schön, doch im Volke häufiger als unter der Aristokratie. Oft findet man unter den Bäuerinnen der Umgegend von Rom Gestalten und Physiognomien, welche an die Madonnen Raphaels erinnern. In den vornehmeren Ständen sind die Schönheiten seltener und mein Erscheinen machte daher in den römischen Salons keine geringe Sensation.
Es war beinahe, als ob unter den Prälaten und Kardinälen eine Revolution zum Ausbruche kommen sollte. Ich muß hier zunächst sagen, was eine römische Soirée gewöhnlich ist, wenn nicht durch ein großes Ereignis wie meine Gegenwart ein Grad von Leben und Aufregung hineingebracht wird. Die römischen Abendgesellschaften richten sich natürlich nach dem Geist der Regierung und des Priestertums. Die Zeit vergeht damit, daß man den Anforderungen der Etikette genügt und wenn auch zuweilen das Herz dabei interessiert ist, so ist doch der Geist es niemals. Überall stößt man auf Zwang, die Heiterkeit existiert hier nicht, nicht einmal unter den jungen Leuten. Da die Furcht in aller Herzen lebt, so leuchtet auch das Mißtrauen aus aller Augen. Anstatt sich freimütig auszusprechen, wie man in Frankreich und in England zu tun pflegt, sieht man sich an, mustert sich und schweigt, aus Furcht, sich zu kompromittieren. Die Fremden sind natürlich nicht von denselben Befürchtungen beseelt, das eisige Wesen der andern erkältet aber auch sie. Die ganze Gesellschaft hat das Ansehen einer ungeheuren Uhr, deren Räder stehen geblieben sind und sich bloß von Zeit zu Zeit infolge eines Stoßes in Bewegung setzen, um wieder stehen zu bleiben. Zum Glück spielt man und zwar hoch; obschon ich aber gern spielte, so zog ich es doch vor, das zu studieren, was ich hier vor Augen hatte, denn ich meinte, zu der Karte könnte ich immer noch zeitig genug zurückkehren.
Wenn die Herrin des Hauses nicht spielt, so bemächtigt sie sich einer Eminenz oder eines Ministers und plaudert mit ihm so lange, als die Soirée dauert.
Die anderen mit irgendeiner Würde bekleideten Personen machen es ebenso, und diese Zwiegespräche werden, so zahlreich sie auch sind, so ernst und leise gepflogen, daß man mitten unter fünfzig Personen eine Fliege schwirren hört. Die Unbeweglichkeit aller dieser Leute erinnerte mich an die der altrömischen Senatoren, die auf ihren curulischen Stühlen saßen und von der Hand der Gallier den Tod erwarteten. Wenn es drei oder vier Kardinale unter der Gesellschaft gibt, so wird die Sache für die Zuschauer sehr unbequem. Die vornehmen Eminenzen spazieren unaufhörlich hin und her. Man muß ihnen stets Platz machen, sich, wenn sie an einem vorbeikommen, tief verbeugen und sich in acht nehmen, daß man nicht auf die ungeheure Schleppe ihres Gewandes trete. Die einfachen Prälaten, welche sie umgaben, gehen stets gebückt wie Parenthesen und schenken jeder Redensart Beifall, welche die Eminenz ihrem geheiligten Munde entfallen zu lassen geruht.
Meine Ankunft in Rom und meine Einführung in die Gesellschaftskreise hatte, wie ich schon gesagt, eine förmliche Revolution hervorgerufen. Die Eminenzen bildeten, anstatt auf und ab zu spazieren, wie der »eingebildete Kranke« Molières, einen Kreis um mich, und da ich geläufig italienisch sprach und von ihnen nur sehr wenige französisch und keiner englisch, so waren sie nicht wenig erfreut, mir ihre gleichzeitig faden und übertriebenen Komplimente in ihrer Muttersprache machen zu können.
Einer meiner eifrigsten Courmacher war Lord Harvey, Bischof von Derry, und da er mit mir englisch sprach, da seine Konversation, wenn auch nicht gerade viel Geist und Witz, doch etwas Originelles hatte, und da wir beiderseitig über die Dinge lachten, die von uns gesprochen worden, so waren die Eminenzen und ultramontanen Größen, welche uns umgaben, sehr ärgerlich darüber.
Die angenehmsten von allen Soiréen waren die bei der Marquise von Santa Croce. Allerdings empfing sie in ihrem engeren Zirkel – und in diesen ward ich infolge der politischen Stellung meines Gemahls eingeführt – nur eine gewählte Gesellschaft, die fast ganz aus dem diplomatischen Korps bestand. Ich hatte darauf bestanden, der Marquise von Santa Croce vorgestellt zu werden, denn ich wußte, daß man um zehn Uhr abends in ihren kleinen Soiréen den Kardinal von Bernis antraf und ich wünschte diesen liebenswürdigen Greis kennen zu lernen, dessen Gedichte, welche er seine Jugendsünden nannte, ich gelesen hatte. Der Kardinal von Bernis zählte damals dreiundsiebzig Jahre und hatte von seinem Witze, ja ich möchte beinahe sagen auch von seiner Jugend noch nichts verloren. In Rom trug er den Titel eines Beschützers von Frankreich. Man weiß, daß er, nachdem er eine Rolle in der europäischen Diplomatie gespielt, in den geistlichen Stand trat, den Titel Abbé annahm, nach Paris ging, dort galante Verse drucken ließ, der Frau von Pompadour gefiel, mit neunundzwanzig Jahren Mitglied der Akademie ward, nach dem Tode des Kardinals Fleury schnell sein Glück machte, Gesandter in Venedig und bald darauf Kardinal wurde. Er war es, der als Minister der auswärtigen Angelegenheiten den Allianztraktat mit Österreich unterzeichnete und während des siebenjährigen Krieges in Ungnade fiel, weil er gegen die Meinung der Frau von Pompadour zum Frieden geraten. Als Frau von Pompadour im Jahre 1764 starb, ward der Kardinal von Bernis zum Erzbischof von Alby und fünf Jahre später zum Gesandten in Rom ernannt.
In den ersten Jahren seines Aufenthaltes hier spielte er eine sehr glänzende Rolle, und obschon Spanien in Rom den herrschenden Einfluß wieder gewonnen, so hatte der Kardinal doch durch seine persönlichen Eigenschaften Frankreich in einer guten Stellung erhalten. Gleich an dem Tage, wo wir ihm vorgestellt wurden, lud er uns für den nächstfolgenden zur Tafel.
Wir wußten im voraus, daß diese Tafel eine ganz vorzügliche war, und daß, den Gewohnheiten des römischen Bedientengesindels ganz entgegen, die Lakaien sich von den Gästen nicht den Preis der Mahlzeit bezahlen ließen, welche letztere am Tage vorher zu sich genommen. Der Kardinal führte ein großes Haus. Er hielt offene Tafel, und wer ihm einmal vorgestellt worden, hatte für immer sein Kuvert bei ihm. Dieser täglich wiederkehrende Aufwand, die Feste, die er gab, führten ihn geraden Weges seinem Ruin entgegen, umsomehr, als seine mit der Verwaltung seiner Güter in Frankreich beauftragte Familie jedes Jahr, um ihm keinen Ertrag schicken zu müssen, bald eine Dürre, bald eine Überschwemmung erfand. Was von diesen Landplagen verschont blieb, ward durch angeblich notwendige Baureparaturen verschlungen. Der liebenswürdige Greis erzählte mir dies alles lachend, indem er mit mir kokettierte.
»Zum Glück,« sagte er, »bin ich dreiundsiebzig Jahre alt, und so lange ich lebe, wird mein Vermögen wohl noch reichen.« Leider täuschte sich der würdige Mann. Als er drei Jahre später wegen seiner Opposition gegen die französische Revolution zurückgerufen und seines ganzen Vermögens beraubt ward, sah er sich, der bis jetzt ein jährliches Einkommen von einhunderttausend römischen Talern gehabt, in sehr beschränkte Umstände versetzt und hätte ohne die Unterstützung, welche der Chevalier Azara, sein Freund, ihm beim spanischen Hofe auswirkte, geradezu Mangel leiden müssen.
Wir trafen bei dem Kardinal von Bernis diesen würdigen Spanier, in bezug auf dessen Redlichkeit und Courtoisie in Rom nur eine Stimme war. Er und sein Hof – der Carls des Dritten – war augenblicklich mit dem Papst ein wenig gespannt und zwar infolge einer kleinen Escamotage, welche letzterer sich erlaubt, und in bezug auf welche Azara trotz aller Bitten noch keine Genugtuung hatte erlangen können. Bekanntlich ward die Gesellschaft Jesu im Jahre 1767 aus Spanien und Neapel verbannt und endlich im Jahre 1773 von Clement dem Vierzehnten unterdrückt, welcher diesen Akt nur um zwei Jahre überlebte.
Obschon der König Carl der Dritte gegen die guten Väter keinen geringen Groll hegte, weil sie schon von seiner Geburt an das Gerücht verbreitet, er sei der Sohn des Kardinals Alboni und nicht der Philipps des Fünften, so hatte seine Rache sich doch darauf beschränkt, daß er sie aus seinen Staaten verbannte und auch aus denen seines Sohnes Ferdinand verbannen ließ. Dabei fuhr er fort, ihnen ihre Pensionen in vortrefflichen spanischen Piastern zu bezahlen, welche in Italien und besonders in Rom, wo das Gold fürchterlich gefälscht ist, einen Mehrwert hatten.
Nun war in Civita Vecchia ein von dem Hofe in Madrid abgesendetes, mit Piastern beladenes Schiff angekommen. Diese Piaster waren zur Bezahlung der Pensionen der Verbannten bestimmt. Pius der Sechste ließ sie in der Münze deponieren. Als das Geld einmal hier war, ließ er, anstatt es unter die guten Väter zu verteilen, es einschmelzen, mischte ein Vierteil geringhaltiges Metall darunter, ließ Paoli, Papeti, Carlini und Testoni daraus schlagen und bezahlte die Jesuiten mit diesem erbärmlichen Gelde, so daß er, wie Jenkens, Sir Williams Bankier, uns versicherte, mehr als fünfundzwanzig Prozent daran gewann. Die Jesuiten und der Chevalier Azara mochten reklamieren, wie sie wollten; sie fanden kein Recht. Endlich richteten sie eine Bittschrift an den König Carl den Dritten und baten ihn, sie später direkt durch die Hände des spanischen Gesandten auszahlen zu lassen. Es ist dies jedoch noch nichts im Vergleich mit dem, was man von den Mitteln erzählte, welche jener Papst anwendete, um sich Geld zu verschaffen, oder vielmehr um das Vermögen des Prinz-Herzogs und des Kardinals Onesti, seiner beiden Neffen, zu vermehren, denn der Krebs des Nepotismus nagte ihn ab bis auf die Knochen.
Im Augenblicke unserer Ankunft in der ewigen Stadt stand Pius der Sechste im Begriff, trotz seiner weltlichen und geistlichen Macht, einen Prozeß zu verlieren, den er, wenn derselbe bloß ungerecht gewesen wäre, zehnmal gewonnen hätte.
Unglücklicherweise aber war dieser Prozeß geradezu ruchlos. Die Tatsache war folgende: Es gab in Rom einen Lastträger aus der Umgegend von Mailand, welcher durch seine Arbeit, echte Lastträgerarbeit, die fabelhafte Summe von achthunderttausend römischen Talern oder vier Millionen vierhunderttausend Franks französisches Geld zusammengebracht hatte. Dieser Lastträger hieß Levi. Er hatte drei Söhne Amasis, Giuseppe und Giovanni. Er teilte sein Vermögen unter sie und stellte dabei die Bedingung, daß das Vermögen eines jeden ohne männliche Kinder sterbenden Bruders wieder an die anderen zurückfallen sollte.
Giovanni, der älteste der Söhne, starb einige Zeit nach seinem Vater, ohne Kinder zu hinterlassen. Giuseppe war der zweite, welcher starb, und er hinterließ eine Tochter Anna Maria. Es blieb nun noch der dritte, Amasis übrig, welcher Priester geworden und folglich keine Aussicht für Kinder hatte. Dem Rechte nach hätte nun alles, selbst das Erbteil des Priesters, der Tochter zufallen sollen, da ja keiner der Verstorbenen männliche Kinder hinterlassen hatte. Der Priester aber behauptete, alles gehöre ihm, und bemächtigte sich in der Tat des ganzen Vermögens, zum Nachteil Anna Marias, deren Mutter er nicht leiden konnte.
Anna Maria machte einen Prozeß gegen ihren Onkel anhängig. Der Priester wußte durch seinen Einfluß Zeugen aufzutreiben, welche aussagten, Anna Maria sei nicht von legitimer Geburt. Diese List hatte kein anderes Resultat, als daß dadurch die öffentliche Meinung aufgeregt ward. Das Gerücht von diesem Prozesse kam auch zu Ohren des Papstes, der hier ein gutes Geschäft witterte. Er beauftragte einen gewissen Nardini, Amasis den Kardinalshut und eine Rente zu bieten, über deren Höhe man sich verständigen würde. Man machte Amasis bemerklich, da das ganze Vermögen von seinem Vater in den Staaten des Papstes erworben worden, es nicht mehr als recht sei, wenn es, mit Abzug des Anteils, welcher ihm, Amasis, zuerkannt werden würde, an den heiligen Stuhl zurückfiele. Amasis sah in diesem Vorschlag ein Mittel, um zugleich seinen Stolz und seinen Haß zu befriedigen. Er schenkte dem Papst sein sämtliches Besitztum und stellte die Entscheidung der Entschädigungsfrage seiner Großmut anheim.
Der Papst setzte sofort den Prinzen-Herzog in den Besitz dieses Vermögens, vergaß aber die Amasis versprochene Rente ebenso wie den Kardinalshut. Amasis reklamierte, aber vergeblich. Nun begann er zu bereuen, ohne Nutzen für sich eine schlechte Tat begangen zu haben. Er errichtete deshalb ein Testament, in welchem er erklärte, die Schenkung, welche er dem Papste gemacht, sei das Resultat hinterlistiger Ratschläge, und hinzufügte, er habe besonders sich von dem Haß leiten lassen, den er gegen seine Schwägerin gehegt, die er nun um Verzeihung bat, indem er sein Verbrechen gestand, und die gemachte Schenkung widerrief.
Nardini, der päpstliche Agent, dem man ohne Zweifel ebenfalls vergessen, seine Courtage zu bezahlen, machte nun gemeinschaftliche Sache mit Amasis, indem er erklärte, er bereue, sich zum Werkzeuge des Papstes hergegeben und ihm bei dieser abscheulichen Tat noch geholfen zu haben. Das Testament Amasis und die Geständnisse Nardinis wurden bald öffentlich bekannt, und man begann von allen Seiten zu murren. Der Papst begnügte sich jedoch zu antworten, die von Amasis zu seinen Gunsten geübte Freigebigkeit sei ein Wunder des Apostels Petrus, und es komme ihm nicht zu, sich dem Wohlwollen zu widersetzen, welches der Heilige für seinen Nachfolger bewahre. Da zu der Zeit, wo dies geschah, der Papst bereits einundsiebzig Jahre zählte, so begnügten Anna Maria und ihre Mutter sich damit, daß sie die besten Advokaten Roms eine Konsultation abhalten ließen und dieser gemäß beschlossen, den Tod des Papstes abzuwarten, und den Prozeß nicht gegen diesen, sondern gegen den Prinz-Herzog anhängig zu machen. Dieser Beschluß erschreckte Pius den Sechsten. Wenn er tot war, so war niemand mehr da, welcher das ganze Gewicht seiner Macht in die Wage geworfen hätte, welche eine alte mythologische Tradition der Göttin der Gerechtigkeit in die Hand gibt. Er zwang daher Anna Maria, ihre Rechte sofort geltend zu machen und den Prozeß gegen ihn zu beginnen. Das Interesse, welches das arme Kind einflößte, dem man sein rechtmäßiges Erbe rauben wollte, ward so allgemein, und die Ungerechtigkeit, gegen welche es reklamierte, war so augenscheinlich, daß die Richter dem Papst mitteilten, sie könnten nicht anders als gegen ihn erkennen, weshalb sie ihm rieten, sich mit der Klägerin zu vergleichen. Der Papst hatte demzufolge Anna Maria gewisse Eröffnungen machen lassen.
So weit war die Sache gediehen. Man sagte, Anna Maria würde die Hälfte des Vermögens ihres Großvaters annehmen und die andere Hälfte dem Prinz-Herzog überlassen, welcher auf diese Weise von vier Millionen vierhunderttausend Franks zwei Millionen zweihunderttausend behielt. Dies hieß vielleicht nicht sich mit Ehren, jedenfalls aber mit gutem Gewinn aus der Sache ziehen.
Man begreift, daß ich bei meiner Vorliebe für das Theater sofort nach meiner Ankunft in Rom Sir William bat, mich ins Schauspiel zu führen. Meine Neugier war um so unwiderstehlicher, als ich hatte erzählen hören, daß hier die Gewohnheit herrsche, die Frauenrollen durch Knaben spielen zu lassen. Übrigens weiß ich nicht, ob man die amphibischen Wesen, welche hier die Stelle der Frauen vertreten, Knaben nennen kann. Bei den Griechen, diesen leidenschaftlichen Verehrern der Schönheit, hatte die plastische Träumerei den Hermaphroditen, die Verschmelzung aller Schönheiten beider Geschlechter und welcher gleichzeitig Hebe und Ganymed war, erfunden. Die Römer dagegen haben ein ganz besonderes Wesen erfunden, welches weder dem einen noch dem anderen Geschlecht angehört und welches weder Hebe noch Ganymed ist. Für diese seltsamen Wesen begehen die römischen Prälaten jedes Alters dieselben Torheiten, welche unsere jungen Herren in London und Paris für die Damen der Oper begehen. Sir William führte mich in das Theater Velle. Man gab hier »Armida« von Gluck, und die Rolle der Armida ward von einem jungen Sänger gegeben, welcher sich damals der Gunst der römischen Prälatur im höchsten Grade erfreute. In dem Augenblicke, wo er auf der Bühne erschien – und ich gestehe, wenn man mir es nicht vorher gesagt, so hätte ich darauf gewettet, daß es eine Frau und zwar eine hübsche Frau sei – in dem Augenblicke, wo er auf der Bühne erschien, sage ich, und ehe er noch einen einzigen Ton gesungen, brach das ganze Haus in einen wütenden Beifallssturm aus. Ernste Prälaten, alte Kardinale, deren schroffer Anblick mich betroffen gemacht, schienen mir nahe daran zu sein, vor Wohlbehagen ohnmächtig zu werden, als dieser – als dieses – ich weiß wirklich nicht, wie ich sagen soll – als dieses Objekt aus den Kulissen heraustrat. Sein Erfolg war ein unermeßlicher. Wir hatten in unserer Loge den Kardinal Braschi Onesti, jüngsten Bruder des Prinzen-Herzogs, welcher, kaum von einer schweren Krankheit erstanden, gemeint hatte, eine Leidenschaft für diesen zweiten Sporus habe für einen Rekonvaleszenten nichts Gefährliches. Er erzählte uns mit Stolz, daß die Krankheit, welche er überstanden, durch eine vollständige Erschöpfung der Kräfte herbeigeführt worden und zwar infolge einer Orgie, bei welcher er gewettet, es mit den fünf größten Trinkern und den fünf schönsten Kurtisanen Venedigs aufzunehmen.
Er hatte beinahe den Tod davon gehabt, aber doch seine Wette gewonnen. Der Kardinal Braschi Onesti war einer der eifrigsten Anbeter des Wunders des Tages. Er erbot sich, Sir William Hamilton in die Loge der seltsamen Armida zu führen, und ihn der Toilette der Zauberin beiwohnen zu lassen, welche zwischen dem ersten und zweiten Akt das Kostüm wechselte. Ich fragte, ob auch Damen mit dabei sein könnten. Er antwortete mir, dies sei allerdings nicht gebräuchlich, ganz gewiß aber würde ich in meiner Eigenschaft als Fremde von dem Signor Veluti – so hieß er – freundlichst empfangen werden, besonders wenn ich mich dazu verstünde, ihm einige Komplimente zu machen. Übrigens sei Signor Veluti ein großer Verehrer schöner Frauen. Der Kardinal ließ uns die Verbindungstür zwischen dem Zuschauerraum und der Bühne öffnen. Wir gingen quer über diese hinweg und kamen in den Korridor, welcher nach der Loge der Armida führte. An der Tür war großes Gedränge und der Korridor gedrängt voll. Beim Anblick des Neffen des Kardinals aber öffneten sich die Reihen, die untergeordneten Anbeter drückten sich an die Wände, und man ließ uns vorbei.
Wir traten in eine ganz mit himmelblauem Atlas ausgeschlagene Loge, welche in bezug auf Eleganz mit dem Boudoir einer Modedame wetteifern konnte. Das Idol saß vor seinem Altar, das heißt bei seiner Toilette. Es empfing den Kardinal-Neffen mit dem reizendsten Lächeln und fragte ihn, wie er es wagen könne vor ihm zu erscheinen, ohne ihm einen Blumenstrauß oder eine Schachtel Bonbons mitzubringen. Der Kardinal Braschi Onesti zog von seinem Finger einen Brillantring im Werte von vielleicht tausend römischen Talern, steckte ihn an den Zeigefinger des Signor Veluti und bat ihn, diesen Ring anstatt eines Buketts anzunehmen. Da er, sagte er, die Ehre gehabt, den Gesandten und die Gesandtin von England in das Theater zu begleiten, so habe er nicht gewußt, ob es ihm diesen Abend möglich sein würde, ihm sein Kompliment zu machen. Sir William und Lady Hamilton hätten jedoch gewünscht, den großen Sänger, dem sie Beifall gezollt, in der Nähe zu sehen und er, Braschi, habe diese Gelegenheit benutzt, um seinem Lieblingskünstler das Vergnügen zu bezeigen, welches dieser ihm in dem ersten Akte der »Armida« bereitet. Nachdem der Kardinal dies gesagt, stellte er uns den Signor Veluti vor, welcher Sir William Hamilton die Ehre erzeigte, ihm die Hand zum Kusse zu reichen, während er mich einlud, Platz zu nehmen. Sei es nun, daß unsere Eigenschaft als Fremde in seinen Augen uns zur Empfehlung gereichte, sei es, daß er sich geschmeichelt fühlte, den Besuch des Gesandten einer Macht ersten Ranges zu empfangen, kurz der Signor Veluti war gegen uns äußerst liebenswürdig. Er warf mir die zärtlichsten Blicke zu und sagte, wenn wir es erlaubten, so würde er sich glücklich schätzen, unsern Besuch zu erwidern. Man kann sich denken, daß wir uns wohl hüteten, eine solche Gunst abzulehnen. Dann bat er, indem er sich besonders mit mir beschäftigte, mich, ihm den Namen des Opiats zu nennen, womit ich mir die Lippen riebe und die Flüssigkeit, womit ich mir die Zähne spülte. Ich antwortete ihm, daß ich mich für die Zähne nie eines anderen Mittels bedient hätte, als eben des reinen Wassers, und was meine Lippen beträfe, so hätten dieselben von Natur die Farbe, die er daran sähe.
Der Signor Veluti rief, ein solches Wunder sei unmöglich, ergriff die Kerze und bat mich um Erlaubnis, meine Lippen und meine Zähne in der Nähe zu betrachten – eine Musterung, die ich mir bereitwillig gefallen ließ, und nach welcher Signor Veluti erklärte, ich sei sicherlich eine der schönsten Personen, die er jemals gesehen. Dann kehrte er, wahrscheinlich in der Meinung, mir durch diese Schmeichelei seinen Tribut der Gastfreundschaft entrichtet zu haben, zu seiner Toilette zurück, kokettierte mit seinen Bewunderern und ließ von Zeit zu Zeit eine anmutige Roulade hören, welcher von den Zuhörern enthusiastischer Beifall gespendet ward.
Es war seltsam, zu sehen, welche Mühe diese Zuhörer, die beinahe sämtlich der hohen Prälatur angehörten, sich gaben, um von der falschen Armida ein Lächeln, einen Blick, ein Wort zu erobern. Der eine hielt ihm seinen Kranz von Rosen, der andere seinen Zauberstab, dieser das Gewebe, welches seine Reize nicht bedecken, sondern durchschimmern lassen sollte, jener den kleinen Mantel, welcher diese himmlische Stimme vor den Luftströmungen schützen sollte, welche nachteilig darauf einwirken konnten.
Ich saß da, ich sah, ich hörte, ich glaubte zu träumen. Ich lächelte unwillkürlich über diese Beweise von Ehrerbietung, die von Männern, welche das Volk als ehrwürdige Persönlichkeiten betrachtete, diesem Idol gegeben wurden, welches jener unzähligen Menge falscher Götter in dem Pantheon menschlicher Ketzereien eine unglaubliche Einheit mehr hinzufügte. Der Augenblick, wo Armida wieder auf der Bühne erscheinen mußte, war da, die Klingel des Inspizienten ließ sich für die gemeinsamen Märtyrer hören; für den Signor oder die Signora Veluti, wie man will, erfolgte die Aufforderung mündlich durch den Regisseur und mit allen Kennzeichen von Ehrerbietung, die er einer wirklichen Königin bewiesen haben würde. Die schöne Armida nahm sich nur mir allein gegenüber die Mühe, sich wegen ihrer gezwungenen Abwesenheit zu entschuldigen, dann berührte sie mich mit ihrem Zauberstabe und sagte: »Schöner als Sie sind kann ich Sie nicht machen, wohl aber kann ich für Sie tun, was die Sibylle von Cumä, welche zu besuchen Sie im Begriffe stehen, von Apollo vergessen hatte zu verlangen. Ich kann nämlich durch meine Zauberkunst machen, daß Sie ewig schön bleiben.«
Dann machte die Zauberin, indem sie einige Worte sprach welche eine cabbalistische Formel sein sollten, mir eine weibliche Reverenz und entfernte sich, indem sie sich hin und her wiegte und eine Cadenz hören ließ, an deren Reinheit und Wohlklang sich allerdings nichts aussetzen ließ.
Ich verließ das Zimmer Armidas stumm vor Erstaunen und kehrte in meine Loge zurück, die sich so nahe an der Bühne befand, daß ich von dem Signor oder der Signora Veluti wieder erkannt ward, und diese die Güte hatte, während des noch ganzen übrigen Abends mir Beweise ihrer Aufmerksamkeit zu geben, sei es, indem sie ihre schwierigsten Passagen an mich richtete, sei es, indem sie ihre mörderischsten Blicke nach mir schleuderte. Am nächstfolgenden Tag empfing ich den Besuch des Grafen von Bristol, welchem ich die fabelhaften Ereignisse des vorigen Abends erzählte. Er fing an zu lachen und erzählte mir, daß es in Rom unter der hohen Prälatur eine achte Todsünde gäbe, welche man die noble nenne. Wie groß auch meine Neugier war, den Signor oder die Signora Veluti in der Nähe und bei Tag zu sehen, so ließ ich ihn doch, als er fünf Uhr nachmittags in einem eleganten Abbékostüme erschien, mit der Entschuldigung abweisen, daß die Vorbereitungen zu meiner Abreise es mir unmöglich machten, irgendwelchen Besuch zu empfangen. In der Nacht, welche dieser Abreise voranging, ereignete sich ein merkwürdiger Vorfall, welcher von der Art und Weise, auf welche damals in Rom die Polizei gehandhabt ward, einen Begriff geben kann. Kaum fünfzig Schritte von unserm Hotel, auf dem sogenannten Spanischen Platze war bei Rovaglio, dem Uhrmacher des Vatikans, gegen zwei Uhr morgens ein Einbruchdiebstahl versucht worden. Der Uhrmacher, sein Sohn und zwei Diener hatten sich zur Wehr gesetzt. Einer der Räuber war auf dem Platze geblieben und einen zweiten hatte man sterbend an der Ecke der Straße del Babuino liegend gefunden.
Am nächstfolgenden Tage erfuhr man, auf welche Weise Rovaglio sich selbst Gerechtigkeit verschafft hatte. Es war nicht das erstemal, daß man bei diesem Manne einzubrechen versucht, dessen Kaufladen, wie man wußte, einen reichen Vorrat von Uhren und Schmucksachen enthielt. Schon zweimal hatte er durch das Geräusch, welches er im Innern des Ladens gemacht, dergleichen Versuche vereitelt. Jedesmal hatte er dann die Polizei davon benachrichtigt. Der mit dem Departement der öffentlichen Sicherheit betraute Prälat Busca hatte aber nur mit schönen Redensarten geantwortet, ohne irgendwelche Maßregel gegen die Diebe anzuordnen. Als Rovaglio sich auf diese Weise von der Behörde, die ihn hätte beschützen sollen, verlassen sah, richtete er, als er eines Tages in den Vatikan ging, um die Uhren zu stellen, es so ein, daß er dem Papste begegnete, dem er alles erzählte, worauf er ihn um direkten Beistand gegen die Industriellen bat, welche sich mit gewaffneter Hand in sein Geschäft zu mischen suchten. »Mein lieber Rovaglio,« antwortete ihm der Papst, »ich nehme an der kritischen Lage, worin Sie sich befinden, aufrichtig Teil, aber ich kann nichts tun. Da Monsignore Busca Sie nicht beschützen will, so kann ich ihn auch nicht zwingen, es zu tun; schützen Sie sich lieber selbst.«
»Aber wie soll ich das tun?« fragte Rovaglio.
»Legen Sie sich mit Ihren Söhnen und Dienstleuten gut bewaffnet, sei es im Laden selbst oder hinter der Tür, in den Hinterhalt, und wenn die Bösewichter wiederkommen, um Sie zu berauben, so schießen Sie dieselben nieder. Mögen Sie deren töten, so viel Sie wollen – ich erteile Ihnen im voraus Absolution.« Rovaglio war dem Rate des Papstes gefolgt; er hatte sich selbst geschützt und zwei Banditen getötet. Der Papst hielt Wort und erteilte ihm für diese beiden Mordtaten öffentliche Absolution.
Ich kann Rom nicht verlassen, ohne hier noch einige Bemerkungen über die Menschen und die Ereignisse einzuschalten. Der Vergleich, den ich zwischen unseren nordischen Sitten und denen des Südens anstellte, prägte sich meiner Erinnerung so tief ein, daß jetzt, nach dreißig Jahren, das Gemälde der Personen und der Ereignisse unter meiner Feder ebenso genau wieder zum Vorschein kommt, als wenn ich die Zeilen, die man sogleich lesen wird, auf der Durchreise in Rom im Jahre 1788 geschrieben hätte. Was mir bei meiner Ankunft in Rom zunächst auffiel, war der große Unterschied, den ich hier zwischen den Preisen aller Dinge bemerkte. Eine Mietequipage kostet in London eine Guinee den Tag, in Paris achtzehn Franks, in Rom bloß sieben oder acht Franks. Dasselbe Verhältnis findet in bezug auf die Hotels statt. In London kostet eine einigermaßen hübsche Wohnung eine Guinee täglich, in Paris fünfzehn Franks, in Rom kaum zehn Franks. Teuer ist in Rom weder der Wagen, noch die Wohnung, noch auch die Beköstigung – man speist allerdings auch ganz abscheulich – sondern nur die buona mano oder mit andern Worten das Trinkgeld. Man kann bei einem vornehmen Mann weltlichen Standes, bei einem Kardinal oder bei einem Priester keinen Besuch machen, ohne daß den nächstfolgenden Tag die Diener in corpore einem ins Haus kommen, um sich ein Geschenk zu erbitten. Der Erzbischof von Wien hatte Sir William ein Paket an den Kardinal Buoncampagno mitgegeben. Sir William, welcher keinen Grund hatte, diesen Prälaten zu sprechen, obschon derselbe der Bruder des regierenden Fürsten von Piombino war, ließ, als er durch die betreffende Straße fuhr, das Paket durch seinen Kammerdiener abgeben. Am nächstfolgenden Tage kam ein großer Bengel in der Livrée des Kardinals, um Sir William im Namen seines Herrn guten Tag zu wünschen und um ihn in seinem eigenen um eine buona mano zu bitten. Sir William antwortete, er habe dem Kardinal Buoncampagno keineswegs einen Besuch gemacht, sondern sich darauf beschränkt, ihm ein Paket zuzustellen, dessen Besorgung er aus reiner Gefälligkeit übernommen. Es käme daher eher dem Kardinal zu, Sir Williams Kammerdiener ein Trinkgeld zu geben, als Sir William dem Kammerdiener des Kardinals ein solches zu verabreichen. Der Wicht beharrte nichtsdestoweniger immer noch auf seinem Verlangen. Sir William aber ließ ihm die Tür vor der Nase zuschlagen.
Sir Williams Bankier in Rom war ein zu seltsamer Mensch, als daß ich nicht im Vorübergehen einige Worte über ihn sagen sollte. Er hieß Thomas Jenkens, war geborener Engländer und hatte anfangs die Malerei studiert. Da er jedoch bemerkt, daß er stets ein nur mittelmäßiger Künstler bleiben würde, so begnügte er sich, während er das Bankierhandwerk ausübte, ein geschickter Kenner zu bleiben, der in der Theorie alles dessen, was auf Malerei und Zeichenkunst Bezug hat, gründlich bewandert war. Dabei war er zugleich ein Archäolog, dessen Urteil in bezug auf Kameen und geschnittene Steine als beinahe unfehlbar betrachtet ward. Niemand verstand besser als er über ein Basrelief, über eine Statue oder eine Büste zu sprechen, wie beschädigt der Gegenstand auch durch sein Verweilen in der Erde oder durch das Werkzeug des Arbeiters, der es ausgegraben, sein mochte. Um sein Lob vollständig zu machen, will ich noch bemerken, daß er oft von dem Kardinal Alexander Albani – den man nicht mit dem Kardinal Francesco verwechseln darf – von dem berühmten Winkelmann, dem Verfasser der »Geschichte der Kunst bei den Alten«, und von dem berühmten Raphael Mengs, einem der besten Maler der neueren Schule, der nun seit zehn Jahren tot war, zu Rate gezogen ward. Diese Verbindung des Handels mit Statuen, Kameen und Medaillen mit den Geschäften eines Bankiers hatte Jenkens zu einem der reichsten Kapitalisten Roms gemacht.
Sir William entnahm von ihm nicht bloß das Geld, dessen er zur Fortsetzung seiner Reise bedurfte, sondern kaufte ihm auch zwei oder drei seiner schönsten Ringe und Kameen ab, die er mir zum Geschenk machte. Bei dieser Gelegenheit war ich Zeuge der Art und Weise, auf welche Jenkens verkauft, und die Erinnerung daran ist unauslöschlich in mir zurückgeblieben. Wenn der Gegenstand, den man Jenkens abkaufen wollte, eine Medaille war, so begann er damit, daß er die Geschichte des Ereignisses oder der Person erzählte, worauf sie Bezug hatte, worauf er in einer mit großem Pathos gehaltenen pomphaften Lobrede die Seltenheit und Eigentümlichkeit des betreffenden Exemplares rühmte, worauf er natürlich bemüht war; einen bedeutenden Preis zu fordern. Bezahlte man ihm dann gegen sein Erwarten den verlangten Preis, so begann er zu seufzen, Tränen zu vergießen und zu schluchzen. Ein Vater, der sich seine einzige Tochter durch einen Mann entführen sähe, welcher mit ihr zu den Antipoden ginge, könnte keinen lebhafteren Schmerz an den Tag legen. Ich war mit zugegen, als Sir William ihm die für mich bestimmten Schmucksachen abkaufte, und ich gestehe, daß ich selbst bis zu Tränen gerührt ward.
»Mylord,« sagte er zu Sir William, »wenn Sie den Handel, den Sie soeben mit mir abgeschlossen, jemals bereuen, so bringen Sie mir diese Ringe, diese Kameen, diese Medaillen wieder. Sie werden mich stets bereit finden, Ihnen den dafür gezahlten Preis zurückzuerstatten und mir dadurch obendrein einen hohen Trost bereiten.«
Das Außerordentliche hierbei ist, daß Jenkens, den man zuweilen beim Wort gehalten, niemals verfehlt hatte, das, was er versprochen, auch zu tun und das für den Gegenstand empfangene Geld ungeschmälert zurückzuerstatten, wobei er zugleich die lebhafteste Freude an den Tag gelegt, daß er sich wieder im Besitz des schmerzlich vermißten Gegenstandes sah. Mochte dies nun Berechnung oder das wahre Gefühl eines Archäologen sein, welcher, wie Cardillac, sich nicht entschließen konnte, sich von seinem Schatz zu trennen, so äußerte die Treue, womit Jenkens sein Wort hielt, auf den Käufer allemal eine beruhigende Wirkung, denn dieser glaubte nie eine Sache über ihren Wert zu bezahlen, da er ja wußte, daß er, wenn er sie dem Verkäufer wiederbrächte, dieser ihm sofort das Geld wieder herauszahlen würde. Ich bilde mir ein, daß ich die Kunst verstehe, durch meine Physiognomie die verschiedenen Empfindungen der Seele auszudrücken, aber ich gestehe, daß, wenn Jenkens, anstatt bei der Trennung von seinen Kameen und Medaillen einen aufrichtigen Schmerz zu empfinden, bloß eine eingelernte Rolle spielte, er in der Kunst des Lachens und des Weinens mich weit hinter sich zurückließ.
Wir sahen auf dieser Durchreise durch Rom – ohne jedoch nähere Bekanntschaft mit dem Manne zu machen – einen Prälaten, der früher an dem Hofe von Neapel eine so bedeutende Rolle spielte, daß ich ihn schon jetzt dem Leser vorstellen zu müssen glaube. Ich spreche nämlich von dem päpstlichen Oberschatzmeister, Monsignore Fabrizzio Ruffo.
Derselbe war der Neffe des Kardinals Ruffo, Dekan des heiligen Kollegs, welcher, wie ich schon bemerkt, den schönen Angelo Braschi veranlaßte, sich dem geistlichen Stande zu widmen. Wir müssen Pius dem Sechsten die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu sagen, daß er, auf den Thron des heiligen Petrus gelangt, dem Manne, der ihm den Weg dazu gebahnt, sich so dankbar verpflichtet fühlte, daß seine erste Sorge war, dem Neffen des verstorbenen Kardinals denselben Posten zu geben, welchen er, Braschi, früher von Rezzonico durch die Protektion der schönen Julia Falconieri erhalten. Er machte den jungen Fabrizzio Ruffo zum Großschatzmeister, ein Amt, welches, wie ich schon bemerkt zu haben glaube, dem, der es niederlegt, von Rechts wegen den Kardinalshut einträgt. Monsignore Ruffo galt in Rom für einen Mann von scharfem Verstand, welchem die Kunst der Folard und der Montecuculi nicht unbekannt war. Er pflegte sogar selbst zu sagen, daß, wenn er zur Zeit der Lavalette und der Richelieu gelebt hätte, er öfter den Panzer und Helm als das Barett und den Purpurmantel getragen haben würde. Großer Liebhaber des schönen Geschlechts und aus dieser seiner Neigung durchaus kein Hehl machend, gab er gegen die männlichen Sängerinnen oder die weiblichen Sänger die größte Verachtung zu erkennen. Zur Zeit unserer Durchreise machte er eifrig einer Signora Lepri den Hof, einer Verwandten jener Anna Maria, deren ungerechte Bedrückung wir erzählt. Da er sich keineswegs versteckte, so waren seine Liebschaften aller Welt bekannt, und dies verschaffte ihm die Ehre, in satirischen Versen besungen zu werden, deren Verfasser, ein Zeitungsschreiber in Florenz, mit langer Gefängnisstrafe belegt ward. Seit dem berüchtigten Pasquillanten, welcher von Sixtus dem Fünften zu den Galeeren verurteilt ward, hatte man kein Beispiel von solcher Strenge gesehen.
Da ich hier auf einen in Rom sehr bekannten Vorfall, den man anderwärts nur wenig kennt, anspiele, so ist es vielleicht nicht unangemessen, wenn ich hier, um mein Sittengemälde zu vervollständigen, eine Parenthese öffne und die Sache erzähle. Unter dem Pontifikat Sixtus des Fünften hatte ein Dichter Namens Marere einige satirische Verse geschrieben, in welchen er die Gattin eines hohen Beamten beleidigt, der sich deswegen bei dem Papst beschwerte. Dieser, ein strenger, aber gerechter Richter, ließ den Dichter rufen und befragte ihn über die Beweggründe, die er gehabt, sich so etwas zu erlauben. Nach mehreren Erklärungen, welche den Papst nicht zufriedenstellten, obschon sie diesen zuweilen bewogen, zu lächeln, fragte er, wie er eine Frau, deren Name beinahe ein Symbol der Tugend sei, öffentlich mit ihrem Namen als eine Kurtisane habe bezeichnen können.
»Hattet Ihr vielleicht Grund, Euch über sie zu beklagen?« fragte Sixtus der Fünfte. – »Nein,« antwortete der Poet, »durchaus nicht.« – »Aber warum habt Ihr sie dann verleumdet und beleidigt?« – »Ich brauchte einen Reim und ihr Name lieferte mir denselben.« – Sixtus der Fünfte biß sich auf die Lippe. »Und Ihr, Herr Poet, wie heißt Ihr?« fragte er dann. »Marere, Euer Heiligkeit zu dienen,« antwortete der Poet.
»Wohlan, die Reihe des Versmachens ist nun an mir, und da Euer Name mir ebenfalls einen Reim liefert, so werde ich auch versuchen zu reimen:
»Ihr verdienet, Signor Marere,
Zu rudern auf einer Galeere!«
Das auf diese Weise von dem Papst gesprochene Urteil ward auch wirklich in Vollzug gesetzt und auf alle Bitten, welche man zugunsten des Schuldigen bei Sixtus anbrachte, antwortete er: »Einen guten passenden Reim findet man selten; ist dies aber der Fall, so muß ein solches Ereignis auch konstatiert werden und Epoche machen.« Und Signor Marere mußte demgemäß auf den Galeeren von Civita Vecchia rudern, wo er starb und zwei Bände unveröffentlichte Gedichte hinterließ, die für die Nachwelt verloren gingen, da kein Verleger den Mut hatte, sie herauszugeben.
Am Abend unserer Abreise hatten wir, als wir das Theater verließen, da es noch ziemlich zeitig war, unsern Abschiedsbesuch bei jenem liebenswürdigen Kardinal von Bernis gemacht, welchem Voltaire den Namen »Babette das Blumenmädchen« gegeben. Wir trafen bei ihm den Grafen von Bristol, Bischof von Derry, welcher sich in derselben Absicht hier befand. »Sie verlassen also Rom auch, Mylord?« fragte ich diesen seltsamen Prälaten, dessen Originalität mich für ihn interessierte. – »Jawohl meine schöne Landsmännin, die Gnade hat mich erleuchtet.« – »Wann werden Sie abreisen?« – »Morgen.« – »Und wohin, wenn man fragen darf?« – »Das sollen Sie morgen erfahren,« – Am nächstfolgenden Tage erschien er bei uns, nachdem wir gefrühstückt, und verlangte eine Unterredung mit Sir William. Sir William ging mit ihm in ein Kabinett. Fünf Minuten später kam er wieder heraus und führte den Bischof an der Hand. »Liebe Emma,« sagte er, »Mylord behauptet, er habe sich plötzlich so sehr in dich verliebt, daß er sich von deiner teuren Person nicht trennen könne, ohne vor Sehnsucht zu sterben. Demzufolge bittet er uns um Erlaubnis, uns nach Neapel zu begleiten. Da du wahrscheinlich nicht gesonnen bist, den Tod eines unserer vornehmsten Pairs und eines der höchsten Würdenträger unserer Kirche zu verschulden, so habe ich für meine Person seine Bitte bewilligt, und er erwartet nur noch deine Zustimmung, um der stolzeste aller Menschen und der glücklichste aller Bischöfe zu sein.« Da die zweiundsiebzig Jahre des Lord-Bischofs mir keine große Furcht einflößten, so glaubte ich nicht, mich wegen einer so unschuldigen Bitte mit Sir William Hamilton in Widerspruch setzen zu müssen. Ich reichte dem Lord die Hand, welche er mit dem Ausdrucke der lebhaftesten Freude küßte, und wir kamen überein, daß er von diesem Augenblicke als mein Cavaliere servente oder dienender Ritter der englischen Gesandtschaft attachiert sein sollte.
Wir reisten mit zwei Post- und einem Gepäckwagen von Rom ab, und schlugen auf die Gefahr hin, angefallen und beraubt zu werden, den Landweg ein. Die sechs Diener des Grafen von Bristol und unsere beiden, lauter starke, mutige Engländer, bildeten eine zu unserer Verteidigung hinreichende Eskorte. Für mich, die ich stets von dem Wunsche beseelt gewesen bin, den Kreis meiner geringen Kenntnisse zu erweitern, war es ein großes Vergnügen, mit Sir William Hamilton zu reisen. In allen Dingen des Altertums bewandert, hatte er sein ganzes Wissen der Sichtung einer gesunden Kritik unterworfen, so daß, wenn er eine Tatsache erzählte, ein Datum zitierte oder ein Monument beschrieb, man alles, was er sagte, unbedingt auf Treu und Glauben hinnehmen konnte. Wir verließen Rom auf der appischen Straße, das heißt durch das alte appische Tor, so daß das Tal der Egeria, der Zirkus Caracallas, das Grab der Cecilia Metella zu unserer Linken und die Katakomben von St. Sebastian und die Monumente der aurelischen Familie zu unserer Rechten blieben. Sir William ließ unseren Wagen vor dem Grabmale der Tochter des Kritikers Metellus Halt machen, wo die Asche jener jungen, intelligenten Frau ruhte, die in jenem schönen Zeitalter Roms gelebt, welche Cäsar, Pompejus, Cicero, Clodius, Catullus, Hortensius, Lucullus und Cato gekannt und dieselben vielleicht einmal alle zusammen an ihrem Herd vereinigt hatte, ehe sie durch den unversöhnlichen Haß des Bürgerkrieges getrennt wurden. Trotz seiner zweiundsiebzig Jahre stieg Mylord Harvey, mein dienender Ritter, aus dem Wagen, und wollte durchaus bis auf den obersten Rand des Grabmales hinaufsteigen, um mir ein Reis von dem wilden Granatbaume zu pflücken, der in den Ruinen wuchs.
Als wir in Aqua Ferentina anlangten, zeigte Sir William uns den Ort, wo Clodius von den Gladiatoren des Milo tödlich verwundet ward.
In Genzano verließen wir unseren Wagen einen Augenblick und stiegen, von vier Mann unserer Leibwache mit der Kugelbüchse auf der Schulter begleitet, bis zum See Nemi hinauf. Es ist dies einer der reizendsten Orte der römischen Campagna und trennt den Berg Gentili von den unsichtbaren Ruinen von Alba La Longa. Lord Harvey, welchem die Liebe zu mir die Rüstigkeit eines zwanzigjährigen Jünglings geliehen zu haben schien, verließ uns keinen Augenblick und marschierte entweder uns voran oder neben uns her. Der Ausflug dauerte ungefähr eine Stunde. Wir nahmen dann wieder in unseren Wagen Platz und rollten einen ziemlich steilen Abhang hinab, den pontinischen Sümpfen entgegen, welche Pius der Sechste beschäftigt war austrocknen zu lassen, nicht um des öffentlichen Wohls, nicht um der Verbesserung der Gesundheitsverhältnisse der Stadt Rom willen, sondern um den Grundbesitz seines Neffen, des Prinzen-Herzogs, zu vermehren. Auf der Hälfte dieses Hügelabhanges begegneten wir einer Karosse, welche, wie wir schon von weitem bemerkten, einem hohen Würdenträger der Kirche angehören mußte. Als wir näher kamen, erkannten wir Monsignore Ruffo. Er redete uns an und fragte, ob wir nicht ein Glas Wasser für einen armen Teufel hätten, der von dem furchtbaren Fieber der pontinischen Sümpfe befallen worden und den er in seinem eigenen Wagen mit nach Rom zurücknahm. Er hatte ihn am Fuße eines Baumes liegend gefunden, auf seine Schultern geladen und bis in seinen Wagen getragen, um ihm in Rom die weitere nötige Pflege angedeihen zu lassen. In seiner Eigenschaft als Großschatzmeister hatte Ruffo die Arbeiten, welche Pius der Sechste ausführen ließ, zu beaufsichtigen und die Arbeiter auszuzahlen.
Bei einer dieser Gelegenheiten hatte er eben Anlaß gefunden, die gute Tat auszuführen, deren Zeugen wir waren. Der blinde Haß des Bürgerkrieges machte Hamilton, Nelson und mich eine Zeitlang zu erbitterten Feinden des Kardinals Ruffo. Heute aber, wo der Haß schweigt, wo ich schreibe, mit der rechten Hand auf dem Papier, mit der linken Hand auf dem Gewissen, muß ich sagen, daß der Kardinal gegenüber der blinden Rache, an welcher ich unglücklicherweise einen für die Ruhe meiner Seele allzu tätigen Anteil nahm, oft die Aufgabe der Humanität vertrat. Übrigens werde ich, wenn die Zeit da sein wird, wo ich diese furchtbaren Ereignisse erzähle, ihm volle Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Wir gaben ihm das Wasser, welches er für seinen Fieberkranken begehrte, der jeden Augenblick zu trinken verlangte. Wir hatten auf unserem Gepäckwagen ein ganzes Faß voll mitgenommen. Der Oberschatzmeister verließ uns, indem er uns sagte, wir würden uns wahrscheinlich in Neapel wiedersehen.
Der Kardinal war nämlich Neapolitaner und stammte aus einer vornehmen Familie von San Lucido in Calabrien. Sein Adel war sprichwörtlich. In Italien sagt man, wenn man von einem alten unbestreitbaren Adel sprechen will: »Die Evangelistas in Venedig, die Bourbons in Frankreich, die Colonna in Rom, die Sanseverini in Neapel, die Ruffo in Calabrien.«
Wir setzten unsern Weg nach Terracina, er den seinigen nach Rom weiter fort.
Nichts konnte malerischer sein als dieser Weg durch die pontinischen Sümpfe, zu dessen beiden Seiten die Arbeiter einen Kanal gruben. Man sah nur hagere, kränkliche Gestalten, denn alle diese Unglücklichen litten mehr oder weniger an den Einwirkungen der Malaria. Man mußte sie alle vierzehn Tage durch frische Arbeiter ersetzen, während die ersteren auf den Höhen wieder die Gesundheit zu erlangen suchten, die sie in den Sümpfen verloren. Ganz besonders als die Nacht einbrach, gewann die Landschaft ein vollkommen gespenstisches Ansehen.
Der sich durch dicke schwarze Wolken wälzende Mond beleuchtete gewisse Teile der Sümpfe, um andere dagegen im tiefsten Dunkel zu lassen. Bei dem Getöse, welches die Hufschläge unserer Pferde und die Peitschen unserer Postillone machten, erhoben sich große Vögel von der Gattung der Reiher und Rohrdommeln schweigend aus dem hohem Grase und den Wassertümpeln, in deren Mitte geräuschvoll, die scheußlichen Köpfe und die dampfenden Nüstern emporhebend, große Büffel schnarchten, die durch die Nacht noch riesiger gemacht wurden.
Es war dies das erstemal, daß ich diese Ungeheuer während der Nacht und in Freiheit sah, und ihr Anblick flößte mir unwillkürlichen Schauer ein. Ganz besonders aber auf den Poststationen trug alles, was uns umgab, einen Charakter, den ich in meinem Leben nicht vergessen werde. Dörfer gibt es in den pontinischen Sümpfen nicht, sondern bloß zwei oder drei Poststationen, welche aus einigen hölzernen Hütten bestehen, in welchen die unglücklichen Postillone mit ihren Familien wohnen. Die kleinen, magern, dichtbehaarten Pferde sind nicht in Ställe eingeschlossen, sondern weiden im Freien.
Auf den Knall der Peitschen unserer Postillone sahen wir fünf oder sechs mit langen Stangen bewaffnete Männer gleich Schatten aus den Hütten herauskommen. Sie sprangen auf das erste beste Pferd, auf welches sie stießen, ritten dann im weiten Kreise um die im Freien weidenden herum und trieben sie im Galopp und mit großem Geschrei auf die Hütten zu. Hier faßten andere, in Bereitschaft stehende Männer die Pferde bei der Mähne und legten ihnen endlich nach einem verzweifelten Kampfe ein zerfetztes Geschirr an, mittels dessen man sie trotz ihres Wiehern, Stampfens und Ausschlagens, womit sie gegen die Gewalt, die man ihnen antat, protestierten, an unsern Wagen spannte.
Als die drei Wagen bespannt waren, wurden die bis jetzt durch das Gebiß zurückgehaltenen Pferde sich selbst überlassen und rannten in wütendem Galopp davon, rechts und links von zwei Reitern begleitet, welche gemeinschaftlich mit dem Postillon durch ihre Zurufe und Peitschenhiebe Wagen und Gespanne auf der Mitte der Straße erhielten. Es waren jetzt nicht mehr drei Kaleschen oder Postwagen, sondern Lawinen, Wirbelwinde, Orkane, welche nicht einen Weg zurücklegten, sondern die Entfernung förmlich verschlangen.
Gegen drei Uhr morgens langten wir in Terracina an. Hier ruhten wir zwei Stunden lang auf Stühlen aus, denn die zweifelhafte Reinlichkeit der Betten hielt uns ab, uns derselben zu bedienen. Gegen sechs Uhr morgens machten wir uns wieder auf und hielten das nächstemal in Molo de Gaëta. Während die Diener unseres Begleiters das Frühstück aus den Bagagewagen holten und auf den Tisch setzten, ließen wir uns nach den Ruinen der Villa Ciceros führen. Hier, den Plutarch in der Hand, schilderte Sir William uns den Tod des großen Redners von dem Augenblick an, wo er mitten unter den Raben, die ihn – eine Verkündigung des nahebevorstehenden Todes – hartnäckig begleiteten, den Fuß ans Land setzte, bis zu dem, wo er aus der Villa nach dem Meere fliehend, hinter sich die Tritte der Mörder hörte, welche ihn verfolgten, seine Sänfte Halt machen ließ und, nachdem er sein ganzes Leben in Furcht vor dem Tode zugebracht, mit der Ruhe eines Märtyrers und der Seelengröße eines Helden starb. Es ist eine der seltsamen Eigentümlichkeiten, an welchen die Geschichte des Altertums so reich ist, daß jene Furcht, welche die Römer zu so vielen Niedrigkeiten trieb, sie in dem Augenblicke, wo sie sich dem so gefürchteten Tode gegenüber sahen, plötzlich verließ, um der wunderbarsten Unerschrockenheit Platz zu machen. Als Beleg hierzu dient der Tod des Petronius, des Lucanus und Senecas, dieser drei Schmeichler Neros. Nach Verlauf einer Stunde kamen wir wieder in Molo de Gaëta an, wo wir frühstückten. Dann setzten wir unsern Weg nach Neapel weiter fort, wo wir gegen neun Uhr abends mittels der Straße von Capua anlangten. Ein nicht weniger unauslöschliches Gefühl, obschon von ganz anderer Art als in den pontinischen Sümpfen, erfüllte mich bei meiner Ankunft in Neapel, als ich mich in einer schönen hellen Nacht dem dampfenden Vesuv gegenüber sah, in dessen Krater gleich einer glühenden Kugel über der Mündung eines Mörsers der Vollmond in seinem Glanze sich in einer dunstigen Atmosphäre zu schaukeln schien. Wir fuhren durch die Porta Capuana, durch das sogenannte alte Kastell, die Marina und den Piliero. Das Castello Nuovo blieb zu unserer Linken, die Piazza Medina zu unserer Rechten. Wir kamen an dem Porticus des San Carlotheaters vorüber, welches wegen einer außerordentlichen Vorstellung hell erleuchtet war. Dann fuhren wir über den Largo San Fernando, die Chiaja entlang und hielten endlich an der Ecke vor dem Palast Calabrita Capella Vecchia, der Wohnung des englischen Gesandten. Diese erste Nacht schlief Mylord Bristol oder Harvey mit in dem Gesandtschaftshotel, da sich aber glücklicherweise über Sir Williams Zimmer, der die beiden ersten Etagen innehatte, eine leerstehende Wohnung befand, so richtete Lord Harvey sich hier für die Dauer ein und bezog diese Räumlichkeiten schon am nächstfolgenden Tag. Nun war ich endlich in Neapel. Ich befand mich hier in einer Stellung, welche ich mir in den wahnsinnigsten Anwandlungen meines Ehrgeizes nicht zu träumen gewagt. Emma Lyonna war verschwunden, Miß Heart war verschwunden, alle jene unsaubere Vergangenheit war im Schmutze Londons begraben zurückgeblieben. Es gab jetzt bloß noch Lady Hamilton, die Gemahlin des Gesandten Englands. An mir war es, dies nicht zu vergessen.
Da ich die ganz eigentümliche Gesellschaft zu schildern haben werde, welche Sir William Hamilton in Neapel besuchte und empfing, so glaube ich, ehe ich mich zu der Erzählung der politischen Ereignisse wende, in welche ich mich verwickelt fand, damit beginnen zu müssen, daß ich einen vollständigeren Begriff von jener seltsamen Person gebe, welche der Leser bereits kennt, und welche Lord Harvey, Carl oder Graf von Bristol, Bischof von Derry hieß. Er war das jüngste von zwanzig Kindern, und da er das einzige war, welches davon am Leben geblieben, so hatte er die Güter, die Titel und die Würden der ganzen Familie geerbt.
Er weilte fast fortwährend im Ausland. Zu der Zeit, wo wir ihm begegneten, waren es ungefähr zwanzig Jahre her, daß er keinen Fuß in seine Diözese gesetzt. Nichts an ihm erinnerte daran, daß er auf irgendeine Weise der Kirche angehörte, weder seine Kleider, noch seine Konversation. Gewöhnlich trug er einen weißen Hut und einen seidenen Rock von bald heller, bald sehr greller, nur selten schwarzer Farbe. Dies war sein Kostüm. Was seine Sitten betraf, so waren sie ebenso wie seine Konversation ungemein locker. Das erste, was er bei seiner Ankunft in Neapel tat, war, daß er sowohl im Theater San Carlo als in dem Theater San Carlino eine Loge nahm. Er hatte keinen religiösen Glauben, nicht einmal an die absoluten Dogmen der Kirche, und war der erste, welcher dieselben lächerlich machte. Von der Unsterblichkeit der Seele sprach er mit einer Gleichgültigkeit, welche an Zweifel grenzte, gefiel sich nur in weltlichen Konversationen und liebte es, leichtfertige und selbst skandalöse Anekdoten zu erzählen oder erzählen zu hören. Schon bei seiner ersten Reise in Frankreich hatte er das Rhonetal, Grenoble und die Dauphinée besucht. An der großen Karthause vorbeikommend, war er bis zu dem Kloster der Schüler des heiligen Bruno hinaufgestiegen.
In dem Augenblicke, wo er hier erschien, war die Bruderschaft eben bei Tische. Er pochte an die Tür, die wegen der eben erwähnten Operation der frommen Väter verschlossen war, und der Pförtner erklärte ihm, daß es verboten sei, einzutreten, wenn die Mönche sich im Refektorium befänden. Lord Bristol zog jedoch aus seiner Tasche eine Karte, auf welcher sein Wappen stand, mit den darunter befindlichen Worten: »Lord Bristol, Bischof von Derry.« Diese Karte ließ er dem Abt zustellen, der nur die Worte las: »Bischof von Derry,« und in der Meinung es mit einem katholischen Bischof zu tun zu haben, ihn mit dem ganzen Kloster auf den Knien empfing, indem er ihn zugleich um seinen Segen bat, welchen der Lord auch keinen Anstand nahm, ihnen zu erteilen.
Es war dies eine der Erinnerungen, welche seine Heiterkeit allemal im höchsten Grade erregten, wenn er bedachte, daß katholische Mönche mit vollkommener Unterwürfigkeit den Segen eines protestantischen Bischofs empfangen hatten. Bei der Aufführung der Oper: »Die heimliche Ehe« war er von derselben so entzückt, daß er an einem der nächsten Tage seine sechs englischen Lakaien hineinschickte und ihnen empfahl, Cimarosas Musik mit der größten Aufmerksamkeit anzuhören. Bei ihrer Wiedernachhausekunft ließ er sie in sein Zimmer kommen und fragte sie, ob sie seine Befehle pünktlich befolgt hätten. Auf ihre bejahende Antwort befahl er ihnen, in Zukunft nur in Rezitativen mit ihm zu sprechen, und zwar in aus der genannten Oper entlehnten, sei es nun um Befehle zu empfangen, sei es um ihm zu sagen, daß seine Tafel serviert sei, sei es um ihm die Namen von ihn besuchenden Personen zu melden. Die Diener sahen einander an und glaubten, ihr Herr sei übergeschnappt. Auf seine wiederholte Aufforderung baten sie sich Bedenkzeit aus und versprachen, ihm den nächstfolgenden Morgen Antwort zu sagen.
Am nächsten Morgen schickten sie zwei der Ihrigen als Deputation zu Mylord und ließen ihm erklären, daß sie es mit der Würde englischer Diener unvereinbar fänden, anstatt zu sprechen, zu singen, wie Possenreißer auf dem Theater taten. Lord Bristol entgegnete ihnen hierauf, daß er, wenn sie sich seinen Wünschen fügten, ihren Gehalt verdoppeln würde. Zugleich gewährte er ihnen abermals vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit. Nach Verlauf von vierundzwanzig Stunden erschienen dieselben Deputierten wieder und meldeten, daß sie bedauerten, trotz der ihnen von Mylord gebotenen Vorteile auf ihrer Weigerung beharren zu müssen. Mylord Bristol bezahlte ihnen sechs Monate Lohn und schickte sie alle nach England zurück. Dann, als die Engländer fort waren, rekrutierte er ein halbes Dutzend Neapolitaner und stellte ihnen folgende Bedingungen:
Sie sollten mit ihm nie anders sprechen, als in aus der mehrerwähnten Oper entlehnten Rezitativen, wobei es ihnen selbst obliegen würde, die Worte mit der Musik in Einklang zu bringen. Für diesen besonderen Dienst, der natürlich eine höhere Intelligenz als die gewöhnlicher Diener nötig machte, sollten sie fünfundvierzig Ducati monatlich erhalten, das heißt ziemlich viermal mehr, als die am besten bezahlten Diener in Neapel sonst zu erhalten pflegten.
Die unerläßliche Bedingung hierbei war jedoch, daß die sechs Vorzimmer-Virtuosen während der ersten sechs Monate bloß Kost und Kleidung, den baren Gehalt aber erst nach Ablauf des sechsten Monats bekämen. Wenn einer von ihnen den Dienst vor Ablauf dieser Zeit verließe, so hatte er keinerlei Recht auf irgendeine Entschädigung. Die neapolitanischen Diener gingen auf dieses Anerbieten ein, ließen einen Paglietto oder öffentlichen Schreiber kommen, welcher den Kontrakt aufsetzte, und sechs Monate lang ward Mylord auf die zufriedenstellendste musikalische Weise bedient. Eines Abends, als er bei Sir William dinierte, brachte ihm einer seiner sechs Diener unter Absingung eines kurzen Rezitativs einen mit einem großen schwarzen Siegel verschlossenen Brief. Lord Bristol entsiegelte den Brief, las ihn, schob ihn unter seinen Teller und lachte, plauderte und scherzte seiner Gewohnheit gemäß den ganzen noch übrigen Abend. Gegen elf Uhr zog er sich zurück; es war dies eine Stunde früher als gewöhnlich. Am nächstfolgenden Tage ließ Sir William, welcher fürchtete, daß diese zeitige Entfernung durch ein Unwohlsein herbeigerufen worden, fragen, ob Lord Bristol sichtbar sei. Der Lord ließ antworten, es sei ihm ein großes Unglück widerfahren, und er könne daher niemanden empfangen. Sir William erzwang, durch diese Antwort beunruhigt, sich Zutritt und fand den armen alten Mann in Tränen und Schluchzen.
»Mein Gott, was fehlt Ihnen?« fragte Sir William erschrocken.
»Bemerkten Sie, daß man mir gestern abend während des Diners einen schwarzgesiegelten Brief brachte?« antwortete Mylord.
»Ja.«
»Nun, dieser Brief meldete mir, daß mein Sohn in Livorno gestorben ist. Ich wollte die heitere Stimmung an Ihrer Tafel nicht stören und bezwang mich daher. Sobald ich aber mich wieder in meiner Wohnung befand, kam der Schmerz nur umso heftiger zum Ausbruch. Um mich recht auszuweinen, wollte ich daher heute niemanden empfangen, nicht einmal Sie.« Die offizielle Gesellschaft Sir Williams war natürlich das diplomatische Korps. Seine vertraute Gesellschaft dagegen bestand aus hervorragenden Gelehrten und Schriftstellern. Der älteste fremde Minister in Neapel war Graf von Sa, Gesandter von Portugal. Seit den dreißig Jahren, die seine Ernennung bereits zurücklag, war er nur ein einzigesmal nach Lissabon zurückgekehrt und von dort so schnell als möglich wiedergekommen.
Einmal hatte er einen gewaltigen Schrecken gehabt. Es war nämlich die Rede davon gewesen, die portugiesische Gesandtschaft in Neapel als kostspielig und unnütz aufzuheben und den portugiesischen Gesandten in Rom mit den Angelegenheiten an beiden Höfen zu beauftragen. Zum Glück aber war der König Joseph der Erste gestorben, seine Tochter, die Königin Marie, hatte entschieden, daß die Gesandtschaft auch noch ferner bestehen solle, und der Graf von Sa hatte wieder aufgeatmet. Übrigens gab es wenig Diplomaten, deren Amt eine so vollständige Sinekure gewesen wäre wie das dieses Ministers, der weiter nichts zu tun hatte, als seinem Hofe die laufenden Nachrichten mitzuteilen, die er von seinem Sekretär niederschreiben ließ. Die Promenade war die einzige Arbeit, die er sich zumutete. Man sprach viel von seinem Harem, der aus Tänzerinnen vom San Carlo-Theater bestand. Was ihn selbst betraf, so sprach er fast gar nicht, denn das Portugiesische hatte er vergessen und das Französische und das Italienische niemals geläufig sprechen gelernt. Er war groß, breitschulterig und hatte einen Nacken wie ein Stier, mit welchem auch seine Physiognomie viel Ähnliches hatte. Von seinen Talenten weiß ich nichts zu sagen, denn während der sieben oder acht Jahre, wo ich ihn alle Wochen dreimal sah, konnte ich nie auch nur ein einziges an ihm entdecken. Der bedeutendste Minister war der Graf von Lemberg, weil er Familiengesandter war. Er war ein in jeder Beziehung ausgezeichneter Mann und ganz das Gegenteil von dem Grafen von Sa. Man warf ihm zuweilen vor, daß er stolz sei; mochte nun dieser Vorwurf ungerecht sein oder der Graf von Lemberg meinen, daß dem Gesandten Großbritanniens gegenüber ein solcher Fehler eine Lächerlichkeit sein würde, kurz, wir hatten niemals Gelegenheit, etwas davon zu bemerken. Wahrscheinlich war er bei den Neapolitanern bloß deshalb in diesen Ruf gekommen, weil er die Schmarotzer und Flachköpfe, von welchen es am Hofe von Neapel wimmelte, nicht leiden konnte.
Gleich am ersten Abend, wo ich ihn sah, bemerkte ich zu meinem Befremden, daß er seine Meinung über die höchsten Personen des Hofes so rückhaltlos aussprach, als ob er von den gemeinsten Lazzaronis gesprochen hätte. Das Gespräch kam auf den Chevalier Acton, und der Gesandte von Toskana fand sich veranlaßt, sich über diesen Günstling in lobender Weise zu äußern. Der Graf von Lemberg verzog jedoch verächtlich den Mund und sagte:
»Aus diesem Manne wäre ein guter Seeräuber geworden; damit ist alles gesagt. Er besitzt die Talente und den Körperbau eines solchen und diesem Umstand verdankt er wahrscheinlich seine hohe Stellung.«
Man versicherte, daß er bei einer Unterredung mit der Königin in bezug auf diesen selben Acton gesagt hatte:
»Ich will über die verborgenen Eigenschaften dieses Ministers weder zum Nachteil noch zum Vorteil etwas sagen. Ich kenne dieselben nicht und mag sie auch nicht kennen, wohl aber weiß ich, daß die, welche er im Ministerium entwickelt, nicht den Ämtern entsprechen, womit Eure Majestät ihn beehrt haben.« Die Stellung des Grafen von Lemberg am Hof von Neapel war eine durchaus nicht beneidenswerte. Als Familiengesandter fand er sich in alle Intrigen verwickelt, und es läßt sich nicht leugnen, daß einige dieser Intrigen nicht auf der Höhe der Majestät seines Dienstes standen.
Zwischen dem König und der Königin kamen häufige Zwistigkeiten vor. Ich werde von diesen Zwistigkeiten später einige erzählen, die in meiner Gegenwart stattfanden. Bei allen diesen ehelichen Zerwürfnissen sah der Gesandte sich genötigt, zu vermitteln, die hohen Ehegatten einander wieder zu nähern, im Namen des Kaisers zu sprechen, mit einem Worte wenigstens einmal monatlich den Dienst eines Friedensrichters zu verrichten.
Der arme Lemberg war daher, mochte er auf der Promenade sein oder bei Tische sitzen, niemals sicher, daß er nicht plötzlich geholt würde, um die Ruhe zwischen den erhabenen Gatten wieder herzustellen. Einige Tage nach unserer Ankunft gab er ein großes Diner. Einer der Gäste erzählte uns, daß während der Mahlzeit ein Kurier von der Königin eingetroffen war. Der Graf von Lemberg mußte augenblicklich fort und seine Gäste allein weiterspeisen lassen. Es hatte sich nämlich in Caserta ein Streit wegen der Marquise von San Marco, vertrauter Ehrendame der Königin, erhoben.
»Dieses verwünschte Weibsvolk bringt mich noch von Sinnen!« rief der Graf, indem er die Serviette hinwarf.
Ich werde diese Musterung von Staatsmännern damit schließen, daß ich einige Worte über ein diplomatisches Atom sage, welches Bonecchi hieß, und kaiserlicher Konsul und Agent von Toskana war. Sehr klein, sehr alt, unaufhörlich schmatzend, fortwährend spionierend und mit stierem Blick vorgestrecktem Hals und gespitztem Ohr auf Neuigkeiten lauernd, war Signor Bonecchi der Korrespondent des Kaisers Leopold, dem er alle Wochen Bericht über die Skandalosa erstattete, die am Hofe und in der Stadt vorgekommen waren. Wenn zufällig einmal die Anekdoten fehlten, so trug er kein Bedenken, deren zu erfinden. Anfänglich hatte er einen festen Gehalt bezogen, da aber, wenn er nicht hinreichend angespornt ward, die Neuigkeiten ausblieben, so fand der Kaiser es geraten, ihn wöchentlich und nicht mehr nach dem Jahre bezahlen zu lassen. Seit einem Jahre empfing er demgemäß zwei Louisdor für jede Anekdote, welche der Kaiser für interessant erklärte. Auf diese Weise verdiente er sich monatlich etwa zwanzig Louisdor. Dieser Köder hatte dem kleinen Manne ein eigentümliches Talent verliehen, sich in die Häuser einzuschleichen und sich zu allen Diners und Festlichkeiten einladen zu lassen. Man wußte recht wohl, was er hier wollte, da er aber im Namen des Kaisers und sogar, wie einige behaupteten, im Namen der Königin Karoline kam, welche ihre Privatspionage dem öffentlichen Spion ihres Bruders anvertraute, so wagte niemand, ihm den Zutritt zu verweigern oder ihm ein unfreundliches Gesicht zu machen. Wenn er dann wieder nach Hause kam, so setzte er alles, was er gehört, zusammen, zog Schlußfolgerungen daraus, fügte hinzu, nahm davon hinweg, änderte und schickte so wöchentlich seinem Souverän eine Chronik auf Kosten der höchsten Personagen.
Wenn wir nun noch auf die Ärzte, die Gelehrten und die Schriftsteller übergehen, welche die vertraute Gesellschaft Sir Williams bildeten, so sind wir dann fertig mit der Umgebung, welche mich in dem neuen Leben begleiten wird, in welches mich die Ereignisse führen, die ich bis jetzt erzählt, ebenso wie die noch unglaublicheren und besonders dramatischeren, welche ich den Augen des Lesers noch vorzuführen habe.
Einige Zeit vor seiner letzten Reise nach London hatte Sir William zwei seiner eifrigsten Tischgäste verloren. Der eine war im Alter von achtunddreißig Jahren gestorben. Es war dies der berühmte Gaëtano Filangieri, gegen dessen Gattin ich mir großes Unrecht vorzuwerfen habe. Der andere, ein Greis von achtzig Jahren, war der berühmte Abbé Galiani, welcher für den geistreichsten Mann von Neapel galt. Diesen Ruf verdankte er vielleicht dem Umstand, daß er lange in Frankreich gewohnt hatte. Da diese beiden gestorben waren, ohne daß ich sie gekannt, so brauche ich mich nicht weiter mit ihnen zu beschäftigen. Zur Zahl unserer fleißigsten Besucher gehörten der Arzt Cotugno und sein Kollege, der Chevalier Gatti, zwei der merkwürdigsten Persönlichkeiten von Neapel. Abgesehen davon, daß der Doktor Cotugno einen hohen Rang in der medizinischen Wissenschaft bekleidete, so war er auch, wie mir Sir William mitteilte, einer der ersten Kenner der griechischen, lateinischen und italienischen Klassiker. Ich habe niemals begreifen können, wie ihm bei seiner ausgebreiteten Praxis, seinem Dienst in den Hospitälern und den Konsultationen, die er in seiner Wohnung erteilte, noch Zeit zu der Lektüre blieb, aus welcher er seine unermeßliche Gelehrsamkeit schöpfte. Von den Patienten, die zu ihm kamen, nahm er nie etwas, seine Besuche dagegen ließ er sich unabänderlich mit drei Piastern bezahlen und verdiente auf diese Weise dreitausend Pfund Sterling jährlich. Einige Zeit vor unserer Ankunft in Neapel hatte er den Vicomte von Eriza, spanischen Gesandten, wegen eines Schlaganfalls behandelt, durch welchen dieser Diplomat den Gebrauch des rechten Armes verloren.
Nach Verlauf von anderthalb Monaten und nach fünfzig Besuchen hatte Cotugno ihn vollständig wiederhergestellt. Der spanische Gesandte schickte ihm tausend Dukaten.
Cotugno antwortete ihm:
»Eure Exzellenz haben sich geirrt, wenn Sie mir tausend Dukaten für fünfzig Besuche schicken. Mein festes Prinzip ist, für meine Besuche nicht mehr als drei Piaster zu nehmen, selbst wenn ich sie dem König gemacht hätte. Fünfzig Besuche zu drei Piaster betragen hundertundfünfzig Piaster. Indem ich die Ehre habe, Ihnen den Überschuß zurückzusenden, zeichne ich usw. usw.
Nicht so war es mit dem Doktor Gatti, der ebenso habsüchtig als Cotugno uneigennützig war. Er war einer der eifrigsten Verbreiter der Blatterimpfung und hatte in Paris damit ungeheure Summen verdient. Sir William war aus zwei Gründen der bevorzugte Freund dieses Doktor Gatti – erstens wegen unserer Tafel, die er gut fand, und zweitens wegen unserer Equipagen, über die er nach Gutdünken verfügte. Ganz im Gegensatz zu Cotugno, welcher sich viel mit der armen Volksklasse beschäftigte, erklärte Doktor Gatti laut, daß er sich nicht einmal herablassen würde, Leute zweiten Ranges in Behandlung zu nehmen, überhaupt schien er sich fest vorgenommen zu haben, Cotugnos Antipod zu sein, denn er nahm nie ein wissenschaftliches Werk zur Hand, sondern las nur Flugschriften und Zeitungen. Anstatt wie sein berühmter Kollege seine Unabhängigkeit bei den Großen zu wahren, war er diesen gegenüber der kriechendste Schmarotzer. Er behauptete, die zwei glücklichsten Nationen der Welt seien die neapolitanische und die spanische, weil König Ferdinand und König Carl der Dritte so leidenschaftliche Freunde der Jagd wären, daß sie nicht Zeit hätten, sich mit ihren Untertanen zu beschäftigen, und weil jedes Volk, dessen Monarch sich nicht um dasselbe bekümmere, auf dem besten Wege zum vollkommenen Glück sei.
In dieser letzteren Beziehung glaube ich, daß Sir William sich ein wenig der Meinung des Doktor Gatti zuneigte, denn er verdankte die Gunst, in welcher er bei Ferdinand stand, ausschließlich seiner Leidenschaft für die Jagd und seiner Geschicklichkeit bei Ausübung derselben.
Am Morgen nach seiner Ankunft schrieb der König ihm eigenhändig:
»Kommen Sie schnell, mein lieber Hamilton, um mit mir in Caserta auf die Jagd zu gehen. Ich habe seit Ihrer Abreise nicht einen einzigen guten Tag gehabt. Sie hatten mir mein Glück, mitgenommen; ich hoffe, daß Sie es auch wieder zurückgebracht haben.
Ihr wohlgeneigter
Ferdinand B.«
Der dritte vertraute Freund unseres Hauses außer dem diplomatischen Korps war der Marquis del Basto, welcher in gerader Linie von dem abstammte, welchem Franz der Erste seinen Degen übergeben, welchen er dem Connetable von Bourbon nicht einhändigen wollte.
Der Marquis del Basto stammte aus dem Hause Avalos, einem der bedeutendsten Italiens. Er hatte hunderttausend Dukaten oder fünfhunderttausend Franks jährliche Rente. Ein solches Vermögen, das in England sehr häufig vorkommt, ist in Italien etwas sehr Seltenes. Der Degen Franz des Ersten wird, wie man versichert, noch jetzt in dem Schatz des Hauses Avalos aufbewahrt. Sir William empfing auch häufig den Herzog von Termoli, der aus einer genuesischen Familie stammte, welche schon seit langer Zeit sich in Neapel niedergelassen hatte. Der Herzog von Termoli war Oberstallmeister des Königs und Sohn des Herzogs von San Nicandro. Dieser letztere Titel war aber weit entfernt, von ihm beansprucht zu werden. In der Tat hatte der Herzog von Nicandro, welcher, die einen behaupteten infolge von Intrigen, die andern durch Geld, zum Gouverneur des Königs ernannt worden, den König so schlecht erzogen, daß dieser oft in seinen Anwandlungen von Zorn über sich selbst, wenn er sich so unwissend fand, zu dem Herzog von Termoli sagte: »Dein Vater ist Schuld an meinem Unglück und an dem meiner Untertanen. Ich bin aber zu gerecht, um es dich entgelten zu lassen, daß dein Vater einen Esel aus mir gemacht hat.«
Allerdings hörte ich mehr als einmal selbst Ferdinand die Erziehung beklagen, die er genossen, und dem Herzog die Unwissenheit Schuld geben, die den König in dieser Beziehung nur wenig über den ersten besten Lazzarone stellte. Übrigens sagte die Königin, welche sich der Unwissenheit ihres Gemahls schämte, dieselbe aber auch zugleich benutzte, um ihn von den Geschäften fernzuhalten und alles in ihren Händen zu konzentrieren, mir oft, nicht der Herzog von San Nicandro sei es, den man für diese verfehlte Erziehungsweise verantwortlich zu machen habe, sondern vielmehr der Minister Tanucci, welcher den Herzog von San Nicandro eben wegen seiner bekannten Unfähigkeit gewählt und ihm empfohlen, den jungen Prinzen in der Unwissenheit zu erhalten, damit er später als König unfähig sein möchte, irgendeinen Teil der Administration des Königreichs zu überwachen, und damit er dieselbe gänzlich den Händen seines Ministers überließe. Es lag hierin viel Wahres, dennoch aber durfte man der Königin nicht unbedingt glauben, wenn sie von dem alten toskanischen Minister sprach, den sie nicht leiden konnte, weil er Carl dem Dritten, dem er sein Glück verdankte, ergeben, den spanischen Einfluß repräsentierte, während sie als Tochter und Schwester eines Kaisers den österreichischen vertrat. Man ging zu jener Zeit, indem man den Haß Karolinens gegen alles, was spanisch oder französisch war – einen Haß, der sich auch auf ihren Gatten und ihre Söhne erstreckte – und ihre Sympathie für das, was österreichisch war, übertrieb, sehr weit. Man behauptete sogar, sie habe ein antieheliches, antimütterliches und antinationales Komplott geschmiedet, um das Königreich beider Sizilien mit Österreich zu vereinigen, dem es infolge des Friedens von Utrecht angehört und dessen Händen es wieder durch die Eroberung Carl des Dritten im Jahre 1731 während des großen Krieges zwischen Frankreich und Österreich entrissen worden, und ich muß heute, wo die königliche Gunst und Freundschaft mich nicht mehr blenden, gestehen, daß die Königin in diesem Punkte Grund zu dergleichen Verleumdungen gab. In der Tat habe ich niemals begreifen können, woher die Antipathie der Königin von Neapel gegen ihre Söhne kam, während sie dagegen große Schwäche für ihre Töchter zeigte. Diese Antipathie gab sich unter dem Vorwand einer notwendigen Disziplin, bald um die Erziehung der jungen Prinzen zu regeln, bald um ihrem Charakter die nötige Richtung zu geben, durch wahrhaft grausame und dabei zwecklose Züchtigungen kund, und ihre Mutter flößte ihnen eine Furcht ein, welche etwas Übertriebenes hatte. Niemals habe ich in ihrer Gegenwart diese armen kleinen Prinzen lächeln sehen, bei dem mindesten Geräusch zitterten sie, und sobald sie die Stimme der Königin hörten, flüchteten sie sich instinktartig in die Arme ihres Vaters.
Das älteste der königlichen Kinder starb in einem Alter von sieben oder acht Jahren gegen das Jahr 1778, infolge einer allmählichen Abzehrung, welche die Feinde der Königin der schlechten Behandlung beimaßen, deren Opfer der kleine Prinz gewesen. Als er wirklich krank ward, begann die Königin sich über die Ursachen und die Beschaffenheit seiner Krankheit mit den Ärzten zu besprechen, während ihr Gemahl, der nie einen Versuch machte, sich über seine Unwissenheit, die er offen eingestand, erheben zu wollen, sich damit begnügte, daß er weinte. Als der junge Prinz endlich starb, verdoppelten sich die Tränen des Königs, Maria Karoline aber wiederholte – so versicherte man – bloß die Worte jener spartanischen Mutter: »Als ich ihn zur Welt brachte, wußte ich, daß er einmal wieder sterben würde.« Während meines Aufenthaltes am Hofe von Neapel war ich auch Zeuge des Todes des Prinzen Don Alberto. Derselbe starb sogar in meinen Armen und auf meinen Knien, denn er war von den jungen Prinzen der, welcher mir der liebste war. Ich werde diesen Todesfall zu seiner Zeit erzählen und will hier bloß sagen, daß derselbe, wie mir schien, eher den Haß der Königin gegen die Franzosen und Republikaner verdoppelte, als in ihrem Herzen die Liebe erweckte, welche die Mutter am Grabe ihrer Kinder blutige Tränen weinen läßt. Der einzige Sohn, welchen die Königin zu lieben schien, war der Prinz von Salerno, der, ich glaube, im Jahre 1790 geboren war und den die Königin an ihr Herz gedrückt hielt, während der Prinz Alberto in meinen Armen starb. Diesem Prinzen von Salerno hätte sie alle übrigen geopfert, gleichwohl aber – obschon ich eine solche Ruchlosigkeit niemals glauben werde – sagt man, daß sie im Jahre 1812, wo der Prinz in Palermo sich zu der englischen Partei und den englischen Ideen hinzuneigen schien, ihm nach dem Leben trachtete, indem sie ihn durch eine Tasse Schokolade zu vergiften suchte. Dem Gerücht nach ward der Prinz von der ihm drohenden Gefahr durch seinen Kammerdiener Carlomagno Viglio gerettet. Wahrscheinlich war dies auch der Grund der sonst unerklärlichen Gunst in welcher dieser Mann bei seinem Herrn stand und die ihn mächtiger machte als irgendein Mitglied seiner Familie, als irgendeinen Günstling, als irgendeinen Minister.
Das öffentliche Gerücht behauptete demgemäß, daß Karoline ihren Bruder Joseph den Zweiten ihren Kindern vorzöge und die Interessen der österreichischen Monarchie über die Interessen des Königtums der beiden Sizilien stellte. Übrigens werde ich das, was ich gesehen, mit derselben Aufrichtigkeit erzählen, womit ich das erzählt habe, was mir selbst begegnet ist. Der Leser wird dann aus den Tatsachen die Schlußfolgerungen ziehen, die ihm angemessen erscheinen.
Sir William Hamiltons Haus war im Augenblicke unserer Ankunft in Neapel nicht darauf vorbereitet, eine Frau zu empfangen. Es war das ausschließlich der Geologie, der Numismatik und der Bildhauerkunst gewidmete Museum eines Gelehrten und eines Altertumforschers. Man mußte erst mitten in der Vergangenheit und der toten Natur einen Platz für die Gegenwart und die lebende Natur schaffen. Ich muß Sir William die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu sagen, daß er mir zu keinem seiner Schätze den Zutritt verwehrte. Ich wählte demgemäß in der umfangreichen ersten Etage des von der englischen Gesandtschaft bewohnten Hotels drei Zimmer, um meine Privatwohnung hier einzurichten, ohne daß er der Lava des Vesuvs, den Medaillen der Cäsaren und den Bruchstücken von Apollo und Venus gestattet hätte, Einspruch dagegen zu tun. Übrigens ist, wie ich gestehen muß, meine angeborene Koketterie so groß, daß ich selbst allen diesen Altertümern mit Einschluß unserer alten Gelehrten den Hof machen wollte. Nach Verlauf von einem Monat hätte ich ohne Katalog die vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Sorten Lava bezeichnen, einen von Cäsar selbst von einem unter Hadrian geschlagenen Cäsar unterscheiden und nach einem einzelnen Bruchstück eine ganze Statue rekonstruieren können. Sir William war außer sich vor Freude, als er mich mit solcher Leichtigkeit auf seine Geschmacksrichtungen eingehen und mich in seine Lebensweise als Archäolog und Altertumsforscher finden sah. Daran gewöhnt, bei Lord Greenville, einem der fashionabelsten Kavaliere Englands, die Honneurs zu machen, hatte ich nichts zu lernen, um Sir Williams Salon auf gleichen Fuß mit den elegantesten Salons von Neapel zu stellen, denn dieses stand in dieser Beziehung weit hinter London zurück.
Nun hielt ich es, um den Enthusiasmus meiner Bewunderer noch höher zu steigern, für geraten, meine mimischen Talente geltend zu machen. Da die meisten unserer Gäste Italiener waren, so hielt ich es nicht für rätlich ihnen Szenen aus Shakespeare vorzuführen. Ihr schwächlicher Magen hätte diese solide Nahrung nicht zu ertragen vermocht. Ich begnügte mich daher mit plastischen Attitüden und führte, indem ich an einem und demselben Abend den jüdischen Mantel gegen das griechische Peplum, den türkischen Turban gegen das asiatische Diadem vertauschte, ihnen Judith, Aspasia, Roxelane und Helena vor. Auch riskierte ich den ersten Pas jenes Shawltanzes, der später nicht bloß in Neapel, sondern auch in Paris, London, in Wien und in Petersburg einen so wunderbaren Erfolg hatte. Bald war in der Hauptstadt des Königreichs beider Sizilien von nichts weiter die Rede als von der Wunderdame, welche Sir William Hamilton aus London mitgebracht. Alle ausgezeichneten Männer von Neapel, selbst einige Frauen, baten um die Ehre, in der englischen Gesandtschaft empfangen zu werden. Zu meiner großen Demütigung und zu Sir Williams großem Erstaunen aber sahen wir keine Gesamteinladung vom Hofe an uns ergehen. Sir William war immer noch der Jagd- und Fischfanggenosse des Königs. Nur selten begleitete er ihn auf dem einen oder dem andern dieser Ausflüge, ohne ihm von mir zu erzählen und mein Lob zu preisen. Der König wünschte ihm Glück, eine so schöne, so ausgezeichnete und so kenntnisreiche Frau zu besitzen, dabei aber blieb die königliche Courtoisie stehen. Ebenso wußte ich, daß man mehrmals der Königin Maria Karolina von mir gesprochen. Stets aber hatte sie dann die Konversation fallen lassen, oder dieselbe auch mit auffallender Affektation vermieden.
Man gab mir den Rat, der Königin einmal wie zufällig in den Weg zu kommen. Die Sache war leicht. Die Königin promenierte oft mit den jungen Prinzessinnen, ihren Töchtern, in den Gärten von Caserta, zu welchen der Zutritt, ohne öffentlich zu sein, Leuten vom Stand und zuweilen selbst, durch die Protektion untergeordneter Offizianten, Leuten aus dem Volk offen stand, welche eine Bitte anzubringen hatten. Ich bat Lord Hamilton, bei der ersten Gelegenheit, wo er sich nach Caserta begäbe, mich mitzunehmen, weil ich die Gärten zu sehen wünschte, die man mir als sehr schön geschildert. Wahrscheinlich ahnte Sir William die Hauptursache meines Verlangens, und da die Art Verachtung, welche man mir bewies, ihn mehr schmerzte als mich, so war es ihm selbst nicht unlieb, wenn eine angenehme oder unangenehme Tatsache Anlaß zu einer Erklärung gäbe. Eines Tages, als er dem König aus dem Kabinett von Saint-James eingetroffene Depeschen mitzuteilen hatte, machten wir uns demgemäß auf den Weg nach Caserta. Sir William hatte hier ein Zimmer, wo er ausruhen konnte, so lange es ihm beliebte, und wo er von den Leuten des Königs bedient ward. Vor seiner Reise nach England hatte er von dieser Vergünstigung oft Gebrauch gemacht, seit meiner Ankunft in Neapel aber hatte er, obschon er häufig in Caserta gewesen, dort noch niemals übernachtet. Als Sir William seine Depeschen mitgeteilt, ward er vom König eingeladen, auf dem Schlosse zu bleiben, um ihn den nächstfolgenden Tag auf einer großen Jagdpartie zu begleiten. Sir William schützte meine Anwesenheit in Caserta vor, der König aber antwortete ihm: »Nun, haben Sie hier nicht Ihre Wohnung? Wenn Lady Hamilton etwas bedarf, so möge sie nur befehlen. Meine Diener werden ihr gehorchen, als ob sie die ihrigen wären.« Damit war alles gesagt.
Da dieser Aufenthalt in Caserta mit meinen Projekten übereinstimmte, so nahm Sir William in seinem und meinem Namen die Einladung an und fragte den König bloß, ob er etwas dagegen habe, daß ich in dem Garten spazieren ginge. Der König zuckte die Achseln, was bedeutete, daß die Frage überflüssig sei. Sir William kam wieder zu mir und erzählte mir alles, was geschehen. Bei dem Diner trug der Lakai, indem er gewisse Weine auf den Tisch setzte, Sorge zu sagen: »Aus dem Keller des Königs.« Beim Braten und indem er uns einen prachtvollen Fasan vorsetzte, bemerkte der Lakai ebenfalls: »Von der Jagd des Königs.« Es war augenscheinlich, daß Sir William der Gegenstand ganz besonderer Aufmerksamkeiten von seiten des Königs war. Ebenso augenscheinlich aber war, daß diese Aufmerksamkeiten sich nicht bis auf mich erstreckten.
Am Abend ward Sir William zum Kartenspiel beim König eingeladen. Da aber in dieser Einladung nicht von mir die Rede war, so blieb er unter irgendeinem Vorwand weg und ließ sich entschuldigen. Man tat als sei man mit dieser Entschuldigung zufrieden. Am nächstfolgenden Morgen bei Tagesanbruch ward im Namen des Königs an Sir Williams Tür gepocht. Seine Majestät brach stets sehr zeitig auf und liebte, wie sein Ahnherr Ludwig der Vierzehnte, nicht zu warten. Sir William fühlte sich durch diese Art und Weise, auf welche man seine Vermählung wie nicht geschehen betrachtete, tief gekränkt. Er sagte zu mir, wenn mein Plan, der Königin zu begegnen, gelänge, und ich mich dann zu beklagen haben glaubte, so solle ihn dann nichts mehr in Neapel zurückhalten, weder der Umstand, daß er seit zwanzig Jahren hier eingewohnt sei, noch seine Liebe zu Altertümern, noch das Klima, welches für seine Gesundheit sehr zuträglich sei. Er wollte dann den König Georg um seine Zurückberufung oder um seine Versetzung an irgendeinen andern, von mir selbst zu bezeichnenden Hof bitten.
Ich machte eine sehr einfache Toilette. Ich versuchte keinen meiner Vorzüge geltend zu machen. Einer auf ihre Schönheit eifersüchtigen Königin darf man nicht dadurch den Hof machen wollen, daß man selbst allzu schön erscheint. Mein Stolz hatte mir schon mehr als einmal zugeflüstert, daß die Königin, weil sie nicht mehr in der Blüte der Jugend stand, meine Nähe wahrscheinlich fürchtete. Die Fenster von Lord Hamiltons Wohnung gingen auf die Gärten. Von diesen Fenstern aus konnte man die Königin hereinkommen sehen. Ich wußte, daß sie nach dem Frühstücke von zehn bis elf Uhr mit den jungen Prinzessinnen hier einen Spaziergang machte. Ein Viertel auf elf sah ich sie auch wirklich erscheinen, begleitet von dreien ihrer Töchter, der Prinzessin Maria Theresia, siebzehn Jahre alt, welche das nächste Jahr Erzherzogin und zwei Jahre später Kaiserin von Österreich werden sollte, von der Prinzessin Marie Louise, sechzehn Jahre alt, die ein wenig später Großherzogin von Toskana ward, und der Prinzessin Marie Amalie, die erst sechs Jahre zählte. Außer diesen drei Prinzessinnen waren noch da: die Prinzessin Maria Christina, neun Jahre alt, welche Königin von Sardinien ward; die Prinzessin Marie Antoinette, fünfthalb Jahre alt, welche Prinzessin von Asturien ward; die Prinzessin Marie Clotilde, zwei Jahre alt, welche im Jahre 1792 sterben sollte, und Marie Henriette, die noch in der Wiege lag und ihre Schwester nur um einige Monate überlebte.
Der Augenblick war da, wo ich meinen Plan in Ausführung bringen mußte. Die Königin und die Prinzessinnen gingen ein Stück in den Garten hinein; die zwei größeren gingen neben ihrer Mutter her, und die jüngere, Maria Amalie, sprang voran, pflückte Blumen und versuchte Schmetterlinge zu fangen.
Ich nahm ein Buch in die Hand, und ging in den Garten hinunter. Ich tat, als ob ich läse. Dies gestattete mir zu sehen, ohne daß es so aussah. Ich machte einen Umweg, so daß ich der königlichen Familie erst am andern Ende des Gartens begegnete. Ich wollte, daß die Königin glaubte, nur der Zufall habe mich ihr in den Weg geführt. Dann, indem ich diese Begegnung zugleich wünschte und fürchtete, verlangte ich nichts mehr, als einige Augenblicke zu haben, um mich darauf vorzubereiten. Ich betrat die Allee, welche mich unfehlbar mit der Königin zusammenführen mußte. Ich hatte die Augen auf mein Buch geheftet, aber es wäre mir unmöglich gewesen, auch nur den Titel dieses Buches zu nennen. Ich sah die Buchstaben, ohne daß dieselben meinen Gedanken einen Sinn darboten. Meine Gedanken waren anderwärts. Mein Herz schlug mit seltsamer Heftigkeit. Plötzlich an der Ecke einer Allee sah ich, kaum fünfundzwanzig bis dreißig Schritte, die Königin vor mir. Die kleine Prinzessin Amalie, welche ihrer Mutter immer noch voransprang war nur noch zehn Schritte von mir entfernt. Ich tat, als bemerkte ich nichts, als wäre ich in meine Lektüre versunken. Ich hatte allemal noch Zeit, die Augen aufzuheben und eine ehrerbietige Überraschung zu heucheln. Man weiß, wie gut ich alle Gefühle auszudrücken und die zartesten Nuancen dieser Gefühle durch Mienen und Gebärden erkennen zu geben verstand. Ein Vorfall bewog mich jedoch, die Augen eher von meinem Buche aufzuheben, als ich eigentlich wollte.
Die kleine Prinzessin Amalie kam auf mich zugesprungen, nahm eine Blume aus ihrem Strauß und bot mir dieselbe. Dies war eine gute Vorbedeutung. Ich richtete den Kopf empor. Ich schien jetzt erst das königliche Kind ebenso wie seine Schwestern und die Königin zu sehen, und indem ich eine tiefe Verbeugung machte, schickte ich mich an, die mir dargebotene Blume anzunehmen. In diesem Augenblicke aber rief die Königin, wie selbst durch meine Nähe überrascht, in lautem Tone zweimal »Amalie! Amalie!« Die Kleine, welche in der Stimme ihrer Mutter jenen gebieterischen Ton erkannte, den sie so gut dareinzulegen wußte, drehte sich erschrocken um, lief mit ihrem unversehrten Blumenstrauß auf die Königin zu und ehe ich mich von meiner Überraschung erholt, hatte Maria Karoline ihre Tochter bei der Hand genommen, sie in eine Seitenallee hineingestoßen und war dann selbst mit den beiden großen Prinzessinnen eingebogen, indem sie auf diese Weise tat, als ob sie mir den Weg freilassen wollte. Ich empfing den Stoß mitten ins Herz. Tränen traten mir in die Augen. Ich kehrte sofort auf mein Zimmer zurück, gab Befehl, den Wagen anzuspannen, und reiste nach Neapel ab, indem ich an Sir William die Worte zurückließ: »Machen Sie sich keine Sorgen wegen meiner Gesundheit, dieselbe hat mit meiner Abreise nichts zu schaffen. Ich habe geglaubt, Caserta verlassen zu müssen. Wenn ich Ihnen erzählen werde, was geschehen ist, so werden Sie, hoffe ich, meine Handlungsweise billigen. Ihre Emma.« Zwei Stunden später war ich wieder in Neapel im Gesandtschaftshotel, und nachdem ich die Pferde wechseln gelassen, schickte ich den Wagen nach Caserta für Sir William zurück.
Abends um sieben Uhr kam Sir William an. Als er von der Jagd zurückgekehrt, hatte er mich abgereist gefunden und obschon der König ihn mit eigenem Munde zur Tafel geladen, Caserta verlassen, nachdem er dem König sagen lassen, daß ein unerwarteter Umstand ihn nötigte, nach Neapel zurückzukehren. Sir William ahnte, was geschehen sei. Ich brauchte ihm bloß die Einzelheiten zu erzählen. Ich muss ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu sagen, daß er sich durch diesen Schimpf noch tiefer verletzt fühlte als ich. Er erbot sich, mit mir noch diesen selben Abend Neapel zu verlassen, ohne auch nur Abschied zu nehmen. Dies aber hätte zurückweichen, dies hätte das Feld räumen, dies hätte die Niederlage eingestehen heißen. Das war es aber nicht, was ich wollte. Ich wollte siegen. Ich wollte vorgestellt sein, ich wollte am Hofe empfangen werden, wie dies als Gattin des Gesandten von England mein Recht war. Ich wollte auch hier die Erfolge haben, die ich überall gehabt, wo ich sie gewollt hatte, ich wollte mich endlich an dieser insolenten Königin rächen, indem ich ihre Höflinge selbst zwang zu sagen, daß ich nicht bloß schöner, sondern auch intelligenter und geistreicher wäre als sie. Ich bestand daher darauf, daß Sir William von dem König selbst eine Erklärung in bezug auf das verächtliche Benehmen der Königin verlangte. Wenn ich heute bedenke, zu welcher hochmütigen Verblendung mein unerwartetes Glück mich verleitet, so erstaune ich über meine Kühnheit selbst.
Sir William zögerte keinen Augenblick, meinem Willen nachzugeben. Er hegte für mich eine so wahnsinnige Anbetung, daß er über das Benehmen der Königin gegen mich ebenso erstaunt zu sein schien, als ich es war.
Er reiste wieder nach Caserta, begab sich sofort zum König, brachte die Frage offen zur Sprache und gab ihm zu verstehen, daß sein künftiges Verweilen von der Art und Weise abhängen würde, auf welche man sich gegen mich benähme. Der König liebte Sir William sehr, nicht um Sir Williams, sondern um seiner selbst willen. Dieser durch und durch egoistische Fürst war einmal so. Lord Hamilton war ein guter Fußgänger, ein guter Jäger, ein guter Reiter, ein geistreicher und heiterer Gesellschafter. Seit vielen Jahren war der König an seine Nähe gewöhnt, und diese würde ihm gefehlt haben. Übrigens begann der politische Horizont sich im Westen auch zu trüben. Der König von Neapel begriff, so wenig er auch in den Geschäften bewandert war, sehr wohl, daß Sir William, der Milchbruder des Königs von England, der Jugendgespiele Georgs des Dritten, ihm im Falle eines wahrscheinlichen Bruches mit Frankreich bei dem Kabinett von St. James eine mächtige Stütze sein konnte. Er nahm daher die ihm gemachte Eröffnung mit vollkommener Freundlichkeit auf und mit jenem gutmütigen Ton, der bei ihm zuweilen natürlich, zuweilen erheuchelt, aber in dem gegenwärtigen Falle so gut gespielt war, daß man das Spiel unmöglich bemerken konnte, sagte er: »Mein lieber Lord, wissen Sie, welches Gerücht hier umläuft?« – »Nein, ich hoffe aber, daß Ew. Majestät mir die Gnade erzeigen will, es mir mitzuteilen.« – »Nun,« fuhr der König fort, »das Gerücht behauptet, Sie wären nicht gesetzlich vermählt.«
Sir William hatte dies vorausgesehen. Er zog aus seiner Tasche das Zertifikat des protestantischen Geistlichen und überreichte es dann dem König. »Hier, Sire,« sagte er, »ist meine Antwort.« Der König las das Zertifikat und drehte es mit einer gewissen Verlegenheit mehrmals herum. »Ich sage Ihnen,« fuhr er dann fort, »nichts Neues, wenn ich bemerke, daß man in Neapel sehr boshaft ist. Wollten Sie auch dieses Zertifikat an allen Ecken anschlagen lassen und ich durch ein Edikt den Einwohnern befehlen, ihm Glauben beizumessen, so wäre man doch noch imstande, daran zu zweifeln, während wenn Ihre Vermählung am Hofe anerkannt wäre, wenn Sie Lady Hamilton dem König Georg dem Dritten vorgestellt hätten – was Ihnen bei dem Fuße, auf welchem Sie mit ihm stehen, sehr leicht sein müßte – man unmöglich länger leugnen könnte. Wie kommt es, daß Sie nicht daran gedacht haben?« Sir William betrachtete den König mit seinem durchdringendsten Blick, aber es war ihm unmöglich, die Maske zu durchschauen. Ferdinand verstand sich auf ein gewisses gutmütiges Mienenspiel, welches ihn, den schlauen und verschmitzten, als den naivsten aller Menschen erscheinen ließ. »Es ist gut, Sire,« antwortete Sir William. »Sie geben mir einen Urlaub, nicht wahr?« – »Ja, aber nur ungern, denn ich möchte nicht, daß ein so vortrefflicher Gesellschafter wie Sie mich auch nur auf einen einzigen Tag verließe. Wenn Sie es aber, besonders um einer so wichtigen Angelegenheit willen und um Ihrer Vermählung Anerkennung zu verschaffen, wünschen, so sehen Sie wohl ein, daß ich mich nicht weigern kann.« – »Dann brauche ich also bloß nach London zu schreiben, damit meine Ankunft nicht allzu sehr überrasche.« – »Warten Sie! Auch diesen Aufenthalt kann ich Ihnen ersparen.« – »Eure Majestät würden mir dadurch einen großen Dienst leisten.« – »Wohlan, die Briefe, die ich von meinem Schwager, dem Kaiser von Österreich, und von meinem Schwager, dem König von Frankreich, erhalte, können als so wichtig betrachtet werden, daß sie ohne Verzug Mr. Pitt mitgeteilt werden müssen. Ich sage Mr. Pitt, weil bei Ihnen es so ziemlich ist wie hier. Der König ist nichts, der Premierminister dagegen alles, sonst würde ich sagen, dem König Georg dem Dritten. Wohlan, ich werde Ihnen die Urschriften dieser Briefe anvertrauen und Ihnen einen eigenhändigen Brief an meinen Bruder, den König von Großbritannien, mitgeben. Indem Sie auf diese Weise die Mission, womit ich Sie bei ihm beauftrage, vollziehen, werden Sie zugleich Ihre eigenen Angelegenheiten besorgen.«
Besser konnte Sir William es sich nicht wünschen. Er empfing sofort die Briefe, welche er dem König von England und dessen Minister mitteilen sollte, und noch denselben Abend reisten wir auf einem leichten Schiffe der königlichen Marine, welches zu unserer Verfügung gestellt worden, nach Livorno ab. Auf der Durchreise durch Florenz sollte Sir William einen Brief an den Großherzog Leopold abgeben. Von Florenz aus sollten wir unsere Reise mit Postpferden weiter fortsetzen, während die königliche Felucke in Livorno unsere Rückkehr erwartete. Es war als ob die Witterung mit unseren ungeduldigen Wünschen übereinstimmte. Wir hatten fortwährend günstigen Wind und machten die Überfahrt in drei Tagen. Sir William vollzog seinen Auftrag bei dem Großherzog Leopold, den er über die Wendung, welche die Dinge in Frankreich nahmen, sehr unruhig fand. Alles ging hier einer nahen Revolution entgegen, und die ersten Ereignisse des Jahres 1789, bei welchem wir angelangt waren, verrieten, daß diese Revolution eine sehr ernste sein, und in der ganzen übrigen Welt ihren Widerhall finden würde. Er konnte daher Sir Williams Reise nach London und den anscheinenden Zweck, welchen dieselbe hatte, nur billigen. Er war auch nicht ohne Besorgnis wegen seines Bruders Joseph des Zweiten, Kaisers von Deutschland, dessen Gesundheit immer unsicherer und schwächer ward. »Wir werden sehen,« sagte er, »wie unser Schwager Ferdinand der Vierte sich aus dieser ganzen Sache ziehen wird; er, welcher behauptet, er sei so glücklich, in seinen ganzen Staaten auch nicht einen einzigen Philosophen zu ernähren.« Auf alle Fälle war er der Meinung, daß der Kaiser von Österreich, der König von Neapel, der Papst und sämtliche Fürsten Italiens ein Schutz- und Trutzbündnis schließen und eine Art Sanitätscordon ziehen müßten, damit die revolutionären Ideen nicht die Alpen überschritten.
Wir verließen Florenz mit der Post und kamen über den St. Gotthard in der Schweiz und den Niederlanden an, wo wir uns nach England einschifften. Wir kamen in London gerade zehn Monate nach dem Tage an, wo wir es verlassen, und stiegen in unserem Hotel in Fleetstreet ab. Noch an demselben Tage ward Sir William von dem Könige empfangen. Ich erwartete seine Rückkunft mit einer gewissen Aufregung und Unruhe. Mit meiner Wiederankunft in London war ich, sozusagen, wieder in mein vergangenes Leben eingetreten, und sah mich wieder dem Elend und der Schmach meiner ersten Jahre gegenüber. Dem König konnte irgendein Bedenken beigehen, und wenn man Sir William meine Vorstellung verweigerte, so fiel ich trotzdem, daß ich Lady Hamilton war, tiefer als je der Fall gewesen. Freudestrahlend kam Sir William wieder nach Hause. Meine öffentliche Vorstellung sollte nächstfolgenden Montag stattfinden. Der König hatte keinerlei Schwierigkeit gemacht, sondern sich gegen seinen Freund Hamilton liebenswürdiger und freundlicher gezeigt als je. Noch denselben Tag sprach Sir William den Wunsch aus, ein von Romney, der noch immer für den ersten Maler galt, gefertigtes Porträt von mir mit nach Neapel zu nehmen. Es war unmöglich, daß Sir William mein früheres Verhältnis zu Romney nicht kannte. Er war aber so wenig mein Gatte, daß es mir ganz erklärlich war, wenn er in bezug auf den großen Künstler keine Eifersucht an den Tag legte. Wir verabredeten, denselben den nächstfolgenden Morgen in seinem Atelier in Cavendish Square zu überraschen. Ich war der Courtoisie Romneys zu sicher, als daß ich nötig gehabt hätte, ihn durch einen Brief aufzufordern, in mir nur Lady Hamilton zu sehen, ja im sichern Besitz der Gewalt, welche ich über Sir William ausübte, machte ich mir ein Fest aus der Überraschung, welche mein unerwartetes Erscheinen dem berühmten Maler bereiten würde.
Da Sir William mein Porträt im Kostüm einer Odaliske zu besitzen wünschte, so legte ich meine prachtvolle türkische Kleidung an und wir stiegen in den geschlossenen Wagen, der uns nach Cavendish Square brachte, wohin wir von Sir Williams Hotel nur eine kurze Strecke zurückzulegen hatten. Ich kannte das Haus und es hatte, wie ich nicht anders sagen kann, einige meiner guten Erinnerungen bewahrt. Ohne Romney jemals in der eigentlichen Bedeutung des Wortes geliebt zu haben, war ich ihm doch sehr zugetan gewesen, und sein Andenken taucht in meinem Geiste nie auf, ohne von dem Lächeln meiner Lippen begleitet zu sein. Er hatte immer noch denselben Kammerdiener. Dieser erkannte mich. Ich gab ihm einen Wink und deutete mit dem Auge auf meinen Gatten, der mir folgte.
Er bewies mir, daß er mich verstanden, indem er mich fragte, ob er Sir William oder Lady Hamilton anmelden sollte. Ich antwortete verneinend, indem ich erklärte, wir stünden im Begriff, seinem Herrn einen Freundschaftsbesuch, aber keine Staatsvisite zu machen und daß wir uns deshalb selbst anmelden würden. Der Diener trat auf die Seite und ließ uns passieren.
Wir traten in Romneys Hotel. Sämtliche vier Weltteile waren in Kontribution gesetzt worden, um diesen prachtvollen Tempel der Kunst zu schmücken, Trophäen vereinigten die schönsten Waffen wilder und zivilisierter Völker, die Pfeile des Indianers von Florida und die Kandschars Asiens, die Tigerfelle Bengaliens, die Löwenhäupter des Atlas, die Felle des sibirischen Bären und des persischen Panthers lagen über die Möbel gebreitet und bedeckten den Fußboden oder die Wände, deren obere Felder mit den wunderbaren Skizzen des Meisters, den wir zu besuchen kamen, geschmückt waren.
Kurz, es gab in diesem umfangreichen Raum keine Stelle, wo das Auge ruhen konnte, ohne auf einen Gegenstand zu fallen, der in materieller oder künstlerischer Beziehung von hohem Werte war. Romney war eben im Begriff, die letzte Hand an eine Erigone zu legen, welche sich mit einem Tiger auf einem Blumenteppich wälzte. Die Erigone hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit einer gewissen Emma Lyonna, eine Ähnlichkeit, welche bewies, daß diese Emma Lyonna noch nicht vollständig aus der Erinnerung des Malers entschwunden war.
Bei dem Geräusch der Tür drehte er sich nicht herum. Ohne Zweifel glaubte er, es sei bloß sein Diener, der etwas zu ordnen oder aufzuräumen habe. Ich berührte ihn mit der Hand an der Schulter. Nun drehte er sich um, erkannte mich, stieß einen Schrei aus, stand, als er meinen Gemahl erblickte, auf, verneigte sich vor mir und sagte: »Noch schöner als früher. Ich hätte es nicht für möglich gehalten.« Dann wendete er sich zu Sir William und fuhr fort: »Empfangen Sie meine Komplimente, Mylord, und sagen Sie mir schnell, ob ich das Glück haben kann, Ihnen einen Dienst zu leisten.«
Und mit wunderbarer Courtoisie, gerade als ob er mich zum erstenmal sähe, führte er uns in seinem Atelier herum. Sir William sagte ihm, was er wünschte, – ein Porträt von mir in dem Kostüm, welches ich eben trug. Romney machte hocherfreut sofort eine große Leinwand zurecht und skizzierte seine ganze Komposition.
Wir verabredeten, daß ich alle Tage wiederkäme, um zu sitzen, und Romney versprach nach Ablauf von acht Tagen mit dem Porträt fertig zu sein. Am nächstfolgenden Tage führte Sir William mich ebenfalls nach Cavendish Square. Da er aber mehrere Geschäfte zu besorgen hatte, so ließ er mich bloß absteigen, setzte sich dann wieder in den Wagen und versprach mich in zwei Stunden abzuholen. Während dieser zwei Stunden war Romney so diskret, kein Wort zu sagen und keine Anspielung zu machen, welche an unser früheres vertrautes Verhältnis hätte erinnern können.
Er sprach mit mir von Rom und Neapel, hörte ganz besonders mich darüber sprechen und versprach uns dort einen Besuch zu machen.
Ich gestehe, daß ich mich durch eine solche Delikatesse fast verletzt fühlte. Ich begriff dieselbe, aber sie schnürte mir das Herz zusammen. Das Weib will, wenn sie auch vergißt, doch nicht vergessen werden. Sir William kam etwas später wieder, als er gesagt, so daß das Porträt dadurch gewann. Er hatte Mr. Pitt gesprochen, ihm die Briefe von der Königin Marie Antoinette und von dem Kaiser Joseph dem Zweiten gezeigt und mit ihm eine lange Unterredung über die Angelegenheiten des Kontinents gehabt. In Frankreich standen die Dinge äußerst schlecht. Kälte und Hungersnot schienen sich verschworen zu haben, um aus den Franzosen eben so viel wütende Teufel zu machen. Man sprach von Einberufung der Generalstaaten auf den 4. April. Mr. Pitt betrachtete diesen Zeitpunkt schon jetzt als den Anfang der Revolution. Sir William hatte Vollmacht erhalten, um in Neapel die Angelegenheiten Englands zu führen, wie ihm gut dünkte, natürlich immer mit gebührender Rücksicht auf die Ehre und die Interessen Großbritanniens. In Romneys Gegenwart sagte er von diesem allem nichts, sondern erzählte es bloß mir auf dem Rückwege nach unserem Hotel.
Am nächstfolgenden Montag, dem 20. März 1789, dem Tage meiner Vorstellung bei Hofe, war keine Sitzung bei Romney. Der ganze Tag war den Zurüstungen zu dieser großen Zeremonie und ganz besonders dem Dienste meiner Toilette gewidmet. Auf meine Vorstellung sollte großer Hofball folgen. Als der König mich erscheinen sah, kam er mir mit liebenswürdiger Galanterie entgegen, bot mir die Hand und führte mich auf meinen Platz, indem er mit mir zu sprechen nur aufhörte, um sich mit Sir William zu unterhalten. Kaum hatte der König mich verlassen, so näherte sich mir der Prinz von Wales. Unwillkürlich ward mein Gemüt nun von einem einzigen Gedanken erfüllt. Ich sah mich in meinem schlichten Kostüm als Gesellschaftsfräulein auf Miß Arabellas Terrasse an dem Abend, wo sie den Prinzen von Wales empfangen. Ich sah sie wieder beide am Fenster, dann in das helle Licht zurücktretend, strahlend vor Jugend und Begierde. Ich weiß nicht, was der Prinz mir sagte. Ich weiß nicht, was ich ihm antwortete. Alle Fasern der Erinnerung enthoben meinen Geist der Gegenwart und ließen ihn rückwärts eine Reise in die Vergangenheit machen. Ich mußte dem Prinzen sehr albern erscheinen.
Dieser Abend war für mich gleichzeitig ein Abend des Stolzes und des Schmerzes; des Stolzes, denn ich hatte mein Ziel erreicht; ich war offiziell als Sir Williams Gattin am Hofe von England empfangen, kein anderer Hof konnte sich nun weigern, mich zu empfangen, und in meiner Eigenschaft als Gesandtin einer Großmacht kam ich, was den Rang betraf, unmittelbar nach den Prinzessinnen von Geblüt – des Schmerzes, weil jedes Lächeln, jeder scheele Blick, jedes ins Ohr geflüsterte Wort mir eine im Grase kriechende Verleumdung zu sein schien, welche bereit war, den Kopf emporzuheben, sobald ich mich entfernt haben würde. Sir William war ein förmliches Wunder von Ruhe und stiller Freude. Wäre ich, um sein Weib zu werden, aus dem strengsten, vergittertsten Kloster gekommen, so hätte er nicht stolzer auf mich zu sein scheinen können. Dennoch ward mir der Abend sehr lang, und obschon ich den Hofball schon vor ein Uhr morgens verließ, so war ich doch ungemein erschöpft und abgespannt.
Am nächstfolgenden Tage hütete ich mich wohl, die Sitzung bei Romney zu versäumen.
Ich fühlte das Bedürfnis, das Antlitz eines Freundes zu sehen; ich wußte, daß ich am vergangenen Abend nur Masken gesehen. Er war, wie der Diener mir sagte, wegen eines dringenden Geschäftes ausgegangen. Er ließ mich deshalb um Entschuldigung bitten und zugleich ersuchen, ihn zu erwarten. Sir William, welcher diesen Morgen wieder allerlei Geschäfte zu besorgen hatte, nahm den Wagen und ließ mich bei Romney. Ich erwartete diesen mit der größten Ungeduld. Ich sollte ihm Neuigkeiten bringen und es war mir, als wenn ich dergleichen von ihm erfahren würde. Als ich daher seinen Schritt vernahm, als ich seine Stimme in dem Nebenzimmer des Ateliers hörte, als ich die Tür sich öffnen sah, eilte ich auf ihn zu und fragte:
»Nun?«
Wahrscheinlich regte sich auch in ihm etwas Ähnliches wie in mir, denn so unbestimmt meine Frage auch war, so beantwortete er doch meinen Gedanken direkt. »Wohlan,« sagte er zu mir, »Sie haben gestern einen wahnsinnigen Erfolg gehabt. Ich bin heute morgen in der ganzen Stadt herumgelaufen, um Neuigkeiten von Ihnen zu hören, und ich habe nur wütende Frauen gesehen. Wie es scheint, sind Sie wunderschön gewesen. Man spricht von drei Herzoginnen, die vor Eifersucht krank geworden seien; andere haben, als sie gesehen, wie der König Sie auf Ihren Platz geleitet und wie dann der Prinz von Wales mit Ihnen geplaudert, sich vor Wut in die Finger gebissen und sind auf dem besten Wege, völlig überzuschnappen. Ich habe soeben das Porträt der Lady Craven skizziert, einer Engländerin von altem Schrot und Korn, welche sich kürzlich von Lord Craven nach vierzehnjähriger Ehe hat scheiden lassen. Sie ist mit auf dem Hofball gewesen und hat herzlich über die Gesichter gelacht, welche man Ihnen gezogen. Ich sagte ihr, daß ich Sie bei mir anzutreffen hoffte, und sie entgegnete mir ganz einfach: Machen Sie ihr meine Komplimente und sagen Sie ihr, sie sei das schönste Geschöpf, welches ich jemals gesehen.«
Ich ergriff Romneys Hand und drückte sie ihm mit aller Kraft. Es drängte mich, ihm um den Hals zu fallen. Er hatte mir bis in die feinsten Äderchen das göttliche Gefühl der befriedigten Rache eingeflößt.
Am nächstfolgenden Tage erstatteten alle Journale ihre Berichte über den Hofball. Einige schonten mich nicht, aber was kam weiter darauf an? Mein Prozeß der Königin von Neapel gegenüber war gewonnen.
Am siebenten Tage war mein Porträt fertig, da es aber infolge der orientalischen Zutaten, womit Romney mich umgeben, mehr ein Gemälde geworden, als ein Porträt geblieben war, so bat Sir William, entzückt von dem Talent, womit es ausgeführt worden, den Maler, die Gefälligkeit noch weiter zu treiben und sich nochmals an die Arbeit zu setzen, um ein zweites Porträt zu fertigen, welches ebenso einfach wäre, als das erste kompliziert war. Romney verlangte nichts Besseres. Er behauptete, es mache ihm so viel Vergnügen, mein Bild zu malen, daß er nie ein anderes Modell begehren möchte. An demselben Tage, wo er das erste Porträt beendete, begann er das zweite. Dieses war von wahrhaft griechischer Einfachheit. Ich war mit bloßem Kopf, von vorn gesehen, das Haupt ein wenig gegen die rechte Schulter geneigt. Mein langes aufgelöstes Haar wallte auf meine Brust herab, die durch eine Tunika von Musselin halb verschleiert war. Ein Mantel von rotem Kaschemir war über meine Schultern geworfen. Mein einziger Schmuck war ein goldener Gürtel, nach arabischer Manier ziseliert, der zugleich eine Kamee umschloß, welche Sir William Hamilton vorstellte.
Dieses zweite Porträt, welches meiner Meinung nach noch schöner war als das erste, ward in fünf Tagen beendet, es ist dies dasselbe, welches Sir William dem Lord Nelson schenkte. Dieser ließ es in seiner Kajüte auf dem »Donnerer« aufhängen. Nach seinem Tode ward es mir zurückgegeben und es bildet in der elenden Hütte, wo ich diese Memoiren schreibe, noch heute das Seitenstück zu dem seinigen. In den Tagen meiner Armut hat man mir bis zu zwölftausend Franks für diese beiden Porträts geboten, aber ich habe mich niemals entschließen können, mich davon zu trennen. Sie sollen die Aussteuer meiner Horatia sein.
Während unseres Verweilens in London gab Sir William einige Soiréen, zu welchen die ganze Gentry der Hauptstadt eingeladen ward. Einige Frauen, welche es für angemessen erachtet hatten, die Spröden zu spielen, weil sie sich auf der andern Seite der Vierzig befanden, glaubten, diese Gesellschaften nicht mit ihrer Gegenwart beehren zu sollen, von den jungen und schönen Frauen der Aristokratie aber blieb auch nicht eine einzige weg. Sir William verlangte, daß ich in diesen Soiréen einige Charakterszenen vorführte. In der einen sprach ich demgemäß Julias Monolog, in einer andern spielte und sang ich die Nina. An diesem Abende entwickelte sich ein förmlicher Enthusiasmus, und ganz besonders Romney war wie von Sinnen. Am nächstfolgenden Tage schrieb er an einen seiner Freunde: »In meinem letzten Briefe glaube ich Dir gemeldet zu haben, daß ich bei Sir William und dessen Gemahlin dinieren würde. Am Abende versammelten sich mehrere Personen unserer ersten Gesellschaft, um Lady Hamilton singen zu hören. Im ernsten wie im komischen Fache weckte sie durch ihre Anmut, wie durch ihr Talent die Bewunderung aller, ihre Nina aber übertraf alles, was man sehen kann, und ich glaube in bezug auf das Feuer, welches sie in diese Rolle zu legen weiß, kommt keine andere Darstellerin ihr gleich. Die ganze Gesellschaft lauschte ihr mit atemloser Spannung, so einfach, so groß, so erschütternd und ergreifend ist ihr Spiel.«
Meine beiden Porträts wurden mit der größten Sorgfalt eingepackt und Sir William, der von dem, was er seinen »Schatz« nannte, sich nicht trennen wollte, richtete es so ein, daß wir denselben bei unserer Abreise gleich mitnehmen konnten.
Wir verließen London am 20. April. Sir William nahm aus Neugier den Rückweg über Paris. England, welches bald einen so grausamen Krieg gegen Frankreich führen sollte, war jetzt noch in Frieden mit diesem Lande und Sir William ward daher in dieser Beziehung durch nichts an der Ausführung seines Wunsches gehindert. Wir kamen am 26. April an, gerade zur rechten Zeit, um eine Emeute zu sehen. Es war die der Vorstadt St. Antoine. Sir William hatte alle mögliche Eile aufgeboten, um der Eröffnung der Generalstaaten beizuwohnen, welche am 27. stattfinden sollte. Bei unserer Ankunft erfuhr er jedoch, daß sie auf den nächstfolgenden 4. Mai verschoben war. Anstatt der Eröffnung der Generalstaaten sahen wir den Brand und die Plünderung der Magazine Réveillons.
Wir sahen die Sache gleichsam aus der ersten Loge mit an. Ohne Zweifel wußte man schon am Tage vorher, daß etwas geschehen würde, denn als Sir William abends nach Hause kam, brachte er die Erlaubnis zu einem Besuche in die Bastille mit.
Den nächstfolgenden Tag machten wir von dieser Erlaubnis Gebrauch. Sowie wir uns der Bastille näherten, ward die Menge immer dichter und wir glaubten nicht, mit unserm Wagen bis zum Eingangstore durchdringen zu können. Endlich gelang es uns, aber nicht ohne daß wir mit Geschrei und Verwünschungen begrüßt worden wären. Das französische Volk schien mir seit der Zeit, wo ich es zum ersten Male gesehen, sich sehr verändert zu haben.
Der Gouverneur Delaunay, welcher bereits in Kenntnis gesetzt worden, daß der englische Gesandte und seine Gemahlin die Bastille besuchen würden, erwartete uns, um selbst die Honneurs des königlichen Schlosses zu machen. Er begann damit, daß er uns fragte, ob wir seine Gefangenen sehen wollten, wenigstens die, welche es ihm erlaubt wäre, uns zu zeigen. Ich erkundigte mich, ob es zulässig wäre, einige davon in Freiheit zu setzen. Delaunay antwortete mir, daß seine Courtoisie sich so weit nicht erstrecken dürfe.
»Dann,« sagte ich, »wenn wir nichts für diese Unglücklichen tun dürfen, so wünsche ich sie lieber nicht zu sehen.«
»Aber was wünschen Sie dann sonst zu sehen?«
»Paris von der Höhe der Türme.«
Dies ließ sich sehr leicht tun. Der Gouverneur ging mit seinem Hute in der Hand uns voran, und ließ, wie dringend ich ihn auch bat, sich doch nicht bewegen, ihn aufzusetzen. Ich fragte mich, wie ein so artiger und manierlicher Mann seinen Gefangenen gegenüber so unerbittlich oder vielmehr so habsüchtig sein könnte. Man erzählte nämlich von ihm ganz unglaubliche Beispiele von Geiz und Eigennutz. Alle Ämter der Bastille bis herab zu dem des Küchenjungen wurden von ihm verkauft und hingen von ihm ab. Mit sechzigtausend Franks Besoldung wußte er es, wie man sagte, möglich zu machen, hundertundzwanzigtausend einzunehmen. Er hatte seinen Gewinn an allem – am Holz, am Wein, an den Lebensmitteln. Die Terrasse einer Bastion war in einen Garten zum Spaziergange für die Gefangenen verwandelt worden, Delaunay aber hatte denselben für hundert Franks jährlich an einen Gärtner vermietet. Als wir oben auf den Türmen standen, schweifte unser Blick einerseits bis zum äußersten Ende des Boulevard du Temple, andererseits bis zum sogenannten königlichen Garten, gegen Westen bis Vincennes, gegen Osten bis zu den Invaliden. Erst von hier aus sahen wir ordentlich, wie zahlreich die Menge war, welche wir passiert und auf welche wir jetzt herabschauten. Diese ganze Menge drängte sich nach der Vorstadt Saint-Antoine zu. Sie schien wild aufgeregt zu sein und einige Männer drohten im Vorbeiziehen der Bastille mit der Faust. Delaunay lachte darüber.
Ich fragte ihn, was dieses Getöse und Geschrei zu bedeuten habe. Er antwortete mir, das Volk von Paris behaupte in seiner Verblendung und Böswilligkeit, es müsse verhungern. Der Papierfabrikant Réveillon, einer jener Aristokraten des Handels – der allerschlimmsten Aristokraten, die es gäbe – habe, wie man behauptete, gesagt, der Arbeiter verdiene noch zu viel und man müsse seinen Tagelohn bis auf fünfzehn Sous herabsetzen. Man fügte hinzu, er solle mit der schwarzen Schnur des St. Michaelisordens von dem Hofe dekoriert werden, der sich auf diese Weise in ihm eines royalistischen Wählers versicherte. Die ganze Menge drängte sich nach Réveillons Magazinen. Das Geschrei, welches sie ausstieß, bedrohte den Papierfabrikanten mit dem Tode. Zum Glück hatte er sich versteckt, so daß man ihn in seinem Hause nicht fand. Binnen wenigen Augenblicken ward nun aus einer Schütte Stroh eine Puppe fabriziert. Ein Trödler brachte einen alten Rock, welchen man dem Strohmann anzog. Dann hing man ihm eine schwarze Schnur um den Hals, befestigte ihn am Ende einer Stange und trug ihn so in den Straßen von Paris herum. Der Zug bewegte sich an der Bastille vorüber, um den Strohmann auf dem Platze vor dem Stadthause zu verbrennen. Zugleich aber versprachen die Meuterer, indem sie sich entfernten, daß sie den nächstfolgenden Tag wiederkommen und das Haus in Brand stecken würden.
»Wenn Sie das sehen wollen,« bemerkte der Gouverneur in galanter Weise, »so kommen Sie morgen zur selben Stunde wieder. Die Sache wird interessant werden, glaube ich.«
»Aber,« entgegnete ich, »da diese Leute ihre Absicht ganz laut und offen aussprechen, so wird die Polizei morgen ihre Maßregeln ergreifen und sich diesem Vorhaben widersetzen.«
»O Mylady,« entgegnete Delaunay lachend, »man sieht wohl, daß Sie sich noch in England glauben, wo ein Konstabler, wenn er den Anführer der Emeute mit seinem Stabe berührt, eine Zusammenrottung von hunderttausend Mann zerstreut. Geben Sie sich keiner Täuschung hin, Mylady. Hier sind wir in Frankreich und in Frankreich bleibt das Volk, wenn es sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, nicht auf halbem Wege stehen. Erzeigen Sie mir die Ehre, morgen mit mir zu frühstücken. Ich werde einen Mann als Schildwache auf die Türme postieren, damit wir sofort benachrichtigt werden, wenn das Schauspiel beginnt, und ich verspreche Ihnen zum Dessert eine Szene, wie man dergleichen nicht alle Tage sieht.« Ich sah Sir William an. Er las in meinen Augen den Wunsch, Zeugin der Ereignisse des morgenden Tages zu sein, und da er nie etwas anderes wollte, als was ich wollte, so sagte er: »Herr Gouverneur, abgesehen von dem Frühstück, nehmen wir Ihr freundliches Anerbieten an.« Der Gouverneur verneigte sich. »Unglücklicherweise,« entgegnete er, »sind die Anerbietungen von der Art, daß sie sich nicht voneinander trennen lassen. Es bietet sich mir Gelegenheit, einen der ersten Gelehrten der Welt und die schönste Frau Englands an meiner Tafel zu empfangen, und diese Gelegenheit werde ich mir nicht entgehen lassen.« Ich fühlte mich angenehm geschmeichelt und bewunderte zugleich diese französische Galanterie, welche wie eine natürliche Blume sogar aus den Steinritzen eines Gefängnisses hervorsproßte. »Wohlan, Herr Gouverneur,« antwortete ich, »ich nehme Ihre freundliche Einladung im Namen meines Gatten und in dem meinigen an, aber nur unter einer Bedingung.«
»Eine von Ihnen, Mylady, gestellte Bedingung ist schon im voraus angenommen, bestünde sie auch darin, daß Sie die Schlüssel zur Bastille ausgehändigt verlangten. Nennen Sie die Bedingung.« – »Sie werden uns die gewöhnliche Kost der Gefangenen auftragen lassen, damit mich etwas daran erinnert, daß ich in einem Gefängnis frühstücke.« – »Auch in diesem Punkt kann ich Sie zufriedenstellen, Mylady, und verspreche Ihnen Gefangenenkost.« – »Auf Ihr Ehrenwort?« – »Auf Edelmannsparole.« – Ich reichte dem Gouverneur die Hand. »Ich weiß« sagte ich, »daß, wenn ein Franzose dies sagt, er sich lieber umbringen lassen, als sein Ehrenwort brechen würde. Auf Wiedersehen morgen.« Mit diesen Worten nahmen wir Abschied von dem galanten Gouverneur der Bastille.
In Erwartung des für den nächstfolgenden Tag versprochenen Schauspiels fragte Sir William mich, wo ich den Abend zuzubringen wünschte. Es versteht sich von selbst, daß ich antwortete: In der Comédie française. Das Theater war und blieb stets meine herrschende Leidenschaft, und wenn zur Zeit meines Elends Drury Lane nicht niedergebrannt wäre, so wäre ich höchst wahrscheinlich dort aufgetreten und vielleicht die Nebenbuhlerin einer Mistreß Siddons geworden, anstatt die einer Aspasia zu werden. Für das Heil meiner Seele und die Ruhe meines Gewissens wäre dies ohne Zweifel besser gewesen. Man gab »Berenice« von Racine.
Sir William ließ eine Loge verlangen; man meldete ihm aber, daß keine mehr zu haben sei. Mitten unter Emeute und Hungersnot keine Loge mehr im Theater! Das erschien mir ganz unglaublich. Wir fragten nach der Ursache dieses Andranges.
Man antwortete uns, ein junger Tragöde, der erst seit zwei Jahren debütiere, aber stets mit dem größten und verdientesten Beifall, werde an diesem Abend zum ersten Male in der Rolle des Titus auftreten. Ich fragte wie er hieße. Sein Name war François Talma. Sir William sah, daß ich über dieses Mißgeschick ganz trostlos war. Er schrieb deshalb sofort an seinen Kollegen, den englischen Gesandten am französischen Hofe, um ihn zu fragen, ob er nicht zufällig eine auf das ganze Jahr gemietete Loge in der Comédie française habe.
Der Gesandte, der wahrscheinlich nicht verheiratet war, oder dessen Frau das Theater nicht liebte, antwortete, er könne zu seinem großen Bedauern Sir Williams Wunsch nicht befriedigen, denn er habe keine Loge. Ich war so außer mir, daß ich Sir William bat, unsern Wirt heraufkommen zu lassen und denselben zu befragen, ob er nicht ein Mittel müßte, wodurch eine Loge oder auch nur Plätze überhaupt, möchten es sein, was für welche es wollten, zu erlangen seien. »Ich kenne nur ein Mittel,« sagte der Wirt, »und dies besteht darin, daß Sie an Herrn Talma selbst schreiben.« Sir William machte eine verneinende Gebärde. »Talma ist ein vortrefflicher junger Mann,« hob unser Wirt wieder an. »Er verkehrt in der besten Gesellschaft von Paris, ist ausgezeichneter Patriot und wird sicherlich, wenn Sie sich nennen wollen, Mylord, alles, was in seinen Kräften steht, tun, um Ihnen das Vergnügen zu verschaffen, ihn zu sehen.« Sir William drehte sich nach mir herum und wußte nicht, was er tun sollte. Er sah, daß ich die Hände faltete und ihn mit flehendem Blick ansah. »Wohlan,« sagte er, »da du es einmal willst, so soll es geschehen.« Er ergriff die Feder und schrieb: »Sir William Hamilton, Gesandter des Königs von Großbritannien, und seine Gemahlin haben die Ehre, Herrn Talma zu begrüßen und ihm den Wunsch zu erkennen zu geben, ihn heute abend in der Rolle des Titus zu sehen. Alle ihre Bemühungen, sich eine Loge zu verschaffen, sind vergebens gewesen. Sie sehen sich deshalb, selbst auf die Gefahr hin, zudringlich zu erscheinen, genötigt, sich an ihn selbst zu wenden und ihn um zwei Plätze zu bitten, mögen dieselben sein, wo sie wollen, dafern sie nur von einer Dame besucht werden können.«
29. April.«
»Wollen Sie es übernehmen, diesen Brief an Herrn Talma zu befördern?« fragte Sir William unsern Wirt.
»Jawohl, es wird dies durchaus keine Schwierigkeiten machen.«
»Und Sie werden uns die Antwort zustellen lassen?«
»Damit der Auftrag richtig ausgeführt werde,« sagte unser Wirt, »werde ich selbst gehen.« Und ohne unsern Dank abzuwarten, entfernte er sich, indem er den Brief mitnahm. »In der Tat,« murmelte Sir William, als ob er es nur ungern zugestünde, »es läßt sich nicht leugnen, daß das französische Volk ein sehr artiges und höfliches ist. Wie schade, daß es auch ein so leichtsinniges ist!« Sir William war weit entfernt zu ahnen, daß die Franzosen so nahe daran waren, die gute Eigenschaft, wegen welcher er sie lobte, und den Fehler, welchen er ihnen zum Vorwurf machte, abzulegen. Nach Verlauf einer halben Stunde trat unser Wirt mit freudestrahlender Miene wieder ein. Er hielt ein Billett in der Hand.
»Sie haben eine Loge?« rief ich ihm entgegen, als ich ihn erblickte.
»Ja,« sagte er, indem er sein Billett emporhielt. »Hier ist sie.« Ich nahm ihm das Billett aus der Hand. Es standen darauf die Worte geschrieben: »Gut für meine Loge. Talma.« Und darunter: »Eingang der Artisten.« Außer mir vor Freude bemächtigte ich mich des Billetts. »Warte,« sagte Sir William zu mir; »es ist dies noch nicht alles. Titus erzeigt uns die Ehre, uns zu antworten.«
»Ah, lassen Sie sehen.«
Ich las: »Der Bürger Talma bedauert, dem berühmten Sir William Hamilton und Mylady Hamilton bloß seine eigene, auf der Bühne selbst befindliche Loge anbieten zu können. So aber, wie sie ist, offeriert er dieselbe mit dem Ausdruck seiner umfassenden Dankbarkeit dafür, daß man die Gewogenheit gehabt hat, sich seiner zu erinnern. 27. April 1789.« Es versteht sich von selbst, daß wir Schlag halb acht Uhr im Theater waren. Der Schweizer erwartete uns an der Tür, ließ uns quer über die Bühne gehen und führte uns in die Loge. Es war leicht zu sehen, daß der Mann welchem dieselbe gehörte, hier die ganze Koketterie entfaltet hatte, deren ein Künstler fähig ist. Ein großer Spiegel schmückte eine der Wände, die Möbel waren mit türkischen goldgestickten Stoffen bedeckt. Die ganze Loge erinnerte mich im kleinen an Romneys Atelier. Ich war ganz entzückt darüber, mich auf der Bühne zu befinden. Es freute mich dies zehnmal mehr, als wenn ich im Zuschauerraum gewesen wäre, selbst wenn man mir die königliche Loge zur Verfügung gestellt hätte. Mit Ungeduld erwartete ich das Aufgehen des Vorhangs. Mittlerweile aber hatte ich ein Schauspiel, welches fast noch interessanter war als das der Tragödie, nämlich das hinter den Kulissen. Alle Künstler sprachen miteinander über ihren Kollegen Talma und fragten sich, welche neue »Ausschreitung« in bezug auf das Kostüm er sich erlauben würde. Mit diesem Ausdrucke »Ausschreitung« bezeichneten sie nämlich die förmlich wissenschaftliche Arbeit, welcher Talma sich unterzog, um das Theater zur historischen Wahrheit zurückzuführen. Endlich ließ das Glöckchen sich hören, man tat die drei Schläge, der Regisseur machte Platz für die Künstler und der Vorhang ging auf. Ich gestehe, daß, als in der ersten Szene des zweiten Aktes Titus auftrat, ich einen Ruf der Bewunderung ausstieß. Es war mir, als sähe ich eine römische Bildsäule einhergewandelt kommen. Der Kopf war ganz besonders wunderschön. Das nach antiker Weise kurz geschnittene Haar, der Lorbeerkranz, der nicht festgebundene, sondern nachlässig über die Schultern geworfene Purpurmantel, so daß dem Träger freies Spiel damit gestattet war – alles dies ließ der Physiognomie des Künstlers ein eigentümliches Gepräge, welches den Zuschauer um siebzehnhundert Jahre zurückversetzte. Die sämtlichen übrigen Darsteller sahen dagegen aus wie Masken. Die Rolle der Berenice war, so viel ich mich erinnern kann, mit einer jungen schönen Aktrice besetzt, welche Madame Bestris hieß. Sie trug das altertümliche Kostüm, Puder und Reifröcke. Als sie in der vierten Szene des zweiten Aktes auftrat und sich Titus gegenüberbefand, machte sie erst eine Gebärde der Überraschung und unterdrückte dann eine heftige Anwandlung zum Lachen. Titus ging mit nackten Armen und Beinen, während die andern Trikots und seidene Beinkleider trugen. Nichtsdestoweniger sagte sie mit dem ganzen seelenvollen Ausdruck, welchen sie dareinlegen konnte, die lange Tirade, welche fast diese ganze Szene ausfüllte. Nachdem sie jedoch den letzten Vers gesprochen, hörte sie nicht auf die Antwort des Titus, sondern betrachtete ihn vom Kopf bis zu den Füßen und murmelte:
»Aber, mein Gott, Sie haben ja keine Perücke! Sie tragen ja weder Trikot noch Beinkleider.«
Talma, der mittlerweile zu Ende gesprochen, antwortete ihr leise:
»Liebe Freundin, dergleichen trugen die Römer ja nicht.«
Berenice fuhr in ihrer Rolle weiter fort, und die Zuschauer, welche von diesem leisen Zwischenspiel nichts gehört, waren zu Tränen gerührt.
Ich bog mich in den Hintergrund der Loge zurück, um ungeniert lachen zu können, während Sir William in seiner Eigenschaft als Altertumskenner wiederholt sagte:
»Er hat recht, er hat vollkommen recht. Bravo, junger Mann, Bravo! Sie sehen aus wie eine in Herkulanum oder Pompeji ausgegrabene Statue. Perge! Sic itur ad astra!«
Der Tragöde verneigte sich zum Zeichen des Dankes leicht nach unserer Seite. »Wer sind die Leute, die du in deiner Loge hast?« fragte Madame Bestris in mürrischem Tone, während sie immer weiter spielte.
»Es sind englische Künstler,« antwortete Talma mit einem leichten Lächeln, welches auf die Rechnung der Liebe gebracht ward, welche Titus für Berenice empfindet.
»Ja, Künstler, Herr Talma!« rief ich Beifall klatschend, »Sie haben recht, echte Künstler.« Als Titus abtrat, spendete ich doppelten Beifall, denn dieser Abgang ward von dem jungen Tragöden bewundernswürdig ausgeführt. In dem Augenblicke, wo nach Beendigung des zweiten Aktes der Vorhang hinabfiel, hörte man einen lauten Beifallssturm im Zuschauerraum. Man bog sich aus den Logen und man schrie: »Bravo!« Von unserm Standpunkt aus konnten wir nichts sehen, einige Künstler aber näherten sich dem Vorhang und lugten durch das darin angebrachte Loch. »Was gibt es? was gibt es?« fragten die andern Schauspieler diejenigen, welche so glücklich waren, durch die Öffnung schauen zu können,
»Na,« antwortete eine Stimme, »das fehlte bloß noch!«
»Was denn?«
»Der Narr von Talma findet Nachahmer.«
»Wie?« fragte einer der Schauspieler; »gibt es vielleicht im Parterre Leute, welche keine Beinkleider anhaben?«
»Nein, wohl aber gibts im Orchester einen jungen Mann, der sich wahrscheinlich im Zwischenakt das Haar hat abschneiden lassen. Er ist à la Titus frisiert und er ist es, dem man Beifall zujubelt.« Zwischen dem zweiten und dem dritten Akt ward dieses Beispiel von noch drei oder vier anderen jungen Leuten nachgeahmt. Im letzten Akte hatte Talma wenigstens zwanzig Nachahmer unter den Zuschauern. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß von diesem Abend an die Mode datierte, das Haar à la Titus zu tragen. Als nach dem fünften Akt der Vorhang fiel, ließ Sir William Hamilton, meinen Wünschen entgegenkommend, durch den Schweizer den Bürger Talma fragen, ob wir ihm einen Besuch in seiner Ankleideloge machen könnten, um uns bei ihm zu bedanken. Er ließ uns sofort antworten, es sei dies für ihn eine so große Ehre, daß er nicht gewagt habe, dieselbe zu erwarten; wenn wir ihm aber dieselbe erzeigen wollten, so würde er sie gern annehmen. Wir machten uns auf den Weg nach seiner Loge. Der Korridor war gedrängt voll; als man aber eine Dame, welche der höhern Gesellschaft anzugehören schien, erblickte, drückte jeder sich an die Wand, so daß es uns gelang unser Ziel zu erreichen.
Titus erwartete uns an der Tür, um die Honneurs seiner Loge zu machen. Unser Erstaunen war groß, als er uns in vortrefflichem Englisch anredete und uns oder vielmehr Sir William fragte, ob er sein Inkognito beibehalten wolle oder nicht. Sir William antwortete, er habe durchaus keinen Grund, die Ehre zu verbergen, welche er sich selbst erzeige, indem er einem großen Künstler seinen Dank und seine Komplimente abstattete. Im Gegenteil wünsche er, der Gesellschaft, die sich in der Loge befände und die dem Anscheine nach der intelligenten Klasse angehöre, vorgestellt zu werden. Sir William irrte sich auch nicht. Talma stellte uns nach der Reihe den Dichter Marie Joseph Chenier, dessen »Carl den Neunten« er wieder aufnehmen wollte, Ducis, dessen »Macbeth« er studierte, den jungen Arnault, der für ihn den »Marius« gedichtet, La Harpe, der ihn quälte, seinen »Wasa« zu spielen; den Maler David, der ihm seine Kostüme zeichnete, den Chevalier Bertin, der vor fünf oder sechs Jahren sein Buch über die Liebe herausgegeben und der den nächstfolgenden Tag nach St. Domingo abreiste, wo er schon ein Jahr später sterben sollte, Parny, den man den französischen Tibull nannte und der im Begriff stand, seine »Eleonore« zu dichten, während sein Bruder vielleicht mit weniger Poesie, aber mit ebensoviel Witz Mademoiselle Contat sang, und endlich fünf oder sechs andere junge Leute vor, welche alle einen Namen hatten oder im Begriff standen, sich einen zu machen. Sir William hatte seinen Hof und ich hatte auch den meinigen. Die Poeten kamen zu mir, die Maler gingen zu Sir William. Er verwickelte sich mit David und Talma in eine gelehrte Diskussion über das antike Kostüm, während ich den Chevaliers Bertin und Parny Komplimente über ihre Verse machte, und sie mir mit Lobsprüchen über meine Schönheit vergalten. Sir William, der fortwährend bedacht war, mir Triumphe zu verschaffen, bereitete mir auch jetzt einen. Er ersuchte Talma, sich mit seinen sämtlichen Freunden, die sich in seiner Loge befänden, den nächstfolgenden Abend in seinem Hotel einzufinden. Wenn Talma sich dazu verstünde, Verse von Corneille, Racine und Voltaire zu deklamieren, so würde Lady Hamilton ihrerseits einige Szenen aus Shakespeare vorführen. Talma ward zugleich gebeten, seine Freunde in Kenntnis zu setzen, daß der Abend mit einem Souper schließen würde. Die Einladung ward einstimmig angenommen und wir begaben uns nach Hause. Wir hatten, wie man sich erinnert, versprochen, uns den nächstfolgenden Morgen um zehn Uhr in der Bastille einzufinden, um mit dem Gouverneur zu frühstücken.
Als wir nach Hause kamen, dankte ich Sir William Hamilton für den reizenden Abend, den er mich hatte verleben lassen. Die Kunst schien mir, beim Lichte besehen, immer das Ziel zu bleiben, zu welchem ich bestimmt war, und wenn ich meinem wirklichen Berufe folgen und mich dem Theater widmen gekonnt hätte, so hätte ich sicherlich einen ebenso weitverbreiteten Ruf hinterlassen, wie Mademoiselle Champmeslé oder Mistreß Siddons. Am nächstfolgenden Morgen ließ ich frühzeitig zwei Schneiderinnen kommen. Ich fertigte ihnen die Zeichnungen zu zwei Kostümen, welche ich für den Abend wünschte, zu dem Ophelias und dem Julias. Ich forderte sie auf, so viel Gehilfinnen anzunehmen, als sie wollten, damit bis um acht Uhr abends unfehlbar die beiden Kostüme fertig wären. Die beiden Schneiderinnen gaben mir ihr Wort. Ich rechnete auf dasselbe ebenso fest, wie ich am Tage zuvor auf die Edelmannsparole des Gouverneurs Delaunay gebaut, und stieg um halb zehn Uhr in den Wagen, um mich mit Sir William nach der Bastille zu begeben. Als wir jedoch den Boulevard du Temple erreichten, war die Menschenmenge so dicht, daß es uns unmöglich war, auf diesem Wege weiterzukommen. Wir fuhren deshalb durch die Rue du Temple, gewannen den Quai und fuhren dann an dem Arsenal vorbei. Auf dieser Seite war der Raum frei, denn über die Bastille ging die Emeute nicht hinaus und ergoß sich linkerseits in die Vorstadt Saint-Antoine. Der Gouverneur erwartete uns und die Tafel war mit großem Luxus hergerichtet. Er lud uns ein, ohne Verzug zu frühstücken, weil die Emeute sich bis zu Mittag wahrscheinlich zu ihrem vollen Glanze entfaltet haben würde. Gleich bei dem ersten Gange beschuldigten wir, als wir die Menge der Speisen und die Feinheit der Weine sahen, den Gouverneur, daß er seinem Wort untreu geworden, weil er uns nicht die Kost der Gefangenen vorsetze.
»Mylady,« antwortete Delaunay, »Sie haben mir allerdings Bedingungen gestellt, innerhalb derselben aber mir vollen Spielraum gelassen. Wir haben in der Bastille Gefangene von verschiedenen Gattungen, von Prinzen vom Geblüt an bis zu Pasquillanten. Für die Beköstigung eines Prinzen von Geblüt sind fünfzig Franks täglich festgesetzt, für die eines Marschalls von Frankreich sechsunddreißig, für die der Generale und Brigadiers vierundzwanzig, für die eines Rats fünfzehn, für die eines gewöhnlichen Richters zehn, für die eines Geistlichen sechs und endlich für die eines Pasquillanten oder Flugschriftlers drei. – »Nun und?« fragte ich, denn ich wußte nicht recht, wo er mit dieser langen Aufzählung hinauswollte. – »Nun,« hob er an, »ich traktiere Sie als Prinzen von Geblüt. Sie haben ein Frühstück wie ein gefangener Prinz, weiter nichts.« – »Dann haben wir wohl das Frühstück des Herrn von Beaufort?« fragte ich. – »Nein, da irrst du dich, liebe Freundin,« sagte Sir William, »Herr von Beaufort sitzt nicht in der Bastille, sondern in Vincennes. Herr von Condé aber hat in der Bastille gefangen gesessen.« – »Wie?« rief ich. »Dann hat er hier seine Nelken gezüchtet! Wenn noch eine davon da ist, Herr Gouverneur, so werden Sie mir dieselbe schenken.« – »Da irrst du dich abermals,« sagte Sir William »Der Condé, welcher sich zum Gärtner machte, war Ludwig der Zweite, der große Condé, und dieser war ebenfalls in Vincennes, dafern du nicht zugeben willst, daß in der Bastille geboren werden auch so viel heiße, wie als Gefangener darin sein. Heinrich der Zweite, sein Vater, ein ziemlich trauriger Gesell, saß in der Bastille.«
»Aber das muß ich gestehen!« rief der Gouverneur, »ein englischer Gelehrter weiß von der Geschichte meiner Festung mehr als ich! Wohlan, einen Toast auf den Tower von London. Möge derselbe die Könige von England immer von ihren Feinden befreien, ebenso wie die Bastille den König von Frankreich von den seinigen befreit. Ich kann Ihnen versichern, Mylord, daß der Herzog von Clarence in keinem bessern Wein ertränkt worden ist, als der ist, welchen Sie gegenwärtig trinken.«
Wir hatten eben, um dem Gouverneur Bescheid zu tun, unsere Gläser geleert, als man uns meldete, daß, wenn wir die Emeute in ihrer ganzen Schönheit sehen wollten, wir keinen Augenblick zu verlieren hätten. Der Gouverneur wollte uns noch länger bei Tische zurückhalten und versicherte uns, daß wir noch vollauf Zeit hätten. Die Neugier trug jedoch den Sieg davon und wir bestiegen den Turm, welcher der Vorstadt St. Antoine zunächst gelegen war. Als wir diesen hohen Punkt, von wo uns keine Einzelheit entgehen konnte, erreicht hatten, sahen wir den furchtbaren Auftritt in seiner ganzen Häßlichkeit.
»Pardieu!« sagte der Gouverneur, indem er Sir William sanft an der Schulter berührte, »ich kann Ihnen nicht bloß die Plünderung von Réveillons Magazin, sondern auch Réveillon selbst zeigen.«
»Wieso?«
»Ich vergaß Ihnen zu sagen, daß er gestern Morgens, weil er wohl wußte, daß es sich um nichts Geringeres handelte, als ihn aufzuhängen, zu mir kam, um mich um ein Asyl zu bitten, was ich ihm natürlich auch bewilligt habe. Sehen Sie dort jenen kleinen Mann mit dem krausen Haar, den geballten Fäusten und dem verzerrten Gesicht, welcher an dem, was vorgeht, so großes Interesse zu haben scheint und sich über die Brustwehr der Schießscharten hinausbeugt, so daß man meinen sollte, er wolle von der Mauer hinabspringen?«
»Das ist Réveillon?«
»Ja, das ist er.« Und damit wir nicht an seinen Worten zweifeln möchten, setzte der Gouverneur hinzu: »He, Herr Réveillon! Was meinen Sie zu dem, was da drüben geschieht?« Réveillon zuckte zusammen.
»Ich glaube, Herr Gouverneur,« antwortete der arme Teufel, »wenn der Hof nicht eine Emeute brauchte, um wegen der Generalstaaten Zeit zu gewinnen, so würde man mit diesem Lumpengesindel sehr bald fertig werden. Ist es nicht eine wahre Schande? Zweitausend Meuterer plündern mein Haus und werden es wahrscheinlich in Brand stecken und Herr von Bezenval schickt, wie viel? Zählen wir sie – zehn, fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig – Herr von Bezenval schickt dreißig Mann, um zweitausend im Zaume zu halten, abgesehen von hunderttausend Zuschauern, welchen die Sache Spaß macht und die folglich die andern aufhetzen.
»Mein bester Herr Réveillon,« sagte der Gouverneur, »nehmen Sie sich in acht! Sie sprechen sich über die Regierung Seiner Majestät etwas ungeniert aus, und da Sie einmal in der Bastille sind, so wäre es leicht möglich, daß man Sie darin ließe.«
»O,« sagte Réveillon, welcher beim Anblick seines zerschlagenen Hausgerätes in immer größere Wut geriet, »ich bin unbesorgt. Für Leute, wie ich bin, ist die Bastille nicht gebaut, sondern für die großen Herren. Sie selbst zum Beispiel, wenn Sie wollten –«
Er zögerte und stockte.
»Nun?« fragte der Gouverneur lachend.
»Nun, Sie brauchten bloß ein Wort zu sagen und Sie könnten mich retten, denn morgen bin ich an den Bettelstab gebracht.«
»Und was für ein Wort müßte ich sagen?«
»Sie brauchten bloß zu sagen: ›Feuer!‹ und eine Ihrer Kanonen brauchte bloß zu gehorchen, dann würde der Platz mit einem Male leer sein.«
»Aber,« sagte Sir William zu dem Gouverneur, »wie mir scheint, hat dieser Unglückliche nicht ganz unrecht.«
»Im Gegenteile,« sagte der Gouverneur, »er hat sogar vollkommen recht. Ich kommandiere aber ein königliches Schloß und kann, ohne ausdrücklichen Befehl vom König, keine Kanone richten und kein Zündkraut losbrennen.«
Die Plünderung ging mittlerweile ihren Gang. Nach der Plünderung kam die Brandlegung. Die Flammen begannen zu den Fenstern herauszuschlagen. Nun rückten einige Kompagnien Garden an und gaben Feuer. Zwei oder drei der Meuterer stürzten, die andern aber trieben die Soldaten mit Steinwürfen zurück. Ich suchte mit den Augen Réveillon. Er war nicht mehr da. Ohne Zweifel hatte der Anblick der Verwüstung seines Hauses ihn so tief bekümmert, daß er ihn nicht länger zu ertragen vermocht, sondern sich in ein Zimmer der Bastille zurückgezogen hatte. Endlich nach Verlauf von zwei oder drei Stunden, während man die Plünderer und Brandstifter nach Belieben schalten und walten gelassen, kamen die Schweizer angerückt. Die Meuterer wollten mit diesen machen, was sie mit den französischen Garden gemacht; die Schweizer aber waren nicht so gutmütig. Sie feuerten in allem Ernste, nicht mehr blind, sondern scharf, töteten etwa zwanzig Menschen und zerstreuten nicht bloß die Plünderer, sondern auch die Neugierigen. Dann drangen sie in das brennende Haus, aus welchem sie Menschen auf die Straße herausgeschleppt brachten, die uns anfangs tot zu sein schienen, die aber nur betrunken waren, und welche man in den Kellern gefunden hatte. Einige jedoch hatten, indem sie Réveillons Wein zu trinken geglaubt, die Farbestoffe der Fabrik getrunken und mußten an dem darin enthaltenen Gift wirklich sterben. Ich sah, daß im ganzen genommen eine Emeute nicht etwas so Lustiges war, wie ich mir dachte. Diese hier, welche mit dem Aufknüpfen eines Strohmannes begonnen, endete mit der Plünderung und Anzündung eines Hauses. Ferner mit dem Tode von fünf oder sechs Soldaten und von etwa zwanzig Menschen, welche, wenn auch elendes Gesindel, doch deswegen immer Menschen waren. Wir dankten dem Gouverneur der Bastille für seine Emeute und sein Frühstück, gestanden ihm aber, daß der Anblick der ersten uns abhielte, das letztere zu beenden. Wir ließen deshalb seine Gefangenenkost der Prinzen von Geblüt, welche, wie ich nicht anders sagen kann, ausgezeichnet war, halb stehen und kehrten mit leichterer Mühe, als wir gekommen waren, in unser Hotel zurück.
Als wir vier Monate später in Neapel die Einnahme der Bastille und Delaunays Tod erfuhren, machten diese beiden Nachrichten auf uns einen um so tiefern Eindruck, weil wir das Schloß und seinen Gouverneur kannten. Wenn man aber die Höhe der Türme, die Stärke der Mauern und die Festigkeit der Tore gesehen hat, so fragt man sich, wie ein schlecht bewaffnetes, schlecht geführtes Volk ohne Kanonen, ohne Kriegsmaschinen eine solche Festung wie die Bastille erstürmen kann? Diese Frage wird seit fünfundzwanzig Jahren gestellt, aber die Antwort darauf ist noch nicht erfolgt. Sobald ich einmal wieder zu Hause war, beschäftigte ich mich nur noch mit den Zurüstungen zu unserer Abendgesellschaft. Ich ging mit ganz eigentümlicher Koketterie zu Werke, um mir den Beifall einer solchen Versammlung intelligenter Männer zu erwerben. Ich fürchtete bloß, daß die Ereignisse des Tages unsern Projekten für den Abend Eintrag tun könnten.
Ich kannte aber die Franzosen noch nicht, dieses vielseitige Volk, welches Zeit für alles findet, welches an einem und demselben Tage mit gleicher Sorglosigkeit, und ich möchte beinahe sagen mit derselben Geschicklichkeit die Muskete, den Bleistift und die Feder handhabt, welches am Morgen dem Revoltieren, abends der Kunst obliegt, und zwar alles dies mit einem Eifer und einem Zartgefühl, welches nur ihm angehört. Um acht Uhr hatten meine Schneiderinnen Wort gehalten und ich bekam meine beiden Kostüme. Die Pünktlichkeit, womit unsere Gäste von neun bis halb zehn Uhr sich einfanden, bewies uns das Vergnügen, welches es ihnen machte, unserer Einladung zu folgen. Anfangs sprach man von der Neuigkeit des Tages, das heißt von der Emeute. Mit Erstaunen sah ich, daß alle diese Künstler, alle diese Poeten, alle diese Journalisten, wenn sie dieselbe auch nicht einzig und allein auf Rechnung des Hofes brachten, doch wenigstens der Meinung des armen Réveillon waren, als derselbe sein Magazin brennen sah, nämlich, daß der Hof sich nicht so kräftig widersetzt hatte, wie er wohl gekonnt hätte. Der Dichter Chenier und der Maler David gingen noch weiter. Sie behaupteten nicht bloß, daß der Hof sich der Emeute nicht widersetzt hätte, sondern auch, daß der Anstoß dazu von ihm selbst ausgegangen sei. Er hoffte, sagten sie, daß jener ganze ausgehungerte Schwarm, alle diese Leute ohne Brot, fünfzigtausend Arbeiter ohne Arbeit sich den Meuterern anschließen und die Häuser der Reichen zu plündern beginnen würden. Dann gewann alles eine andere Gestalt. Der Hof hatte einen vortrefflichen Beweggrund, um eine Armee in und um Paris und Versailles zu konzentrieren, einen bewundernswürdigen Vorwand, um die Einberufung der Stände zu vertagen. Gegen die Erwartung des Hofes aber war das Volk ehrlich geblieben und hatte sich weiterer Gewaltschritte enthalten. Die Herren sagten dies mit einem solchen Ausdruck der Überzeugung und ihre Zuhörer waren so geneigt, ihnen beizustimmen, daß mein Gewissen dadurch sehr erschüttert ward. Was Sir William betraf, so gestattete seine diplomatische Zurückhaltung ihm nicht, sich offen zu dieser Meinung zu bekennen, wohl aber bemerkte ich, daß er dieselbe sich kundgeben ließ, ohne sie weiter als durch ein »wohl möglich« oder »glauben Sie?« zu bekämpfen. Da indessen unsere Gesellschaft keinen politischen Zweck hatte, so hörte man allmählich auf von den Angelegenheiten des Tages zu sprechen, um wieder auf die Poesie und Literatur zu kommen. Talma war, wie man uns gesagt hatte, ein Mann von hochgebildetem Urteil, und indem er sich anschickte, den Hamlet von Ducis zu spielen, bedauerte er in Gegenwart dieses Dichters, daß derselbe sich genötigt zu sehen geglaubt, dem französischen Geschmack so viele Opfer zu bringen. Ich glaubte, dies sei der geeignete Augenblick, um der Wagschale den Ausschlag zu Gunsten Shakespeares zu geben, und ohne etwas zu sagen, begab ich mich in mein Zimmer. Fünf Minuten genügten mir, um mein Ophelia-Kostüm anzulegen und die von Sir William, der meine Absicht verstanden, angefachte Diskussion war noch in eifrigem Fortgange, als plötzlich die Tür sich öffnete und ich in dem geschickt erzeugten Dunkel des Nebenzimmers bleich und mit starrem Blick wie das Gespenst Ophelias erschien. Ein einziger Schrei hallte durch den Salon und jeder wich unwillkürlich vor mir zurück, um mir Platz zu machen. Ophelias Wahnsinns- und Julias Balkonszenen waren mein Triumph. Davon hatte ich mich jedesmal überzeugt, wo ich in London diese beiden Szenen gespielt. In Frankreich hatte ich gleichzeitig einen Vorteil und einen Nachteil. Die Sache war hier vollkommen neu und mußte folglich größern Effekt machen; da aber nur sehr wenige die englische Sprache verstanden, so mußte das Spiel meiner Physiognomie die Absicht des Dichters erraten lassen.
Zum Glück bedurfte die prachtvolle Wahnsinnsszene Ophelias keine Erklärung, so sprechend kann die sie begleitende Pantomime werden. Fast bei jedem Vers ward ich von Beifall unterbrochen, der aber, anstatt den Effekt zu erhöhen, denselben nur beeinträchtigen konnte. Talma kam deshalb meinem Wunsch entgegen und bat, daß man mich wenigstens ohne Unterbrechung die verschiedenen Stadien durchmachen lassen solle, welche die Szene darbietet. Ich dankte ihm durch eine Kopfbewegung, und ohne mich zu unterbrechen oder unterbrochen zu werden, fuhr ich fort bis zum Ende der ersten Szene, welche mit den Worten schließt:
»Gute Nacht, meine Damen, meinen Wagen.«
Nun aber brach ein förmlicher Beifallssturm los. Talma kam, indem er mich wegen dieser Vertraulichkeit um Verzeihung bat, auf mich zugestürzt und erklärte, ich sei keineswegs die Gesandtin von England, sondern die inkognito reisende Mistreß Siddons. Demzufolge küßte er mir die Hand. Beiläufig will ich hier eins bemerken, nämlich, daß nie ein großer Herr, wie ein Prinz oder König, der mir die Hand küßte, mir so viel Vergnügen machte, oder besser gesagt so große Ehre erzeigte, wie Talma in diesem Augenblick. Und Sir William begriff dies recht wohl, denn er faßte seinerseits Talmas Hand und drückte sie mit der Miene der innigsten Dankbarkeit. Ich entschlüpfte aus dem Saale, während man mich mit Ungestüm zurücklief. Man glaubte, der Auftritt sei zu Ende, Talma aber erklärte, daß erst die Hälfte aufgeführt und daß die noch übrige die malerischste und dramatischste sei. Ich wollte den Enthusiasmus meiner Bewunderer nicht kalt werden lassen und erschien fast sofort wieder mit meinem aufgelösten Haar, meinem Kranz von Maßlieben und Vergißmeinnicht und den wilden Blumen in meinem Schleier. Ich habe schon einmal die Wirkung geschildert, welche ich in dieser Rolle hervorbrachte. Man verzeihe meinem Stolze, wenn ich mich wiederhole. Es sind dies die einzigen Triumphe, welche keine Reue in mir zurückgelassen haben. Es war dies die reine Seite, die sich in mir Bahn brach; es war die künstlerische Flamme, welche mich mit ihrer Glorie krönte.
Warum hat Gott nicht erlaubt, daß ich in der Welt der Kunst lebte, anstatt in der Welt der Größe und des Glanzes? Es versteht sich von selbst, daß mein Erfolg das zweite Mal noch größer war als das erste Mal. Er endete mit einem förmlichen Streit, welchen Talma mit dem armen Ducis begann, den er beschuldigte, den Hamlet Shakespeares so entstellt zu haben, daß er nicht gewagt, die beiden Szenen, die ich soeben vorgeführt, darin aufzunehmen. Ducis schien gänzlich zu der Idee Talmas bekehrt zu werden, dennoch aber kam es mir vor, als wollte er seinen Hamlet lieber so lassen, wie er wäre, anstatt ihn nochmals von vorn anzufangen. Ebenso wie der Abbé Vertot war er mit seiner Belagerung fertig. »Ich hatte es Ihnen wohl gesagt,« wiederholte Talma. »Sie besitzen eine abscheuliche Wut, alles zu arrangieren. Es ist gerade so wie mit meinem Monolog, dem berühmten: ›Sein oder nicht sein,‹ welchen Sie mir vollständig verdorben haben. Wollen Sie vielleicht wissen, wie er im Englischen lautet, mein lieber Ducis? Schauen Sie her und hören Sie!«
Alle traten auf die Seite. Talma hielt sich ein paar Sekunden lang die Hand auf die Augen, um seiner Physiognomie Zeit zu geben, sich zu ändern. Dann ließ er langsam die Hand herabsinken, und mit träumerischer Stirn, stierem Auge und gesenktem Haupte begann er in englischer Sprache mit vortrefflichem Akzent jenes berühmte Verhör, wo das Leben den Tod zwingen will, ihm sein Geheimnis zu gestehen.
Talma war erhaben – O, wäre ich frei, wäre es mir erlaubt gewesen, meine goldene Kette zu brechen, wie würde ich gesagt haben »Nimm mich hin! Trage mich mit dir empor in die Höhe, wo du schwebst, und lass' mich nur an deinem Herzen wieder auf die Erde herabsinken.« Ach, leider hatte das Schicksal anders über mich verfügt. Verzeihe mir, mein Gott, daß ich nicht zu wählen, oder vielmehr, daß ich nicht zu warten wußte. Was kann es nützen, wenn ich den Rest dieses berauschenden Abends erzähle? Nach zweiundzwanzig Jahren leuchtet er noch durch die Nacht der Vergangenheit strahlender als meine schönsten Tage. Wir blieben beisammen bis Tagesanbruch, ohne daß jemand von neun Uhr abends bis sechs Uhr morgens ein einziges Mal daran gedacht hätte, die Stunde schlagen zu hören.
Am drittnächsten Tage, den 30. April, empfingen wir von der englischen Gesandtschaft Billetts, um der Eröffnung oder vielmehr der Prozession der Generalstaaten in Versailles beizuwohnen. Unsere Abreise war auf den Tag nach dieser Zeremonie, das heißt auf den 5. Mai festgesetzt. Wurden die Stände noch einmal vertagt, so wollten wir unsern Weg weiter fortsetzen, denn Sir William hatte nicht die Absicht, seinen Aufenthalt in Paris noch länger auszudehnen.
Am 3. Mai abends begaben wir uns nach Versailles, um dort zu übernachten. Der englische Gesandte hatte für das halbe Jahr ein Haus dort gemietet, denn er vermutete, daß ganz besonders hier der Puls der Nation schlagen würde, und er hatte uns zwei Zimmer der ersten Etage dieses Hauses eingeräumt, welches in der Straße stand, durch welche die Prozession sich bewegen sollte. Wir gingen zuerst in eine Tribüne, um die Heiligegeist-Messe zu hören. Ich weiß nicht, ob viele der Anwesenden an die Worte der heiligen Schrift dachten: »Du wirst Völker schaffen, und das Antlitz der Erde wird sich erneuen.« Kurz vor Beendigung des Veni Creator gingen wir fort, um auf der Straße der Prozession unsere Plätze einzunehmen. Die mit französischen und Schweizergarden besetzten und mit Teppichen belegten breiten Straßen von Versailles vermochten kaum die zahllose Menge zu fassen. Ganz Paris war in Versailles. Die Türen, die Fenster, die Dächer und sogar die Bäume waren mit Zuschauern besetzt. Die mit hellfarbigen Stoffen und wertvollen Shawls bedeckten Balkons dienten den mit Feder und Blumen geschmückten Frauen als Logen. Es war, als ob in dem Augenblick, wo man sich in die Arena des Bürgerkrieges zu stürzen im Begriff stand, die Frauen, die von dem harten Gesetz der Gleichheit getroffen werden sollten, diese Gelegenheit benutzt hätten, um sich noch einmal in ihrer ganzen Toilette und in ihrem vollen Glanz zu zeigen.
Es war augenscheinlich, daß etwas Großes begann. Was war wohl das Resultat davon? Das wußte noch kein Mensch. Zuerst sahen wir am Ende der Straße eine schwarze Masse erscheinen. Dies war der dritte Stand. Fünfhundertfünfzig Deputierte, darunter dreihundert Advokaten, Magistratspersonen, lauter oder beinahe lauter unbekannte Namen, mit Ausnahme eines einzigen, der sich durch seine Skandalgeschichten bekannt gemacht. Soll ich freimütig sein wie immer? Es war dies der, den ich vor allen andern zu sehen gekommen war: Honoré Riquetti de Mirabeau. Frankreich und das Ausland hatten bereits von seinem Namen widergehallt. Seine Liebschaften, seine Entführungen, seine Gefangenschaften bildeten einen ergreifenderen und furchtbareren Roman als irgendeiner der von der Phantasie der Dichter geträumten.
Ich hatte nur eine Frage: »Wo ist Mirabeau?«
Man zeigte mir ihn. Von weitem sah ich zurückgeworfen jenes gebieterische Haupt, durch überwältigende Häßlichkeit gekennzeichnet und nach Art der Löwen einen Wald von Haaren schüttelnd. Er war die Gesellschaft einer ganzen Epoche in einem einzigen Menschen vereinigt. Ich sage ausdrücklich in einem Menschen, denn die andern schienen neben ihm nur Schatten zu sein. Ich folgte ihm mit den Augen, so lange ich ihm folgen konnte. Sein Erscheinen oder vielmehr das des ganzen dritten Standes erweckte einen Sturm von Beifallsbezeigungen und Bravorufen, welcher aufhörte, als der Adel erschien. Ganz im Gegensatz zum dritten Stande, der sich durch die Einfachheit und Gleichförmigkeit seiner Kleidung ausgezeichnet, bot der ganz in Samt und Seide gekleidete Adel eine Zusammenstellung der lebhaftesten Farben dar, die durch die prachtvollsten Stickereien noch mehr hervorgehoben wurden. Ich erkundigte mich nach dem Namen von etwa zwanzig dieser berühmten »Oseurs«, aber keiner von allen diesen Namen war mir bekannt. Man zeigte mir Lafayette, den Helden Amerikas. Ich erwartete eine jener kräftigen Naturen zu sehen, welche von der Vorsehung berufen sind, mit ihrer Feder, mit ihrer Stimme oder mit ihrem Degen die großen Prinzipien aufrecht zu erhalten. Ich sah aber bloß einen schlanken, bleichen oder vielmehr blonden und rosenwangigen jungen Mann, der durch nichts die Rolle verriet, welche er in der Vergangenheit gespielt, am allerwenigsten aber die, welche er in der Zukunft spielen sollte. Der Adel zog vorüber, nur der Herzog von Orleans ward mit Beifall, aber dies auch auf förmlich wahnsinnige Weise begrüßt. Man wollte dadurch die Königin kränken und war nur auf Rache gegen sie bedacht. Schon seit langer Zeit war der Krieg zwischen Philipp von Orleans und Maria Antoinette erklärt. Man führte für diese Antipathie die seltsamsten Ursachen an. Dieselbe dauerte schon seit acht oder neun Jahren und sollte nur auf dem Schafott erlöschen, welches sie beide durch einen Zwischenraum von zweiundzwanzig Tagen voneinander getrennt bestiegen.
Nach dem Adel kam die Geistlichkeit. Das allgemeine Schweigen war dasselbe. In der Geistlichkeit schienen bloß die beiden Stände vereinigt zu sein, welche wir soeben einzeln vorüberziehen gesehen – der Adel und der dritte Stand. Zuerst kamen etwa dreißig Prälaten in violetten Gewändern. Dann ein Musikkorps. Auf dieses folgten etwa zweihundert Geistliche in dem schwarzen Priestergewand. Diesen näherte sich das Volk unwillkürlich, wenn auch ohne Beifallsbezeigungen. Sie waren das Volk der Kirche, das Volk, welches in früheren Jahrhunderten nicht bloß das allgemeine Volk repräsentierte, sondern auch die Freiheiten des Volkes geschützt hatte. Später war es dieser Mission ein wenig untreu geworden; man war aber gern bereit, ihm dies zu verzeihen, wenn es nur wieder in den guten Weg einlenkte. Dem König wurden seinerseits einige Beifallsbezeigungen gespendet, aber sie waren weit von denen entfernt, womit man Mirabeau und den Herzog von Orleans überhäufte. Dann kam die Königin. Seit meinem ersten Besuch in Paris war eine furchtbare Veränderung mit ihr vorgegangen. Anstatt der liebenswürdigen Sanftheit, die sich sonst in ihren Zügen aussprach, lag jetzt darin etwas Hartes, Trockenes, Undankbares. Man schrie ihr ins Ohr: »Es lebe der Herzog von Orleans!« Und mitten unter diesen Rufen ließ ein Pfeifen sich hören. Sie ward bleich und war nahe daran, ohnmächtig zu werden. Fast sofort aber ermannte sie sich, ihren Mut zusammenraffend, wieder, richtete den Kopf empor, schleuderte einen haßerfüllten, herausfordernden Blick umher und nahm dann wieder ihre gewohnte harte, verächtliche Miene an.
Als die Königin vorüber war, trat ich vom Fenster zurück und setzte mich. Ich empfand dieselbe Wirkung, als wenn mir ein Stück Eis ins Herz gedrungen wäre. Wenn man mir in diesem Augenblicke gesagt hätte: »Dieses eiserne Rohr wird sich nicht beugen und deshalb zerbrochen werden,« so würde man mich dadurch keineswegs in Erstaunen gesetzt haben. Wir ruhten einen Augenblick aus und dann, nachdem wir gesehen, was mir sehen gewollt, machten mir uns wieder auf den Rückweg nach Paris. Unterwegs erklärte Sir William mir die Situation. Es war ein wirklicher Kampf, der sich zwischen der niedern Geistlichkeit, zwischen dem dritten Stand und den vom Adel unterstützten Prälaten und Edelleuten entspann. Alle diese Fragen waren zu ernst, als daß ich meine Gedanken lange dabei hätte verweilen lassen. Mein böser Genius wollte, daß ich mich in die Politik eines andern Landes mengte. Hierzu aber ward ich durch ein doppeltes Gefühl verleitet – durch meine innige Freundschaft für die Königin Karoline und durch meine unwiderstehliche Liebe zu Nelson. Jetzt kann weder das eine noch das andere dieser Gefühle mir zur Entschuldigung gereichen, dies weiß ich wohl; da ich aber eine so furchtbare Rechenschaft abzulegen habe, so will ich dies lieber im Namen meiner Liebe und Selbstverleugnung, als im Namen meines persönlichen Interesses tun.
Am nächsten Tage, den 5. Mai 1789, verließen wir Paris. Wir nahmen den Weg durch Belgien und die Schweiz, gingen über den St. Gotthard, fuhren über den Lago Maggiore, erreichten Livorno mit der Post, fanden hier unsere Felucke und stiegen am 20. Mai an der Immacolatella ans Land. Als wir das Gesandtschaftshotel betraten, fand Sir William hier ein Billett des Königs vor, welches folgendermaßen lautete: »Am Tage nach Ihrer Ankunft, mein lieber Sir William, werde ich Sie zum Diner im Schlosse von Caserta erwarten; die Königin aber, welche mit Ihrer liebenswürdigen Gemahlin eine nähere Bekanntschaft zu machen wünscht, als dies bei einer offiziellen Vorstellung geschehen kann, wird dieselbe zwischen elf und zwölf Uhr erwarten. Bleiben Sie daher bis um vier Uhr bei Ihren Geschäften, aber schicken Sie uns Lady Hamilton als die Taube der Arche, um uns zu melden, daß Sie ans Land gestiegen sind. Ihr wohlgewogener Ferdinand B.«
Sir William antwortete: »Sire! Die Taube wird zur bestimmten Stunde bei Ihnen sein. Erwarten Sie aber nicht, daß sie den Ölzweig bringe. Ich zweifle, daß man sich sobald wieder in Frankreich mit der Kultur dieser Bäume wird beschäftigen können. Ich meinerseits werde zu der mir angedeuteten Stunde Ew. Majestät für die mir bewiesene Güte danken. Ich habe die Ehre zu sein Ew. Majestät Alleruntertänigst gehorsamster Diener
W. Hamilton.«
Mein Triumph war, wie man sieht, vollständig.
Ich hatte aus Frankreich eine Menge Kleider mitgebracht. Ich zögerte einige Zeit, um zu erfahren, in welcher Art von Toilette ich mich bei der Königin präsentieren sollte. Ich entschied mich für das einfachste. Ein Kleid von weißem Atlas, eine weiße Feder im Haar, ein hellblauer Kaschmir auf den Schultern, dies war der ganze Luxus, den ich entfaltete. Um zehn Uhr machte ich mich auf den Weg nach Caserta, um elf Uhr stieg ich am Fuß der großen Treppe aus. In der ersten Etage öffnete man mir eine Tür, welche in einen Korridor führte. Die Königin erwartete mich in ihren kleinen Gemächern. Ich brauche nicht erst zu sagen, wie gewaltig das Herz mir pochte. Ich fühlte, daß ich bleich ward, denn mein ganzes Blut strömte mir nach dem Herzen zurück. Endlich, nachdem sich drei oder vier Türen geöffnet und geschlossen hatten, öffnete man die letzte. Ich war wie geblendet, aber dennoch hörte ich den mir voranschreitenden Lakai die Worte aussprechen: »Lady Hamilton!« – Ich trat ein, ohne etwas zu sehen. Ein Nebel hatte sich über meine Augen gebreitet. Ich wollte eine Verbeugung machen. Ich taumelte und mußte mich an einem Sessel anhalten. Ich fühlte, wie jemand mich um den Leib faßte und stützte: »Was fehlt Ihnen, Mylady?« sagte eine wohlwollende Stimme zu mir. – »Ich bitte um Verzeihung, Madame,« stammelte ich, »die Aufregung, welche mir die so lange gewünschte und so lange erwartete Ehre, vor Ew. Majestät erscheinen zu dürfen, verursacht.« – »Mein Gott, bin ich denn so imposant?« – »Sie sind Königin, Madame.« – »Da irren Sie sich. Ich bin Weib und ein Weib, welches eine Freundin sucht. Wenn Sie mir diese Freundin bringen, so werden Sie mir mehr gegeben haben, als ich Ihnen jemals vergelten kann. Nachdem ich dies vorausgeschickt, bitte ich Sie, sich zu setzen, damit ich Sie mit Muße betrachten kann.« – Ich machte eine Bewegung, um mein Gesicht mit den Händen zu bedecken. »Wollen Sie mir wohl gestatten, dieses reizende Antlitz zu betrachten, welches ich bis jetzt nur von der Seite oder verstohlen gesehen?« – Ich stieß zwei- oder dreimal einen halberstickten Schrei aus und fing an zu schluchzen. »Aber für so töricht hätte ich Sie nicht gehalten,« rief die Königin. »Soll ich mich vielleicht bei Ihnen entschuldigen?« – »O Madame,« murmelte ich. – »Kokette!« sagte sie. »Ganz im Gegensatz zu den Frauen, welche wenn sie weinen, häßlich werden, weiß sie, daß die Tränen sie nur noch schöner machen. Es ist ja nur eine einzige Frau hier und Sie brauchen daher nicht la civetta zu spielen. Lassen Sie mich Ihnen die Augen trocknen und plaudern wir dann.«
Die Königin wollte mir in der Tat die Augen trocknen. Ich warf mich ihr zu Füßen und küßte ihr die Hände. »Na, das wird schon besser,« sagte sie, »und wenn ich Sie auf beide Wangen geküßt haben werde, so sind wir dann quitt.« Mit diesen Worten umarmte und küßte sie mich. »So,« sagte sie dann, »nun sind die Kinderpossen vorbei, nicht wahr? Nehmen Sie wieder Platz neben mir und lassen Sie uns gute Freunde sein. Es müßte denn sein, daß Sie nicht wollten. Dann aber ist die Schuld nicht mehr mein.« Ich fand hierauf nichts zu antworten, sondern lächelte bloß auf die dankbarste Weise. »Wohlan,« fuhr die Königin fort, indem sie mit meinem Haar spielte, »ich liebe nicht die Vormittage, welche mit Regen anfangen.« – »Ach, Madame,« stammelte ich, »wer hätte mir jemals gesagt, daß eine große Königin, daß die erhabene Tochter Maria Theresiens –« »Still, still! – oder vielmehr, da Sie von einer Königin sprechen – ich weiß, daß Sie meine Schwester in Versailles gesehen haben – in ihrem letzten Briefe schreibt sie mir, daß die Dinge in Frankreich einen immer schlimmeren Verlauf nehmen, daß sie sehr leidend ist und körperlich immer mehr verfällt. Was ist an diesem allen wohl wahr?« – »Ach, Majestät, ich hatte die Königin von Frankreich seit acht Jahren nicht gesehen und ich muß allerdings gestehen, daß sie in diesen acht Jahren von der schönen und glücklichen Seite des Lebens Abschied genommen zu haben scheint.« – »Und ich, die ich sie seit neunzehn Jahren nicht gesehen, wie würde ich sie wohl wiederfinden! Die arme Antoinette!« – »Dennoch zählt sie erst dreiunddreißig Jahre,« entgegnete ich, »und mit dreiunddreißig Jahren ist man noch jung.« – »Wenn man Königin ist, nicht,« antwortete Karoline, indem sie die Stirn runzelte. »Übrigens, wenn die Angelegenheiten sich immer trüber gestalten, so werden wir die Aufgabe haben, dies reiflich zu überlegen. Jetzt lassen Sie mich einmal Ihre Toilette in Augenschein nehmen. Ich weiß nicht, ob Sie Ihrem Kleide gut stehen, oder ob Ihr Kleid Ihnen gut steht. Gewiß aber ist, daß es reizend, geschmackvoll ist. Ich werde mir ein ganz genau ähnliches fertigen lassen. Einen blauen Kaschemirshawl wie der Ihrige habe ich schon und wir werden dann aussehen wie zwei Schwestern.« – »O Madame!« – »Natürlich werden Sie die jüngste sein. Wie alt sind Sie? Dreiundzwanzig?« – »Etwas über sechsundzwanzig, Madame.« – »Ihr Gesicht hat einen unschätzbaren Fehler, meine Liebe, nämlich den, daß es zu Ihrem Vorteil lügt. Mit mir ist gerade das Gegenteil der Fall. Ich bin stets älter erschienen, als ich bin. Sie werden mir doch nicht etwa Komplimente machen? Morgen schicken Sie mir Ihr Kleid und ich werde mir sofort ein ähnliches fertigen lassen. – Aber wer stört uns denn da? – Ah, es ist der König – ich kenne seinen Tritt.« – »Der König, Madame?« rief ich, indem ich mich erhob. »Ich bin, wie Sie gesehen haben werden, in Dingen der Etikette durchaus nicht bewandert. Was soll ich tun?« – »Was Sie tun sollen? Bleiben sollen Sie. Übrigens macht der König mir niemals lange Besuche.«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und der König trat mit Geräusch ein. Wenn ich übrigens sage »der König«, so muß ich bemerken, daß ich mich glücklich schätzte, von der Königin soeben gehört zu haben, daß sie ihn an seinem Tritt erkannte, denn ich würde in dem Bauer, welcher jetzt in das Zimmer der Königin trat, nun und nimmermehr einen König vermutet haben. Man denke sich einen noch jungen Mann von hohem, ziemlich gut geformten Wuchse, obschon seine Füße zu groß und seine Hände zu dick waren, in Jagdschuhen von großen ledernen Gamaschen, einer Weste von Hirschleder, samtner Jacke und dergleichen Beinkleidern, von frischer Gesichtsfarbe, zurücktretender Stirn und eben so geformtem Kinn, einer ungeheuren Nase, die ihm das Ansehen nicht eines Adlers, sondern eines Papageien gaben, mit einer Stutz- und Zopfperücke und in der Hand an den Pfoten drei Truthühner haltend, welche aus Leibeskräften zappelten und glucksten. Hierzu denke man sich noch gemeine Gebärden und eine gemeine Sprech- und Ausducksweise und man hat einen ungefähren Begriff von dem, was Ferdinand der Vierte war. »Aber, mein Gott, was ist Ihnen denn begegnet?« rief die Königin. »Ich bin allerdings daran gewöhnt, Sie von der Jagd zurückkommen zu sehen, heute aber scheinen Sie etwas noch Besseres zu tun, denn ich glaube, Sie kommen aus dem Hühnerstalle.« – »Ach, meine liebe Schulmeisterin,« sagte Ferdinand – mit diesem Namen nannte er sie, wenn er bei guter Laune war, denn sie war es, welche ihn hauptsächlich Lesen und Schreiben gelehrt hatte – »Sie haben mir immer gesagt, wenn ich nicht König wäre, so würde ich nicht wissen, womit ich mein Brot verdienen sollte. Dies hier aber wird Ihnen das Gegenteil beweisen. Sehen Sie einmal diese drei Truthühner an.« – »Ich sehe dieselben.« – »Und nun machen Sie mir das Vergnügen, sie zu betasten.« – »Es ist geschehen, mein Herr.« – »Nun Sie, Mylady.« – Mit diesen Worten hielt der König die Truthühner mir vor die Augen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, ich zögerte. »Betasten Sie doch!« sagte er. »Da Sie davon essen werden, so kann es nicht schaden, wenn Sie sich überzeugen, daß sie fett sind. Ich hoffe doch, daß wir Sir William mit bei Tische haben.« – »Er wird die Ehre haben, Ihrer Einladung zu folgen, Majestät.« – »Und daran wird er wohl tun! Er wird die Truthühner schmausen, die ich gewonnen habe.« – »Aber, mein Herr,« sagte die Königin im Tone der Ungeduld, »so kommen Sie doch mit der Geschichte dieser unglücklichen Vögel zu Ende.« – »O, Sie können sagen: mit der meinigen, denn dieselbe ist mit der dieser Tiere so innig verflochten, daß keine von der andern getrennt werden kann. Denken Sie sich, daß ich gestern, als ich im Garten spazieren gehe, einer armen Frau begegne, welche vor mir stehen bleibt und sagt: ›Mein Herr, man hat mir gesagt, ich sollte hierhergehen, wenn ich dem König begegnen wollte. Glauben Sie, daß er bald vorbeikommt?‹ – ›Nichts ist wahrscheinlicher als dies, gute Frau.‹ – ›Aber wie wird er gekleidet sein, damit ich ihn erkenne?‹ – Ich hatte Lust, ihr das Signalement von San Marco oder Ascoli zu geben; ich zog es jedoch vor, das Abenteuer zu Ende zu verfolgen. – ›Höret,‹ sagte ich, ›da der König nicht alle Tage spazieren geht, und Ihr daher warten könntet bis zum Abend, ohne daß er vorüberkäme, so wollen wir etwas Besseres tun. Wenn Ihr ihm vielleicht eine Bittschrift zu überreichen habt, so will ich dieselbe zur Beförderung übernehmen.‹
»›Da würden Sie mir allerdings einen großen Gefallen tun,‹ sagte die gute Frau. ›Ich bin eine arme Witwe und habe weiter nichts als drei Truthühner; wenn Sie aber Wort halten, so will ich Ihnen dieselben geben.‹ – ›Sind sie fett?‹ fragte ich, denn Sie können sich denken, daß ich nicht Lust hatte, die Katze im Sacke zu kaufen. – ›Jawohl, fett wie Gänse, mein Herr,‹ antwortete die Frau. – ›Nun gut, dann ist die Sache abgemacht. Kommt morgen mit Euren drei Truthühnern. Habt Ihr Eure Bittschrift bei Euch?‹ – ›Ja.‹ – ›Dann gebt sie her, morgen werde ich sie Euch mit dem darauf geschriebenen Beschluß des Königs wieder zustellen. Ich gebe Euch Eure Bittschrift zurück, Ihr gebt mir die drei Truthühner und wir sind quitt.‹ – Sie können sich denken meine Damen, daß ich nicht verfehlt habe, mich zur rechten Zeit einzufinden. Ich hatte einen Mann als Schildwache aufgestellt, und sobald als er kam und mir sagte: ›Es ist eine Bäuerin mit drei Truthühnern unten,‹ ging ich hinunter, gab der guten Frau ihre von mir mit Resolution versehene Bittschrift zurück und sie übergab mir ihre drei Truthühner. Die arme Frau! Ich fürchte sehr, daß sie dieses Opfer vergeblich gebracht hat.« – »Warum?« – »Weil die Richter auf meine Empfehlung keine sonderliche Rücksicht nehmen werden. Diesmal aber bin ich entschlossen, wenn es sein muß, einen Staatsstreich auszuführen, damit man dieser armen Witwe Gerechtigkeit widerfahren lasse – das heißt, wenn ihre Truthühner wirklich fett sind.« – Und der König ging, in ein lautes Gelächter ausbrechend, wieder hinaus und nahm seine drei Truthühner mit, um sie selbst in die Küche zu tragen.
Die Königin sah ihm mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke von Verachtung nach, richtete dann ihren Blick wieder auf mich und sagte: »Sie haben ihn gesehen; etwas Weiteres brauche ich nicht hinzuzufügen.« Meine Augen weilten nun auf ihr selbst und ich betrachtete sie mit der größten Aufmerksamkeit. Sie war, wie sie gesagt hatte, siebenunddreißig Jahre alt, so daß bei ihr schon die Schönheit der Matrone auf die der jungen Frau folgte. Sie besaß den weißen Teint der Frauen des Nordens, wunderschönes blondes Haar, blaue Augen, welche fähig waren, jeden Ausdruck, von dem der zärtlichsten Liebe bis zu dem des glühendsten Hasses, wiederzugeben. In letzterem Falle besaß ihr Gesicht eine Härte, welche man ihm nimmermehr zugetraut hätte. Die Nase war gerade und gut geformt und der Mund, obschon schön, doch durch jenes den Prinzessinnen aus dem Hause Österreich eigentümliche Hervorragen der Unterlippe ein wenig entstellt. Die Schultern, die Arme und die Hände waren prachtvoll, dabei aber ließ die Gewohnheit der königlichen Majestät all' diesem eine Steifheit, welche die Königin der Anmut des Weibes in hohem Grade beraubte. Die Italiener haben für diese Art von Anmut, welche in Italien ganz besonders mangelt, ein Wort geschaffen. Sie nennen sie Morbidezza Die nachlässige Grazie der Kreolinnen würde davon den vollständigsten Begriff geben. Während ich die Königin betrachtete, tat sie in bezug auf mich dasselbe und schien mich ebenso genau zu mustern wie ich sie. Es erwachte in uns beiden gleichzeitig derselbe Gedanke. Wir fingen beide an zu lachen. Sie umschlang mich mit ihren Armen, drückte mich an sich und küßte mich mit einem Ungestüm, welches man eher von einem Liebhaber als von einer Freundin erwartet hätte. Ich stutzte. Es erinnerte mich dies an Miß Arabellas Freundschaft. Wir aßen die Truthühner gebraten und als Pastete zum Diner; sie waren fett, aber hart, was seinen Grund darin hatte, daß der König nicht einige Tage warten gewollt, um sich von ihrer Qualität zu überzeugen. Kommen wir mit dieser Truthühnergeschichte sofort zu Ende. Ganz wie Ferdinand gedacht, hatte seine Signatur nicht den mindesten Einfluß. Der Richter hatte die Empfehlung gelesen, und da er sie bloß als eine der vielen betrachtete, welche die Monarchen sich durch ungestümes Bitten oder Achtlosigkeit abnötigen lassen, die Achseln gezuckt und die Bittschrift beiseite gelegt. Die Folge davon war, daß nach Verlauf von vierzehn Tagen der König der Witwe abermals begegnete. Sie machte ihm heftige Vorwürfe und beschuldigte ihn, ihre Gutmütigkeit gemißbraucht zu haben, indem er ihr weisgemacht, er kenne den König.
»Ich will Euch etwas sagen,« entgegnete Ferdinand. »Kommt heute über vierzehn Tage wieder und wenn dann Euer Prozeß nicht gewonnen ist, so mache ich mich verbindlich, Euch für jedes Eurer Truthühner hundert Dukaten zu geben.« Die gute Frau schüttelte den Kopf. Es war augenscheinlich, daß sie an die Entschädigung ihrer Truthühner ebensowenig glaubte, als an das Gewinnen des Prozesses und sie brummte zwischen den Zähnen hindurch noch allerlei von Intriganten, welche viel versprächen und sich im voraus bezahlen ließen, aber ihr Versprechen nicht hielten. Der König notierte sich den Namen des Berichterstatters und schrieb an den Justizschatzmeister, ihm seinen monatlichen Gehalt, welcher den drittnächsten Tag fällig geworden wäre, nicht zu bezahlen, indem er zugleich befahl, ihm, wenn er die Ursache wissen wollte, zu sagen, daß er bezahlt werden würde, sobald er den von dem Könige empfohlenen Prozeß expediert hätte, aber keine Stunde eher. Vierzehn Tage später übergab der König der guten Frau das Dezisum, durch welches sie ihren Prozeß gewann und indem er sich zu erkennen gab, fügte er zugleich die dreihundert Dukaten hinzu, welche er für die drei Truthühner versprochen.
Da mein Leben während eines Zeitraumes von zehn Jahren sich am Hofe von Neapel bewegen wird, so muß ich zum Verständnis der nachfolgenden Tatsachen meinen Lesern eine vollständigere Kenntnis der beiden Persönlichkeiten geben, mit welchen ich sie soeben bekanntgemacht, das heißt des Königs Ferdinand und der Königin Karoline.
Ich brauche nicht zu erzählen, wie Carl der Dritte, zweiter Sohn Philipp des Fünften und erster Sohn Elisabeths Farnese, sich im Jahre 1734 des Thrones beider Sizilien bemächtigte und im Jahre 1745 als König anerkannt ward. Als sein ältester Bruder ohne Kinder starb, ward er auf den Thron von Spanien berufen und mußte sich einen Nachfolger wählen. Wir sagen, sich wählen, weil bei dieser Gelegenheit das Recht der Erstgeburt umgekehrt werden mußte. Der Infant Don Philipp war nämlich, wie man sagte, infolge der schlechten Behandlung, die er von seiner Mutter zu ertragen gehabt, geistesschwach geworden. Von ihm konnte deshalb keine Rede sein.
Der König Carl der Dritte ließ ihn in Neapel zurück, wo er an seiner als unheilbar erkannten Krankheit starb. Dafür nahm er seinen Sohn Carl, Prinzen von Asturien, mit, der bei seinem, ich glaube im Jahre 1788 erfolgten Tode unter dem Namen Carl der Vierte König ward, und bestimmte zum Erben des Königreichs beider Sizilien seinen dritten Sohn, der damals sieben Jahre alt war. Ehe er nach Spanien abreiste, wollte er diesem Sohne einen Gouverneur wählen. Da dies aber in Rücksicht auf das zarte Alter des Prinzen mehr Sache der Mutter als des Vaters war, so ward die Wahl unglücklicherweise von der Königin getroffen. Sie bot den Posten an den Meistbietenden aus und der Herzog von San Nicandro, ein Mann, der eines solchen Amtes am allerwenigsten würdig war, erhielt dasselbe. Eine der Empfehlungen des Königs Carl des Dritten war folgende:
»Macht aus meinem Sohne ganz besonders einen guten Jäger. Die Jagd ist das einzige Vergnügen, welches eines Königs wahrhaft würdig ist.« Carl der Dritte stellte in der Tat die Jagd über alles, selbst über das Glück seines Volkes. Ich werde in dieser Beziehung nur eine Anekdote anführen. Da er die Insel Procida ganz besonders zur Fasanenjagd bestimmt hatte, so erließ er ein Edikt, welches die gänzliche Ausrottung der Katzen anordnete. Der Besitz eines dieser Tiere ward von diesem Augenblicke an ein Verbrechen, welches nur durch eine harte und sogar entehrende Strafe gebüßt werden konnte. Ein Mann handelte gegen dieses Edikt, behielt seine Katze, ward angezeigt, festgenommen, überführt und verurteilt, vom Henker ausgepeitscht, auf der ganzen Insel mit dem Beweis seines Verbrechens, das heißt seiner Katze am Halse, herumgeführt um endlich auf die Galeeren geschickt zu werden. Man wird gestehen, daß dies sehr hart war. Was geschah nun? Die Maulwürfe, die Ratten und die Mäuse vermehrten sich, da sie nun von ihren natürlichen Feinden, den Katzen, befreit waren, in solcher Weise, daß die Kinder in der Wiege von ihnen gefressen wurden.
Die dadurch zur Verzweiflung getriebenen Procidaner griffen zu den Waffen und beschlossen, in Massen lieber nach den Barbareskenstaaten auszuwandern, als unter einer so rücksichtslosen Regierung zu leben. Carl der Dritte sah sich deshalb endlich genötigt, sein Edikt zu widerrufen.
Gehen wir zu einer anderen Anekdote über, welche den Fanatismus desselben Königs Carl für seine Hunde zeigt. Dieselbe dient zum Gegenstück seines Hasses gegen die Katzen. Ein Offizier vom Regiment der italienischen Garden war in Caserta auf Wache. Er trug demzufolge seine Galauniform, die er sich, in Anbetracht seines mittelmäßigen Soldes, nicht ohne Aufopferung angeschafft hatte. König Carl der Dritte kam, von der Jagd zurückkehrend und von seiner Meute gefolgt, vorüber. Einer der mit Schmutz bedeckten Hunde sprang, in der freundlichen Absicht ihn zu liebkosen, an dem Offizier in die Höhe und beschmutzte ihm die Uniform. Der Offizier nahm natürlich auf die Absicht keine Rücksicht, sondern stieß, ärgerlich über den seiner Uniform zugefügten Schaden, den Hund mit einem Fußtritt von sich. Der Hund erhob ein Geheul, welches die Aufmerksamkeit des Königs erweckte. Carl der Dritte drehte sich um, sah den Offizier an, ging auf ihn zu und sagte:
»Weißt du nicht, Kerl, daß das Tier, welches du dir unterstanden hast zu stoßen, mir lieber ist als Fünfzig deinesgleichen?« Der Offizier, der nicht wenig erschrak, sich, weil er einem Hund einen Fußtritt versetzt, auf diese Weise behandelt zu sehen, wechselte die Farbe, ward krank, bekam das Fieber und starb den nächstfolgenden Tag.
Kehren wir jetzt zu dem Prinzen Ferdinand und seinem Lehrer, dem Herzog von San Nicandro, zurück. Letzteren habe ich nicht gekannt, denn als ich nach Neapel kam, war er schon tot. Es herrschte jedoch über ihn nur eine Stimme, und die Erziehung des Königs bestätigte diese einstimmige Meinung, das heißt, daß er der ihm von der Königin erzeigten Ehre völlig unwürdig gewesen. Der Herzog von San Nicandro war selbst im höchsten Grade unwissend. Er hatte in seinem Leben weiter nichts gelesen als sein Gebetbuch, was eine, wenn auch sehr gute, doch völlig unzureichende Lektüre für einen Mann war, dem die Erziehung eines Königs oblag. Da er nun selbst nichts wußte, so konnte er auch seinen Schüler nichts lehren, der, als er sich vermählte, kaum lesen noch schreiben konnte und nie eine andere Sprache redete, als das neapolitanische Patois. Da dem Erzieher übrigens von dem König Carl dem Dritten bloß eingeschärft worden war, aus dem jungen Prinzen einen guten Jäger zu machen, so glaubte er auch nicht, ihn mit etwas anderem beschäftigen zu müssen. Der alte toskanische Minister Carls des Dritten, Tannucci, welcher vierundzwanzig Jahre lang im Namen seines Herrn regiert und zum Chef der Regentschaft des jungen Prinzen ernannt worden, verlangte seinerseits nichts Besseres, als daß der König auch bei erlangter Volljährigkeit möglichst unwissend sei und er im Namen desselben ebenso wie in der Vergangenheit fortregieren könne.
Er gab daher in bezug auf die Erziehung des jungen Königs weiter keinen Rat als höchstens den, ihm außer Geschmack an der Jagd auch noch Geschmack am Fischfang beizubringen, so daß der junge König, wenn er von einem anstrengenden Vergnügen mittels eines ruhigen Vergnügens sich erholte, nicht Zeit hätte, an die Angelegenheiten des Staates zu denken. Das einzige, was den Herzog von San Nicandro beunruhigte, und worüber er sich mit rührender Melancholie beklagte, war die allzugroße Herzensgüte des jungen Königs. Er trug deshalb Sorge, dieses Geschenk des Himmels nach Möglichkeit in den Hintergrund zu drängen. Der Prinz von Asturien, welchem man nicht denselben Hang zur Gutmütigkeit vorwerfen konnte, fand ein lebhaftes Vergnügen daran, lebendigen Kaninchen das Fell abzuziehen. Der Herzog von San Nicandro rühmte seinem Schüler dieses Vergnügen sehr, als er aber sah, daß es diesem allzusehr widerstrebte, strengte er seine Phantasie an und erfand eine Variante, welche darin bestand, daß er den jungen Prinzen, dem man noch kein Schießgewehr in die Hände zu geben wagte, hinter eine unten mit einem Loche versehene Tür stellte. Mit einem Stocke bewaffnet, lauerte Ferdinand den Kaninchen, welche man durch dieses Loch trieb, auf, und schlug sie dann tot. Das war doch schon etwas.
Zu diesem Zeitvertreib gesellte der Fürst von San Nicandro bald einen zweiten. Dieser bestand darin, daß er seinem Zögling Kaninchen, Hunde, Katzen, Kinder, Bauern und Arbeiter mittels langer Tücher prellen lehrte. König Carl der Dritte, welchem man über diese Erholungen seines Sohnes Bericht erstattete, fand dieselben gut und schrieb, man solle bloß die Hunde aus dem Spiele lassen, weil dies edle, der Jagd dienende Tiere seien, und der junge Prinz fuhr daher fort, bloß Kaninchen, Katzen, Kinder, Bauern und Arbeiter zu prellen, welche, da sie nicht zur Klasse der edlen Tiere gehörten, keine Recht auf Ausnahme hatten.
So kam Ferdinand eines Tages, als er unter den Zuschauern einen jungen toskanischen Abbé, einen schwächlichen bleichen jungen Mann, bemerkte, auf den Gedanken, diesen ebenfalls zu prellen, und gab seinen Lakaien leise die erforderlichen Befehle. Die Lakaien bemächtigten sich dieses Unglücklichen, legten ihn auf eine Decke und schnellten ihn wiederholt in die Höhe, bis er ohnmächtig ward. Außer sich vor Scham, als er wieder zur Besinnung kam, flüchtete der junge Mann nach Rom, wo er krank ward und nach Verlauf von zwei Monaten starb. Sein Name war Marrighi. Unter dergleichen Amüsements wuchs der König heran, ward ein unerschrockener Jäger, ein tüchtiger Reiter, ein unvergleichlicher Fischer, ein Ringer ersten Ranges und ließ anfangs seine jungen Spielkameraden mit Stöcken, womit er, wenn sie ein solches Manöver machten, ihre Schultern liebkoste, und dann ein Regiment exerzieren, welches er organisierte und welches er seine Liparioten nannte, weil die jungen Leute, aus welchen es bestand, größtenteils aus dem Archipel von Lipari stammten. So erreichte er, ohne sich um die Angelegenheiten des Königreiches auch nur im mindesten zu kümmern, sein siebzehntes oder achtzehntes Jahr und es galt nun, ihn zu vermählen. Man hatte schon längst für ihn die junge Erzherzogin von Österreich, Marie Josephe, eine Tochter des Kaisers Franz des Ersten, ausersehen. Die Bildnisse und Hochzeitsgeschenke waren bereits ausgetauscht und die Festlichkeiten auf dem Wege, welchen die junge Prinzessin passieren sollte, vorbereitet, als an dem zur Abreise bestimmten Tage Marie Josephe krank ward und starb.
Nun wählte man an ihrer Statt die jüngere Schwester Marie Karoline, welche im Monat April 1768 von Wien abreiste. Mit dem Frühlingsmonat zog die kaiserliche Blume in ihr Königreich ein. Im Jahre 1752 geboren, zählte sie jetzt kaum sechzehn Jahre. Sie kam mit dem Auftrage, die Politik des Hofes von Neapel so zu lenken, wie Maria Theresia es ihr andeuten würde. Ihre Mutter, deren Lieblingstochter sie war, konnte sich auch auf sie verlassen. Karoline besaß einen Geist, der ihrem Alter vorangeeilt war. Sie war mehr als unterrichtet, sie war gelehrt, sie war mehr als intelligent, sie war Philosophin. Sie war schön in der ganzen Bedeutung des Wortes und wenn sie es sein wollte, bezaubernd. Ich habe gesagt, daß sie, als ich sie kennen lernte, siebenunddreißig Jahre zählte, und darnach konnte man sich einen Begriff von dem machen, was sie mit sechzehn Jahren gewesen sein mußte. Sie sprach und schrieb vier Sprachen – deutsch, französisch, spanisch und italienisch. Bloß wenn sie beim Sprechen in die Hitze geriet, begann sie zuweilen zu stottern, ihre hellen beweglichen Augen aber und die Klarheit ihrer Ideen machten diesen kleinen Mangel vergessen.
Sie brachte nach dem glühenden Süden alle Träume der nebeligen Poesie des Nordens mit. Sie sollte nun das fabelhafte Land der Sirenen sehen, wo Tasso geboren worden, wo Virgil gestorben. Sie sollte mit ihrer eigenen Hand den Lorbeer pflücken, welcher am Grabe des Sängers des Augustus und an dem des Dichters des »befreiten Jerusalems« wächst. Ihr Gatte zählte achtzehn Jahre. Es stand zu erwarten, daß er Euryalos oder Tancred, Nisus oder Renaud sein würde.
Warum nicht? War sie nicht gleichzeitig Venus und Armida?
Sie fand den König, welchen ich zu malen versucht, mit großen Füßen, dicken Knien, dicken Händen, großer dicker Nase und den neapolitanischen Dialekt mit den Gebärden eines Lazzarone sprechend. Ein Artikel des Ehekontraktes der Königin, welchen Tannucci ganz unbeachtet gelassen, sollte der Politik des Königreiches beider Sizilien eine völlig andere Gestalt geben. Dieser Artikel lautete: »Wenn die Königin einen Thronerben geboren haben wird, so soll ihr das Recht zustehen, dem Kabinettsrat beizuwohnen.« Allerdings dauerte es sechs Jahre, ehe sie diesen Thronerben gebar, mit zweiundzwanzig Jahren aber war Karoline nur um so fähiger, den Wünschen ihrer Mutter zu dienen. Anfangs glaubte die Königin, sie könne die Erziehung ihres Gemahls von vorn beginnen, und es erschien ihr dies um so leichter, als er, nachdem er sie mit Tannucci und den wenigen andern unterrichteten Personen des Hofes sprechen gehört, vor Erstaunen ganz außer sich geriet und unfähig, die wahre Wissenschaft von bloßem Geplauder zu unterscheiden, bewundernd ausrief:
»In der Tat, die Königin ist die allgemeine Wissenschaft!«
Es dauerte jedoch nicht lange, so legte sich diese Bewunderung und mehr als einmal hörte ich ihn ausrufen:
»Die Königin ist so gelehrt, begeht aber gleichwohl mehr Dummheiten als ich, der ich im Vergleich zu ihr nur ein Esel bin.«
Nichtsdestoweniger fügte Ferdinand in der ersten Zeit seiner Ehe sich in die Lehren, welche die Königin ihm gab, und er lernte von ihr ziemlich ordentlich lesen und schreiben. Diese ihm von ihr erteilten Lehrstunden waren es, worauf er anspielte, wenn er sie in seinen Anwandlungen von guter Laune »meine liebe Schulmeisterin« nannte. Was sie ihm aber niemals beibringen konnte, waren die eleganten Manieren der nordischen und westlichen Höfe; jene körperliche Sauberkeit, welche in den heißen Ländern so selten und gleichwohl hier notwendiger ist, als anderwärts; so wie jenes anmutige Geschwätz der Galanterie, welches aus der Liebe eine Sprache macht, welche teils dem Duft der Blumen, teils dem Gesang der Vögel entlehnt ist. Karolinens Überlegenheit demütigte Ferdinand und Ferdinands Gemeinheit demütigte Karoline. Wir werden sehen, welche Folgen sich aus dieser Verschiedenheit der Charaktere und diesem Gegensatz der Geschmacksrichtungen ergaben.
Wir sehen somit diese beiden Personen einander gegenüber – einerseits die Königin, schön, stolz, anmutig, distinguiert, feinfühlend, sinnlich, ein wenig pedantisch, leicht zu reizen, schwer zu besänftigen, ihren Gemahl wegen der Gemeinheit seiner Worte und der Schwäche seines Geistes verachtend – andererseits den König, heiter, naiv bis zur Unwissenheit, freimütig bis zur Plumpheit, ohne Zartgefühl beim Reden oder Handeln, so daß er nicht einem Monarchen, auch nicht einem Prinzen, ja nicht einmal einem einfachen Edelmann, sondern einem Lazzarone glich. Eines der Dinge, welche die Königin zur Verzweiflung trieben und sie bewogen, sich des Theaterbesuchs fast gänzlich zu enthalten, war die Art und Weise, auf welche der König sich hier benahm und sich während der Zwischenakte zum Hanswurst des Pöbels machte. Zwischen der Oper und dem Ballett brachte man ihm sein Souper in die Loge. Eins der Bestandteile dieses Soupers war allemal eine Schüssel Makkaroni. Der König ergriff diese Schüssel, trat an den Rand der Loge und verschlang unter dem lauten Beifallsjubel des Parterres unter allerhand komischen Gebärden nach und nach die ganze Portion, indem er sich der Finger als Gabel bediente und sich für den Beifall der Zuschauer freundlich bedankte. Die Königin glaubte anfangs über ihn eine weit größere Herrschaft erlangt zu haben, als sie in der Tat besaß und in der Folge erlangte.
Als sie sich eines Tages über den Herzog von Altavilla, den Günstling des Königs, erzürnte, überhäufte sie diesen Kavalier mit Schmähungen und beschuldigte ihn, daß er sein Ansehen bei dem König nur dadurch behaupte, daß er Mittel in Anwendung bringe, die eines Edelmannes unwürdig seien. Der in seiner Würde verletzte Herzog beklagte sich bei dem König über die von der Königin erfahrenen Beleidigungen und bat um Erlaubnis, sich auf seine Güter zurückzuziehen. Der über das Verfahren seiner Gemahlin erzürnte König begab sich sogleich zu ihr und machte ihr lebhafte Vorwürfe. Anstatt ihn jedoch zu begütigen, reizte sie ihn durch ihre Antworten noch mehr, so daß der Wortwechsel mit einer kräftigen Ohrfeige endete, deren Spuren auf der Wange der Königin noch drei oder vier Tage lang zu sehen waren. Nun zog sie sich wie Achill unter ihr Zelt zurück. Der König aber hielt festen Stand und die Königin sah sich genötigt, sich zu demütigen und zwar in solchem Grade, daß sie die Vermittlung des Herzogs von Altavilla in Anspruch nehmen mußte, um wieder zu Gnaden angenommen zu werden. Dem Kaiser Joseph, welcher damals in Italien reiste, gelang es, als er nach Neapel kam, die beiden Gatten wieder miteinander auszusöhnen.
Eine Zeitlang ging dem König die Verachtung, welche die Königin ihm bewies, zu Herzen. Es dauerte jedoch nicht lange, so beschloß er, sich darüber zu trösten und ihre Gesellschaft zu meiden. Dies hatte für Karoline die Unannehmlichkeit zur Folge, daß sie nicht wußte, wie und zu welcher Zeit sie ihren Einfluß aus ihren Gemahl wieder gewinnen sollte.
Leidenschaftlicher Jäger, wie ich schon erzählt, ließ Ferdinand selten einen Tag verstreichen, ohne auf die Jagd zu gehen. Er hatte in jedem Bezirk seiner Wälder große Hütten bauen lassen, deren Inneres einfach, aber bequem eingerichtet und ausgestattet war. Wenn er hier, unter dem Vorwand, ein wenig auszuruhen, eintrat, fand er allemal in dem zierlichen Kostüm der Bäuerinnen aus der Umgegend von Neapel ein hübsches Weibchen oder Mädchen, welches seine Befehle erwartete. Dabei aber trug er doch Sorge, den hierbei mitwirkenden gefälligen Dienern einzuschärfen, mit der größten Umsicht und Verschwiegenheit zu Werke zu gehen, damit nicht etwa die Königin etwas davon erführe. »Ach, was da!« sagte eines Tages ein Kammerdiener, welcher sich oft eine freimütige Äußerung erlauben durfte, »wozu diese Heimlichtuerei, da ja die Königin es ebenso und vielleicht noch toller macht als Sie, Majestät.«
»Schweig! schweig! Lassen wir sie machen,« sagte der König; »dies kreuzt und verbessert die Rassen.«
Heute, wo ich versprochen habe, die Wahrheit nicht zu verschweigen, muß ich sagen, daß der alte Kammerdiener nicht log. Die Königin, deren erster Liebhaber der Fürst von Caramanico war, hatte später Acton, und gleichzeitig mit Acton – ohne daß dieser sich mehr darum kümmerte, als Potemkin um die übrigen Verehrer Katharinens der Zweiten – gleichzeitig mit Acton, sage ich, den Herzog della Regina, dessen Name, wie man sieht, prädestiniert zu sein schien, und Pic d'Anceni, der die Balletts in Italien, wenn nicht erfunden, doch wenigstens verbessert hat. Ebenso wie die große Katharina wollte sie ihre Liebhaber belohnen; da sie aber weniger reich war als diese, so ruinierte sie sich und war aus diesem Grunde niemals bei Kasse.
Kehren wir jetzt zu dem König zurück. Abgesehen von seinen Liebschaften in den Jagdhäuschen hatte der König von Zeit zu Zeit vorübergehende Neigungen für Damen des Hofes oder aus einem andern Stande. Karoline war nicht eifersüchtig auf ihren Gemahl, den sie nicht bloß nicht liebte, sondern geradezu verachtete. Dennoch aber fürchtete sie, daß eine Frau, die geschickter wäre als die anderen, eine Macht an sich reißen könnte, welche sie sich um keinen Preis entgehen lassen wollte. In gewissen Augenblicken wußte sie demgemäß mit echt weibischer Beharrlichkeit und Gewandtheit hinter das Geheimnis dieser Liebesintrigen zu kommen, und rächte sich dann an ihren Nebenbuhlerinnen. So gestand der König, nachdem er einige Monate mit der Herzogin von Luciano auf vertrautem Fuße gestanden, diese Intrige seiner Gemahlin. Diese ließ die Herzogin auf ihre Güter verbannen. Darüber entrüstet, legte die Herzogin Männerkleidung an, lauerte den König auf einem seiner Wege ab und überhäufte ihn mit Vorwürfen. Der König, der ihr gegenüber ebenso schwach war, als er es der Königin gegenüber gewesen, gestand sein Unrecht ein, aber dennoch sah die Herzogin sich genötigt, auf ihre Güter zurückzukehren, wo sie zur Zeit meiner Ankunft in Neapel noch war. Dasselbe geschah mit der Herzogin von Cassano Serra, obschon hier gerade entgegengesetzte Motive zugrunde lagen. Ferdinand beschäftigte sich mit ihr trotz aller Mühe, die er sich gab, umsonst, denn trotz allen seinen Bitten weigerte sie sich standhaft, seinen Wünschen nachzugeben. Der König beschwerte sich über diese Sprödigkeit gegen seine Gemahlin, und die Königin ließ die Herzogin von Cassano verbannen, weil dieselbe zu keusch gewesen, ebenso wie sie die Herzogin von Luciano in die Verbannung geschickt, weil dieselbe es nicht genug gewesen.
Leider bezahlte die arme Herzogin ihre Tugend noch einmal so teuer, als eine andere ihre Sünden bezahlt haben würde, und kehrte zu ihrem Unglück im Jahre 1799 aus der Verbannung zurück. Ich habe gesagt, daß der Herzog von San Nicandro sich bemüht hatte, aus seinem Zögling den ersten Jäger und den ersten Fischer des Königreiches zu machen, und zwar bloß in der von Tannucci eingegebenen Absicht, den Prinzen von der Teilnahme an den Staatsgeschäften abzuhalten. Der König trieb auch in der Tat, wenn er dem Kabinettsrat beiwohnte, die Vorliebe für Jagd und Fischfang so weit, daß er nicht gestattete, Schreibmaterialien auf den Beratungstisch zu bringen, denn er fürchtete, daß man dann auf den Gedanken kommen könnte, irgendeine Verordnung abzufassen, welche er dann genötigt wäre zu unterzeichnen. Es bestand zwischen dem König von Neapel und dem Markgrafen von Anspach ein vertrauter wöchentlicher Briefwechsel über alles, was sich auf die Jagd bezog. Jeder der beiden Fürsten führte ein genaues Register, in welches Tag für Tag und Stunde für Stunde die von ihnen auf diesem Gebiete vollbrachten Heldentaten eingetragen wurden.
Ein ähnliches Register und eine ähnliche Korrespondenz ward zwischen dem König von Neapel und dem König von Spanien, seinem Vater, geführt. Nun geschah es oft, daß die beiden Monarchen sich infolge politischer Differenzen entzweiten. Wie uneinig sie aber auch in politischer Beziehung sein mochten, so erlitt doch das eben erwähnte Register keinerlei Unterbrechung. Das Verzeichnis der wilden Tiere, welche dem Vergnügen des Monarchen geopfert worden, ward stets regelmäßig geführt. Das kleine Wild ward darin ebenso gewissenhaft verzeichnet, wie das große. In einer besonderen Rubrik waren die Schwierigkeiten bemerkt, die es dabei zu überwinden gegeben, die Unfälle, die dabei vorgekommen, die Personen, welche den König begleitet, und die besonderen Beweise von Kühnheit oder Geschicklichkeit, wodurch sie sich hervorgetan. Das von diesen beiden Registern, welches für den Markgrafen von Anspach bestimmt war, galt für das bevorzugte, und zwar aus dem sehr einfachen Grunde, weil Ferdinand, so geschickt er auch war, doch weit weniger gut schoß, als Carl der Dritte, während er im Gegenteil ein besserer Schütze war, als der Markgraf von Anspach. Die süßeste Schmeichelei, womit man das Ohr des Königs erfreuen konnte, war, wenn man ihm sagte, er schösse besser, als der Markgraf von Anspach, was durch die Zahl des von Ferdinand erlegten Wildprets konstatiert würde, weil dieses die Zahl des von dem Markgrafen von Anspach geschossenen überstiege, während man die Zahl der von dem König Carl dem Dritten erlegten Tiere noch größer wäre, dies nicht in der größern Geschicklichkeit des Königs Carl, sondern in dem Umfang und in dem Wildreichtum der spanischen Wälder seinen Grund hätte.
Ich werde hier noch zwei Anekdoten mitteilen, welche das von mir von dem König entworfene Bild vervollständigen. Dann werde ich sofort zur Erzählung der Ereignisse übergehen, welche das Königreich Neapel beunruhigten und woran ich selbst Teil nahm – mehr aus Freundschaft für den König und die Königin als infolge einer wirklichen Antipathie gegen das französische Volk und die italienischen Patrioten. Der König jagte in einem seiner Wälder, als eine arme Frau ihm begegnete. Sie kannte ihn nicht und schien sehr betrübt zu sein. Ohne weder das Herz noch den Geist Heinrichs des Vierten zu besitzen, hatte Ferdinand doch einen Instinkt für volkstümliche Abenteuer. Er näherte sich der guten Frau und befragte sie. Diese antwortete ihm, sie sei Witwe, habe sieben Kinder zu ernähren und besäße, um dies zu ermöglichen, weiter nichts als ein kleines Feld, welches durch die Meute des Königs verwüstet worden sei. »Sie werden selbst zugeben, Signor,« setzte die Witwe weinend hinzu, »daß es sehr hart ist, einen Jäger zum Fürsten zu haben, dessen Vergnügungen für seine Untertanen nur eine Quelle der Tränen sind.« Ferdinand antwortete, ihre Klagen seien gerecht und da er im Dienste des Königs stünde, so würde er nicht ermangeln, ihn davon in Kenntnis zu setzen.
»Sagen Sie es ihm oder sagen Sie es ihm nicht,« erwiderte die Frau, »deswegen hoffe ich nicht mehr und nicht weniger. Nur ein Mensch ohne Herz kann auf diese Weise um seines Vergnügens willen das Besitztum armer Leute verwüsten, weil er weiß, daß diese nichts gegen ihn auszurichten vermögen.«
Diese Erklärung der Witwe hielt den König nicht ab, sie bis an ihre Hütte zu begleiten und mit eigenen Augen den Schaden zu sehen, den er angerichtet. Hier angekommen, rief er zwei Bauern, Nachbarn der Frau, und ersuchte sie, den Schaden zu taxieren. Die Bauern machten ihre Berechnung und schätzten den Schaden auf zwanzig Dukaten. Der König nahm aus seiner Tasche sechzig Dukaten und gab davon der Witwe vierzig, indem er sagte, es sei nicht mehr als recht, daß ein König doppelt so viel bezahle wie ein Privatmann. Die noch übrigen zwanzig Dukaten wurden zwischen die beiden Schiedsrichter geteilt.
Einen Tag in der Woche gab der König Audienz in Capodimonte, einem Palast, welcher vom König Carl dem Dritten ausdrücklich für die Schnepfenjagd erbaut worden. An diesem Tage konnte jeder ohne Audienzbrief zu ihm gelangen und brauchte bloß zu warten, bis die Reihe an ihn kam. Natürlich waren die Vorzimmer allemal gedrängt voll. Ein alter Pfarrer aus der Umgegend von Capodimonte, der sich eine Gnade beim König ausbitten wollte, beschloß von diesem öffentlichen Audienztag Gebrauch zu machen und sich direkt an Se. Majestät zu wenden. Da er aber sich darauf gefaßt machen mußte, kürzere oder längere Zeit im Vorzimmer zuzubringen, so traf er Vorsichtsmaßregeln gegen den Hunger und steckte ein Stück Brot und Käse in die Tasche, nicht etwa um dieses Stück Brot in dem Vorzimmer zu verzehren, denn um keinen Preis hätte er einen solchen Verstoß gegen die Ehrerbietung begangen; da er aber drei Stunden Weges zu Fuß zurückzulegen hatte, um wieder in sein Dorf zu gelangen, so gedachte er, nachdem er seine Audienz gehabt, auf dem Rückwege an dem ersten besten Brunnen Halt zu machen, hier sein Brot und seinen Käse zu essen, einige Schluck Wasser dazu zu trinken und, nachdem er sich auf diese Weise gestärkt, sich wieder auf den Weg nach seiner Pfarre zu machen. Als er drei oder vier Stunden gewartet, kam endlich die Reihe an ihn und er trat in das Kabinett des Königs. Der König saß in einem Lehnsessel und zu seinen Füßen lag ein großer Jagdhund, der wegen der Feinheit seiner Witterung sein Liebling war. Kaum war der Geistliche eingetreten, so öffnete der Hund die Nüstern, hob den Kopf empor, machte freundliche Augen und wedelte mit dem Schwanze. Alle diese freundlichen Demonstrationen galten dem Pfarrer oder vielmehr dem Stück Käse, welches er in der Tasche hatte. Man kennt die unwiderstehliche Vorliebe, welche die Jagdhunde für diese Delikatesse haben. Sowie der Geistliche unter einer Menge Verbeugungen näher kam, richtete der Hund sich ganz auf und ging ihm mit der freundschaftlichsten Miene entgegen. Der Geistliche, welcher vielleicht nicht glaubte, daß die Demonstrationen des Hundes so freundschaftlich seien, wie sie es wirklich waren, sah seine Annäherung mit Unruhe. Diese Unruhe verwandelte sich in Furcht, als er den Hund hinter sich schleichen sah. Noch ärger aber ward die Sache, als er, während er sein Gesuch vortrug, fühlte, wie die Schnauze des Hundes sich in seine Tasche hineinbohrte. Die Liebe des Königs zu den Hunden war bekannt. Es konnte für den Geistlichen keine Rede davon sein, sich des Lieblingshundes des Königs durch einen Fußtritt zu entledigen, und dennoch begann das Tier die Indiskretion bis zur Zudringlichkeit zu treiben. Was den König betraf, so belustigte dieser Auftritt ihn, der für einen feinen Scherz unzugänglich war, über alle Maßen. Er unterbrach den Geistlichen mitten in seiner schon ohnehin sehr unsicheren Anrede.
»Ich bitte um Entschuldigung, mein Vater,« sagte er, »aber was haben Sie denn in Ihrer Tasche, da mein Hund es durchaus sehen will?«
»Ach, Sire,« antwortete der Priester zögernd, »weiter nichts, als ein Stück Käse, welches ich zu meiner Abendmahlzeit bestimmt habe. Es ist, wie Sie selbst sehen, vier Uhr nachmittags, ich habe noch drei Stunden zu gehen, um nach meiner Pfarre zurückzukommen und ich bin nicht reich genug, um in der Stadt zu speisen.«
»Meiner Treu, Sie haben recht,« hob der König wieder an, »denn eben ist es Jupiter,« – so hieß der Hund – »gelungen, sich des Käses zu bemächtigen. Fahren Sie in Ihrer Darlegung fort, denn nun ist es wahrscheinlich, daß er Sie in Ruhe lassen wird.« Der Geistliche sagte demgemäß, während Jupiter seinen Käse schmauste, was er dem König zu sagen hatte, der ihn mit der größten Aufmerksamkeit anhörte.
»Es ist gut,« sagte Ferdinand, als der Geistliche zu Ende gesprochen, »wir werden uns die Sache überlegen.« Trotzdem aber, was der König gesagt, schien Jupiter, nachdem er den Käse gefressen, dem Geistlichen auch noch das Brot nehmen zu wollen. »Na,« sagte der König, »bringen Sie das Opfer nicht bloß halb sondern leeren Sie Ihre Tasche vollständig.«
»Das will ich gern tun, Sire,« sagte der Priester, »aber wo bleibt dann meine Mahlzeit.«
»Machen Sie sich keine Unruhe um eine solche Kleinigkeit; der gute Gott wird schon sorgen.«
Der Priester gab dem Hunde sein Brot und verließ das Kabinett. Während Jupiter das Brot fraß, zog der König die Klingel. »Laßt,« sagte er, »den Priester, der soeben hinausgegangen ist, nicht fort, sondern tragt ihm eine tüchtige Mahlzeit auf, damit er wenigstens eine Stunde bei Tische bleibe.« Der Befehl des Königs ward ausgeführt. Während dieser Stunde kehrte der König nach Neapel zurück und besorgte die Angelegenheit des Priesters, so daß, als dieser schon durch eine gute Mahlzeit gestärkt und getröstet nach Hause kam, erfuhr, daß außerdem noch die Gnade, die er nachgesucht, ihm bewilligt war.
Ich habe mich sehr weitläufig über die Jagd ausgesprochen und darüber den Fischfang vernachlässigt. Ich muß daher auch noch ein Wort über dieses zweite Vergnügen sagen, auf welches der König fast ebenso versessen war, wie auf das erste. Wenn man sagen wollte, Ferdinand habe gefischt, so wäre damit nichts gesagt. Das eigentliche Vergnügen des Königs bestand nicht im Fischen, sondern darin, daß er die von ihm gefangenen Fische auch selbst verkaufte. Ich habe diesem eigentümlichen Schauspiel nicht einmal, sondern mehr als zehnmal beigewohnt. Es ging dabei folgendermaßen zu: Der König fischte gewöhnlich in einem reservierten Teile des Meeres einem kleinen Hause gegenüber, welches im Quartier Pausilippo stand und ihm gehörte. Wenn er einen reichlichen Fang gemacht hatte, so kam er wieder ans Land, ließ seine Fische auf die Marina tragen und rief die Käufer herbei, welche, wie man sich leicht denken kann, nicht verfehlten, auf den königlichen Ruf herbeizueilen. Nun wurden die Fische wie auf dem Markte verauktioniert. Jeder konnte mitbieten, wenn auch nur einen Grano mehr. Fand der König, daß der Preis zu niedrig blieb, so bot er selbst mit und wenn er den Fisch auf diese Weise selbst erstand, so behielt er ihn und man aß ihn im Palast. Alle konnten bei dieser Gelegenheit, wie auch überall anderwärts, sich dem König nähern, mit ihm sprechen und sich sogar mit ihm zanken, was seine guten Freunde, die Lazzaroni, in ihrem Patois auch nicht ermangelten zu tun. Sie nahmen sich dabei nicht die Mühe, ihm den Titel »Majestät« zu geben, sondern nannten ihn einfach »Nasone«, wegen seiner Nase, die dreimal so groß war wie eine gewöhnliche. Dieser Fischverkauf war größtenteils etwas sehr Komisches. Der König verkaufte, wie ich schon gesagt, so teuer als möglich, rühmte seine Fische, hob sie an den Floßfedern empor, um sie zu zeigen, und traktierte die Käufer, welche zu wenig boten, dafern er sie erreichen konnte, mit Ohrfeigen. Die Lazzaroni ihrerseits antworteten ihm durch Schimpfreden, geradeso als ob sie es mit einem gewöhnlichen Fischhändler zu tun hätten, und er wollte sich darüber totlachen. War der Verkauf beendet, so kehrte der König, vom Meerwasser triefend und von Fischgeruch duftend, in den Palast zurück und ging, ehe er sich wusch oder die Kleider wechselte, zur Königin, um ihr lachend alles zu erzählen. Die Königin hörte ihn je nach der Laune, in der sie sich befand, geduldig an, oder trieb ihn wieder zur Tür hinaus, indem sie ihn wegen dieser gemeinen Vergnügungen scharf tadelte, obschon es ihr sehr unlieb gewesen wäre, wenn er denselben entsagt hätte, da sie es ja diesen gemeinen Vergnügungen, welche in seinen Augen wichtiger waren als die Staatsangelegenheiten, zu danken hatte, daß sie das Königreich nach ihrem Belieben regieren konnte.
Die Königin hatte mir, wie ich schon gesagt, mein Kleid abverlangt, um sich ein ähnliches fertigen zu lassen. Ich schickte es ihr noch denselben Abend. Drei Tage darauf kam ihr Kammerdiener, um mir zu melden, die Königin sei im königlichen Palast und ließe mich rufen, indem sie mich zugleich ersuchte, meinen blauen Kaschemir mitzubringen. Sie war kaum seit zehn Minuten von Caserta angekommen und damit ich sie nicht warten lassen möchte, ließ sie mich in einer ihrer Equipagen holen. Ich benachrichtigte Sir William von meinem Fortgehen und begab mich sofort zur Königin. Die Gemächer der Königin befanden sich in dem nach dem Meere zu gelegenen Flügel des Palastes und gingen auf eine ganz mit Orangen- und Zitronenbäumen bedeckte Terrasse. Ich fand die Königin, mit dem neuen Kleide angetan, welches sie sich nach dem meinigen hatte fertigen lassen. Sie trug eine einzige weiße Feder im Haar und ihr blauer Kaschemir war über einen Sessel geworfen. Ich wollte sie mit dem gewöhnlichen Zeremoniell begrüßen, sie umarmte und küßte mich aber und sagte: »Rasch, rasch zur Toilette!« – Ich wußte anfangs nicht recht, was diese Aufforderung heißen sollte; die Königin zeigte mir aber mein auf einem Sessel liegendes Kleid und ich begriff nun, daß sie sich die Grille in den Kopf gesetzt, uns eine wie die andere gekleidet sehen zu wollen. Es war dies auch wirklich ihre Absicht. Ich fragte sie nun, ob sie mir erlauben wolle in ein Nebenkabinett zu gehen, um hier das Kleid zu wechseln. Sie zuckte die Achseln: »Wozu dergleichen Zeremonien zwischen uns?« fragte sie. Dann, als sie meine Verlegenheit sah, setzte sie hinzu: »Lassen Sie mich nur machen. Ich werde Ihre Zofe sein und Sie werden sehen, daß ich meinen Dienst ganz gut verstehe.«
Ich war so verlegen, daß ich nicht wußte, was ich tat. Ich stammelte, ich zitterte, ich stach mir meine Nadeln in die Finger, ich versuchte mich den Händen der Königin zu entziehen. »Sind Sie denn toll?« rief sie. »Werden Sie mich wohl machen lassen? Ich befehle es Ihnen!« Und dann, um mir zu beweisen, daß dieser Befehl, obschon mit gebieterischer Stimme gesprochen, eine neue Gunst war, faßte sie mich, indem sie mir ihn erteilte, um den Leib und küßte mich auf die Schulter. Ein Schauer durchrieselte meinen ganzen Körper. Ich war so weit entfernt, dergleichen Vertraulichkeiten von einer Königin zu erwarten, die für die stolzeste und gebieterischeste Frau ihres Königreiches galt, daß ich zu träumen glaubte. Ich fragte mich, ob dies wirklich die Tochter der Kaiserin Maria Theresia, und ob ich wirklich die Tochter einer armen Bauernmagd sei. Ich war gewissermaßen moralisch geblendet. Ich mußte, wohl oder übel, die Königin gewähren lassen. Sie half mir das Kleid ablegen, in welchem ich gekommen war, dann zog sie mir mein weißes Atlaskleid an und steckte mir eine weiße Feder ins Haar. Hierauf näherte sie unsere beiden Köpfe dem Spiegel und schaute einen Augenblick lang hinein. In halb schmollendem Tone sagte sie dann: »Meiner Treu, ich treibe da ein einfältiges Handwerk. Ganz gewiß. Mylady Hamilton, Sie sind schöner als ich.«
Ich errötete, ganz verlegen, bis über die Ohren und wußte, nicht, wo ich mich verbergen sollte. »Ew. Majestät,« sagte ich zu ihr, »werden mir erlauben, nicht Ihrer Meinung zu sein. Ich bin vielleicht hübsch, aber Sie – o Sie, Sie sind schön!« – »Finden Sie das wirklich, und sagen Sie mir es ohne Schmeichelei?« – »O, ich schwöre es Ihnen!« rief ich mit dem Ausdrucke der ungeheucheltsten Aufrichtigkeit. – »Also,« sagte sie, indem sie einen Blick auf ihre prachtvollen Schultern warf, »wenn Sie ein Mann wären, liebe Lady, so würden Sie sich in mich verlieben?« – »Ich würde noch mehr tun als dies, Madame; ich würde Sie auf den Knien anbeten.« Sie schüttelte den Kopf und lächelte wehmütig. – »Geliebt zu werden ist schon etwas Seltenes,« sagte sie dann, »besonders für eine Königin. Verlangen wir nicht das Unmögliche und dennoch –« Sie stockte und seufzte.
Ich betrachtete sie mit einer Teilnahme, in der sie sich nicht irren konnte. »Und dennoch?« wiederholte ich. Sie schlang einen ihrer Arme um meinen Hals und ließ mich an ihrer Seite auf einem Sofa Platz nehmen.»Wie viel Liebschaften haben Sie gehabt?« fragte sie mich dann. – »Fragen mich Eure Majestät, wie vielmal ich geliebt habe oder wie vielmal ich geliebt worden bin?« – »Sie haben recht; es ist nicht dasselbe. Ich frage also, wie vielmal Sie geliebt worden sind.« – »Einmal mit zärtlicher Freundschaft und einmal mit tiefer Liebe.« – »Und welches von diesen beiden Gefühlen hat Sie am vollständigsten glücklich gemacht?« – »Die zärtliche Freundschaft, glaube ich.« – »Und Sie?« – »Ich?« – »Ja, Sie. Wer ist von allen Ihren Anbetern der, den Sie am meisten geliebt haben?« – Ich lächelte. »Soll ich freimütig antworten?« fragte ich. – »Mir sollen Sie dies stets.« – »Einen dritten, der mich nicht liebte.« – Die Königin machte eine Bewegung mit dem Kopfe, seufzte abermals und sagte: »Und dennoch war dies der Wahre! So sind wir Frauen! Auch ich, meine arme Emma, habe eine wahre und echte Liebe einer erheuchelten und ehrgeizigen geopfert und ich leide nun die Strafe dafür. Ich habe einen Gemahl, den ich nicht liebe, und soll ich es Ihnen gestehen? den ich nicht lieben kann, und einen Geliebten, den ich verachte. Sie wundern sich, daß ich Ihnen dies mit solcher Freimütigkeit sage, aber was wollen Sie? Ein gewisser Instinkt zieht mich zu Ihnen hin. Übrigens spricht man von diesen Dingen in Neapel schon so laut, daß das Verdienst des Vertrauens kein großes ist und Sie aller Wahrscheinlichkeit nach schon längst wissen, was ich Ihnen heute mitteile.«
»Aber das, was Sie, mir sagen, Majestät, rührt mich deswegen nicht weniger.« – »Meine Majestät ist eine traurige Majestät, was nämlich das Glück betrifft. Als ich den Fuß auf den Boden von Neapel setzte, als ich den Mann erblickte, für den man mich bestimmt, da fühlte ich, daß mein Urteil gesprochen war.« – »Ja, in der Tat, welch ein Unterschied zwischen dem König und Ihnen!« rief ich. – »Da hast du meine einzige Entschuldigung auf dich genommen, liebe Emma. Du, ein zartfühlendes Gemüt, kannst dir von meiner Enttäuschung einen Begriff machen. Ich war jung, ich zählte kaum fünfzehn Jahre. Man hatte mir gesagt, daß ich über das Land herrschen solle, in welchem Virgil gestorben, in welchem Tasso geboren war. Ich sollte einen jungen Prinzen von achtzehn Jahren, einen Enkel Ludwigs des Vierzehnten, einen Urenkel Heinrichs des Vierten heiraten. Ich kam, sozusagen, mit der Aeneide in der einen, mit dem »befreiten Jerusalem« in der andern Hand. Ich kam mit allen Hoffnungen eines jungfräulichen Herzens, mit allen Träumen eines mit den Balladen unseres alten Deutschlands genährten Geistes. Ich sah ihn. Du kennst ihn. Ich brauche dir nicht erst sein Porträt zu entwerfen – eine Art unwissender Bauer, der keine andere Sprache redet als sein neapolitanisches Patois, ein Lazzarone vom Hafendamm, der in der königlichen Loge seine Makkaroni speist, ein Fischer der Mergellina, welcher unter den gemeinsten Ausdrücken seine Fische verkauft; ein roher Jäger ohne Poesie, ein Dorfsultan, der sich einen Harem von Kuhmägden geschaffen! Ach, ich versichere dir, die Illusion dauerte nicht lange. Einmal glaubte ich, noch glücklich werden zu können. Ich war auf meinem Wege einem Manne begegnet, der mit allen Eigenschaften begabt war, welche dem König fehlten. Er war jung, schön, elegant, geistreich, obendrein Fürst, was seinen übrigen Vorzügen keinen Eintrag tat.«
»Der Fürst von Caramanico!« rief ich, ohne zu bedenken, wie unpassend diese Unterbrechung von meiner Seite war. – »Dann kennst du also seinen Namen?« fragte die Königin. Ich errötete. »O, erröte nicht,« sagte sie zu mir. »Zu diesem Manne konnte eine Königin sich bekennen. Er liebte mich wahrhaftig, der arme Giuseppe! Nicht wie der andere, weil ich Königin war, und ich weiß, er liebt mich immer noch.« »Aber wer hindert dann Euer Majestät, ihn wiederzusehen?« – »Man hat Sorge getragen, ihn von mir zu entfernen.« – »Lassen Sie ihn wiederkommen – rufen Sie ihn zurück. O, wenn ich Königin wäre, wenn ich einen Mann liebte und meinen Gemahl verabscheute, dann sollte nichts auf der Welt mich abhalten, den, welchen ich liebte, in meiner Nähe zu haben.« – »Auch nicht die Furcht, durch seine Zurückberufung seinen Tod herbeizuführen?« fragte mich die Königin in düsterem Tone. Ich stutzte.
»Und wer könnte ein solches Verbrechen begehen?« fragte ich. – »Der, welcher seine Stelle eingenommen hat und fürchten könnte, sich durch jenen wieder daraus verdrängt zu sehen.« – »Diese Überzeugung haben Sie, Majestät!« rief ich, »und dennoch behalten Sie diesen Mann in Ihrer Nähe?« – »Was willst du! In den Regionen, welche wir bewohnen, gibt es polititische Fallstricke. Wird man einmal darin gefangen, so ist man es für immer. Zu weinen ist verboten. Ein ganzes Volk hört uns und ruft dann lachend: ›Das ist schon recht so!‹ Klagen können wäre allerdings ein großer Trost, aber dazu bedarf man einer Freundin. Du siehst, daß ich klage, selbst ohne zu wissen, ob ich eine Freundin habe.« – »O, Sie haben eine, Madame; Sie haben eine Freundin, welche Sie lieben wird, nicht weil Sie Königin sind,« rief ich, und war nahe daran, ihr wie meinesgleichen um den Hals zu fallen. Ich unterdrückte noch diese Bewegung.
»Die sich aber von mir entfernen wird, weil ich Königin bin,« sagte Karoline mit wehmütigem Lächeln. »Ach, meine arme Emma, die Regionen des Thrones sind, wie die Gipfel der Alpen, von einer gewissen Höhe an kahl und unfruchtbar. Es gedeiht hier nichts mehr, weder Freundschaft noch Liebe.« – »Sie sehen wohl, daß Sie sich irren, Madame, da ja jener Mann Sie geliebt hat, da Sie sagen, daß er Sie noch liebt und da endlich ich –« »Nun du?« – »Da ich, ermutigt durch das, was Sie mir sagen, Ihnen zu gestehen wage, daß ich Sie auch liebe.« – »O, ich habe das oft geträumt – eine Freundin! Ich habe aber nur gefällige Dienerinnen gefunden, wie zum Beispiel die San Marco und die San Clemente, welche unaufhörlich etwas von mir für sich erbitten; die, wenn sie dies nicht für sich selbst, es für ihre Liebhaber, oder, wenn nicht für diese, für ihre Männer tun. Sind dies Freundinnen?« – »Ich, Madame,« rief ich, »ich habe nichts von Ihnen zu erbitten, weder für mich noch für meinen Gatten. Was einen Liebhaber betrifft, so habe ich keinen und fürchte sogar sehr, daß ich niemals einen haben werde.« – »Aber eben weil du weder für dich noch für andere etwas von mir zu erbitten hast, wirst du dir nicht die Mühe nehmen, meine Freundin zu sein,« sagte die Königin mit bitterem Lächeln. »O doch, doch!« rief ich und konnte nicht mehr dem Impuls widerstehen, der mich zu ihr hindrängte. Ich schlang meine Arme diesmal wirklich um ihren Hals und wiederholte: »O doch, doch! Ich schwöre es Ihnen.« – »Nun,« hob Karoline wieder an, »das ist eine gute Regung. Wohlan, ich will dich dafür belohnen, indem ich dir etwas zeige, was ich niemandem zeigen würde – sein Bildnis –« Sie schwieg eine Weile und fuhr dann fort: »Später vielleicht, in zehn Jahren, wirst du wissen, daß es in dem Leben eines jeden Weibes, sei sie nun Königin oder Wäscherin, stets eine Liebe gibt, welche eine tiefere Spur zurückläßt, als die andern. Diese Liebe ist oft die erste. Bei jedem Manne, der in der Wirklichkeit oder in der Erinnerung vor dem Spiegel welchen man das Herz nennt, vorübergeht, schüttelt man traurig den Kopf und sagt: »Der ist es nicht.« Dann trübt der Spiegel sich allmählich und wirft gar kein Bild mehr zurück. Dennoch, wenn man hinter den seine Fläche bedeckenden Nebel schaut, ist es immer noch jener Mann, den man hier wieder findet.« – Ich senkte das Haupt. Der einzige Mann, den ich geliebt oder zu lieben geglaubt, war Sir Harry und ich fühlte, daß keiner von denen, welche ich gekannt, in meinem Herzen die tiefe Spur zurückgelassen hatte, von welcher die Königin sprach. War ich also bestimmt, nicht mehr zu lieben? Oder hatte ich die eigentliche, wahre Liebe noch nie empfunden? Die Königin ging an ihren Sekretär, ein prachtvolles Geschenk von König Ludwig dem Sechzehnten, öffnete ein geheimes Schubfach und kehrte mit einer kleinen Kassette in der Hand zu mir zurück. Diese Kassette enthielt ein Medaillon in einem Etui, ein Paket Briefe und verwelkte Blumen und Blätter. Ich dachte an diese stolze, mächtige, absolute Königin, welche man beschuldigte, ein ehernes Herz oder gar keines zu haben, und die gleichwohl jetzt wie eine einfache schlichte Frau, wie eine Pensionärin, die ihre letzten Ferien beweint, wie eine Nonne, die ihre Freiheit betrauert, mir verwelkte Blumen und Blätter, Briefe und ein Porträt zeigte. Das Szepter kann die Hand vertrocknen lassen, die Krone kann die Stirne der Königin sengen, aber es gibt einen Winkel des Herzens, wo das Weib immer Weib bleibt. Ich lächelte über diesen neuen Beweis von unserer Kraft oder unsrer Schwäche, wie man will.
»Du lachst,« sagte die Königin, »und du findest, daß ich sehr töricht bin, nicht wahr? Wohlan, lache immer zu, wenn du willst. Ein Teil meines Herzens ist da, wo er ist; der andere ist bei diesen Briefen, diesen Blumen und diesem Porträt. Oft wenn ich einen ganzen Tag einen Gatten, den ich hasse, und einen Geliebten, den ich verachte, ertragen habe, schließe ich mich allein in dieses Zimmer ein. Ich nehme meine teure Kassette aus meinem Sekretär, ich öffne sie und sage: ›Dieses Lorbeerblatt haben wir eines Abends an Virgils Grabe gepflückt.‹ Der Mond, welcher prachtvoll hinter dem Berge Sant Angelo aufging, warf breite Schatten auf den Pausilippo. Wir waren beide in eine dieser dunklen Ecken begraben und gleichsam abgeschnitten von der Welt der Lebenden, die unter uns brauste. Auf der Uhr des Klosters St. Antonio schlug die elfte Stunde. Er lag auf seinen Knien vor mir wie ein Schäfer Theokrits oder Geßners und blickte bittend zu mir empor. Wir hatten uns gesagt, daß wir einander liebten, aber ich hatte ihm noch nichts gewährt als die Jungfräulichkeit meines Herzens. Beim letzten Schlage der elften Stunde pflückte ich dieses Blatt. Ich drückte es auf meine Lippen und senkte mein Haupt zu ihm herab. Sein Mund preßte sich auf die andere Seite des Blattes, welches nun noch die einzige Scheidewand zwischen seinen Lippen und den meinigen war. Plötzlich zog ich das Blatt rasch hinweg und unsere Lippen berührten sich. Er stieß einen Schrei aus, als ob ihm ein glühendes Eisen in das Herz gedrungen wäre. Ich sah ihn erbleichen, die Augen schließen und zurücksinken. Ich faßte ihn in meine Arme, ich drückte ihn an mein Herz. Es war an einem schönen Abend des Monats Mai, am siebenten; das Meer glänzte wie ein See von flüssigem Silber. Der Jupiter stand über dem Vesuv, rot, als ob er aus dem Krater desselben emporgestiegen wäre: Ach, armes welkes Blatt! Es sind nun vierzehn Jahre her, daß du gepflückt wurdest, und du siehst gleichwohl, daß ich nichts vergessen habe. Jede dieser Pflanzen oder dieser Blumen ist ein Merkzeichen unserer Liebe und hat seine Geschichte wie dieses Lorbeerblatt. Mit ihnen könnte ich das ganze Gedicht meines Glückes und meiner Jugend wieder zusammensetzen. Dieses Heidekrautreis trug ich in einer Nacht des Wahnsinnes an meiner Seite. Der König hatte ein bevorrechtetes Regiment, welches er seine Liparioten nannte, weil es wenigstens zum größten Teil aus Leuten bestand, welche von den liparischen Inseln stammten. Giuseppe war Kapitän dieses Regiments. Zu jener Zeit ward ich von dem alten Tannucci, der mich verabscheute und den ich verachtete, scharf überwacht und wir konnten uns daher nur unter tausend Gefahren sehen. Ich brachte den König auf die Idee, seinem Regimente ein Fest zu geben. Wir kamen überein, uns zu verkleiden, er sich als Gastwirt, ich mich als Wirtin, und die Offiziere des Regiments zu bedienen. Man schlug zwei riesige Zelte auf. In dem einen präsidierte der König in weißer Mütze mit an dem Gürtel aufgesteckter Küchenschürze und dem Messer an der Seite. Seine Kellner waren die vornehmsten Herren des Hofes. Ich trug das Kostüm der Frauen von Procida, ein rotes Tuch um den Kopf, ein um die Taille herum fest anschließendes gesticktes Mieder, einen kurzen scharlachroten Rock, welcher den untern Teil des Beins unbedeckt ließ, und meine Mägde waren die zwölf vornehmsten Hofdamen. Caramanico setzte sich an eine meiner Tafeln und ich konnte mich mit ihm beschäftigen, indem ich mich zugleich mit den andern beschäftigte. Mit welcher Freude war ich seine Magd. Als er auf die Gesundheit der Königin trank, wußte ich, daß er die Marie Karolinens, aber nicht die der Königin meinte. Ich ging dicht an ihm vorüber, mein Kleid streifte sein Knie, mein Arm seine Schulter. Ich ging unaufhörlich hin und her und hatte stets auf diesem schmalen Wege zu tun, den er mir so schmal als möglich machte. Die Musik gab das Signal zum Tanz. Als einer der ersten Offiziere des Regiments hatte Caramanico das Recht, mich aufzufordern und wir tanzten dreimal miteinander. Er hatte das Bukett gesehen, welches ich am Gürtel trug. Er benutzte einen Augenblick, wo er nicht tanzte, um ein ähnliches zusammenzusetzen. Er gab es mir. Ich gab ihm das meinige. Dies hier ist das seinige – dieses Heidekraut mit wilden Nelken umgeben. Willst du den Brief sehen, den er mir den nächstfolgenden Tag schrieb. Hier ist er – lies!«
Ich nahm den Brief aus den zitternden Händen der Königin und las:
»O meine geliebte Karoline! Nun bin ich wieder aus dem Himmel in die Wüste herabgestürzt, welche man die Erde nennt, wenn du nicht da bist. Ist es ein Traum? Ist es Wirklichkeit? Eine Göttin, Hebe oder Venus, ich weiß nicht welche – beide sind blond, beide sind jung, beide sind schön – hat mir Ambrosia aufgetragen und Nektar kredenzt. O, ich erkannte den göttlichen Trank, denn ich hatte während unserer ganzen letzten Nacht von deinen Lippen getrunken und dieser war noch berauschender als der, welchen Du gestern gereicht. Denke nur eins, meine geliebte Karoline, aber denke daran mit Deinem Geiste, mit Deinem Herzen, mit allem, was Gott an Liebe in Dich gelegt hat – denke daran, mir eine Nacht zu schenken, eine jener schönen Nächte, welche mit Küssen gestirnt sind, die in meiner Erinnerung bleiben und tausendmal heller und glänzender sind, als meine Tage. Ach, warum bist Du Königin? Warum bist Du nicht einfach und wirklich eine jener schönen Töchter der griechischen Insel, deren Kostüm Du gestern trugst? Dann gäbe es keinen von Soldaten bewachten Palast mehr, keine von Ehrendamen bewachten Korridors, kein von einem König bewachtes Schlafgemach. Es gäbe unter unseren Füßen nur eine Barke mit dem Meere, den Himmel über unsern Häuptern, ein Vorgebirge mit dem süßen Namen Misena, einen Golf mit liebenden Erinnerungen, welcher Baja hieße; Orangenhaine, in welchen wir uns verlören, um uns so spät als möglich wieder zu finden, und welche Sorrento heißen würden. O das Leben mit Dir, die Freiheit mit Dir, das Unglück mit Dir, den Tod mit Dir, aber nichts ohne Dich, nicht einmal den Ruhm, nicht einmal das Glück, nicht einmal einen Platz zur Rechten Gottes!
Dein Giuseppe.«
Seufzend ließ ich den Brief fallen. »Glaubst du, daß er mich liebte?« fragte die Königin, indem sie den Brief aufhob und an ihre Lippen drückte. Ich antwortete nicht. – »Ja, ich verstehe,« fuhr sie fort, »du fragst dich, weil du nicht mich zu fragen magst, wie ich, da ich von einem solchen Manne geliebt ward, mich dazu verstehen konnte, ihn von mir zu entfernen. Du fragst dich, wie ich, da ich ihn geliebt, jemals einen andern lieben gekonnt. Ich habe aber keinen andern geliebt – ich bin bloß die Geliebte eines andern gewesen, weiter nichts. Was willst du? Kleopatra war, nachdem sie die Geliebte des göttlichen Cäsar gewesen, das Liebchen des Trunkenbolds Antonius. Sprechen mir nicht mehr davon. Dies ist mein Makel. Willst du sein Bildnis sehen?« – Und heftig, beinahe mit Zorn, öffnete sie das Etui und hielt mir ein reizendes Miniaturporträt vor die Augen. Es war das Bild eines Mannes von achtundzwanzig bis dreißig Jahren von mehr strengen als zärtlichen Zügen, mit schönem schwarzem Haar, schönen schwarzen Augen und schönem, bleichem Teint. Er trug die Uniform eines Kapitäns der Liparioten. Das Bild war am Morgen nach jenem verhängnisvollen Tage, an welchen der Strauß von Heidekraut und milden Nelken erinnerte, begonnen und der Königin während der so flehentlich begehrten Nacht überreicht worden. In diesem Augenblicke ward an der Tür gepocht. »Wer ist da?« fragte die Königin, indem sie Blumen, Brief und Bildnis, als ob sie gefürchtet hätte, daß ein profaner Blick diese Gegenstände entweihen könne, rasch wieder in die Kassette legte. »Ich, Madame,« antwortete eine Männerstimme. Die Königin runzelte die Stirn, was ihrem schönen Antlitz einen unglaublichen Ausdruck von Härte gab. »Ich hatte doch gesagt, daß ich für niemand zu sprechen sei,« entgegnete sie. – »Auch nicht einmal für mich,« fragte die Stimme. – »Wenn ich sage für niemand,« antwortete die Königin in rauhem Tone, »so gibt es keine Ausnahme.« – »Ich hatte Euer Majestät sehr wichtige politische Neuigkeiten mitzuteilen.« – »Teilen Sie dieselben dem König mit. Ich trete für heute meine Vollmacht an ihn ab.« – »Aber wenn Euer Majestät erfahren wird –« »Ich will heute nichts erfahren,« sagte die Königin und stampfte ungeduldig mit dem Fuße. – »Lady Hamilton ist wohl bei Euer Majestät?« – »Ich glaube Sie unterstehen sich, mich auszufragen?« rief die Königin. – »Nein, Majestät, Sir William war aber da, um Mylady mitzuteilen, daß er, weil er dieselben Nachrichten empfangen wie ich, nach Caserta gehen werde.« – »Weiß er, daß Mylady hier ist?« – »Ja, Majestät.« – »Nun gut, so möge er sich nach Caserta begeben.« – »Dann gehe ich mit ihm,« fuhr die Stimme fort. – »Ja, gehen Sie.« – Man hörte das Geräusch sich entfernender Tritte.
»Er wollte mir meinen Tag verderben,« sagte die Königin. – »Aber dennoch, Madame,« wagte ich zu bemerken, »wenn die Nachrichten, die man Ihnen mitteilen wollte, wirklich so wichtig sind, wie es scheint.« – »Heute, wo ich in der einen Hand das Bildnis des Geliebten halte und mit der andern eine Freundin an mein Herz drückte,« antwortete Karoline, »würde ich meinen eigenen Thron für einen Carlino hingeben, um wie viel mehr den anderer?«
Man begreift, daß es der Fürst Giuseppe von Caramanico, damals Vizekönig von Sizilien, war, von welchem zwischen der Königin Karoline und mir die Rede gewesen. Er war Minister des Königs und Geliebter der Königin, als er in der Absicht, für Neapel eine Marine zu schaffen, vorschlug, den Fregattenkapitän John Acton von Toskana zu berufen. Warum ward dieser beinahe ganz unbekannte Mann, der sich durch keinerlei geistige Überlegenheit auszeichnete, von dem Fürsten von Caramanico gewählt, der seinerseits ein Geist ersten Ranges war? Auf dieser Welt ist einmal alles das Spiel des Zufalls, wenn man das Geschick so nennen will. In Bescançon von irländischen Eltern geboren, trat John Acton in die französische Marine, mußte hier Demütigungen erfahren, die er, wie man versicherte, auch wirklich verdient hatte, und verließ Frankreich, indem er diesem Lande einen Groll bewahrte, der später in Haß und Erbitterung überging. Diesen Groll hatte er die Königin Karoline bewogen, zu teilen, noch ehe sie die nur allzu gerechten Beweggründe des Todes Ludwigs des Sechzehnten und Maria Antoinettens dazu hatte. Eine einzige Tatsache wird von diesem Haß Actons gegen Frankreich einen Begriff geben.
Während einer Teuerung, wo man in Neapel buchstäblich verhungerte, ließ er ein Schiff mit Getreide, welches Ludwig der Sechzehnte schickte, zurückweisen, bloß weil es von Frankreich kam. Bei einer Expedition gegen die Raubstaaten, wobei er eine Fregatte kommandierte, war er der einzige, der eine gewisse Intelligenz entwickelte, und beim Ausschiffen und Wiedereinschiffen der Soldaten die wesentlichsten Dienste geleistet hatte. Das Gerücht von dieser Tatsache war dem Fürsten von Caramanico zu Ohren gekommen. Eifrig bedacht auf den Ruhm eines Thrones, auf welchem die Frau saß, die er anbetete, hatte er Acton dem König vorgeschlagen, und eine Kopfbewegung der Königin hatte ihren Gemahl bewogen, den Vorschlag zu genehmigen.
Aber wie kam es, daß der so loyale, hochgebildete und treue Fürst durch einen einfachen brutalen, mittelmäßigen irländischen Offizier, der weder Jugend noch Schönheit besaß, verdrängt werden konnte? Dies ist eines der Rätsel, welche die Liebe oder die Laune aufgibt und welche die Intelligenz nicht zu lösen vermag.
Dennoch geschah das Unerklärliche. John Acton war der Nachfolger des Fürsten Giuseppe di Caramanico, welcher mit dem Titel eines Gesandten nach London geschickt oder vielmehr verbannt ward, und nach Verlauf von zwei oder drei Jahren mit dem eines Vizekönigs nach Sizilien zurückkehrte. In dem Augenblicke, wo die Königin mir die in dem vorigen Kapitel erzählte vertrauliche Mitteilung machte, war er in Palermo. Man sieht, daß John Acton die Zeit schlecht gewählt, wenn er in einem solchen Augenblicke an die Tür der Königin pochte. Dennoch aber als ob diese Unterbrechung genügt hätte, dem Gange ihrer Ideen eine andere Richtung zu geben, schloß Karoline die kleine Kassette wieder zu, trug sie zurück in ihr Schubfach, schlug die Klappe, welche dieses Schubfach verbarg, in die Höhe, blieb vor einem Spiegel stehen, ordnete sich das Haar und sagte dann, indem sie heftig an der Klingelschnur riß, mit einem Ausdruck von affektierter Gleichgültigkeit und Leichtfertigkeit:
»Wir wollen spazieren gehen.«
Einen Augenblick später kratzte man an der Tür.
»Herein!« sagte die Königin, indem sie ihren Kaschemir über die Schultern warf.
»Ew. Majestät vergessen, daß Sie die Tür von innen verschlossen haben.«
»Ja, das ist wahr. Öffne, Emma!«
Ich öffnete.
Die Königin drehte sich herum, um zu sehen, wer hereinkäme. »Ah, du bist es, liebe San Marco?« sagte sie. »Wir soupieren heute abend bloß unter Frauen – du, die San Clemente und ich. Man wird das rosenfarbene Boudoir und den kleinen Salon erleuchten. Man wird unsere gewohnten Gäste benachrichtigen, zum Beispiel Rocca Romana, den alten Gatti, Maliterno, Pignatelli, aber nur keine langweiligen Leute, keine Sittenprediger, keine Diplomaten. Termoli, wenn er kommt, wird willkommen sein.«
»Soll ich ihn einladen?« fragte die Marquise von San Marco.
»O nein! Überlassen wir auch dem Zufall etwas.«
Dann wendete sie sich zu mir und fuhr fort:
»Ich meine den Sohn des Herzogs von San Nicandro, des Dummkopfes, welcher die Erziehung des Königs geleitet hat. Er schämt sich über die Art und Weise, auf welche sein Vater seine Aufgabe gelöst, so sehr, daß er den Namen eines seiner Lehngüter, Termoli, angenommen hat. Er ist ein Mann von Geist und ich habe mir auch vorgenommen, die Schuld des Vaters nicht an dem Sohne heimzusuchen, sondern ihm zu verzeihen. Lemberg aber unter keinem Vorwand. Nur keine Gelehrten! Die Gelehrten sind in allen Ländern der Welt langweilig, in Italien aber bringen sie einen förmlich zur Verzweiflung. Also du hörst, liebe San Marco,« sagte sie, sich wieder umdrehend, »in Summa zehn oder höchstens zwölf Personen von meinen intimen Freunden.«
Dann führte sie mich nach der großen Treppe und hob wieder an: »Ich habe vertraute Freunde und der König hat die seinigen ebenfalls. Die letzteren sind allerdings nicht sehr zahlreich.« Wir gingen die Treppe hinunter. Ein Wagen erwartete uns im Hofe. Er war mit zwei Pferden bespannt und ohne andere Auszeichnung als ein F und ein B mit einer geschlossenen Krone darüber. Der Kutscher trug keine Livree. Die Königin und ich, wir waren die eine genau so gekleidet wie die andere. Ein Kleid von weißem Atlas, eine weiße Feder im Haar, ein blauer Kaschemir machten unsere ganze Toilette aus.
Der einzige Unterschied, der zwischen uns bestand, war der, daß die Königin goldblondes Haar hatte, während das meinige dunkelkastanienbraun war. Wir verließen den Palast und fuhren den sogenannten Riesenhügel und Santa Lucia hinab, an dem kleinen Palast Chiatamone, einem der Lustschlösser des Königs vorüber, dann die Chiaja hinab und die Mergellina entlang bis zu der Ruine, die das Volk, welches großen Ausschweifungen oder großen Verbrechen allemal eine gewisse Popularität gibt, den Palast der Königin Johanna nennt, der aber in der Tat der Palast Anna Caraffas ist, welchen der Herzog von Medina Celi, ihr Gemahl, als er nach dem Sturze des Großherzogs Olivarez nach Spanien zurückgerufen ward, halb vollendet ließ und der heute noch so dasteht, wie er ihn gelassen. Um hierher zu gelangen, waren wir an einem Haus von ziemlich schönem Aussehen vorübergekommen, welches zu jener Zeit noch keine Nummer trug, denn die Häuser von Neapel wurden erst fünf oder sechs Jahre später numeriert. Als wir an diesem Hause vorbeikamen, streckte die Königin den Arm aus.
»Du siehst dieses Haus,« sagte sie.
»Ja, Majestät,« antwortete ich.
»Wohlan, dies ist das Fischhaus meines erhabenen Gemahls. Hier am Strande verkauft er die Fische, die er gefangen, und führt dabei eine Sprache, welche der seiner guten Freunde, der Lazzaroni, nichts nachgibt. Du hast wohl diesem Schauspiel noch niemals beigewohnt?«
»Nein, Majestät, auch wünsche ich es nicht.«
»Da tust du unrecht. Es würde dir das von der königlichen Majestät wahrscheinlich einen ganz anderen Begriff geben, als welchen du jetzt davon hast.« Und sie warf sich mit einer jener Gebärden von Ungeduld und Verachtung, die man nur, wenn sie von ihrem Gemahl sprach, an ihr bemerkte, in den Hintergrund ihres Wagens zurück. Es war die Stunde der Promenade. Es gab einen ungeheuren Zusammenfluß von Equipagen, welche der Gewohnheit gemäß bis zum äußersten Ende der Mergellina, dann zurück die Chiaja hinauf bis zur Kirche San Fernando, die Toledostraße entlang bis zum Mercatello fuhren und so, als ob sie dazu verdammt wären, immer wieder denselben Weg wiederholten. Es gibt in der Tat nur eine Promenade in Neapel, wenn man nämlich ein staubiges Pflaster und eine Straße, in welcher bei Tage fünfzig und während der Nacht dreißig Grad Hitze herrschen, eine Promenade nennen kann. Während der ganzen Promenade war der königliche Wagen Gegenstand der allgemeinen Neugier. Ich war in Neapel noch wenig bekannt, so daß diese einer fremden Person, einem neuen Gesicht erzeigte Ehre das Erstaunen eines jeden erweckte. Nur einige Hofdamen, welche sich wie auf einen elektrischen Schlag in ihren Wagen erhoben, riefen, die einen: »Lady Hamilton,« die andern: »Die englische Gesandtin!« Zwei oder drei riefen: »Emma Lyonna!« kurzweg und dies bewies unglücklicherweise, daß ich auch unter diesem Namen bekannt war. Wir kreuzten meinen alten Anbeter, den Bischof von Derry. Als er mich in dem Wagen der Königin erblickte, ward sein Gesicht durch einen Freudestrahl verklärt, aber er schien durchaus nicht erstaunt zu sein. Hätte er mich selbst zur rechten Hand der Juno oder zur linken der Minerva sitzen gesehen, so würde er gefunden haben, daß ich an meinem Platze sei, und auf alle diese Ausrufungen, alle diese Beweise von Erstaunen antwortete die Königin nur mit ihrem stolzen Lächeln, welches zu sagen schien:
»Warum nicht, wenn es mir so beliebt?«
Mit Einbruch des Abends kehrten wir wieder in den Palast zurück. Neben dem a giorno erleuchteten Speisezimmer, wo die Tafel unseres kleinen Komitees mit demselben Luxus gedeckt war, als ob große Gala wäre, befand sich das Boudoir, von welchem die Königin gesprochen. Dieses geheimnisvolle Kabinett war nur von einer Alabasterlampe beleuchtet, welche ihren Milchschein über die Möbel und die Teppiche ausgoß. Die Fenster gingen auf die Terrasse und durch die Blätter der Orangenbäume hindurch sah man das von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne gerötete Meer funkeln. Marie Karoline durchschritt bloß den Speisesaal und zog mich in das Boudoir. Ich bezweifle, daß die Göttin der Wollust, Venus Astarte, selbst, sei es in Gnidia, sei es in Paphos, sei es in Cythera, zu der Zeit, wo sie von Adonis geliebt und von Perikles und Alcibiades angebetet ward, etwas Traulicheres und Fesselnderes erfunden habe, als dieses reizende Taubennest, in welches der Tau des Meeres nur durch das blühende Laubwerk der Orangenbäume drang.
Augenscheinlich hatte dieses Boudoir, welches aus Perlmutter und Rosenblättern zusammengesetzt zu sein schien, kein anderes Echo als für die süßen Worte und das Murmeln des Herzens und nichts zu atmen, als duftige Ausströmungen. Kaum war ich eingetreten, so empfand ich eine seltsame Regung, als ob ein nur eingeschlafener süßer Gesang plötzlich erwachte. Es war ein Zauber gleich dem, welchen ich in jener Nacht erfahren, wo Sir Harry sich meinem Bett genähert hatte, um darin den Platz seines Freundes Sir John einzunehmen. Meine Lippen wurden wie von einem glühenden Atem vertrocknet, meine matten Augen schlossen sich halb, meine Brust hob sich und ich sank halb liegend auf die schwellenden Kissen, indem ich murmelte: »Ach, wie könnte man hier nicht lieben!« – »Und wer hindert dich zu lieben?« fragte die Königin. »Stehst du denn in dem Alter, wo man nicht mehr liebt?« – »Nein,« antwortete ich, »aber wen soll ich lieben?« – »Ach ja,« antwortete die Königin, »das ist die Frage, wie dein großer Dichter sagt. Wen soll ich lieben? So fragte auch Sappho, ehe sie Phaon gesehen. Sie sah Phaon und bezahlte den Blick, den sie auf den schönen Lesbier heftete, mit ihrem Leben. Arme Emma,« setzte die Königin in gedämpftem Tone hinzu, »du hast recht – wen sollst du lieben? Denn die Liebe der Männer ist sterblich und wahre Freundschaft ist nur die Freundschaft der Frauen, dies glaube mir.«
Ich richtete mich mit Anstrengung empor und betrachtete die Königin mit dem Ausdruck des Erstaunens.
»Sieh, meine arme Schwester, Marie Antoinette,« fuhr sie fort. »Sieben Jahre lang ist sie die Gattin ihres Mannes gewesen, ohne sein Weib zu sein. Wohlan, diese sieben Jahre sind die glücklichsten ihres Lebens gewesen. Allerdings hat sie das Glück gehabt, zweien Freundinnen zu begegnen, zweien Freundinnen, wie ich wenigstens deren einer begegnen möchte – der Prinzessin von Lamballe und der Frau von Polignac. Ich werde dir die Briefe zeigen, welche sie zu jener Zeit geschrieben. Man fühlt, daß sie damals nie eine Wolke im Herzen gehabt hat. Die Dillon, die Coigny, die Fersen sind es, die den Orkan um sie herum erweckt haben – Lamballe und Polignac! Das war das schöne Wetter, das war der Azur, das war die Sonne! Willst du, Emma,« sagte die Königin, indem sie mich mit ihrem Arm umschlang, »für mich werden, was diese beiden zärtlichen Freundinnen für meine Schwester Marie Antoinette gewesen sind?«
»Ja, ja!« rief ich mit der ganzen Naivität meiner Seele. »Ja, ich will es von ganzem Herzen!«
»Ich danke dir,« rief die Königin, indem sie ihre Lippen mit rascher, ungestümer Bewegung auf die meinen drückte. »O, ich fühlte, daß ich dich lieben werde, mehr als ich jemals jemanden geliebt.« Ich stieß einen schwachen Schrei aus. Ich war keineswegs auf diese fast männlichen Liebkosungen gefaßt. Es war mir als entschwänden mir plötzlich alle Kräfte, als umflorte eine Wolke meine Augen, als wäre ich einer Ohnmacht nahe. Mit Anstrengung erhob ich mich und drängte die Königin mit sanfter Gewalt von mir hinweg. »O,« murmelte ich, »was ist mir? Ich glaube; ich ersticke!« – »Dieses Gefühl ist ein ganz natürliches,« sagte die Königin, indem sie sich ebenfalls erhob und mich mit ihren Armen stützte, »bei dieser Julihitze in unsern Atlaskleidern und Fischbeinkorsetts. Liebe Freundin, mir haben noch einige Minuten bis zum Souper. Entledigen wir uns dieser schweren Gewänder und werfen wir uns in ein einfaches Negligé! Wir empfangen heute abend bloß vertraute Freunde und übrigens, kleine Kokette, bedarfst du keiner Toilette, um schön zu sein. Ich brauche dir das nicht erst zu sagen; du weißt es, und um ein Uhr morgens, wann sie fortgehen werden, finden wir jede unser Bad bereit, und du wirst nach Hause zurückkehren, frisch wie Venus aus den Fluten auftauchte, welche du dort unten funkeln siehst.«
Mit diesen Worten löste die Königin selbst die Agraffen meines Kleides und den Schnürsenkel meines Korsetts. Kleid und Korsett fielen zu meinen Füßen herab. Ich atmete auf und stieß einen Seufzer des Wohlbehagens aus. »In der Tat,« sagte die Königin, »wenn man so geschaffen ist wie du, liebe Emma, so ist es eine Sünde, ein anderes Kostüm zu tragen als das Aspasiens. Warte, wir wollen unsere Tunika überwerfen, meine schöne Griechin. Kokettiere heute abends wenigstens nicht mit Rocca Romana! Ich würde zum Tod eifersüchtig auf dich werden.« – »Hat einer dieser beiden Herren,« fragte ich lächelnd, »das Glück, von Ew. Majestät mit Interesse betrachtet zu werden?« – »Ich habe ja nicht gesagt, daß ich auf diese eifersüchtig sein würde, Schelmin,« entgegnete die Königin. »Ich habe gesagt, daß ich eifersüchtig auf dich sein würde. Da liegt meine Nachttoilette, auf diesem Sessel neben meinem Bett.« Und indem sie diese Worte sagte, öffnete sie eine Tür, welche in das Schlafzimmer führte.
»Nimm sie,« fuhr sie dann fort. »Ich werde klingeln, daß man mir eine andere bringe.«
»Eine ebensolche?«
»Jawohl, eine ebensolche. Haben wir nicht verabredet, daß wir zwei Schwestern oder besser noch, zwei Freundinnen sein wollen?«
Sie zog die Klingel. Ich ging in das Schlafzimmer. Im Gegensatz zu dem Boudoir, welches, wie ich gesagt, durch eine Alabasterlampe erleuchtet war, beleuchtete dieses Schlafzimmer eine Lampe von rosenfarbenem böhmischem Glas. Das ganze Gemach war mit blauem Atlas ausgeschlagen und das durch rosigen Kristall fallende Licht bedeckte den Stoff mit zauberischen Reflexen. Zwei an den beiden Ecken angebrachte Türen führten die eine in ein Toilettenkabinett, die andere in ein Badezimmer, welches seinem ganzen Umfange nach weiter nichts war, als eine einzige riesige Badewanne von weißem Marmor mit Stufen, die von so feinen Teppichen bedeckt waren, daß die Muster derselben Stickereien zu sein schienen. In jeder Ecke lagen seidene Polsterkissen. Dieses ganze Zimmer war wie die in Pompeji ausgegrabenen gemalt, mit den Tänzerinnen von Capri an den Wänden. Es lag in all' diesem etwas von jenem bezauberten Palast der Armida, welchen Tasso besingt.
Überhaupt war ich seit einer Stunde in die Welt des Zaubers eingetreten. Von diesem Boudoir, von diesem Schlaf- und Badezimmer war es bis zu dem von Dick prophezeiten blauen Zimmer eben so weit als von diesem blauen Zimmer bis zu der Dachkammer, die ich bei der Pächterin Davidson bewohnte. Die Nachttoilette der Königin bestand aus einer Art Tunika von Batist, die um den Hals herum, an der Brustöffnung und am Ende der Ärmel mit den feinsten Spitzen besetzt war. Eine Schnur von rosafarbener Seide war bestimmt, die Taille zu umgürten und ein Paar Pantoffeln von rosenfarbenem Atlas vervollständigten das Negligé. Kaum hatte ich es angelegt, so sah ich die Königin in einem gleichen Kostüm eintreten. Sie betrachtete mich einen Augenblick, dann sagte sie mit reizendem Lächeln: »Ich hätte fast Lust, für dich zu tun, was meine Schwester Antoinette für die kleine Prinzessin Lamballe getan, nämlich am Hofe das Amt einer Dame des Bettes zu schaffen. Die Folge hiervon würde sein, daß wir uns weder bei Tage noch bei Nacht verließen. Allerdings könnte ich mich dann auf einen harten Widerstand von Sir William gefaßt machen.«
Ich lachte. »Ich weiß nicht, ob Eure Majestät auf Widerstand von seiner Seite stoßen würden,« antwortete ich; »wohl aber weiß ich, daß das Amt, welches Eure Majestät im königlichen Palast zu schaffen gedenkt, in der englischen Gesandtschaft nicht oder doch so wenig existiert, daß es nicht der Mühe lohnt, davon zu sprechen.«
»Von dieser Seite wäre ich also beruhigt; aber ich zittere von einer andern.«
»Und von welcher?« fragte ich.
»Wenn der König dich so schön sieht, so wird er sich in dich verlieben.«
»Mein Gott, was sagen Sie da, Majestät?« – »Erlaubst du mir, dich gegen ihn zu verteidigen?«
»Ich bitte Ew. Majestät flehentlich darum. Ich glaube aber, ich werde mich schon selbst hinreichend zu verteidigen wissen.«
»Willst du, daß ich dir ein gutes Mittel dazu gebe? Parfümiere dich, mit welchem Parfüm du vorziehst dies zu tun, gleichviel mit welchem, und unterlasse dies nicht, so oft du an den Hof kommst. Der König ist, wie sein Ahnherr Heinrich der Vierte, mit welchem er, glaube ich, sonst weiter keine Ähnlichkeit hat – er verabscheut alle Parfüms, während ich dagegen eine große Freundin davon bin. Jetzt sieh mich an. In der Tat, du bist reizend, zehnmal schöner als in großer Toilette, nur gestatte mir ein wenig, in deinem Haar herumzuwühlen.«
Die Königin öffnete ein auf ihrer Toilette stehendes Etui und nahm eine Perlenschnur daraus, welche gleichzeitig als Halsband und als Hauptschmuck dienen konnte, denn die Perlen waren in gewisser Entfernung durch große Diamanten miteinander verbunden. Diese Schnur befestigte sie mir im Haar. Sie schien aller persönlichen Koketterie entsagt zu haben, bloß um mich schön zu machen, wäre es auch auf ihre Kosten. Es war nicht, als ob ein Weib das andere, sondern als wenn ein Liebender die Geliebte schmückte.
»O,« sagte sie, »die San Marco und die San Clemente werden vor Eifersucht bersten. Man meldet uns die bevorstehende Ankunft einer Engländerin, wir erwarten eines jener bekannten Wesen mit rotblondem Haar, blaßblauen Augen und langen Zähnen und siehe da, das Land der langweiligsten weiblichen Kreaturen sendet uns auf einmal eine Cleopatra mit kastanienbraunem Haar, mit Augen von ich weiß nicht was für Farbe und einer Haut, die ich vollends nicht zu schildern weiß. Wovon ist dieselbe geschaffen, meine schöne Freundin? Von Hermelin oder Schwan? So wahr ich lebe, es tut mir leid, daß ich alle jene Personen für heute abend eingeladen. Wir wären allein geblieben, wir wären ins Bad gestiegen, wir hätten uns in demselben unser Diner auftragen lassen können. Ich habe die schönste Lust, ihnen die Tür verschließen zu lassen – aber nein, ich werde sie empfangen. Man sagt, du seiest eine wunderbare Schauspielerin, eine entzückende Tänzerin –«
Ich errötete.
»Sir William hat es gesagt. Du wirst Verse deklamieren, du wirst singen, du wirst alles tun, was du kannst, um meinen Gästen den Kopf zu verdrehen. Wir werden sie geblendet und außer sich sehen. Morgen wird in ganz Neapel von niemandem die Rede sein, als von dir, und wenn man mir von Lady Hamilton spricht, so werde ich sagen: »Ja, das ist meine Freundin! Das ist meine Emma, die nur mir gehört und niemandem anders.« Und die Männer werden eifersüchtig sein auf mich und die Frauen werden mich noch mehr verabscheuen. O, ich werde es ihnen schon zu entgelten wissen, diesen Neapolitanerinnen, welche nicht zu lieben verstehen und die man peitschen muß, um sie ins Bad zu treiben. Wenn ich gezwungen wäre, eine einzige davon zu umarmen, so würde ich lieber eine Verwandlung der Strafe in ewige Gefangenschaft verlangen, während ich dich dagegen lebend verschlingen möchte.«
Und mit einem seltsamen Gesichtsausdruck und hastiger Gebärde entblößte sie mir die Schulter und biß und küßte dieselbe. In diesem Augenblicke öffnete sich die Tür des Boudoirs und wir hörten die Worte: »Die Tafel ist serviert, Majestät.« – »Komm,« sagte die Königin. Und wir traten in das Speisezimmer.
Die Damen der Königin – diejenigen, welche für ihre beiden Freundinnen galten, aber nichts weiter waren als ihre Vertrauten, die Marquise von San Marco und die Baronin von San Clemente – waren in großer Hoftoilette, was zu uns einen eigentümlichen Kontrast bildete. Sie trugen gepudertes Haar und Blumen darin, waren rot geschminkt, mit Schönpflästerchen auf den Wangen, und ihre steifen Taillen waren von stählernen Schnürleibern umschlossen. Zum erstenmal gewahrte ich die lächerliche Seite dieser großen Toiletten. Die armen Frauen sahen aus wie Masken. Und dennoch waren beide schön, besonders die Marquise von San Marco. Es war aber die Schönheit ohne Anmut, ohne Biegsamkeit, ohne Reiz. Die Königin dagegen war, obschon durch ihre sechsunddreißig Jahre ein wenig korpulent, wirklich bezaubernd. Es war, als ob sie in Erwartung einer unangenehmen Nachricht, die sie noch nicht kannte, die sie aber nicht verfehlen konnte, den nächstfolgenden Tag zu erfahren, der Zeit, den Ereignissen und der Politik noch einige glückliche Stunden abstehlen wollte. Gegen die genannten Damen war sie liebenswürdig, gegen mich aber geradezu anbetungswürdig. Sie hatte mich an ihrer Seite Platz nehmen lassen und bediente während des ganzen Soupers mich selbst. Gewöhnt, wie ich war, Wasser zu trinken, oder es kaum mit ein wenig französischem Wein zu röten, mußte ich, um den Bitten der Königin nachzugeben, jetzt alle feurigen Weine Siziliens und Ungarns kosten. Diese Weine schienen das Blut, welches in meinen Adern rann, in Flammen zu verwandeln. Vor Beendigung des Diners oder vielmehr Soupers meldete man uns, daß die wenigen Personen, zu deren Empfang die Königin Erlaubnis erteilt, da wären und im Salon warteten. Die Königin ließ die Türen öffnen, stützte sich auf meinen Arm und trat in den Salon.
Ich habe schon gesagt, daß sie an diesem Abend viel schöner war als gewöhnlich. Sie schien glücklich zu sein. Ihre Stirn war ruhig, ein wohlwollendes Lächeln umspielte ihre sonst so stolz verächtliche Lippe. Als man sie sah, erhob sich ein Murmeln der Bewunderung, welches mit lauten Beifallsbezeigungen endete. Sie reichte Rocca Romana und Maliterno die Hand zum Kusse. Rocca Romana, der damals das Abenteuerleben begann, welches ihn zum Richelieu von Neapel gemacht hat, war noch ein Jüngling, beinahe ein Knabe. Er stand seinem Rufe nicht nach, das heißt, er war bewundernswürdig schön und vollkommen elegant. Man erkannte in ihm sofort den Mann, der in der reinsten Aristokratie geboren und bestimmt war, bei Hofe zu leben. Maliterno war älter und weniger schön als er. Sein Gesicht war strenger und männlicher und einige Jahre später, im Jahre 1796, gab in Tirol ein Säbelhieb, den er quer über das Gesicht erhielt und der ihm ein Auge ausschlug, seiner Physiognomie einen noch düstereren Anstrich.
Was den Doktor Gatti betraf, so glaube ich, von diesem schon gesprochen zu haben. Er war ein Kurtisan mit biegsamem Rückgrat, der als Arzt überall Zutritt hatte und sich überall eindrängte, nicht um Kranke zu heilen, sondern um zu intrigieren. Die Königin war ihm nicht sonderlich geneigt, gestand ihm aber dennoch einen gewissen Einfluß zu. Der Fürst Pignatelli, der später, als die königliche Familie Neapel verließ und nach Sizilien floh, als Generalvikar des Königreiches eine große Berühmtheit erlangte, war damals ein Mann von zwei- bis vierunddreißig Jahren, ohne einen hervorstechenden Zug, weder hinsichtlich seines Charakters noch hinsichtlich seiner Physiognomie. Er war einer jener gefälligen Minister, welche der böse Genius eines Volkes in Tagen der Revolution an die Seite der Könige stellt und welche die Befehle, die ihre Gebieter ihnen geben, nur allzupünktlich befolgen.
Als man die Königin so strahlend heiter sah, setzten alle Gesichter sich mit dem ihrigen in Einklang. Die Königin stellte mir nach der Reihe die sieben oder acht Vertrauten des königlichen Palastes vor, welche sich auf ihren Ruf eingefunden und wovon ich die hervorragenden bereits genannt. Wie alle Deutsche war Karoline eine große Freundin der Musik. Der Salon war daher mit einer Menge musikalischer Instrumente versehen, worunter sich auch ein Klavier und eine Harfe befanden. Die Königin fragte mich, ob ich das eine oder das andere dieser Instrumente spielte. Ich spielte beide. Ich ergriff die Harfe. Es war klar, daß ich im Begriff stand, das feierlichste Debüt zu machen, welches mir jemals beschieden gewesen. Vor einigen Monaten hatte man in Herculanum ein Manuskript entdeckt, welches Verse von Sappho enthielt. Diese Verse waren von dem Marquis von Gargallo ins Italienische übertragen und von Cimarosa in Musik gesetzt wurden. Ich band mir das Haar auf, ich warf es durch eine Kopfbewegung auf meine Schultern herab. Es war voll, sehr lang und da ich niemals Puder getragen, sehr zart und weich. Es fiel wallend bis weit unter meinen Gürtel herunter.
Ich versuchte – und man weiß, daß ich in der Mimik Ausgezeichnetes leistete – ich versuchte meinen Zügen die Begeisterung der antiken Poesie zu geben, und nach einem Vorspiel, während dessen schon der Beifall laut zu werden begann, sang ich Sapphos Verse, während ich sie mit einfachen Akkorden begleitete. Ich brauche meine Leser nicht daran zu erinnern, bis zu welchem Grad von Vollkommenheit ich in dergleichen Leistungen es gebracht hatte. Gleich von dem ersten Verse an hatte ich mich vollständig mit der Dichterin identifiziert und mich folglich der Gemüter meiner Zuhörer bemächtigt.
Wenn der Beifall mich nicht nach jeder Strophe unterbrach, so lag der Grund darin, daß man fürchtete, auch nur einen Ton meiner Stimme, einen Akkord des Instrumentes zu verlieren; als ich aber bei dem letzten Vers auf die Knie niedersank, und mit den Augen gen Himmel blickend die letzten Worte des Gedichts an die Göttin der Liebe selbst richtete, da brach der Beifallssturm in einer Weise los, welche aller Schranken spottete. Es war augenscheinlich, daß ich einen bis jetzt noch unbekannten Effekt, etwas ganz Neues, vollständig Unerwartetes erzielt hatte. Die Königin hob mich auf, drückte mich an ihr Herz und küßte mich. »O, noch einmal, noch einmal!« rief sie. »Noch einmal, Emma. Ich bitte dich darum.« Ich schüttelte aber den Kopf.
»Majestät,« sagte ich zu ihr, »ich verdanke meinen Erfolg einer Überraschung. Von dem Augenblick an, wo es keine Überraschung mehr gäbe, würde es auch keinen Erfolg mehr geben. Verlangen Sie daher niemals von mir, daß ich mich wiederhole, wohl aber werde ich, wenn Sie wollen, etwas anderes versuchen.«
»Alles, was du willst, aber schnell! schnell! schnell! Wir möchten dir gern wieder Beifall zujubeln. – Haben Sie jemals so etwas gesehen, Gatti? Haben Sie jemals so etwas gehört, Rocca Romana?«
Die Antwort lautete, wie man sich leicht denken kann, einstimmig verneinend. Nun vereinigte sich alle Welt mit der Königin, um noch etwas von mir zu verlangen. Ich war der Wirkung sicher, die ich in der Wahnsinnsszene Ophelias hervorbringen würde. Ich bat die Königin um einen Tüllschleier und Blumen. »Komm mit in mein Zimmer,« sagte sie. »Du wirst unter allen meinen Schleiern den wählen, welcher dir am besten zusagt. Was Blumen betrifft, so findest du deren soviel, als du willst, auf der Terrasse.« Ich ging mit der Königin in ihr Schlafzimmer. Ich wählte einen einfachen Tüllschleier. Dann gingen wir miteinander auf die Terrasse. Die Königin stellte sich mir zur Verfügung und sagte zu mir:
»Willst du dieses Geranium? Willst du diesen Orangenzweig? Willst du diese Rosenlorbeerblüte?«
Alles dies war eigentlich nicht das, was ich brauchte. Diese Blumen der Zivilisation und der Aristokratie standen mit Ophelias Wahnsinn in Widerspruch; Maßlieben, Veilchen und Rosmarin verlangte der Teil Shakespeares. Die Blumen, welche man mir hier bot, taugten wohl für die Tochter der Kaiserin Maria Theresia, aber nicht für die Tochter des Polonius. Ich begann aber schon nicht mehr schwierig zu sein, sondern Diamanten und Perlen zu nehmen, wenn ich nichts anderes fand. Die Königin wollte bleiben und mir bei meiner Toilette behilflich sein. Ganz besonders aber war eben sie es, auf die ich Eindruck machen wollte, und ich schickte sie daher unerbittlich aus dem Zimmer. Übrigens hatte sich Karoline kaum wieder in den Salon zurückbegeben und in ihrem Lehnsessel Platz genommen, so öffnete sich, dank meiner Geschicklichkeit in dergleichen Umgestaltungen, auch schon die Tür des Schlafzimmers wieder, und ich erschien in dem Rahmen derselben bleich mit stieren Blicken und von Wahnsinn zuckenden Lippen.
Wenn meine Zuhörer, obschon Nachkommen der Athenienser, mit der Poesie der Muse von Lesbos wenig vertraut waren, so waren ihnen die Gesänge des Poeten von Stratford noch weit fremder. Nicht ein einziger von ihnen verstand übrigens soviel Englisch, daß er einer Deklamation shakespearischer Verse zu folgen imstande gewesen wäre. Für sie handelte es sich daher um eine einfache Pantomime. Was hinderte mich aber dies? War die Pantomime nicht gerade das, worin ich am meisten exzellierte? Ich muß selbst sagen, daß ich selbst in meinen vollständigsten Inspirationen noch nie die Höhe erreicht hatte, zu welcher ich mich an diesem Abend aufschwang. Ich war wirklich die naive Valentine Hamlets, die verzweifelte Tochter des Polonius, die wahnsinnige Schwester des Laërtes. Ich hatte niemanden, der mir meiner Rolle gemäß antwortete, aber ich ergänzte jeden Mangel. Die Überzeugung, daß niemand diese Lücken bemerken würde, hielt mich aufrecht oder erhob mich vielleicht noch mehr. Ich war gleichzeitig Dichter und Darstellerin. Da, wo der Vers mangelte, improvisierte ich. Shakespeare selbst, ich bin dessen gewiß, wäre mit mir zufrieden gewesen. Ich werde nicht versuchen, das Erstaunen meiner Zuhörer zu schildern. Es war aller Wahrscheinlichkeit nach das erste Mal, daß diesen Organisationen die bleiche Poesie des Nordens erschien, welche mit aufgelöstem Haar ihre Schmerzen beweint. Nur die Königin fand darin Anklänge an die Dichter ihres eigenen Vaterlandes. Als ich abtrat, folgte mir ein mit Schluchzen gemischter Beifallssturm in mein Zimmer. Die Königin kam mir nachgeeilt und faßte mich in ihre Arme. Dann, als sie nahende Tritte hörte, rief sie:
»Wer kommt da?«
Die zudringliche Person, welche entweder die San Marco oder die San Clemente war, kehrte in den Salon zurück, oder kam vielmehr keinen Schritt näher. Die Königin schien einen Augenblick nachzudenken, dann sagte sie plötzlich: »Bleib hier und kehre nicht in den Salon zurück.«
Es war dies mein einziger sehnlicher Wunsch, denn ich war im höchsten Grade erschöpft. Ich sank in einen Lehnsessel. Die Königin entfernte sich und ich hörte, wie sie sagte: »Unsere Engländerin hat zum größeren Ruhme ihres Dichters und zu unserem größern Amüsement so wacker gespielt, daß sie vor Erschöpfung halb tot ist. Ich bitte daher, sie zu entschuldigen. Gute Nacht, meine Herren.«
»Ist es wenigstens erlaubt, Beifall zu spenden?« fragte Rocca Romana.
»O, soviel Ihnen beliebt,« sagte die Königin. »Sie werden dennoch niemals genug spenden. Gestehen Sie, daß diese Leistung etwas Wunderbares ist.« Es erfolgte ein abermaliger lauter Beifallssturm, dann hörte ich die Stimmen allmählich verhallen. Die Königin dankte ihren Ehrendamen, welche ihre Dienste anboten, und schloß die Tür hinter ihnen. Als sie sich umdrehte, sah sie mich den seidenen Türvorhang des Salons emporheben. »So komm' doch, Sirene! komm' doch, Circe! komm', Armida!« sagte sie. Und indem sie ihren Arm um meinen Hals schlang, zog sie mich neben sich auf das Sofa. Wir sanken neben der Harfe nieder. Sie ergriff dieselbe und wollte selbst zu spielen und zu singen beginnen, als man leise an der Tür kratzte.
»Was will man schon wieder von mir?« fragte die Königin ungeduldig. – »Die Leute und der Wagen der Lady Hamilton sind da,« antwortete eine Stimme. – »Sie mögen in das Gesandtschaftshotel zurückkehren,« sagte die Königin. »Man bedarf ihrer hier nicht. Ich behalte Lady Hamilton bei mir.« Dann zog sie, ja trug mich beinahe nach dem Badezimmer, indem sie flüsterte:
»Komm'! komm'! Sir William ist in Caserta und wird erst morgen zurückkehren.«
Die Nachricht, welche seit dem gestrigen Tage über dem Haupte der Königin geschwebt hatte, war die von der Einnahme der Bastille. Nichts hätte Karoline mit größerer Bestürzung erfüllen können. Es war, als ob man ihr gemeldet, daß die Neapolitaner das Kastell San Elmo erstürmt hätten. Diese Nachricht hatte – obschon, soviel man wußte, kein anderer Bote aus Frankreich gekommen war, als der, welcher diese Nachricht gebracht und obschon man diesen im Palast zurückgehalten und eingeschlossen – sich dennoch in Neapel verbreitet und hier eine eigentümliche Sensation erweckt. Als einige Jahre vorher die Freimaurer in Frankreich, die Illuminaten in Deutschland, die Swedenborgianer in Schweden geheime Gesellschaften zu bilden begannen, hatte die Freimaurerei auch in Italien und besonders im südlichen Teile einige Fortschritte gemacht. Diese maurerische Invasion hatte zur Zeit der Liebschaft der Königin mit dem Fürsten Caramanico stattgefunden und die Königin, welche jede Gelegenheit aufsuchte, mit ihrem Geliebten zusammenzutreffen, hatte ihn heimlich aufgefordert, sich als Maurer aufnehmen zu lassen. Er hatte dies ohne Zögern getan und sie hatte, das Gesetz benutzend, welches die Gründung von Frauenlogen gestattete, sich zur Großmeisterin einer Loge erklärt, welcher mehrere neapolitanische Damen beigetreten waren. Was den König betraf, so hatte er seinen Beitritt immer aufgeschoben, namentlich wegen der physischen und moralischen Proben, denen er sich nicht unterwerfen wollte, weil er nicht überzeugt war, daß er sie rühmlich bestehen würde. Allmählich hatte die Königin sich immer freier gemacht. Nach dem Tode des Ministers Tannucci konnten die Liebenden einander sehen, sooft sie wollten. Man hatte die Freimaurerlogen sich versammeln und ruhig an ihrem Werke arbeiten lassen. Dieses Werk bestand, wie man sich erinnert, damals in nichts anderem, als in einer umfassenden Verschwörung gegen das Königtum. Zu jener Zeit waren mehrere merkwürdige Männer aufgetreten und hatten in Italien ihre Schule gemacht. Es waren dies die Erben und Nachfolger der Vico, Genovesi, Beccaria, Filangieri, Pagano, Cirillo, Conforti, mit einem Worte aller derer, welche den Triumph derselben Prinzipien wollten, das heißt, den Fortschritt der Welt bis zum Lichte jener Philosophie, welche in Frankreich sich in eine Feuersbrunst verwandelt hatte.
Alles, was im südlichen Italien das Auge auf Frankreich geheftet, wußte im voraus, daß die Bewegung von Paris ausgehen würde und erbebte vor Freude bei der Nachricht von der Einnahme der Bastille. Man kann sich denken, daß der Hof von Neapel ein ganz entgegengesetztes Gefühl empfand. Die Bastille war genommen worden ohne Belagerung in einem Tage, in drei Stunden durch ein Volk, welches gestern waffenlos gewesen, und heute dreißigtausend Musketen besaß. Die weiße Kokarde, dieses Emblem der Lilien, war in die dreifarbige, das Emblem der Revolution, verwandelt. Ludwig der Sechzehnte hatte dieses Emblem angenommen und selbst an seinem Hute befestigt. Alles dies waren unerhörte, unerwartete, unglaubliche Dinge, welche den Hof von Neapel mit Bestürzung erfüllen mußten und ihn auch wirklich damit erfüllten. Die politischen Beziehungen waren, dank dem Hasse des Ministers Acton gegen Frankreich und dem Einflusse, den er im Kabinettsrat gewonnen, zwischen den beiden Königreichen kalt und förmlich geworden. Die Familienbeziehungen zwischen Marie Karoline und ihrer Schwester waren dagegen so zärtlich geblieben wie je und es vergingen selten vierzehn Tage, ohne daß Briefe gewechselt worden wären, in welchen die beiden Erzherzoginnen einander ihre Freuden, ihre Schmerzen und ganz besonders ihre ehelichen Enttäuschungen erzählten. Sei es nun, daß der Minister Acton in dem Instinkt seines Hasses die Ereignisse, welche in Frankreich im Anzuge waren, erriet, sei es, daß er nur jenem rachsüchtigen Gefühl folgte, welches sein Herz erfüllte, kurz, er steigerte die Unruhe des Königs Ferdinand mehr, als daß er dieselbe beschwichtigt hätte und stellte ihm eine bewaffnete Intervention in Aussicht, bei welcher Neapel eine Rolle zu spielen oder eine Mission zu erfüllen hätte. Einen mächtigen Bundesgenossen fand er nach dieser Seite hin in Sir William Hamilton, welcher die Liebe zu seinem Milchbruder, dem König Georg, und zu England, seinem Vaterland, bis zum Fanatismus trieb.
Was mich betraf, die ich außerhalb jeder politischen Frage stand und mit den Rechten der Völker und der Macht der Könige sehr unbekannt war, so gehorchte ich natürlich dem Impulse, der mir gegeben ward, besonders wenn derselbe von einem Manne wie Sir William kam, dessen überlegener Geist von einem jeden anerkannt ward, und von einer Frau wie Marie Karoline, welche schon von dem ersten Tage an, wo ich sie gesehen, eine große Gewalt über mich ausgeübt hatte. Von diesem Augenblicke an huldigte ich also dem Hasse und den Sympathien der Personen, welche mich umgaben, ohne mir Rechenschaft von diesem Hasse und diesen Sympathien zu geben, welche bei mir mehr instinktartige Gefühle als irgendeiner Regel oder einer Berechnung unterworfen waren. Man begreift übrigens, daß diese Gefühle sich nur in den Personen entwickelten, deren Widerspiegelung ich anfangs war, um später unglücklicherweise ihr Werkzeug zu werden. Die Nachrichten aus Frankreich blieben nicht bei der Einnahme der Bastille und dem Wechsel der Kokarde stehen. Man erfuhr nach und nach die bei dem königlichen Bankett der königlichen Garde stattgehabten Vorfälle, wo die Nationalkokarde mit Füßen getreten und die schwarze aufgesteckt worden war, sowie die Tage des 5. und 6. Oktobers, während welcher die Gemächer des Palastes von Versailles geplündert, zwei Leibgardisten getötet und der König und die Königin mit Gewalt nach Paris zurückgeführt worden waren. Diese letzte Nachricht machte die Königin Maria Karoline sehr traurig. Sie zeigte mir einen Brief von ihrer Schwester Antoinette, worin diese ihr ein Projekt mitteilte, welches darin bestand, aus Frankreich zu entfliehen oder die von der Krone seit dem Monate Juli verlorene Gewalt vollständig wieder zu erobern. Dieses Projekt mußte ganz Europa in Flammen setzen, und gefiel schon deshalb der Königin, welche, indem sie den Kampf gegen die Revolution begann, damit in ihr eigentliches Element eintrat. Dieses Projekt war folgendes. Aus der Darlegung, die ich in wenigen Zeilen davon geben werde, wird man sehen, daß dies die erste Idee zur Flucht nach Varennes war. Man wollte neuntausend Mann von dem, was man das »Haus des Königs« nannte, um Versailles zusammenziehen. Von diesen neuntausend Mann gehörten zwei Dritteile dem Adel an und bestanden demzufolge aus treuergebenen Leuten. Man wollte sich der ungefähr zwanzig Lieues von Paris entfernten Stadt Montargis bemächtigen, in welcher der Baron von Viomesnil kommandierte. Derselbe war Lafayettes Kriegsgenoß in Amerika gewesen, aber nur aus Eifersucht gegen Lafayette, welcher zu den Konstitutionellen übergegangen war, seinerseits Kontrerevolutionär geworden. Achtzehn aus den Karabiniers und Dragonern, das heißt aus den beiden royalistischen Waffengattungen, ausgewählte Regimenter sollten die Wege abschneiden und jeden nach Paris bestimmten Lebensmitteltransport anhalten. Der König und die Königin sollten sich nach Montargis zurückziehen und hier überlegen, was weiter zu tun sei. Wahrscheinlich wollte man Paris aushungern und dieses dadurch zwingen, zu tun, was man wollte. An Geld würde es nicht gefehlt haben. Außer dem, welches der König von Paris mitnehmen könnte, zählte man auf freiwillige Gaben. Ein einziger Prokurator der Benediktiner hatte hunderttausend Taler angeboten. Maria Karoline rief: »Ich gebe eine Million, sollte ich auch meine Diamanten verkaufen!« Hinter dieser königlichen Gabe bot ich bescheiden in Sir Williams Namen und dem meinigen fünfzigtausend Franks, welche auch angenommen wurden. Die Tage des 5. und 6. Oktobers machten jedoch die Ausführung des eben erwähnten Projektes unmöglich.
Alle diese Nachrichten verfehlten nicht auf die Königin von Neapel ihre Wirkung zu äußern. Sie ahnte, daß eines Tages auch sie unter ähnlichen Umständen wie die, worin ihre Schwester sich befand, wie diese genötigt sein würde, entweder zu fliehen oder das Haupt unter den Volkswillen zu beugen. Sie glaubte, es sei dies der geeignete Augenblick, um die Familienbande mit Österreich fester zu knüpfen, und durch diesen Bund ihrer Schwester Marie Antoinette, die in Frankreich immer mehr an Popularität verlor, den einzigen Stützpunkt zu geben, den sie gegen ihr Volk anrufen konnte, nämlich die Familie. Die Königin bewies mir ein solches Vertrauen, daß sie nicht bloß die Güte hatte, mir alle Ereignisse mitzuteilen, von welchen mich übrigens auch Sir William unterrichtet haben würde, sondern mich auch über alle Dinge zu Rate zu ziehen. Zwei ihrer Töchter waren heiratsfähig. Es ward demgemäß zwischen dem Hofe von Neapel und dem von Österreich verabredet, daß sie die beiden Erzherzöge Franz und Ferdinand heiraten sollten, während der Kronprinz von Neapel, Franz, Herzog von Kalabrien, der damals kaum erst dreizehn Jahre zählte, sobald er das erforderliche Alter erreicht, die junge Erzherzogin Marie Clementine heiraten sollte, welche noch zwei Jahr jünger war als er. Marie Antoinette korrespondierte fleißig mit ihrem Bruder, Joseph dem Zweiten, durch Vermittlung ihrer Ratgeber. Diese waren der Abbé Vermond und der Graf von Breteuil. Der österreichische Gesandte in Paris, der Graf von Argenteau, empfing die Briefe von Wien und beförderte die von Paris nach Wien. Am 20. Februar 1790 starb Kaiser Joseph der Zweite, und einige Tage darauf erfuhr die Königin diesen Todesfall, auf den man übrigens schon längst gefaßt gewesen. Der Kaiser starb an einem Brustleiden. Er beklagte, daß er nach der ruhmreichen Regierung Maria Theresias ohne Ruhm regiert und sah von seinem Sterbebette aus im Geiste die Gefahren, welche seiner Familie drohten. Der Großherzog von Toskana, Leopold, bestieg nun den Thron. Er stand im Rufe eines gelehrten Philosophen und großen Reformators. Die Königin Karoline fürchtete, daß die Philosophie ihres Bruders am Ende so weit ginge, daß er die Ereignisse, welche sich in Frankreich vorbereiteten, zur Entwickelung kommen ließe, ohne sich denen entgegenzusetzen.
Diese Erwägung bestimmte sie, mit ihrem Gemahl eine Reise nach Wien zu machen. Der angebliche Zweck war, mit dem neuen Kaiser, welcher seine Schwester Marie Karoline sehr liebte, die notwendigen Verabredungen wegen den Familienheiraten zu treffen. Der eigentliche Zweck aber war, Mittel zur Rettung der Königin Marie Antoinette zu ersinnen, sei es, indem man ihr zur Flucht behilflich wäre, sei es, daß man eine Contrerevolution in Frankreich hervorriefe, oder sei es, daß man mittels einer Koalition eine Intervention mit bewaffneter Hand versuchte. Die Königin konnte sich kaum entschließen, mich zu verlassen. Ich war, sagte sie, die einzige Person, welche sie in Neapel zurückließ. Ich mußte ihr versprechen, ihr dreimal wöchentlich zu schreiben. Ich hatte mich erboten, sie zu begleiten und sie hatte mein Anerbieten mit Dank angenommen. Meine Gegenwart am Hofe in Wien aber, als Gattin des englischen Gesandten in dem Augenblicke, wo in diesem selben Augenblicke eine Koalition gegen Frankreich sich vorbereitete, erschien Sir William allzu bedeutsam. Er setzte der Königin seine Gründe auseinander. Sie fand dieselben gerecht und war die erste, welche mir zu bleiben befahl. Mit wahrhafter Verzweiflung verließ sie mich einige Tage nach dem Tod ihres Bruders. Sie ließ mich schwören, in ihrer Abwesenheit niemanden zu empfangen als meinen alten Anbeter, den Grafen von Bristol, dem sie mich übergab, indem sie ihm befahl, ihren Schatz zu hüten. Sie ließ sich ein Porträt von mir fertigen, gab mir das ihrige, und bat mich, als höchsten Beweis des Vertrauens und der Freundschaft, ihre Kassette in Verwahrung zu nehmen. Endlich reiste sie ab. Überall, wo sie unterwegs verweilte, wußte sie es möglich zu machen, mir zu schreiben und während der ganzen Zeit ihres Aufenthaltes in Wien empfing ich jede Woche einen Brief von ihr. Sie erzählte mir die Krönungsfeierlichkeiten, welchen sie sowohl in Wien wie in Pest beiwohnte, weil der Kaiser, als König von Ungarn, nicht bloß die kaiserliche Krone in Wien, sondern auch die königliche Krone in Pest empfing. Was die politischen Dinge, das heißt die Maßregeln betraf, welche man zu treffen hatte, um Marie Antoinette zu retten oder Europa gegen Frankreich zu verbünden, so deutete eine einzige Zeile als Nachschrift darauf hin und enthielt bloß die drei Worte: »Alles geht gut.«
In der Tat bereitete während dieser Reise Karoline – im Bunde mit ihrem Bruder – die Flucht nach Varennes vor und man beschloß, daß eine Armee sich bereit halten sollte, den König und die Königin von Frankreich zu unterstützen, sobald dieselben die Grenze passiert haben würden. Der König Ferdinand soll nach seiner Rückkehr in Neapel seine Armee in geeigneten Stand setzen, um sie mit der österreichischen Armee gemeinschaftlich agieren lassen zu können. Endlich, in den ersten Tagen des Aprils, empfing ich von der Königin einen Brief, worin sie mir ihre bevorstehende Rückkehr meldete. Dabei wollte sie jedoch, da sie sich genötigt sah, mit dem Papst Pius dem Sechsten einige politische Angelegenheiten zu ordnen, dort eine Woche verweilen. Sofort nach ihrer Ankunft daselbst wollte sie mir wieder schreiben. In der Tat war sie auch kaum daselbst angelangt, so schrieb sie mir. Die Kälte, welche während einiger Jahre den Hof von Rom von dem Hofe von Neapel getrennt und deren Ursache in der Weigerung des Königs Ferdinand oder vielmehr des alten Ministers Tannucci, einen gewissen althergebrachten Tribut zu zahlen, bestand, war vor der gemeinsamen Gefahr verschwunden. Es ward zwar von den beiden Monarchen festgesetzt, daß dieser Tribut abgeschafft bleibe, und dagegen die Könige von Neapel bloß bei ihrer Krönung zum Zeichen ihrer Ehrfurcht vor den Aposteln Petrus und Paulus dem heiligen Vater eine gewisse Summe bezahlen sollten. In dem Brief, welcher mir die Abreise der Königin von Rom meldete, bestimmte sie den Tag und die Stunde ihrer Ankunft in Caserta, wohin sie mich einlud ihr entgegenzukommen und sie zu erwarten, damit wir uns sobald als möglich und zwar ohne Zeugen wiedersähen. Ich allein ward auf diese Weise von ihrer Rückkehr benachrichtigt; ihre Frauen und selbst ihre Kinder sollten sich erst den nächstfolgenden Tag bei ihr einfinden. Der König sollte seine Reise bis Neapel fortsetzen und während die Königin in Caserta ausruhte, sich mit dem Chevalier Acton und Sir William beraten, für welche der Hof von Neapel keine Geheimnisse hatte. Um meinerseits eine Ungeduld zu beweisen, welche der, deren Gegenstand ich war, gleichkäme, war ich schon lange vor der Stunde der Ankunft in Caserta und konnte, als man ihren Wagen auf der Straße von Capua erblickte, sie von weitem durch Winken mit meinem Tuche begrüßen. Die Königin sah mich und schwenkte zur Antwort das ihrige. Der königliche Wagen verdoppelte seine Schnelligkeit und ich hatte nur eben noch Zeit, die große Treppe hinabzueilen, um die Monarchin in meinen Armen zu empfangen. Der Verabredung gemäß setzte der König seinen Weg weiter fort und wir, die Königin und ich, blieben in Caserta zurück.
Dank der von der Königin gebrauchten Vorsicht hatten wir vierundzwanzig Stunden für uns. Marie Karoline war in der heitersten Stimmung. Abgesehen von der Freude, mich wiederzusehen, kam sie mit der Versicherung des Kaisers Leopold, daß eine Koalition, für welche man auch Preußen zu gewinnen hoffte, sich gegen dieses Frankreich bilden würde, welches sie so sehr haßte. Während ihres Verweilens in Wien war sie von den Emigranten besucht worden, welche alle Frankreich als von zehn verschiedenen Parteiungen zerrissen geschildert und laut die Hilfe des Auslandes angerufen hatten. Diesen Personen zufolge handelte es sich von der Grenze bis Paris bloß um eine Promenade, die nicht einmal das Verdienst der Gefahr haben würde. Was Ludwig den Sechzehnten und Maria Antoinette betraf, so war alles in bezug auf ihre Flucht im voraus fest bestimmt. Am 12. Juni sollten sie Paris verlassen und über Chalons, Verdun und Montmédy die Grenze gewinnen, wo sie der König von Schweden, Gustav, erwarten sollte, der sich sodann augenblicklich an die Spitze der zum Marsch gegen Paris bestimmten Armee stellen würde. Die Aufgabe der Königin war nun, für diese Koalition auch die sämtlichen kleinen Fürsten von Italien und den König von Spanien zu gewinnen. Man betrachtete das letztere als sehr leicht, da ja der König Carl der Vierte der Bruder des Königs Ferdinand war. Marie Karoline bezweifelte nicht das Gelingen dieser doppelten politischen Operation und genoß im voraus die doppelte Freude des befriedigten Hasses und des gerechten Stolzes.
Ich weiß nicht, ob die Königin denselben Hochgenuß darin fand, zu mir herabzusteigen, wie ich, zu ihr emporzuklimmen. Ich bezweifelte es. Es liegt in den königlichen Freundschaften, welche die Würde des Thrones zu vergessen geruhen, eine eigentümliche Anziehungskraft, denn diese Freundschaften sprechen nicht bloß zum Herzen, sondern auch zu allen stolzen Regungen, welche besonders bei dem Weibe mit dem geheimsten Ehrgeiz der Seele in Wechselwirkung stehen. Für kein Weib in der Welt hätte ich dieses Selbstverleugnungsvolle Gefühl empfunden, welches ich für die Königin empfand, eben deshalb weil sie Königin, weil sie Marie Karoline hieß und weil sie Maria Theresias Tochter war.
Was war ich dagegen neben ihr, selbst wenn ich vergaß, daß ich Emma Lyonna gewesen, um mich bloß zu erinnern, daß ich Lady Hamilton war?
Man wundere sich daher nicht darüber, daß der Rausch dieser königlichen Gunst mich zu so großen Fehltritten, vielleicht sollte ich sagen zu so großen Verbrechen verleitete. Ach, ich bin ein Kind des Stolzes! Während wir, die Königin und ich, in Caserta waren, versammelte der König den Kabinettsrat und am Tage seiner Ankunft beschloß man, nicht bloß alle Anstalten zu treffen, um den Krieg gegen Frankreich zu beginnen, sondern auch scharf den revolutionären Geist zu überwachen, der sich auch in Neapel anscheinend offen regen wollte und hier dieselben Unordnungen zur Folge haben konnte wie in Frankreich. Es war ein großer und gefährlicher Entschluß, Frankreich den Krieg zu erklären, und zwar aus dem Grunde, weil der König von Neapel ebensowenig kriegerischen Geist besaß als sein ganzes Volk. Die kriegerischen Neigungen des Königs hatten sich bis jetzt auf eine unmäßige Leidenschaft für die Jagd beschränkt und wenn er einmal zufällig statt der Hirsche und Wildschweine ein anderes Ziel für seine Kugel gewählt hatte, so hatte dieses gewöhnlich bloß in einem armen Teufel von Bauer bestanden, welchem er, um seine Geschicklichkeit zu beweisen, den Hut vom Kopfe geschossen. Seitdem er aber einmal bei einem dieser Experimente anstatt nur den Hut zu treffen, auch den Kopf des Unglücklichen, der zugleich der Ehre und Schande teilhaftig war, ihm als Zielscheibe zu dienen, getroffen und ihn auf der Stelle getötet, hatte er auch diesem Amüsement für immer entsagt.
Was das neapolitanische Volk betraf, so hatte es, abgesehen von einigen Emeuten, von welchen die längste, nämlich die Masaniellos, vierzehn Tage dauerte, stets, obschon im Einzelkampfe mutig, gegen förmliche Schlachten eine nicht zu leugnende Abneigung gehegt. Die sieben Millionen Menschen, aus welchen damals das neapolitanische Volk bestand, waren durchaus nicht in den Waffen geübt, und seit den Schlachten von Bitonto und Velletri, Schlachten, an welchen die Neapolitaner keinen Anteil genommen, weil dieselben zwischen den Spaniern und den Österreichern entschieden wurden, hatte Neapel den Donner der Kanonen nicht wieder gehört.
Die letzte dieser Schlachten, nämlich die von Velletri, hatte vor etwa sieben- oder achtundvierzig Jahren stattgefunden, selbst der Nachhall des Kanonendonners hatte daher Zeit gehabt, zu verstummen und die dermalige Generation bestand aus den Enkeln derer, die nicht selbst gekämpft, sondern bloß hatten kämpfen sehen. Nicht ohne Grund argwöhnte die Königin, daß die in Frankreich proklamierten neuen Prinzipien ihren Widerhall in Neapel finden würden. Der ganze mezzo ceto, welcher größtenteils aus Advokaten, Ärzten, Künstlern und dergleichen bestand, war von diesen Prinzipien durchdrungen. Ganz besonders die Jugend, welche die Bücher Voltaires, die Werke Rousseaus, die Schriften der Philosophen und der Enzyklopädisten begierig verschlungen und welche diese einen Augenblick lang erlaubten Bücher jetzt mit Strenge verboten und mit Eifer verfolgt sah, fragte sich, mit welchem Rechte man sie, wenn ein Nachbarvolk sich zum Lichte hindurchkämpfte, in der Finsternis erhalten wolle.
Allerdings gab es zum Gegensatze zu der fortschrittsfreundlichen, liberalen und aufgeklärten Bevölkerung einen Adel, der keinen andern Ruhm und keine andere Hoffnung kannte als die bei Hofe und die Gunst des Königs, ferner eine verderbte unwissende Geistlichkeit, welche in dem Siege der französischen Prinzipien den Sturz ihrer Macht und den Verlust ihres Vermögens sah, und endlich ein fanatisches Volk, welches dem Könige Ferdinand aufrichtig ergeben war, nicht bloß, weil er der angestammte König war, sondern auch, weil er in bezug auf das Volk vertraulich und liberal, mit diesem infolge seiner gemeinen Sprache, seiner ordinären Beschäftigungen und seiner niedrigen Instinkte eine Ähnlichkeit hatte, welche aus dem Sohne Carls des Dritten nicht das machte, was er hätte sein sollen, nämlich der erste Edelmann des Königreichs, sondern das Oberhaupt der Lazzaroni vom Hafendamme.
Man muß ihm übrigens die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu sagen, daß er alle diese Kriegsrüstungen, zu welchen die Königin, der Chevalier Acton und Sir William ihn trieben, vornahm, ohne sich über die Triumphe, welche dieser Armee, die er organisierte, beschieden sein würden, große Illusionen zu machen. Er hatte sich einmal verbindlich gemacht, in dem großen Kampfe, der sich vorbereitete, eine Rolle zu spielen und es gab nur eins, wozu er fest entschlossen war, nämlich sein eigenes Leben nicht unklug auf's Spiel zu setzen. Mittlerweile verging die Zeit und man näherte sich dem 12. Juni, dem für die Flucht des Königs bestimmten Tage. Die Königin sprach mit mir über diesen verzweifelten Versuch ihres Schwagers und ihrer Schwester alle Tage und verhehlte sich nicht, daß sie auf diesen Wurf alles setzten, um alles zu gewinnen. Marie Caroline ließ, ohne zu sagen zu welchem Zwecke, für den 12. Juni in allen Kirchen öffentliche Gebete anbefehlen. Diese seltsame Persönlichkeit vereinte zwei Extreme in sich. Sie war zu gleicher Zeit abergläubisch und freigeisterisch und die bigotten Instinkte kämpften in ihr mit der philosophischen Erziehung.
Der 12. Juni kam. Die Königin brachte fast den ganzen Tag in der Kapelle des Schlosses auf den Knien zu. Mir erlaubte sie nicht, sie dahin zu begleiten, denn sie fürchtete, daß ich als Ketzerin ihr Unglück bringen könnte. Am Abende jedoch ließ sie mich holen, behielt mich die ganze Nacht bei sich und verbrachte einen Teil der Nacht damit, daß sie auf einer Landkarte diese Flucht verfolgte, welche ihre Gedanken so sehr beschäftigte. »Jetzt müssen sie die Tuilerien verlassen,« sagte sie. »Jetzt müssen sie in Bondy sein, jetzt in Meaux, jetzt in Montmirail.« Erst um fünf Uhr legte sie sich nieder, und erst um acht Uhr schlief sie ein. Am Abend traf ein Kurier aus Frankreich ein, welcher einen Brief von Marie Antoinette brachte. Ich war bei der Königin, als dieser Brief ankam; sie hatte den ganzen Tag nicht erlaubt, daß ich sie verließe. Mit zitternder Hand öffnete sie den Brief, und gleich nachdem sie die erste Zeile gelesen, rief sie ungeduldig: »Denke dir, Emma, sie sind den 12. nicht abgereist.«
Mit diesen Worten zog sie ihr Tuch, trocknete sich den Schweiß von der Stirne und, fuhr dann fort zu sprechen, indem sie zugleich weiter las: »Frau von Rochereul, die Geliebte eines Adjutanten Lafayette's, hatte bis zum 13. abends Dienst bei dem Dauphin. Man fürchtete, daß die Sache verraten werde.« – »Man hat klug gehandelt,« murmelte sie, »aber es wäre besser gewesen, wenn man eher daran gedacht hätte.« Sie las wieder einige Zeilen. »Die Abreise ist nun bis auf den 18. verschoben,« sagte sie. »Also noch acht Tage der Angst und Unruhe.« Sie zerknitterte das Papier in der Hand, anstatt es aber von sich zu werfen, steckte sie es zerknittert in den Busen. »Wer ist der Kurier, der diesen Brief gebracht hat?« fragte sie. – »Derselbe, den Ew. Majestät vor drei Wochen an die Königin von Frankreich abgesendet hat.« – »Ferrari?« rief sie. – »Ja, Ferrari, Majestät.« – »Dann lasse man ihn heraufkommen. Ohne Zweifel wird er mir noch etwas mündlich zu sagen haben.« – »Allerdings hat er gewünscht, daß man nicht vergessen möge, Ew. Majestät seinen Namen zu nennen.« – Es vergingen einige Sekunden, dann trat Ferrari ein. Es war ein Mann von achtundzwanzig bis dreißig Jahren, schon seit acht oder zehn Jahren im Dienste des Schlosses, und ein ganz vortrefflicher Reiter, welcher, ohne auszuruhen, Strecken von hundert und zweihundert Lieues zurücklegte. Er war es, der auf der Rückreise von Wien dem königlichen Wagen vorangeritten war, um überall Pferde zu bestellen. Marie Caroline hatte ihn ihrer Schwester als einen Mann empfohlen, dem sie unbedingt vertrauen könne. Marie Antoinette war es, so scharf sie auch von Lafayette und dessen Generalstab bewacht ward, doch gelungen, Ferrari in den Tuilerien zu empfangen, und man hatte ihm alle Einzelheiten über die Art und Weise mitgeteilt, auf welche man die Wachsamkeit des Generals der Nationalgarde zu täuschen hoffte. Um sich einen Begriff von den Schwierigkeiten, welche die Flucht darbot, machen zu können, muß man zuvörderst wissen, wie die königliche Familie bewacht war. Lafayette, welcher der Nationalversammlung mit seiner eigenen Person haftete, hatte alle seine Vorkehrungen getroffen. Sechshundert Mann Nationalgarde von den verschiedenen Sektionen hielten Tag und Nacht in den Tuilerien Wache. Vor dem äußern Tor hielten fortwährend zwei berittene Gardisten. Schildwachen standen an allen Türen des Gartens, und die Terrasse des Flusses war ebenfalls in Entfernungen von je hundert Schritt mit Schildwachen besetzt. Im Innern war die Wachsamkeit nicht weniger groß. Die Schildwachen standen bis in die Zugänge, welche zu dem Kabinett des Königs und der Königin führten, bis in einen kleinen, im Dachraum angebrachten finstern Korridor, in welchen die für den Dienst der königlichen Familie bestimmten geheimen Treppen mündeten.
Der König und die Königin, welche keine Leibgarde mehr hatten, verließen den Palast nicht anders, als unter der Eskorte von zwei oder drei Offizieren der Nationalgarde. Von allen diesen Schwierigkeiten umringt, hatten der König und die Königin folgendes ausgesonnen: Die erste Dame des Dauphin, die, welcher man nicht recht traute, verließ, wie die Königin Marie Antoinette in ihrem Briefe gesagt, ihren Dienst am 12. Das kleine Zimmer, welches sie in den Tuilerien bewohnte, wird dann leer. Dieses kleine Zimmer ging in ein Gemach, welches schon seit sechs Monaten leer stand und von Herrn von Villequier, erstem Kammerherrn, bewohnt gewesen war. Es stand jetzt leer, weil Herr von Villequier ausgewandert war. Dieses im Erdgeschoß befindliche Zimmer hatte zwei Ausgänge – einen auf den Prinzenhof, den andern auf die Rue Royale. Die Königin sollte sagen, weil es ihr an Platz fehle, solle man ihr für ihre Tochter das Zimmer der Frau von Rochereul überlassen, welches durch Beendigung des Dienstes dieser Dame leer ward. Was das Zimmer des Herrn von Villequier betraf, so sollte der König, der ein vortrefflicher Schlosser war, einen Schlüssel fertigen, mit dessen Hilfe man es öffnen könnte.
Wie zahlreich auch die Schildwachen waren, so hatte man gleichwohl vergessen, eine an die Tür dieses Zimmers zu stellen. Übrigens waren, sobald es elf Uhr geschlagen, die Schildwachen, da der Dienst des Schlosses zu dieser Stunde endete, daran gewöhnt, sehr viele Leute auf einmal herauskommen zu sehen. Man hatte daher Aussicht, mitten unter allen diesen Leuten den Palast verlassen zu können, ohne erkannt zu werden. War man einmal aus den Tuilerien hinaus, so übernahm ein Schwede, Herr v. Fersen, welcher der Königin sehr ergeben war, das übrige. Er wollte, als Fiakerkutscher verkleidet, an dem Pförtchen der Rue de l'Echelle warten, und die Flüchtlinge bis an die Barriere von Clichy bringen, wo ein von ihm bestellter Reisewagen, fertig bespannt, bei einem Freunde von ihm, Mr. Crawford, warten sollte. Der König sollte als Intendant verkleidet sein, das heißt, einen grauen Rock, Atlasweste, grüne Beinkleider, graue Strümpfe, Schnallenschuhe und einen kleinen dreieckigen Hut tragen. Ein Kammerdiener des Königs, namens Hue, von derselben Größe wie der König und dessen Gang und Haltung der König sich einstudiert, ging seit zwei oder drei Tagen aus und ein und sollte damit fortfahren bis zum Abend der Flucht, damit man sich daran gewöhnen möchte, diesen graugekleideten Mann vorübergehen zu sehen. Der Dauphin sollte als kleines Mädchen verkleidet werden. Die Königin, Madame Elisabeth, die königliche Prinzessin sollten mit den diensttuenden Frauen untermischt hinausgehen, und man hoffte, daß sie unter der Menge unbemerkt passieren würden. Die Fliehenden mußten aber auch Pässe haben. Herr von Fersen hatte es übernommen, auch hierfür zu sorgen. Eine Freundin von ihm, Frau von Corff, stand im Begriff, Paris zu verlassen. Sie hatte einen Paß für sich, ihre beiden Kinder, einen Kammerdiener und zwei Kammerfrauen. Diesen Paß hatte sie Herrn von Fersen überlassen, und dieser hatte ihn der Königin gegeben. Auf diese Weise gedachte man aus Paris hinauszukommen. Herr von Bouille, ein Mann von Mut und Verstand, auf welchen der König rechnen konnte, hatte sämtliche Truppen Lothringens, des Elsaß, der Franche-Comté und der Champagne unter seinem Kommando. Er war beauftragt, die Straße zu explorieren, welche von Chalons über Varennes nach Montmédy führt. In gewisser Entfernung auf dieser Straße aufgestellte und von treuergebenen Offizieren kommandierte Truppen sollten die Ankunft des Königs erwarten, und ihm zur Eskorte dienen. Herr von Bouillé hatte eine Million in Assignaten zugesendet erhalten, um alle Ausgaben bestreiten zu können. So standen die Dinge, als am 12. Juni abends Ferrari in Neapel ankam. Er hatte neun Tage gebraucht, um diesen Weg zurückzulegen und war folglich am 4. von Paris abgereist. Die Königin Marie Caroline schenkte ihm zweihundert Dukaten, forderte ihn auf, auszuruhen, und befahl ihm, sich auf jedes Ereignis gefaßt zu halten. Ferrari antwortete, vierundzwanzig Stunden Ruhe wären für ihn genug und die Königin könne auch noch vor Ablauf derselben über ihn disponieren.
Während aller dieser Tage der Unruhe, die auf die Ankunft des Kuriers folgten, verlangte die Königin, daß ich in ihrer Nähe bliebe. Allen anderen gegenüber zeigte sie sich ungestüm, heftig und schroff. Gegen mich allein blieb sie sanft und gut, denn nur mir allein teilte sie ihre Hoffnungen und Befürchtungen mit. Der Kurier der Gesandtschaft kam alle Wochen. Der 16. war der Tag seiner Ankunft. Am 16., während die Königin mit mir in dem alten Park der Herzöge von Caserta spazieren ging, ward uns von einem der Huissiers des Palastes ein Sekretär aus dem Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten zugeführt. Schon von weitem sah die Königin, daß dieser Sekretär einen Brief in der Hand hatte. Sie erhob sich von der Bank, auf der wir saßen, und ging ihm rasch entgegen. Der junge Mann verneigte sich und überreichte ihr den Brief. Die Königin öffnete diesen Brief, las ihn, machte ein Zeichen der Ungeduld und gab ihn dann mir. – »Haben Euer Majestät mir vielleicht Befehle zu erteilen?« fragte der junge Mann. – »Nein, ich habe Ihnen nur meinen Dank zu sagen.« – Der junge Mann verneigte sich abermals und fragte, ehe er sich entfernte, ob der Huissier ermächtigt wäre, ihm eine Quittung über den Brief zu geben und zu bescheinigen, daß derselbe in die eigenen Hände der Königin befördert worden.
Der Huissier erhielt Befehl, zu tun, was von ihm verlangt ward. Der junge Mann und er entfernten sich. Die Königin schlang ihren Arm um meinen Hals, las über meine Schulter hinweg und sagte: »Verstehst du?« – »Ja, vollkommen,« antwortete ich. – Und ich las laut: »Die Jagd ist auf den 21. verschoben. Um Mitternacht wird man aufbrechen, um bei Tagesanbruch auf dem Sammelplatz zu sein. Diese Verzögerung ist durch einen Kreditbrief verursacht worden, welcher den 20. fällig wird.«
Der Brief war ohne Unterschrift. Die Königin erkannte aber die Handschrift ihrer Schwester Marie Antoinette. »Wie! Euer Majestät begreifen nicht?« fragte ich. – »O doch,« sagte die Königin. »Man wird erst am 20. um Mitternacht anstatt am 18. abreisen, weil am 20. morgens der König den Vierteljahresbetrag seiner Zivilliste ausgezahlt erhält.« – »Und wieviel beträgt diese Summe?« fragte ich. – »Sechs Millionen.« – »Ah, das lohnt allerdings der Mühe,« sagte ich lächelnd. – »Ja,« antwortete die Königin, »aber immer noch dauert es zwei Tage. Wer weiß, was in diesen zwei Tagen geschehen kann.« – Dann schüttelte sie den Kopf und sagte: »Ach, meine arme Emma, ich habe traurige Ahnungen.«
Es muß hierbei bemerkt werden, daß die Königin alle ihre Kümmernisse für sich und für mich behielt und weder dem König noch dem Minister ein Wort davon sagte. Die Tage verflossen. Caroline ging nicht nach Neapel; sie verließ nicht Caserta und ich verließ sie nicht. Sir William, vor welchem wir keine Geheimnisse hatten und der die Besorgnisse der Königin kannte, forderte mich selbst auf, ihr treue Gesellschaft zu leisten. Während des ganzen Tages am 20. hatte sie keine Ruhe und konnte weder stehen noch sitzen. Es war als ob sie, von physischer Ermüdung dazu gezwungen, ihre haßerfüllten Gedanken zu verbannen suchte. Von Mitternacht an stieg ihre Aufregung, wenn dieses überhaupt möglich war, immer höher. Einen Augenblick lang war sie mit dem Gedanken umgegangen, Ferrari wieder nach Paris zu schicken. Sie hatte aber eingesehen, daß, wie sehr er sich auch beeilte, er doch immer nur erst den zweiten oder dritten Tag nach der Abreise der königlichen Familie in Paris anlangen würde. Deshalb hatte man Ferrari dabehalten, um ihn für einen dringenden Fall zur Verfügung zu haben. Sie hoffte, daß der König oder die Königin im Augenblick der Abreise einen Kurier an sie abgefertigt haben würden, um ihr diese Abreise zu melden. In diesem Falle ward dieser Kurier am 29. Juni erwartet. Der Tag des 29., des 30. Juni und der Vormittag des 1. Juli vergingen, ohne daß Nachrichten eintrafen; am 1. Juli aber gegen elf Uhr morgens fand Sir William sich in eigener Person ein und verlangte mich zu sprechen.
Die Königin, welche für alle ein Gegenstand der Unruhe war, forderte mich auf, sogleich zu Sir William hinunterzugehen. Er erwartete mich in einem kleinen Salon des Erdgeschosses. Gleich auf den ersten Blick sah ich ihm am Gesicht an, daß er der Überbringer schlimmer Nachrichten war. »Was gibt's?« fragte ich ihn auf englisch. – »Der König und die Königin sind in einer Stadt namens Varennes angehalten worden,« antwortete mir Sir William, »und höchstwahrscheinlich hat man sie zu dieser Stunde schon wieder nach Paris zurückgeführt.« – »Wie sagen Sie, Sir William?« rief eine Stimme. Ich drehte mich um. Die Königin stand ungeduldig und ein Unglück ahnend auf der Schwelle der Tür. Sie war mir gefolgt und hatte Sir Williams Worte gehört, ohne dieselben zu verstehen. An dem Tone aber, womit er gesprochen, hatte sie wohl erraten, daß er mir nichts Gutes verkündete. Sie hatte ihre Frage auf französisch getan. »Madame,« antwortete Sir William, ich meldete Mylady ein großes Unglück.« – »Man hat meine Schwester ermordet!« rief die Königin. – »Nein, Madame, ein solches Verbrechen hat Gott nicht gestattet. Ihre Schwester lebt, aber sie ist auf ihrer Flucht erkannt, angehalten und gefangen nach Paris zurückgebracht worden.« – »Gefangen? Meine Schwester? Man hat gewagt, die Hand an eine königliche Person zu legen?« – »Ihr erster Gedanke, Madame, war ja, daß man sie gar ermordet hatte.«
»Daß man eine Königin ermordet, ist mir erklärlich. Dazu bedarf es bloß eines Fanatikers oder eines Wahnsinnigen. Um sie aber gefangenzunehmen, dazu bedarf es einer offenen Rebellion, einer Volksempörung, einer Revolution!« – »Aber wie wollten denn Ew. Majestät die Bewegung, welche jetzt in Frankreich stattfindet, anders nennen als eine Revolution?« – »Wenigstens hoffe ich, daß, wenn die Königin Gefangene, sie es in ihrem Palaste ist?« – »Wir wissen noch weiter nichts, Madame, als daß vierzig oder fünfzig Lieues von Paris, in einer kleinen Stadt, welche man Varennes nennt, Ihre Majestäten der König und die Königin von Frankreich angehalten worden sind. Die englische Gesandtschaft hat mir einen Kurier mit einer Depesche zugesendet, die weiter nichts enthält. Beim Abgange des Kuriers waren der König und die Königin schon nach Chalons zurückgebracht und drei Volksrepräsentanten reisten von Paris ab, um ihnen entgegenzugehen und sie zu beschützen.« – »Um sie zu beschützen!« rief Marie Caroline; »drei Advokaten wahrscheinlich beschützen den König und die Königin von Frankreich! Das ist seltsam! Kann ich den Kurier sprechen?« – »Ich habe ihn mitgebracht, denn ich vermutete sogleich, daß Ew. Majestät ihn vielleicht zu befragen wünschten.« – »Ich danke Ihnen; lassen Sie ihn kommen. Nicht wahr, du wirst mir als Dolmetscherin dienen, Emma?« – »Ich glaube, er spricht französisch,« antwortete Sir William.
»Nun dann um so besser,« sagte die Königin.
Fünf Minuten später stand der Kurier vor ihr. Er wußte aber weiter nichts, als was er auf der Straße sprechen gehört. Man hatte ihm erzählt, daß man, als man die Flucht des Königs erfahren, Lafayette hatte umbringen wollen, weil man ihn beschuldigte, diese Flucht begünstigt zu haben. Das Ernsthafteste bei der Sache sei, daß die Pariser im höchsten Grade erbittert wären, und er könne versichern, daß der König bei seiner Rückkunft nach Paris alles zu fürchten haben würde, wenn nicht zu seiner Sicherheit die größten Vorsichtsmaßregeln getroffen wären. Plötzlich, während der Kurier der Königin die Einzelheiten mitteilte, erinnerte er sich, daß er auf den Straßen »Gefangennehmung des Königs Ludwigs des Sechzehnten« ausrufen gehört und daß er das Zeitungsblatt gekauft hatte, in welchem die Gefangennehmung erzählt ward. Die Königin streckte begierig die Hand aus, der Kurier suchte in seinen Taschen und zog endlich aus einer derselben eine Nummer der »Revolutionen von Frankreich und Brabant« von Camille Desmoulins hervor. Die Königin durchflog das Blatt rasch, dann knitterte sie es mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Wut zwischen den Händen zusammen und rief:
»O, die Elenden! Besser wäre es, sie hätten ihn zehn-, hundert-, tausendmal getötet, als auf diese Weise beschimpft.«
Ich nahm ihr das Journal aus den Händen und wollte es dem Boten zurückgeben.
»O, lies! lies!« sagte sie; »ich will, daß du selbst siehest, wie diese nichtswürdigen Franzosen ihrem König begegnen.«
Meine Augen fielen auf folgende Zeilen:
»Wovon hängen die großen Ereignisse ab? Sainte-Menehould, dieser Name erinnert unsern gekrönten Sancho Pansa an die berühmten Schweinsfüße. Er will sich nicht nachsagen lassen, daß er durch Sainte-Menehould gekommen sei, ohne von den berühmten Schweinsfüßen an Ort und Stelle gegessen zu haben. Er gedenkt nicht mehr des Sprichwortes: Plus occidit gula quam gladius. Die Zeit, welche über diesen Zubereitungen verging, war ihm verderblich.«
»Dergleichen Angriffe verdienen bloß Verachtung,« sagte ich zur Königin.
Ohne auf mich zu hören, fuhr sie fort:
»Und die Könige sehen ihren Bruder auf diese Weise behandeln, und sie erheben sich nicht alle wie ein Mann und schwören, auf Paris zu marschieren und in dieser fluchwürdigen Stadt keinen Stein auf dem andern zu lassen. O Könige! Familie von Feiglingen! Sehet ihr nicht, daß man euch dort allen den Prozeß macht? Sir William!« – »Madame?« entgegnete Sir William, indem er sich verneigte. – »Kehren Sie jetzt sogleich wieder nach Neapel zurück?« – »Wenn Ew. Majestät es wünscht.« – »Ja, ich wünsche es, und Sie können mir wohl einen Platz in Ihrem Wagen einräumen?« – »Dies wäre eine große Ehre für mich, Madame.« – »Doch nein, eben fällt mir etwas noch Besseres ein. Gehen Sie, in einer Viertelstunde folgen wir Ihnen. Gehen Sie in den Palast und bitten Sie den König in meinem Namen, den Kabinettsrat zusammenzuberufen. Ich will mit allen diesen Männern sprechen. Ich sehe noch gar nicht, daß man sich zum Kriege rüstet, und dennoch haben wir gegen unsern Bruder Leopold Verbindlichkeiten übernommen. Es wäre eine Schande, wenn er bereit wäre und wir wären es nicht. Gehen Sie, Sir William, gehen Sie, und bemühen Sie sich zu erfahren, ob wir auf England rechnen können.«
Wenn die Königin auf diese Weise so sprach, so lag in ihrem Worte eine solche Macht, in ihrer Gebärde eine solche Würde, in ihrer Person eine solche Majestät, daß jeder, der sie hörte, an weiter nichts dachte, als ihr zu gehorchen. Sir William begnügte sich daher, sie zu hören, stieg wieder in den Wagen und rief dem Kutscher zu: »Nach dem königlichen Palast – so rasch als möglich!« Eine Viertelstunde später stiegen wir, wie die Königin gesagt, selbst in den Wagen und folgten Sir William.
Obschon die Königin ihren Kutscher auf dieselbe Weise zur Eile ermahnte, wie Sir William den seinigen, so kam dieser doch, da Sir William die besten Pferde in Neapel, selbst die des Königs nicht ausgenommen, hatte, zwanzig Minuten vor uns an. Die Folge davon war, daß die Königin bei ihrem Eintritt in den Palast den Ministerrat versammelt fand. Der Minister Acton hatte seinerseits ebenfalls die Nachricht von der Gefangennehmung des Königs von Frankreich erhalten und geglaubt, daß die Sache wohl der Mühe verlohne, dem Kabinettsrat vorgetragen zu werden. Da ich der Königin nicht folgte, sondern der Wagen, nachdem er sie im Palast abgesetzt, mich nach dem Gesandtschaftshotel brachte, so erfuhr ich das, was nun geschah, nur durch Hörensagen. Der König hatte in ziemlich schlechter Laune Platz genommen, indem er im voraus erklärt, daß er weit wichtigere Geschäfte habe als die, womit der Kabinettsrat sich beschäftigte, und indem er den Ministern zugleich andeutete, daß er nicht bis zu Ende der Sitzung bleiben würde. Als er die Königin kommen sah, dachte er sogleich den Vorsitz im Kabinettsrat ihr zu übertragen und näherte sich ihr daher, indem er sich sehr liebenswürdig gegen sie zeigte und sie seine »liebe Schulmeisterin« nannte, was er nur tat, wenn er ganz besonders gut gelaunt gegen sie war. Plötzlich und in dem Augenblicke, wo die Diskussion am lebhaftesten war, pochte man auf eine gewisse Weise an die Tür.
Die Königin fragte ungeduldig, wer die Keckheit habe, mit dieser Vertraulichkeit an die Tür des Kabinettsrats zu pochen; der König mochte aber eine Gebärde. »Meine liebe Schulmeisterin,« sagte er, »beunruhige dich nicht, es gilt mir. Ich weiß schon, was es ist.« Mit diesen Worten ging er hinaus. Die Königin machte einen langen Hals und sah zwischen der sich öffnenden Tür hindurch einen Piqueur, welcher den König erwartete. Nach einigen Sekunden öffnete die Tür sich wieder. »Ich kann nicht länger bleiben, ich habe anderwärts Geschäfte,« sagte Ferdinand. »Vertritt meine Stelle, liebe Karoline. Was du tust, wird wohlgetan sein wie immer.« Mit diesen Worten verabschiedete er sich von der Königin und den Ministern mit einer Handbewegung und schloß die Tür wieder, worauf man sich rasch entfernende Tritte hörte. Die Königin war an eine solche Handlungsweise des Königs gewöhnt und ließ sich in der Regel dadurch weiter nicht beunruhigen. Diesmal aber erschienen ihr die Umstände so ernst, daß der König trotz des Widerwillens, welchen die öffentlichen Geschäfte ihm einflößten, dem Kabinettsrat doch wohl bis zu Ende hätte beiwohnen sollen, denn es war auch ein wenig sein Prozeß, der hier abgeurteilt ward. Im Verlaufe der Beratung brachte man der Königin einen Brief, welcher von Wien kam. Er war von ihrem Bruder Leopold und meldete ihr Nachrichten von der höchsten Wichtigkeit. Der Kaiser schrieb ihr, daß er nächstfolgenden Monat, ungefähr den 20. August, mit dem König von Preußen, Friedrich Wilhelm, eine Zusammenkunft in Pillnitz haben werde. Die Folge dieser Zusammenkunft werde höchstwahrscheinlich eine Kriegserklärung gegen Frankreich sein. Der Kaiser ersuchte deshalb seinen Schwager Ferdinand, sich für diesen Fall bereit zu halten, das Kontingent zu stellen, zu welchem er sich bei seinem Besuch in Wien selbst verbindlich gemacht. Der Kaiser wußte noch nicht die Gefangennehmung in Varennes oder vielmehr er mußte sie zu dieser Stunde wissen, denn die Kommunikationen waren zwischen Paris und Wien rascher, als zwischen Paris und Neapel. Sein vom 23. Juni datierter Brief war aber drei oder vier Tage vorher geschrieben, ehe er die traurige Neuigkeit wissen konnte.
Es war ein Glück für die Königin, daß ihr Gemahl den Vorsitz ihr übertragen, denn der König, der um halb zwei Uhr sich im Kabinettsrat eingefunden, würde sich nicht dazu verstanden haben, bis um sechs Uhr auszuhalten. Karoline hatte die Freude, durch die von Acton eingezogenen Erkundigungen zu erfahren, daß, wenn die Feindseligkeiten gegen Frankreich noch nicht begonnen, wenigstens alle Anstalten zum Einrücken in das französische Gebiet getroffen wurden. Fünfunddreißigtausend Mann Deutsche rückten gegen Flandern vor; fünfzehntausend Mann andere gegen das Elsaß; fünfzehntausend Mann Schweizer machten sich fertig, auf Lyon zu marschieren; eine piemontesische Armee bedrohte die Dauphiné und zwanzigtausend Mann Spanier hielten sich bereit, die Grenze zu überschreiten. Der General Acton ward als Marine- und Kriegsminister beauftragt, das Kriegsmaterial an Schiffen, Kanonen und Munition zu vervollständigen. Er versprach der Königin Waffen- und Pulverfabriken einzurichten, und dann schrieb er an die Prinzen von Hessen-Philippstadt, von Württemberg und von Sachsen, um allen dreien Kommandos anzubieten. Dies war das, was das Äußere betraf; die Königin hatte aber beschlossen, auch das Innere einer Überwachung zu unterwerfen, die jedem Ereignisse vorbeugte, welches sich in seinem Prinzip oder in seinem Ziel denen näherte, welche jetzt in Frankreich stattfanden.
Man beschloß die Häuser der Stadt, die es noch nicht waren, zu numerieren; man stellte in jedem Quartier Kommissare an, welche ausschließlich mit einer politischen Polizei beauftragt waren. Ein junger Mann, den der General Acton der Königin als unternehmend, geschickt und ehrgeizig empfehlen zu können glaubte, erhielt einen Titel, der seit langer Zeit abgeschafft war, jetzt aber für diese Zeiten der Unruhe wieder hervorgesucht ward, nämlich den eines Regenten der Vicaria. Dieser junge Mann war der Chevalier Ludovico von Medici, welcher, nachdem er einmal zur Macht gelangt war, dieselbe auch nicht wieder verlassen sollte. Die Königin hatte keinen Grund, sich zu beklagen. Man hatte in einer einzigen Sitzung mehr Arbeit verrichtet, als man sonst in zehn zu erledigen pflegte. Als die Königin den Kabinettsrat verließ, wollte sie wissen, was für ein dringendes Geschäft es wäre, was den König veranlaßt, sich so plötzlich zu entfernen, und warum der Piqueur sich erlaubt hatte, an die Tür zu pochen. Dieser Piqueur kam, um dem König zu melden, daß sich ein prächtiger Schwarm Feigendrosseln in Capo di Monte niedergelassen habe, und da baldiges Wiederauffliegen zu erwarten stand, weil jetzt die Zugzeit dieser Vögel war, so hatte der König seinem Piqueur befohlen, ihn sofort zu benachrichtigen, sobald gut zum Schusse zu kommen wäre. Der Piqueur hatte nicht verfehlt, diesem Befehle nachzukommen, und dies war die wichtige Angelegenheit, welche den König Ferdinand abgehalten, seinen Anteil an den Maßregeln zu nehmen, welche, wie man wenigstens hoffte, zur Rettung seines Schwagers Ludwig des Sechzehnten und seiner Schwägerin Marie Antoinette beitragen sollten. Die Königin hatte mir befohlen, punkt sechs Uhr im Palast zu sein. Ich erwartete sie seit einer halben Stunde, als sie aus dem Kabinettsrat kam. Sie erzählte mir achselzuckend die Geschichte des Königs, im Grunde genommen aber machte diese Sorglosigkeit des Gemahls sie gleichzeitig zum König und zur Königin und ihr Despotismus war gern damit einverstanden. Wir stiegen wieder in den Wagen und fuhren nach Caserta zurück.
Unterwegs begegneten wir einer Art Postchaise, welche mit Staub bedeckt war und einen langen Weg zurückgelegt zu haben schien. Als man die königliche Livree erkannte, stieg eine Dame halb aus dem Wagen heraus und rief ihrem Postillon zu, daß er Halt machen solle. Es war augenscheinlich, daß diese Dame, woher sie auch kommen mochte, zur Königin wollte. Die Königin ließ unseren Wagen ebenfalls halten und wartete. Die Reisende sprang nun vollends von ihrem Wagen herab und war im nächsten Augenblick bei uns.
»Im Auftrage der Königin Marie Antoinette!« sagte sie. – »Sie kommen im Auftrage meiner Schwester?« fragte die Königin. – »Ja, Madame.« – »Haben Sie einen Brief von ihr?« – »In meinem Portefeuille.« – »Von ihr selbst?« – »Euer Majestät kennt die Chiffre der Königin, nicht wahr?« – »Jawohl! Lassen Sie Ihren Wagen dem unserigen folgen und setzen Sie sich mit zu uns. Wie heißen Sie?« – »Mein Name ist Ihnen unbekannt, Madame, ich glaube aber nicht mehr, wenn ich Ihnen sage, daß ich die Inglesina bin.« – »Ah, ja, ja! Sie gehören zum Haushalt der Prinzessin von Lamballe. Setzen Sie sich mit zu uns – steigen Sie ein.« – Die junge Dame richtete einige Worte in vortrefflichem Italienisch an den Postillon, stieg in unsern Wagen und setzte sich auf den Vordersitz. Ihr Wagen folgte.
»Rasch! rasch!« sagte die Königin, »erzählen Sie uns, wie die Sachen stehen. An welchem Tage haben Sie Paris verlassen?« – »Am 26. Juni, Madame, am Tage nach der Rückkehr der Königin.« – »Und meine Schwester befindet sich wohl?« – »Ja, Madame, abgesehen von den Aufregungen und Anstrengungen dieser furchtbaren Reise.« – »Wie ist ihre Situation in den Tuilerien?« – »Sie ist die einer Gefangenen, dies darf man sich nicht verhehlen, und sie wird Gefangene bleiben bis zu dem Augenblicke, wo der König die Konstitution beschworen haben wird.« – »Er möge sie denn beschwören und Zeit gewinnen, bis wir ihr zu Hilfe kommen können.« – »Ach, Madame, diese Hilfe ist es, um deren Beschleunigung ich im Namen der Königin zu bitten komme.« – »Wir beschäftigen uns bereits damit, seien Sie unbesorgt.«
Während dieser Zeit entsiegelte die Königin den Brief von ihrer Schwester, vergebens aber versuchte sie den Sinn desselben zu enträtseln. »Ich kann nicht lesen, wenn ich den Schlüssel der Chiffreschrift nicht vor Augen habe,« sagte sie ungeduldig. – »Es ist das Wort Ludovico dreimal wiederholt.« – »Ja, ich werde aber in Caserta lesen, wo ich die Gedanken zusammennehmen kann. Jetzt sagen Sie mir, wer Sie geschickt. Erzählen Sie mir die nähern Umstände Ihrer Reise und was in Paris in dem Augenblicke Ihrer Abreise von dort gesprochen ward.« – »Mit Lebensgefahr wollte ich mich überzeugen, daß die Königin ohne Unfall in den Palast zurückgekehrt sei, und da die Reiseroute der hohen Personen vorgezeichnet war und man wußte, daß sie durch die Barrière de l'Etoile zurückkommen würden, so begab ich mich gleich am frühen Morgen in den Tuileriengarten. Sobald die Königin herein war, mußte ich es der Prinzessin von Lamballe melden, welche sich bei ihrem Vater, dem Herzoge von Penthièvre, befand. Ich muß Ew. Majestät gestehen, daß die Haltung der Bevölkerung eine sehr drohende war.«
»Gegen wen?« – »Gegen den König und gegen die Königin, Madame.« – »Ha, diese verwünschten Franzosen!« – »Man hatte, um die Verblendung der Monarchie anzudeuten, der Statue des Königs Ludwig des Fünfzehnten die Augen verbunden und in gewissen Zwischenräumen waren große Tafeln angebracht auf welchen die Worte standen: »Wer dem König Beifall schenkt, wird durchgeprügelt, wer ihn [nicht] beschimpft, wird gehängt.« Ich fühlte mich schaudern. Die Königin ward sehr bleich. »Erzählen Sie weiter,« sagte sie. – »Ich sah den königlichen Wagen von weitem kommen. Er ward von den Grenadieren eskortiert, deren hohe Bärenmützen den Schlag verdeckten. Zwei Grenadiere standen auf dem Tritte des vordern Kupees und waren beauftragt, die drei Leibgardisten zu schützen, welche dem Könige treu geblieben, ihn auf seiner Flucht begleitet und sich geweigert hatten, in Meaux, wie Barnave ihnen vorgeschlagen, zu entfliehen, weil sie das Schicksal des Königs bis ans Ende teilen wollten.« – »Kennen Sie die Namen dieser wackern Leute?« fragte die Königin. – »Es sind die Herren von Moustier, von Malden und von Valori.« – Die Königin schrieb die drei Namen in ihr Notizbuch.
»Weiter, weiter!« fuhr sie fort, während sie noch schrieb. – »Lafayette erwartete mit seinem ganzen Generalstabe den Wagen am Gittertore der Tuilerien. Sobald die Königin ihn erblickte, rief sie ihm zu: ›Herr von Lafayette, retten Sie die drei Gardisten, sie haben nur dem Könige gehorcht.‹ – Dieser einfache Gehorsam ward ihnen aber als ein Verbrechen angerechnet. Eine Spalier von Nationalgarden zog sich von der Drehbrücke bis an den Perron des Palastes. An diesem Perron mußten die hohen Reisenden aussteigen. Hier lauerte sonach die Gefahr. Die Nationalversammlung hatte zwanzig Deputierte geschickt. Diese warteten vor dem Tore des Schlosses. Lafayette sprang vom Pferde, und ließ von der Terrasse mit dem Tore des Gartens, mit den Musketen und Bajonetten der Nationalgarde eine förmliche eiserne Straße bilden. Die beiden Kinder, die Prinzessin und der Dauphin, stiegen zuerst aus und erreichten den Palast ohne Hindernis. Nun kamen die Leibgardisten an die Reihe. Man hatte geschworen, sie nicht lebendig wieder den Palast betreten zu lassen. Man hatte das Gerücht verbreitet, es wären dies dieselben, welche am 2. Oktober die dreifarbige Kokarde mit Füßen getreten hätten. In dem Augenblick, wo sie von dem Kutschbocke herabstiegen, fand deshalb ein fürchterlicher Kampf statt und die Säbel und Piken der Männer des Volkes durchbrachen die Reihen der Nationalgarden. Valori und Malden wurden verwundet.«
Die Königin Karoline trocknete sich mit ihrem Tuche den Schweiß von der Stirn. »Ha!« sagte sie, »wenn ich bedenke, daß wir vielleicht bestimmt sind, ähnliche Greuel zu sehen. Doch nein, nein, nein,« fuhr sie, mit den Zähnen knirschend, fort, »eher ließe ich sie alle vertilgen.« Ich faßte sie bei den Händen. »O, niemals, niemals!« sagte ich. »Beruhigen Sie sich doch, Majestät!« – »Wenn du wüßtest, wie diese Neapolitaner mich hassen. Vielleicht mehr als die Pariser meine Schwester hassen. Aber erzählen Sie weiter. Wie erreichte sie den Palast?« – »Sie ward von ihren beiden erbittertsten Feinden, den Herrn von Noailles und Aiguillon, gewissermaßen hineingetragen. Als sie sich in den Händen derselben sah, glaubte sie sich auch wirklich verloren. Sie irrte sich. Diese beiden Männer waren hierhergekommen, nicht um sie ins Verderben zu stürzen, sondern um sie zu retten.« – »Und der König?« – »Der König stieg zuletzt aus, Madame. Er schien mir sehr ruhig zu sein. Er ging zwischen Barnave und Pétion mit seinem gewöhnlichen Schritt.« – »Und Sie selbst?« – »Ich kehrte in das Hotel Penthièvre zurück, um der Prinzessin von Lamballe die gute Nachricht zu bringen, daß die Königin ohne Unfall in den Palast zurückgekehrt sei. Im Laufe des Abends kam Madame Campan. Sie brachte im Auftrage der Königin den Brief, den ich soeben die Ehre gehabt Ew. Majestät zu überreichen. Sie bat im Namen der Königin Marie Antoinette Ew. Majestät, eine Abschrift davon dem Kaiser Leopold zu übersenden, an welchen sie nicht Zeit gehabt zu schreiben. In Meaux, wo sie im Hause des Bischofs die Nacht vom 23. zum 24. zugebracht, hatte sie Mittel gefunden, an Ew. Majestät zu schreiben.«
»Ach, meine arme Marie! meine arme Marie!« rief die Königin. »O, warum kann ich nicht sie anstatt dieses Briefes an mein Herz drücken! Ach, wäre es ihr möglich, zu entrinnen, zu mir zu kommen! In Caserta und in Neapel würde sie hundertmal glücklicher sein als in Versailles und in Paris.« – »Wenn sie es könnte, Madame,« sagte die Inglesina, »so würde sie sicherlich nicht ermangeln es zu tun und sich glücklich schätzen.« – Man betrat den Palast in Caserta. »Übernimm die Sorge für unsere liebe Inglesina,« sagte die Königin, sich zur mir wendend. »Siehe zu, daß es ihr an nichts fehle. Ich werde mittlerweile den Brief meiner armen Marie lesen und die mir von ihr erteilten Weisungen befolgen.« Eine Stunde später ging ein Kurier nach Neapel ab, um den General Acton aufzufordern, sich den nächstfolgenden Tag in Caserta einzufinden und dem Kurier des Kaisers Leopold zu befehlen, nicht abzureisen, ohne die Depeschen der Königin mitzunehmen.
Die Geschichte unserer Inglesina – welche ich fortfahren werde, mit diesem Namen zu benennen, weil sie uns ersucht, ihren wahren Namen nicht zu veröffentlichen – war sehr einfach. Sie war das einzige noch übrige Kind einer edlen herabgekommenen Familie und erfreute sich der Gunst und des Schutzes des Herzogs von Norfolk und der Lady Mary Duncan, welche ihre Familie gekannt und sie selbst in dem irländischen Kloster der Rue du Bac untergebracht hatten. Hier genoß sie den Unterricht Sacchinis, Musiklehrers der Königin. Erstaunt über die Fortschritte, welche seine Schülerin machte, und da er sie überdies mit großer Geläufigkeit italienisch und deutsch sprechen gehört, rühmte der Komponist des »Oedipus auf Colonos« sie seiner königlichen Gebieterin so sehr, daß diese die junge Dame zu sehen wünschte. Die Prinzessin von Lamballe erbot sich, sich inkognito in dem Kloster gerade zu der Stunde einzufinden, wo Sacchini seine Lektion geben würde. Sie kam auch wirklich und versicherte nach ihrer Rückkunft in die Tuilerien der Königin, daß die Lobsprüche des berühmten Komponisten keineswegs übertrieben seien. Zwei Tage später ward Inglesina von der Königin empfangen, welche, die Dienste bedenkend, die in den ernsten Umständen, worin sie sich befand, eine Person ihr leisten konnte, welche zugleich englisch, deutsch und italienisch sprach, die junge Dame an sich fesselte, weit mehr durch sanfte Worte, als durch die Hoffnung auf Belohnungen, welche die Königin zu dieser Zeit nicht einmal zu versprechen gewagt hätte, da sie ja fürchten mußte, diese Versprechungen nicht halten zu können. Inglesina erzählte uns selbst, wie sie von der Königin von Frankreich den Auftrag erhalten, dessen sie sich in diesem Augenblicke bei der Königin von Neapel entledigte. Sie war aus Frankreich mit zwei Briefen abgereist – einem an Marie Karoline, und dies war der, welchen sie ihr soeben zugestellt, und einem zweiten an die Herzogin von Parma. Da Parma auf dem Wege nach Neapel lag, so war der für die Herzogin von Parma bestimmte Brief notwendig zuerst abgegeben worden. Als Inglesina in Parma angelangt war, hatte sie erfahren, daß die Herzogin sich in Colorno, ihrem Landhause, befand. Sie machte sich demzufolge sofort dahin auf, und langte in dem Augenblicke an, wo die Herzogin ausreiten wollte. Sie winkte einem Diener, der sich ihrem Wagen näherte, und bat ihn, die Herzogin von ihrer Ankunft zu unterrichten. Der Diener ging auf die Herzogin zu und meldete ihr, daß eine junge Dame, die soeben aus Paris angekommen, sie zu sprechen wünsche und einen Brief überbrächte, den sie nur der Herzogin selbst zustellen könne. Inglesina folgte mit den Augen dem Diener, der ihr Vermittler geworden. Bei den Worten: »Eine junge Dame aus Paris« hatte sie gesehen, wie die Herzogin stutzte und unruhig ward. Sofort aber näherte sich diese dem Wagen und Inglesina wiederholte ihr, um weder von den Franzosen noch von den Italienern, welche die Herzogin umgaben, verstanden zu werden, auf deutsch, was sie ihr schon durch den Diener hatte sagen lassen, nämlich, daß sie von der Königin Marie Antoinette mit einem Briefe beauftragt sei, den sie nur ihr allein überreichen könne. Die Herzogin hatte Inglesina hierauf aufgefordert, den Wagen zu verlassen, und in den Palast hineinzugehen, in welchen sie ihr dann nachgefolgt war, und den Brief gelesen hatte, während die Botin einige Erfrischungen zu sich nahm. Kaum hatte die Herzogin die erste Zeile gelesen, so hatte sie auf italienisch ausgerufen: »O mein Gott, mein Gott! Alles ist verloren! Es ist zu spät!« So wie sie weiter las, rief sie von Zeit zu Zeit: »Vergebens! völlig vergebens! Sie sind alle verloren!« Dann setzte sie, sich zu Inglesina wendend, hinzu: »Es tut mir leid, daß es Ihnen nicht möglich ist hier zu bleiben und ein wenig auszuruhen. Wenn Sie aber nach Parma zurückkommen, so wird es mir sehr angenehm sein, Sie wiederzusehen!« Dann zog sie ihr Tuch, trocknete sich eine Träne und sagte: »Die Umstände sind gegenwärtig von der Art, daß ich, wenn ich diesen Brief beantworten wollte, nicht bloß mich, sondern auch meine Schwester und Sie selbst bloßstellen würde.« Mit diesen Worten stieg sie wieder zu Pferde, wünschte Inglesina glückliche Reise und galoppierte davon. Inglesina setzte ihren Weg weiter fort. Allerdings fand sie die Herzogin von Parma in bezug auf die Gefahren, in welchen ihre Schwester schwebte, ein wenig kalt; da ihr aber natürlich daran lag, so bald als möglich in Neapel anzulangen, so reiste sie schnell weiter, ohne sich die mindeste Ruhe zu gönnen.
Nach den Enttäuschungen kamen die Katastrophen. Inglesina reiste, wie schon bemerkt, in einer Postchaise mit einem Diener auf dem Kutschbock. Dieser Diener hatte unter seinen Füßen die Kassette, in welcher die Reisende ihr Geld und ihre sonstigen Kostbarkeiten verwahrt hielt. Da sie bei Tage in Rom ankommen wollte, so schickte sie ihren Diener voraus, um Pferde zu bestellen. Da aber nun niemand mehr da war, der die Kasse bewachte, so ward sie zwischen Aqua Pendente und Monte Rosa gestohlen, so daß sie bei ihrer Ankunft in Rom gerade noch so viel Geld hatte, um die Post bezahlen zu können, aber keinen Heller, um ihre Reise nach Neapel fortzusetzen. Zum Glück hatte sie einen Empfehlungsbrief an die Herzogin von Paoli, welche in Fontana Trevi wohnte. Am Morgen vor ihrer Ankunft hier begab sie sich daher zu der Herzogin, übergab ihr ihren Brief und erzählte ihr ihr Unglück. Die Herzogin lieh ihr hundert Dukaten, womit sie ihre Reise fortsetzte. Inglesina wußte wohl, daß sie, sobald sie nur einmal in Neapel wäre, dann nichts mehr brauchen würde. Die Herzogin gab ihr überdies einen Empfehlungsbrief und zwar an niemand anders als an Sir William. Da Inglesina nicht mußte, wer ich war, so fragte sie mich, ob ich den englischen Gesandten kenne, ob dies ein gefälliger Mann sei, und ob ich sie an ihn empfehlen könnte. Zu Inglesinas großem Erstaunen bestand meine Antwort darin, daß ich den an Sir William gerichteten Brief entsiegelte. Die Herzogin von Paoli bat Sir William darin, alle notwendigen Nachforschungen anstellen zu lassen, damit die arme Inglesina wieder in den Besitz ihrer Kassette käme. Da ich nicht wußte, ob ich Sir William vor dem Abgange des kaiserlichen Kuriers, welcher wieder durch Rom kam, und auf den nächstfolgenden Morgen bestellt war, sehen würde, so ergriff ich eine Feder und schrieb an den englischen Konsul in Rom, indem ich ihn bat, bei den päpstlichen Behörden darauf zu dringen, daß alle nötigen Schritte getan würden, nicht wie sie gewöhnlich zu geschehen pflegten, sondern mit Ernst und Nachdruck. Ich bezeichnete die beiden Postillone als die Personen, welche vor allen Dingen festgenommen werden müßten, denn Inglesina hatte mir gesagt, daß man sie ihr als Diebe von Profession bezeichnet. Als ich den Brief beendet hatte, gab ich ihn Inglesina zu lesen, welche, als sie ihn mit »Lady Hamilton« unterzeichnet sah, das ganze Geheimnis meiner Indiskretion durchschaute. Gleichzeitig zog ich von meinem Finger einen schönen Brillantring, den ich sie bat, zum Andenken an die originelle Weise anzunehmen, auf welche wir miteinander Bekanntschaft gemacht. Als wir noch so miteinander sprachen, trat die Königin ein und hatte die Güte, sich selbst bei Inglesina zu erkundigen, ob ich auch gut Sorge für sie getragen. Inglesina antwortete, indem sie lebhaft meine Hand ergriff und dieselbe küßte, ehe ich noch Zeit hatte, es zu verhindern. Die Königin fragte weiter, und Inglesina ersah daraus, daß sie an den Ereignissen in Frankreich und an den Gefahren, in welchen ihre Schwester schwebte, ein ganz anderes Interesse nahm, als die Herzogin von Parma. Als die Königin dann sah, wie die arme Inglesina trotz der Ehrfurcht, welche die Nähe der Königin ihr einflößte, stehend einschlief, gestattete sie ihr, sich zu Bett zu legen. Unter der Tür rannte Inglesina aber fast mit dem General Acton zusammen, welcher, obschon erst auf morgen bestellt, doch, weil er wußte, daß es sich um einen Boten oder vielmehr um eine Botin aus Frankreich handle, eiligst herbeikam, um seinen Eifer zu beweisen und sich der Königin zur Verfügung zu stellen. »Ich bitte um Verzeihung, Madame,« sagte er, »eben wollte ich mich anmelden lassen, als Mademoiselle die Tür öffnete und ich mich Ew. Majestät gegenüber sah.« – »Kommen Sie schnell, General!« sagte die Königin. »In solchen Augenblicken wie diese kann von Etikette keine Rede mehr sein. Sie wissen, was vorgeht, Sie wissen, daß meine Schwester und ihr Gemahl Gefangene in den Tuilerien sind. Ludwig der Sechzehnte befindet sich genau in derselben Lage wie Carl der Erste von England. Man wird ihm den Kopf abschlagen wie diesem.« – »O Madame,« sagte der General, »glauben Sie, man übertreibt.« – »Kommen Sie noch einmal herein, Inglesina, kommen Sie noch einmal herein,« rief die Königin, »und sagen Sie ihm wie die Dinge stehen. Diese Kaltblütigkeit könnte mich zur Verzweiflung bringen.« – »An welchem Tage haben Sie Paris verlassen?« fragte der General die wieder eintretende Inglesina. – »Nun, mein Gott,« rief die Königin ungeduldig, »an dem Tage, wo alles verloren war.« – »Ich bitte Majestät, lassen Sie diese junge Dame sprechen,« sagte Acton, »und Sie werden sehen, daß nicht alles verloren ist. Haben Sie ein wenig Geduld.« – »Geduld!« sagt« die Königin, »Geduld! Seit der Einnahme der Bastille, das heißt seit zwei Jahren, höre ich von nichts anderem sprechen.«
Sie sank auf einen Sessel, wendete sich zu Inglesina, welche durch diese Gemütsbewegung der Königin vollständig wieder munter gemacht worden, und sagte: »Erzählen Sie ihm alles, und wenn er wissen wird, was ich weiß, so wollen wir sehen, ob er wieder wagen wird zu sagen: »Geduld!« Sowie Inglesina sprach, machte die Königin Bewegungen mit dem Kopfe und fragte wiederholt: »Nun? nun? nun?« Dann als die Botin geendet hatte, sagte sie: »Ich habe einen Brief von meinem Bruder, dem Kaiser empfangen. Er schreibt mir, daß er am 27. August in Pillnitz eine Unterredung mit dem König Friedrich Wilhelm von Preußen haben wird. Schreiben Sie ihm im Namen des Königs Ferdinand, daß wir im voraus allem beitreten, was er tun wird, und daß er auf fünfundzwanzigtausend Mann und fünfundzwanzig Millionen rechnen kann.« Der General lächelte. »Die fünfundzwanzigtausend Mann wären allerdings möglich,« sagte er, »das Geld aber wird etwas schwieriger aufzutreiben sein. Die Kassen sind leer, das wissen Sie selbst, Madame.« – »Gut, man wird sie aber wieder füllen, sollte man auch zu diesem Zwecke die Krondiamanten veräußern. Übrigens, wenn Sie dies dem Kaiser nicht im Namen des Königs Ferdinand schreiben wollen, so schreibe ich es ihm in dem meinigen, oder vielmehr, ich habe es ihm schon geschrieben. Hier ist der Brief.« – »Ew. Majestät wissen,« sagte der General Acton sich verneigend, »daß ich nie einer andern Meinung gewesen bin als der Ihrigen; ich möchte aber Ew. Majestät bemerklich machen, daß Mademoiselle« – hier deutete er auf Inglesina – »fast krank aussieht, so ermüdet ist sie.« – »Ich bin es weniger von meiner Reise als von meinem Kummer,« antwortete Inglesina, »wenn ich das Unglück bedenke, welches den erhabenen Personen droht, die ich vor so kurzer Zeit verlassen.« – »Gleichviel, gleichviel,« sagte die Königin, »begeben Sie sich auf Ihr Zimmer, legen Sie sich zu Bett und schlafen Sie vierundzwanzig Stunden, wenn Sie können.« – Die arme Inglesina war in der Tat kränker, als sie es selbst glaubte, oder als sie es gestehen wollte. In der Nacht ward sie von einem heftigen Fieber ergriffen und sah sich genötigt, acht Tage lang das Bett zu hüten.
Während dieser Woche ließ die Königin keinen Tag vergehen, wo sie nicht selbst die Kranke in ihrem Zimmer besucht und sich selbst nach ihrem Befinden erkundigt hätte. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß trotz aller Nachforschungen, welche wir, Sir William Hamilton und ich, anstellen ließen, Inglesinas Kassette nicht wieder gefunden ward. Wir erfuhren bloß, daß einer der beiden Postillone der Pate eines Kardinals war, was ihm gestattete, das Handwerk eines Diebes und das eines Postillons gleichzeitig auszuüben.
Nach Verlauf von acht Tagen reiste Inglesina, vollkommen wiederhergestellt, nach Frankreich zurück. Sie nahm einen in Chiffern geschriebenen Brief von der Königin von Neapel an die Königin Marie Antoinette mit.
Am 27. August hatte der Kaiser Leopold in Pillnitz mit dem König Friedrich Wilhelm die verabredete Zusammenkunft. Nur die beiden Zeugen, welche dieser Unterredung beiwohnten, hätten sagen können, worin der Zweck derselben bestand. Der eine derselben war Herr von Bouillé, welcher dem König einen so großen Beweis von Anhänglichkeit in Varennes gegeben, wo er bis zum letzten Augenblicke versuchte, ihn den Händen des Volkes zu entreißen. Der andere war Herr von Narbonne, jener schöne Kriegsminister, den Frau von Staël erfunden, welche einen Augenblick lang hoffte, ihr Genie diesem hohlen Kopfe einzupflanzen. Ein Geheimnis, welches das Geschwätz der Hofschranzen ziemlich durchsichtig gemacht, umgab die Geburt dieses schönen Mannes, welcher, wie man behauptete, nichts anderes war als die Frucht eines Inzests zwischen dem König Ludwig dem Fünfzehnten und seiner Tochter Madame Adelaide, welche damals in Rom war und die wir acht Jahre später mit ihren beiden Schwestern in Palermo sehen sollten. Mittlerweile begannen die Nachrichten aus Frankreich ein wenig günstiger zu lauten. Die Nationalversammlung hatte die konstitutionelle Akte beendet, welche später unter dem Namen der Konstitution von 91 bekannt war. Am 14. September hatte der König sich in die Konstituante begeben und die Konstitution beschworen, indem er sich verpflichtete, sie mit aller auf ihn übertragenen Macht aufrecht zu erhalten. Sofort und als ob die Nationalversammlung nur darauf gewartet hätte, daß dieser feierliche Akt die Nation mit dem König wieder aussöhne, ward Ludwig dem Sechzehnten erlaubt, alle Befehle zu erteilen, die er für seine Sicherheit und die Würde seiner Person angemessen erachten würde. Die Siegel wurden in seinen Gemächern wieder abgenommen und der Garten ebenso wie das Schloß der Tuilerien dem Publikum wieder geöffnet.
Dennoch wurden die Kriegsrüstungen von seiten des Königs von Preußen, des Kaisers Leopold und des Königs Ferdinand deswegen nicht weniger eifrig betrieben, als plötzlich drei im höchsten Grade unerwartete Neuigkeiten am Hofe von Neapel aufeinander folgten. Man erfuhr nämlich, daß der Kaiser Leopold am 1. März gestorben, daß Gustav der Dritte, König von Schweden, am 16. desselben Monats ermordet worden und endlich, daß am 20. April Frankreich an Franz den Ersten, König von Böhmen und Ungarn, den Krieg erklärt hatte. Ich weiß nicht, ob in der Gemütsverfassung, in der die Königin sich befand, der Tod ihres Bruders Leopold ihr sehr schmerzlich war. Trotz des Vertrags von Pillnitz, trotz der äußerlichen Kriegsrüstungen behauptete man leise, es bestünde zwischen dem französischen Minister Delmare und dem Kabinett von Wien ein geheimes Einverständnis zur Aufrechterhaltung des Friedens. In seiner Eigenschaft als Philosoph liebte Leopold den Krieg nicht und war auch übrigens nicht bereit, einen zu führen. Der Kaiser Franz dagegen, der Neffe der Königin, welcher seinem Vater folgte, repräsentierte die Konterrevolution vollkommen und war ganz der Mann, wie Marie Karoline für ihre Pläne ihn brauchte. Sofort nach dem Tode des Kaisers Leopold war der Gesandte Frankreichs in Wien, Herr von Noailles, fast Gefangener in seinem eigenen Palaste. Was Preußen betraf, so war man dieses Staates sicher. Unter seinem Schutze manövrierten die Emigrierten und bei einer öffentlichen Audienz hatte der König Friedrich Wilhelm Herrn von Ségur, dem Gesandten Ludwig des Sechzehnten oder vielmehr der Nationalversammlung, den Rücken zugekehrt und den Gesandten von Coblenz, das heißt der französischen Prinzen, gefragt, wie sich der Graf von Artois befände. Die Ermordung Gustavs von Schweden war allerdings ein großes Verbrechen, aber kein großes Unglück, wenigstens nicht für die Sache der Könige. Erstens nahm man ganz unrichtigerweise an, Gustav sei von den Revolutionären ermordet wurden. Dies war nicht der Fall, gleichwohl aber fand dieses Gerücht Glauben und brachte ein Verbrechen mehr auf Rechnung unserer Feinde. Allerdings hatte man ihn als den künftigen Oberanführer der Gegner der Revolution bezeichnet, aber war er wohl sehr zu fürchten? Man glaubte, er hasse Frankreich, wie ein Mann eine treulose Geliebte haßt, und sein Hauptgedanke, als er starb, war, zu wissen, was Frankreich von seinem Tode denken würde.
»Was wird Brissot sagen?« murmelte er, indem er seinen letzten Seufzer aushauchte. Was die Kriegserklärung Frankreichs an Österreich betraf, so ward sie, weil augenscheinlich das Girondistenministerium, aber nicht der König diesen Krieg erklärte, und dieser Erklärung übrigens ein Ultimatum des Kaisers Franz zu Grunde lag, welches Frankreich unmöglich annehmen konnte, und weil endlich dieser Krieg alle Wünsche der Königin erfüllte, eher als eine gute denn als eine schlimme Nachricht aufgenommen. Die doppelte Trauer, welche man in Neapel wegen des Todes des Kaisers von Österreich und der Ermordung des Königs von Schweden trug, war daher nach meiner Ansicht mehr eine Hof- als eine Herzenstrauer.
Zu der Zeit, wo ich bei meiner Rückkehr von Wien mit Sir William und Lord Nelson, also 1801, durch Deutschland reiste, sah ich den Mann in der Verbannung, welcher 1792 den König Ludwig den Sechzehnten zu dem Entschlusse bewogen, Österreich den Krieg zu erklären. Dieser Mann war Charles François Dumouriez, der zu unserem Unglück Frankreich bei Balmy und Jemappes rettete. Ich hatte am Hofe von Neapel so viel von ihm sprechen hören, daß ich ihn mit der größten Aufmerksamkeit betrachtete und mir kein Wort von dem Gespräch, welches er mit Mylord führte, entgehen ließ. Wenn ich bei dieser Epoche meines Lebens angekommen sein werde, werde ich den Eindruck schildern, den er auf mich machte.
Wir haben gesagt, daß nach dem Schwure, den man der Verfassung geleistet, eine Art Frieden sich zwischen der Versammlung, welche die Nation, und dem König, welcher das göttliche Recht repräsentierte, gebildet hatte, aber wider seinen Willen und den der Königin fortgerissen, hatte der König sich zum Vorkämpfer der revolutionären Prinzipien von 89 gemacht. Wir hätten sagen sollen, es sei ein Waffenstillstand gewesen. Bei der ersten besten Gelegenheit, sollte dieser Waffenstillstand gebrochen werden. Diese Gelegenheit bot sich bei der Entlassung der Minister, welche den Krieg hatten erklären lassen. Zu Ende des Juni erfuhren wir durch einen Brief der Königin Marie Antoinette selbst den Sturm auf die Tuilerien durch die Faubourgs Saint-Antoine und Saint-Marceau, unter der Anführung des berüchtigten Santerre, der, wie Cromwell, erst gewesen, aber, da ihm das Genie des Protektors fehlte, auf dem dritten Teil des Weges, den der Abgesandte der Universität von Cambridge durchlief, innehalten mußte. Dieser Brief war der vorletzte Verzweiflungsschrei Marie Antoinette's. Wir hörten nicht den letzten, den sie am 10. August ausstieß. Vom 1. Juli 1792 an erhielt die Königin Karoline nur indirekte Nachrichten über ihre Schwester und man sah von dem, was in Frankreich vorging, nicht mehr, als wie man zuweilen einen Blitz durch Gewitterwolken hindurchsieht.
Der Brief der Königin Marie Antoinette war lang, er erklärte, wie Ludwig der Sechzehnte in den Krieg mit Österreich eingewilligt und wie er denselben der Nationalversammlung zuerst vorgeschlagen. Marie Karoline vermutete wohl, daß ihr Schwager diesen Schritt nur widerstrebend getan, sie kannte aber nicht genau die Lage, in welcher er sich befand. Der Brief ihrer Schwester schilderte ihr dieselbe in aller ihrer Klarheit. Der König, den die Jakobiner, vor allem Robespierre, beschuldigten, er wolle den Krieg, wollte ihn in Wirklichkeit weniger als sonst jemand. Er hatte allerdings in einem Kriege alles zu verlieren, und die Königin erklärte das sehr gut. Ein Sieg Lafayette's oder irgend eines anderen Generals richtete den Thron nur wieder auf, um ihn unter Vormundschaft zu stellen; auf der anderen Seite erbitterte eine Niederlage ganz Paris, führte Aufruhr in den Straßen herbei und trieb ihn von den Straßen bis in die Tuilerien, wo er noch nicht hingedrungen war, denn natürlich würde der König beschuldigt werden, diese Niederlage vorbereitet zu haben, oder sich doch wenigstens darüber zu freuen. Kurz, wenn der König nicht in dem Sturm unterging, wenn das Königtum von Gottes Gnaden triumphierte, zu wessen Nutzen triumphierte es denn? Zum Nutzen Monsieurs und der Emigration, denn Monsieur verbarg seine Absichten nicht länger. Monsieur wollte die Abdankung Ludwig des Sechzehnten und die Regentschaft bis zur Mündigkeit des Dauphin. Besonders die Königin hatte alles zu fürchten, und obgleich ihr energischer Charakter, der dem Marie Karolinens sehr ähnelte, dazu beitrug, daß sie sich mutig der Gefahr entgegenstellte, verhehlte sie sich doch nicht, daß sie weder in Paris noch im Ausland Freunde hatte.
In Paris hatte man sie abwechselnd Madame Defizit oder Madame Veto genannt und das gesamte Volk war ihr Feind. In Koblenz hatte man beschimpfende Lieder auf sie gedichtet und ihre Todfeinde waren Monsieur und der frühere Minister Calonne, der, nachdem er ihr Diener gewesen, sie jetzt haßte und den Grafen Artois für sich gewonnen hatte, der ihr ehemals freundlich gesinnt gewesen, jetzt aber zu ihren Feinden übergegangen war. So war das siegreiche Frankreich für Marie Antoinette wahrscheinlich die Absetzung. Siegten die Fürsten, so war es noch schlimmer, denn dann blieb ihr nichts übrig, als das Kloster. Der König von Frankreich hatte am 20. April Österreich den Krieg erklärt. Am 28. hatte bei Quiévrain das erste Treffen stattgefunden. Die Revolutionäre waren geschlagen worden, und hatten in einer Scheune den General Theobald Dillon ermordet, den Bruder des schönen Arthur Dillon, den man für den ersten Geliebten Marie Antoinettens ansah. Ja, der Haß gegen die arme Königin von Frankreich war so groß, daß die Soldaten, welche Theobald mit Arthur verwechselten, diesen aus Haß gegen seinen Bruder umbrachten und über Verrat schrien. Der andere war noch unglücklicher; er starb 1794 auf dem Schafott. Unglücklicherweise wußten die Preußen keinen Nutzen aus diesen ersten Siegen zu ziehen. Sie besaßen ein so großes Selbstvertrauen, daß der Herzog von Braunschweig, an den die Königin geschrieben, um ihren Schwager und ihre Schwester zu empfehlen, ihr antwortete: »Eure Majestät möge sich beruhigen. Wir sind im Begriff nicht einen Krieg zu führen, sondern einen militärischen Spaziergang zu machen. Unsere Tagemärsche sind im voraus bezeichnet und ungefähr am 15. September werden wir in Paris sein.« Und wirklich nahm der General Clerfayt am 23. August Longwy nach einem vierundzwanzigstündigen Bombardement und am 2. September nahm der König von Preußen selbst Verdun und rückte gegen Paris. Vor diesen etwas beruhigenden Nachrichten jedoch hatten wir unheilvolle Mitteilungen erhalten. Am 10. August waren die Tuilerien mit Sturm genommen und am 13. der König mit der königlichen Familie in den Temple gebracht worden. Dann kam die Nachricht von dem Blutbad in den Gefängnissen. Im ersten Augenblicke meldete man der Königin, daß alle Gefangenen gemordet worden seien, daß man keine einzige Ausnahme gemacht hätte, und daß der König und die Königin mit den anderen umgekommen seien. Marie Karoline glaubte vor Wut und Schmerz wahnsinnig zu werden. Zugleich aber erhielt man einen Brief von Herrn v. Breteuil, dem Agenten Ludwig des Sechzehnten, und einen anderen von Herrn v. Mercy-Argenteau, welche die Königin von Neapel in bezug auf diesen Punkt beruhigten, indem sie ihr meldeten, daß der König und die Königin noch lebten, daß man aber davon spräche, gegen den König einen Prozeß einleiten zu wollen. Herr von Mercy-Argenteau meldete unter anderem in einem Postskriptum, daß die Vendée sich empört hätte. So hatten die Republikaner das Schwert des Auslandes vor den Augen, den royalistischen Dolch in der Flanke.
Zu gleicher Zeit hörten wir von dem Sieg bei Balmy, von der Proklamation der Republik, der Anklage gegen den König und dem wahrscheinlichen Frieden mit Preußen. Der militärische Spaziergang Seiner Majestät des Königs Friedrich Wilhelm hatte sich nicht über die Grenze des Argonnerwaldes ausgedehnt und im Lager von la Lune Halt gemacht. Jetzt entschloß sich Marie Karoline die neapolitanische Regierung mit ins Treffen zu führen. Das erste Zeichen von Feindseligkeit, welches der König Ferdinand der neuen Republik gab, war die Weigerung, sie in der Person ihres Gesandten, des Bürgers Mackau, anzuerkennen und in Konstantinopel den Bürger Sémonville auf dieselbe Weigerung stoßen zu lassen. Hierauf ließ die Königin durch den General Acton eine Note an Venedig und Sardinien verfassen. Diese Note, welche auf eine italienische Liga hinzielte, war in folgenden Worten abgefaßt:
»In welcher Lage sich die deutschen Truppen am Rhein auch befinden mögen, so ist es doch für Italien sehr wichtig, in den Alpen Kräfte zu haben, die ihm zum Schütze dienen und die Franzosen verhindern, entweder wenn sie an anderen Punkten besiegt werden, eine verzweifelte Diversion zu machen, oder als Sieger bei den Verfolgungen ihrer Feinde die italienischen Staaten zu beunruhigen. Wenn das Königreich Neapel, Sardinien und Venedig sich zu diesem Zwecke verbündeten, würde sich der Papst ganz gewiß der heiligen Sache anschließen, die kleinen Mittelstaaten würden, sie möchten nun wollen oder nicht, der allgemeinen Bewegung folgen und aus diesem Bunde würden eine Menge Kräfte hervorgehen, die fähig wären, Italien zu verteidigen und ihm Einfluß und Gewicht in den Kriegen und Kabinetten Europas zu verleihen. Der Zweck dieser Note ist der, die Gründung einer Konföderation vorzuschlagen, in welcher der König beider Sizilien die größte Verantwortlichkeit übernehmen würde, obgleich er der letzte ist, den die Waffen Frankreichs erreichen können. Er glaubt jedoch die italienischen Fürsten daran erinnern zu müssen, daß die Hoffnung, einzeln der Gefahr eines feindlichen Einfalls zu entschlüpfen, stets der Untergang Italiens gewesen ist.«
Man hatte soeben die Antwort Sardiniens, welches diesen Vorschlag annahm, erhalten und man erwartete die Antwort Venedigs, als am 16. Dezember, als die Minister mit Sir William Rat hielten und ich soeben das Frühstück mit der Königin eingenommen hatte, die am Fenster stand und zerstreut auf den Scheiben trommelte, sie mich plötzlich rief und mir das Meer zwischen dem Pausilippo und Capri ganz mit Schiffen bedeckt zeigte. »Was ist denn das?« fragte sie mich. Ich blickte hin und wußte ebensowenig wie sie. Als das Geschwader aber Neapel in Sicht bekam, hißte man die dreifarbigen Flaggen auf, die in Neapel so verhaßt waren, und man erkannte eine französische Flotte. In diesem Augenblicke vernahmen wir schnelle Schritte im Vorzimmer, die Tür ward heftig aufgerissen, der König kam sehr bleich und aufgeregt hereingestürzt und indem er sich in einen Lehnstuhl warf, sagte er, indem er auf einige Schiffe zeigte, die mit vollen Segeln daherkamen: »Sehen Sie, Madame, das ist Ihr Werk!« Jetzt ward die Königin ebenfalls sehr bleich, aber vor Zorn, ihre Unterlippe verzog sich verächtlich und indem sie ihrem Gemahle ins Gesicht sah, sagte sie mit gerunzelter Stirn: »Wollen Sie mir die Gnade erweisen, sich zu erklären, denn ich verstehe Sie nicht.« – »Zum Teufel!« schrie der König, »ich dächte doch, das wäre leicht zu verstehen! Sie haben mich bewogen, Monsieur Magot nicht zu empfangen,« – der König verunstaltete in seinem neapolitanischen Dialekte, mochte dies nun absichtlich geschehen oder nicht, den Namen des Gesandten der französischen Republik – »Sie haben mich bewogen, an meinen guten Freund, den Sultan zu schreiben, den ich niemals gesehen, dessen Beys von Tunis, von Marokko und von Tripolis meine Untertanen rauben und auf ihren Galeeren rudern lassen; Sie haben mich bewogen, sage ich, an meinen Freund, den Sultan zu schreiben, daß auch er Monsieur Sémonville nicht empfangen sollte, und er hat nicht unterlassen, sich dieses Vergnügens zu berauben; Sie haben mich an die Spitze einer Konföderation der italienischen Fürsten, von welchen die Hälfte mich in der Gefahr sitzen lassen wird, gestellt, um eine Koalition gegen Frankreich zu bilden. Nun, Frankreich ist entrüstet und schickt mir eine Flotte; wozu das, mag Gott wissen! Vielleicht um Neapel zu bombardieren!« – »Und was dann?« fragte die Königin.
»Wie, was dann? Was dann, nachdem Neapel bombardiert worden?« – »Neapel wird bombardiert werden, wenn es sich nicht verteidigt.« – »Im Gegenteile, Madame, es wird bombardiert werden, wenn es sich verteidigt.« – »So wollen Sie die Franzosen also in den Hafen kommen lassen, ohne eine Kanone abzufeuern?« – »Das glaube ich wohl! Erstens taugt das Pulver, welches man in Neapel fabriziert, nichts, da zehnmal mehr Kohle als Salpeter darin enthalten ist. Wenn ich mit neapolitanischem Pulver schießen ließe, so würde kein Drittel der Schüsse treffen, und deshalb lasse ich auch mein Pulver aus England kommen.« – »Dann haben Sie also wohl befohlen –« – »Daß man dem Admiralschiffe entgegengehe, um den Kommandanten der Flotte daran zu erinnern, daß ein alter Vertrag nur sechs französischen Kriegsschiffen die Einfahrt in den Kriegshafen gestattet.« – »Nun, das muß ich sagen!« rief die Königin. – »Warten Sie doch! – Um ihm jedoch zu sagen,« fuhr der König fort, »daß es einmal noch keine Gewohnheit ist, und daß ich ihn bitte, mich, ehe ein Offizier der Flotte ans Land steigt, wissen zu lassen, welchem glücklichen Umstande ich die Ehre seines Besuches zu verdanken habe.« – »Du hörst es, Emma!« rief die Königin ungeduldig, indem sie mit dem Fuße stampfte. Der König tat, als ob er diese Bewegung der Königin nicht bemerkte. »Und,« sagte er, »der Kapitän François Caracciolo wird in der königlichen Jolle meinen Auftrag ausführen.« – »Ich bewundere Sie!« sagte die Königin spottend. »Sie schicken einen Fürsten zu Republikanern.« – »Madame, da ich voraussetze, daß die französische Republik mir das Beste sendet, was sie hat, so schicke ich auch ihr das Beste, was ich besitze. Sehen Sie diese Halunken von Franzosen! Sie fürchten sich vor nichts, diese Teufel von Jakobinern! Dort wirft das Admiralschiff in halber Schußweite vom Kastell d'Uovo Anker. Sie müssen wissen, daß wir schlechtes Pulver haben, sonst würden sie sich nicht der Gefahr aussetzen, in den Grund gebohrt zu werden.« – »Ach nein,« murmelte die Königin, »das wissen sie nicht; sie wissen aber wahrscheinlich etwas anderes.« – »Daß ich unfähig bin, aus ihrer Unklugheit Nutzen zu ziehen?« sagte der König in dem spöttischen Tone, welcher machte, daß man nie erraten konnte, ob er spottete oder im Ernste sprach, ob er geistreich war, oder eine Dummheit sagte. »Sie haben recht, jene lieben Sansculotten! Ah, meiner Treu', da, entfaltet sich ja die ganze Flotte in Schlachtordnung; sie manöverieren wundervoll! Und wenn man bedenkt, daß seit acht oder zehn Jahren mein Marineminister, der General Acton, jährlich acht bis zehn Millionen verschlingt, indem er mir eine Flotte verspricht, die ich niemals erblicke. Mit hundert Millionen sollte ich eine dreifach so große Flotte als diese hier haben. Begeben Sie sich in den Staatsrat, Madame, und teilen Sie diese meine Bemerkung Herrn Jean Acton mit. Dann übt sie vielleicht eine größere Wirkung auf ihn aus, als wenn ich es täte; denn wenn ich, um es kurz zu sagen, eine dreifach so große Flotte als jene dort hätte, so schlecht unser Pulver auch sein möchte, so könnten wir uns verteidigen, während dies rein unmöglich ist, da wir nur schlechtes Pulver und fünf oder sechs armselige Schiffe haben, die hintereinander herfahren!« Die Königin, welche die Absicht des Königs wohl verstand, biß sich auf die Lippen, daß sie beinahe bluteten, denn der König sagte ihr zugleich damit: »Du hast einen Gatten, der ein Feigling, und einen Geliebten, der ein Dieb ist.« – »Sie haben recht, mein Herr,« sagte sie. »Ich werde in den Rat gehen und in dem Sinne sprechen, in welchem Sie es wünschen.« – »O, Sie haben Zeit! Sehen Sie, dort steigt Caracciolo allein an Bord. Sehen Sie nur, wie das gute Volk sich dafür interessiert! Ganz Neapel ist auf den Kais. Das schöne Gemetzel, wenn man sich schlüge! Freilich würde das ganze Gesindel sehr bald Reißaus nehmen.« – »Der unbarmherzige Zyniker!« murmelte die Königin. – »Hörst du ihn? Ich glaube, daß er, wenn er niemanden hätte, über den er spotten könnte, sich selbst verspotten würde.« – »Zum Teufel!« sagte der König, »die Unterredung hat nicht lange gedauert; da steigt Caracciolo schon wieder in seine Jolle. Noch vor zehn Minuten wird er hier sein. Erweisen Sie uns die Ehre, dem Rat beizuwohnen, Madame? Sie wissen, daß Sie das Recht dazu haben, seitdem Sie der Krone einen Erben gegeben. Sie haben selbst Tannucci daraus verstoßen, indem Sie von diesem Ihrem Rechte Gebrauch machten. Er war für die französische Politik, und Sie waren für die österreichische. O, wenn er doch hier wäre; er könnte uns einen guten Rat geben!« – Und der König verließ das Zimmer, indem er den Kopf schüttelte und sagte: »Armer Tannucci!«
Ich mußte gestehen, daß ich wie versteinert war. Ich wußte wohl, daß der König von Neapel sich wenig um seine Würde kümmerte, ich glaubte aber nicht, daß er sich so weit vergessen könnte. Ich sah die Königin an. »Werden Sie gehen, Madame?« fragte ich sie. – »O gewiß, ja, ich werde gehen,« erwiderte sie. »Und du wirst mich begleiten.« – »Ich, Madame, und mit welchem Rechte?« – »Du wirst mitkommen,« sagte die Königin ungeduldig. »Ich will, daß du Sir William den ganzen Hergang der Dinge erzählen und ihm sagen könnest, wer der Mann ist, ob der König oder die Königin.« – Hierauf gab es keine Antwort; das war keine Einladung, das war ein Befehl. Ich folgte der Königin, und fünf Minuten später traten wir in den Staatsrat. Dieser Rat bestand aus dem General Acton, Carlo von Marco, Ferdinando Corradini, Saverio Simonetti und dem neuen Regenten der Vicaria, Ludovico von Medici. Gewöhnlich präsidierte der König diesem Rat, man weiß jedoch, in welcher Weise. Er erschien nämlich und verschwand. Ferdinand hatte die Zeit richtig berechnet, in welcher der Kapitän Caracciolo vom französischen Admiralschiff zurückkommen könnte, denn kaum hatte die Königin an dem Tische dem König gegenüber Platz genommen, und kaum hatte ich mich in eine Ecke gesetzt, als die Tür sich öffnete und man den General anmeldete.
Ich sah den Mann zum ersten Mal, an dessen Tode ich sieben Jahre später einen so grausamen Anteil nehmen sollte. Caracciolo war damals ein Mann von vierzig Jahren mit schwarzen Augen und scharf ausgeprägten Gesichtszügen. Es lag etwas Strenges und Gebieterisches in seinem Wesen, woran man sofort den Patrizier von Geblüt erkennen konnte. Er war wirklich ein Fürst oder stammte vielmehr von den Fürsten Caracciolo ab, deren Vorfahren die berühmten Caraccioli waren, die eine so große Rolle in den Bürgerkriegen von Neapel spielten. Einer von ihnen, Sergiani, war der Geliebte der Königin Johanna II. und ward im Kastell Capuano ermordet, aus Rache für eine Ohrfeige, die er in einem Augenblicke des Zornes seiner königlichen Herrin zu geben gewagt. Er trat ein, sah sich um, schien mit Erstaunen zwei Frauen, deren eine fremd war, dem Rate beiwohnen zu sehen, verneigte sich tief und blieb stumm.
»Nun?« fragte Ferdinand ungeduldig. – »Befiehlt mir der König zu sprechen?« fragte Caracciolo. – »Bedarfst du denn eines Befehles, um dem König eine Antwort zu geben?« – »Der König war allein, als er mich absandte.« – »Ja,« sagte die Königin, »und jetzt ist der König nicht mehr allein. Es scheint mir jedoch, daß Sie die Personen kennen müßten, vor denen Sie stehen.« – »Ich habe die Ehre, Ihre Majestäten und Ihre Exzellenzen zu kennen,« erwiderte Caracciolo mit fester Stimme, »allein ich habe nicht die Ehre, die Dame dort zu kennen.« – »Diese Dame ist meine vertraute Freundin,« sagte die Königin. – »Dieser Titel flößt uns Ehrerbietung ein, Madame,« erwiderte der Fürst, indem er sich verneigte, »da es sich aber um Staatsangelegenheiten handelt« – »Wollen Sie dem Kapitän Caracciolo befehlen, zu sprechen, General?« sagte die Königin zu dem Minister Acton. »Ihr Befehl übt vielleicht eine mächtigere Wirkung aus, als die Bitte des Königs und die meinige.« – »Also sprich!« befahl der König. – »Sire,« erwiderte Caracciolo, »der Offizier, welcher die französische Flotte befehligt, ist der Admiral von Latouche-Tréville.« – »Wer ist denn dieser Admiral von Latouche-Tréville?« fragte Ferdinand. – »Einer der besten Seeleute der französischen Flotte, Sire. Er war es, der 1781 mit dem Kapitän La Pérouse – La Pérouse befehligte die »Astrée« und er die »Hermione« – einen fünfstündigen Kampf gegen vier Fregatten und zwei englische Korvetten aushielt und trotz der überlegenen Anzahl des Feindes die Palme des Tages davontrug.« – »Und was will er hier?« – »Er hat sich geweigert, mir das zu eröffnen, Sire, aber zugleich gesagt, daß er in einer Stunde seinen Sekundanten senden wolle, der Ihnen in bezug auf diesen Gegenstand Aufklärung geben würde.« – »Nun, meine Herren,« sagte der König, »so wollen wir die Erklärung des Herrn – Verzeihung, ich versprach mich – des Bürgers Latouche-Tréville abwarten.« – »Ich fürchte, Sire,« sagte Acton, »daß wir von einer ähnlichen Szene bedroht werden, wie der Admiral Marin sie zu Anfang der Regierung des erhabenen Vaters Ew. Majestät in dem Hafen von Neapel herbeigeführt, als er in Englands und Österreichs Namen der italienischen Regierung andeutete, daß er die Neutralität in dem italienischen Krieg zu wahren habe.« – »Ja, ja,« sagte Ferdinand, »der Offizier, der beauftragt war, im Namen des Kommodore zu sprechen, war sehr unverschämt. Er zog seine Uhr aus der Tasche, stellte sie nach der Pendule – es ist noch heute dieselbe – und gab dem König zwei Stunden Zeit, einen Neutralitätsvertrag zu unterzeichnen und einen Befehl an Montemar, mit seinen Truppen in das Königreich zurückzukehren, auszufertigen.« – »Und was tat denn der König, Ihr Vater?« fragte die Königin. – »Zum Teufel!« erwiderte Ferdinand, »er tat, was England forderte.« – »Weil zu dieser Zeit aber,« rief Caracciolo, der ganz vergaß, daß er gar nicht gefragt ward, »weil zu dieser Zeit, Sire, die Stadt ohne Verteidigung, ohne Verschanzungen, ohne Besatzung, ohne Verproviantierung, weil der Hof nicht militärisch war, weil die Minister zaghafte Männer waren, während jetzt –«
»Schweig!« befahl der König, »es hat niemand deine Meinung wissen wollen.« – »Sprechen Sie nur!« sagte die Königin. »Wir wollen uns belehren lassen.« – Dann wendete sie sich zum König und fragte: »Sie erlauben es, nicht wahr, Sire?« – »O, Sie wissen recht gut, daß ich alles erlaube,« erwiderte Ferdinand, »was mich aber nicht hindert, nach meinem Kopfe zu handeln,« setzte er hinzu, erhob sich und ging hinaus. – »Sie sagten, mein Herr,« hob die Königin wieder an, indem sie sich an Caracciolo wandte: »Während jetzt –«
»Während jetzt,« begann der Kapitän wieder, »die Stadt reichlich mit Kanonen, Soldaten, Waffen und Munition versehen ist. Mit einem gutgerichteten Feuer vom Castello d'Uovo und vom Castello Nuovo wird man die französische Flotte außer Bombenschußweite halten.« – »Der König behauptet, das Pulver tauge nichts,« sagte die Königin. – »Nun, Madame,« sagte Caracciolo, »dann versucht man zu entern. Wenn ich dreihundert Barken in dem Hafen erhalte, so will ich an der Spitze derselben das Admiralschiff angreifen.« – Der König trat wieder ein, und als er die letzten Worte Caracciolo's vernahm, zuckte er mit den Achseln. – »Ich bitte um Verzeihung, Majestät,« sagte Caracciolo, »die tunesischen und malaischen Korsaren machen es aber nicht anders.« – »Monsieur,« sagte die Königin, »um Gottes willen, schenken Sie dem Gehör, was der Kapitän sagt. Es handelt sich hier um die Ehre Ihrer Krone.« – »Überdies, Madame,« sagte Caracciolo, indem er sich zu der Königin wandte, die sich, wie er bemerkte, auf seine Seite neigte, »haben wir jetzt eine Jahreszeit, in welcher der Hafen von Neapel nicht zu behaupten ist. Nach der Kenntnis, die ich von unserem Klima habe,« fuhr er fort, indem er fragend zum Himmel blickte, »wollte ich darauf wetten, daß binnen vierundzwanzig Stunden ein Sturm die französische Flotte zwingt, das Weite zu suchen. Seine Exzellenz der Herr Kriegsminister, der selbst Seemann ist, kann bestätigen, daß ich die Wahrheit sage.« – »Antworten Sie, General,« sagte Karoline. – »Es liegt allerdings viel Wahres in dem, was Signor Caracciolo sagt, allein wir sind in die Enge getrieben.« – »Nein General,« hob der Kapitän wieder an, »denn sobald das erste Segel in Sicht kam, habe ich an Bord meiner Korvette alle Befehle so erteilt, als ob ich überzeugt gewesen wäre, daß dieses Schiff ein feindliches sei, und ich weiß, daß alle meine in dem Hafen stationierten Kameraden es eben so gemacht haben wie ich.« – »Nun, Sire,« fragte die Königin ihren Gemahl, der mit übergeschlagenen Beinen dasaß und seinen Fuß baumeln ließ, »was sagen Sie?« – »Sie sehen es ja, Madame,« erwiderte der König, »ich sage gar nichts.« – »Was tun Sie denn?« – »Ich warte.« –
In dem Augenblicke, in welchem der König das sagte, hörte man einen ersten, dann einen zweiten und dann einen dritten Kanonenschuß. »Ah,« rief die Königin, indem sie sich erhob und an das Fenster eilte, »es scheint, als ob das Castello d'Uovo Feuer gäbe.« – »Ja, Madame,« erwiderte Caracciolo, »jedoch nur blind. Das Castello d'Uovo begrüßt den Gesandten des Herrn von Latouche-Tréville. Und sehen Sie, das Castello Nuovo ahmt dem Castello d'Uovo nach.« – Wirklich folgten die Kanonenschüsse regelmäßig aufeinander, und man konnte die einundzwanzig Schüsse hören, welche der gewöhnliche Gruß befreundeter Mächte sind. – »Wollen Ihre Majestät mir erlauben, mich zurückzuziehen?« fragte Caracciolo, indem er sich an die Königin wandte. »Ich habe hier weiter nichts zu tun.« – »Ich ebensowenig,« sagte die Königin. »So will ich mich denn gleichfalls zurückziehen. Komm, Emma!«
Die Königin bedeutete mich, ihr zu folgen, ich gehorchte. Caracciolo trat zur Seite, um uns vorüber zu lassen, grüßte die Königin tief und ehrfurchtsvoll, als ich aber an ihm vorüberging, richtete er sich hoch auf und warf mir einen so verächtlichen Blick zu, daß die Schamröte mir ins Gesicht stieg. Das war die zweite Beleidigung, die er mir an diesem Tage zufügte. Die Königin ging schnell und ohne sich auch nur umzusehen, ob ich ihr folgte. Sie erreichte die Tür ihres Zimmers, stürzte hinein und sank auf ein Sofa, indem sie sich das Haar zerraufte. »Nun,« sagte sie, »du hast es gesehen! Mein Schwager Ludwig XVI. ist ein Löwe gegen diesen Menschen. O wieviel Schande werden wir hinunterschlucken müssen, meine arme Emma, wenn deine Regierung uns nicht zu Hilfe eilt.« – »Madame,« erwiderte ich, »ich bin nur eine arme Frau und mit der Politik sehr unbekannt, mir scheint es aber, als ob an allem diesem die Minister ebensoviel Schuld trügen, als der König.« – »Was du nur willst! Alle diese Männer sind nicht Minister, sie sind Lakaien. – Ah, mein armer Joseph, wenn du hier wärest, du würdest es nicht dulden, daß man deine Königin beschimpfte. – Hörst du, die Salven beginnen wieder. Die Republik faßt Fuß im Gebiete Neapels. – Wirklich, dieser Caracciolo ist eine mächtige Natur.« – »Mögen Ihre Majestät mir erlauben, ihn nur zu bewundern, ohne für ihn zu sympathisieren. Er ist nichts weniger als höflich gegen mich gewesen.« – »Alle Edelleute Neapels sind so – entweder kriechend wie die Lazzaroni oder stolz wie Barone des römischen Reiches. Diese Caraccioli behaupten, von den griechischen Kaisern abzustammen; sie sind stolz, aber doch wenigstens tapfer. Du hast diesen Caracciolo gesehen, man hätte ihm nur zu sagen brauchen, mit seiner »Minerva« das Admiralschiff anzugreifen, so hätte er sich darauf gefreut wie auf ein Fest. Mir gefallen unter allen Umständen solche Männer besser als jene Rohre, die sich unter jedem Lüftchen beugen.« – Die Königin näherte sich dem Fenster. – »Würde es dir nicht Vergnügen gemacht haben,« sagte sie, »von hier aus einem Gefechte zuzusehen? Sieh nur, mit welcher Unverschämtheit sie ihr revolutionäres Banner im Winde flattern lassen! ›Nehmen Sie diese Farben,‹ sagte Lafayette, indem er dem Könige seine Kokarde gab, ›Sie werden die Reise um die ganze Welt machen.‹ Ich hoffe, England wird nicht erlauben, daß diese stolze Prophezeiung in Erfüllung geht. O, wenn ich daran denke, daß am anderen Ende dieses Palastes ein Franzose uns Gesetze vorschreiben will, im Namen einer Regierung, welche meine Schwester gefangen hält und meinen Schwager vielleicht köpfen will, so werde ich wirklich wahnsinnig vor Wut.«
In demselben Augenblicke klopfte man leise an der Tür. Ein Türsteher meldete den englischen Gesandten. »Er möge eintreten! er möge eintreten!« rief die Königin. Dann reichte sie Sir William die Hand und sagte: »Ah, Sie kommen gerade zu rechter Zeit. Sie wissen doch, was bei uns vorgeht?« – »Ich weiß, was man erzählt, weiter nichts. Mögen Ihre Majestät mir aber erlauben, mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen.« – »Jetzt kommt auf mein Befinden nichts an! Jetzt muß man sich um das Befinden des Königreiches bekümmern. Wir sind sehr krank, mein lieber Hamilton, und wenn Monsieur Pitt uns nicht zu Hilfe kommt, so fürchte ich ernstlich, daß man uns, gleich wie meinem Bruder Ludwig XVI. am 20. Juni die rote Mütze über die Ohren zieht.« – »Monsieur Pitt, Madame« sagte Sir William, »wird Ihnen zu Hilfe kommen, daran zweifeln Sie nicht. Er folgt jedoch einem Systeme, welches ich nicht billigen kann, da es den Wünschen Ihrer Majestät zuwiderläuft. Mr. Pitt ist ein Whig, der Tory geworden ist, das vergessen Sie nicht, er will, daß Frankreich selbst den Fluch der Nation auf sich lade.« – »Ja, das heißt, anstatt Ludwig XVI. zu retten, was wohl hätte geschehen können, wenn er sich der Koalition angeschlossen, will er ihn rächen, wenn die Franzosen ihn hingerichtet haben werden. Übrigens verlange ich sehr viel, wenn ich will, daß der Minister einer Nation, die Carl den Ersten enthauptet hat, erzürnt sein soll, weil eine andere Nation das Beispiel der englischen nachahmt. O, wenn er die Franzosen haßte, wie ich!« – »Ich will Ew. Majestät etwas sagen, was Ihnen unmöglich scheinen wird und dennoch wahr ist: Mr. Pitt haßt die Franzosen noch mehr, als Sie es tun.« – »Mehr als ich?« – »Ja, Madame.« – »Das kann ich kaum glauben.« – »O, ich kann Ew. Majestät versichern, daß dem so ist. Glauben Sie mir, ich habe den Vater, Lord Chatham gekannt, ich habe den Sohn gekannt, habe ihn als Kind gesehen; er ist heftig, krank, jähzornig geboren. Er ist ein trauriger, herber, über alles erbitterter Mensch. Jetzt ist er auf den Untergang der Revolution erpicht; er wartet nur, bis die geeignete Stunde schlägt. Fox und Sheridan, an die ich geschrieben, haben ihr Möglichstes getan, damit die Regierung bei dem Konvent interveniere, er aber hat es nicht gewollt. Es ist traurig, sagen zu müssen, und besonders Ew. Majestät gegenüber, er spekuliert aber auf das Entsetzen, welches das Ereignis in Europa hervorrufen wird. Mr. Pitt hat zweimal in seinem Leben gelacht, Madame, und zweimal hat er sich zu einem Scherze herabgelassen. Das erste Mal lachte er, als er erfuhr, daß in San Domingo eine Empörung ausgebrochen war, daß die Neger überall sengten und würgten. Er lachte und sagte: »Jetzt können die Franzosen braunen Zuckerkand zu ihrem Kaffee nehmen!« Das zweite Mal lachte er, es war vor vierzehn Tagen, als Fox und Sheridan, von mir dazu bewogen, ihm vorstellten, daß, wenn er sich nicht einmischte, die Franzosen ihre Raserei so weit treiben könnten, ihren König umzubringen. Er lachte und sagte: »In diesem Falle wird es auf der Karte von Europa eine leere Stelle geben.« – »Ihr Pitt ist aber ein Ungeheuer!« rief die Königin. – »Ich habe mir keine Meinung über Mr. Pitt gebildet, dessen Gesandter zu sein ich die Ehre habe, Madame,« sagte Sir William lachend, »ich weiß jedoch, daß er es verstanden hat, sich von allen drei Englanden anbeten zu lassen.« – »Was meinen Sie von den drei Englanden, Sir William? England, Irland und Schottland?« – »O nein. Altengland, das feudale England, welches seit 89 vor Furcht verging, da es aus jedem Schiffe, welches aus Frankreich kam, die Menschenrechte ans Land steigen zu sehen glaubte, das handeltreibende England, welches das Meer wie sein Lehn betrachtet und dem Pitt die Vernichtung der französischen Marine versprochen, endlich das müßige, spekulative, wuchertreibende England. Frankreich teilt sein Ländergebiet, die Engländer teilen ihre Renten. Jeder Engländer hat seinen Koupon und an jedem Morgen berechnet er, was er in der Nacht gewonnen. Als Frankreich, welches seinem Bankerott entgegengeht, für zwei Milliarden Assignaten in Umlauf setzte, stiegen unsere Fünfprozentigen, welche zweiundneunzig standen, bis auf hundertzwanzig. Pitt war ein großer Mann! Die Vierprozentigen, welche fünfundsiebzig standen, stiegen auf hundertundfünf und Pitt war ein Heros! Die Dreiprozentigen endlich, welche siebenundfünfzig standen, stiegen auf siebenundneunzig und Pitt ist nun ein Gott!« – »Ein erbärmlicher Gott!« – »Ach, Sie wissen ja, Madame, daß die Menschen sich ihre Götter nach dem, was sie lieben, und nach dem, was sie hassen, bilden. Die Inder beten eine Kuh an, die Mongolen ein Lamm, die Siamesen einen weißen Elefanten. Lassen Sie uns das goldene Kalb anbeten; das ist noch der ausgebreitetste Kultus.«
In diesem Augenblicke vernahm man neuen Kanonendonner, der verkündigte, daß der Gesandte des Herrn von Latouche-Tréville in das Admiralboot stieg, und man benachrichtigte soeben Sir William, daß der König ihn bitten ließe, zu ihm zu kommen.
Nach den Bestimmungen des Königs und des Staatsrates konnte man schon im voraus wissen, daß der Gesandte des französischen Admirals auf keine großen Schwierigkeiten bei seinen Unterhandlungen stoßen würde. Der König war auch wirklich entschlossen, Frankreich alles zu bewilligen, was es fordern würde, natürlich mit dem stillen Vorbehalte, sein Wort zu brechen, oder Frankreich zu verraten, falls England sich entschließen sollte, sich einzumischen. So hatte denn der König in der Sitzung mit lauter Stimme, wie auch schriftlich erklärt, daß er bereit sei, den Bürger Mackau zu empfangen und ihn wie den Gesandten einer befreundeten Macht zu behandeln. Er hatte versprochen, in den Kriegen Frankreichs mit Europa die vollständigste Neutralität bewahren zu wollen, kurz, er hatte sich verpflichtet, seinen Gesandten, welcher es bewirkt, daß Herr von Sémonville nicht vom Sultan empfangen worden, aus Konstantinopel zurückzurufen. Er hatte also in allen Punkten nachgegeben und Frankreich alle nur mögliche Satisfaktion gegeben.
So sahen wir denn noch an demselben Abende die französische Flotte absegeln und sich in der Dämmerung verlieren. Am folgenden Morgen war kein einziges Schiff mehr zu sehen. Vor der Abreise jedoch hatte der Admiral von Latouche-Tréville den französischen Gesandten in Neapel, wie auch den Gesandten am römischen Hofe, den Bürger Basseville, ans Land gesetzt. Wie der König bemerkt hatte, war die Menge, welche dem Schauspiel der Manöver einer französischen Flotte im Golfe von Neapel zusah, unermeßlich auf dem weiten Amphitheater, da aber, wo der Gesandte des französischen Admirals landete, hatte die Menschenmenge sich ärger und dichter gedrängt, als sonstwo. Die Trikolore, welche den Bug des Admiralsschiffes schmückte, hatte, da sie so dicht auf neapolitanischem Gebiete wehte, sehr verschiedene Empfindungen erweckt. Die Lazzaroni hatten sie mit einer Art stumpfsinnigen Hasses betrachtet, alle aber, die der aufgeklärten Jugend Neapels angehörten, wie auch die Männer, welche freisinnigen Berufszweigen angehörten, hatten ihr Herz klopfen hören, als sie dieses sichtbare Zeichen einer Revolution sahen, mit welcher die Fortschrittspartei sich eines Tages zu verbünden hoffte. Man berichtete alle diese Einzelheiten der Königin und versicherte ihr sogar, daß einige junge Männer, unter denen auch ein gewisser Emanuele de Deo sich befunden, ihren Enthusiasmus nicht hätten beherrschen können und in dem Augenblicke, wo der Gesandte des französischen Admirals in seinem republikanischen Kostüm an ihnen vorübergekommen, gerufen hätten: »Es lebe Frankreich!« Als ich am Abend nach dem Palais der englischen Gesandtschaft, welche an der Ecke des Flusses und der Straße Chiaja lag, zurückkam, sah ich Gruppen in der Straße Chiatamone. Diese Gruppen waren durch die französische Trikolore, welche über einer Tür, der Tür des Bürgers Mackau, wehte, herbeigelockt worden.
Am folgenden Tage des Nachmittags erfüllte sich die Prophezeiung des Kapitäns Caracciolo. Der Wind schlug nach Südwesten um und ein furchtbarer Sturm brach los. Wenn Neapel nur vierundzwanzig Stunden Widerstand geleistet hätte, so wäre die französische Flotte entweder gezwungen gewesen, das Weite zu suchen, also zu fliehen, oder sie wäre vom ersten bis zum letzten Schiff verloren gewesen. Als die Königin diesen Sturm sah, der ihr Begehren so vollkommen rechtfertigte, konnte sie sich nicht enthalten, dem König seine Feigheit vorzuwerfen. Doch war dies ein Vorwurf, der, wir müssen es gestehen, keinen großen Eindruck auf Ferdinand hervorbrachte. Anstatt sich wegen dieses Sturmes, welcher, ohne daß die neapolitanischen Kanonen etwas dabei zu tun brauchten, der Flotte des französischen Admirals schrecklichen Schaden zufügen konnte, Glück zu wünschen, beklagte er eine Jagdpartie, die am folgenden Morgen im Walde von Persano abgehalten werden sollte, und auf die er nun verzichten mußte. Er hatte jedoch die Königin einigermaßen beruhigt, indem er ihr die Theorie, nach welcher er die Treue, die man abgeschlossenen Verträgen schuldig ist, betrachtete, darlegte und ihr sagte, daß er sich mit Sir William bestimmt entschlossen habe, Frankreich den Rücken zu kehren, sobald die Engländer sich der Koalition anschließen würden. Mr. Pitt brauchte ihm nur ein Zeichen zu geben, und Soldaten und Schiffe würden England sofort zur Verfügung stehen. Am 20. Dezember, also vier Tage nach dem Verschwinden der französischen Flotte, ward ich durch lauten Ruf erweckt. Eine Menge Volks strömte lärmend über die Brücke von Chiaja und verbreitete sich bis in die Gärten der Villa. Ich klingelte und fragte, was für ein Ereignis diesen Auflauf verursachte. Man erwiderte mir, daß die französische Flotte wieder in den Hafen segle. Ich erhob mich und kleidete mich schnell an, denn ich dachte mir, daß die Königin mich holen lassen würde, und wirklich erhielt ich in dem Augenblicke, wo ich meine Toilette beendet, ein Billett von ihr, in welchem sie mich bat, in das Schloß zu kommen. Fast in demselben Augenblick trat Sir William bei mir ein. Er hatte soeben vom König dieselbe Einladung bekommen und erbot sich, sich mit mir zugleich in das Schloß zu begeben. Wir stiegen in den Wagen und befahlen dem Kutscher, durch die Straße Santa-Lucia zu fahren. Kaum waren wir auf dem Kai angekommen, so sahen wir, wie die ganze Flotte wieder in den Hafen segelte, nicht aber in der bewunderungswürdigen Ordnung wie vor einigen Tagen, sondern wie ein Schwarm verscheuchter Seevögel, deren jeder nach Kräften sich anstrengt, ein schützendes Obdach zu gewinnen. Wir erreichten das Schloß. Eilig hatte man den Staatsrat zusammenberufen, und als wir die große Treppe hinaufstiegen, begegneten wir demselben Kapitän Caracciolo, den herbeizurufen man für gut erachtet, obgleich er das erste Mal ganz anderer Meinung gewesen als der König.
Sir William begleitete mich bis zu dem Zimmer der Königin und begab sich in das Konseilzimmer. Als ich bei der Königin eintrat, erzählte ich ihr die Begegnung, die ich soeben auf der Treppe gehabt. Sie klingelte.
»Man soll den Kapitän Caracciolo bitten, zu mir zu kommen, ehe er sich in den Staatsrat begibt,« sagte sie, »ich habe mit ihm zu sprechen.«
Dann zog sie mich mit fort und sagte:
»Verstehst du etwas von dem, was vorgeht? Wir, die wir glaubten, diese französische Flotte los zu sein! Was will denn dieser Admiral von Latouche-Tréville mit seinen dreifarbigen Bannern und Kokarden bei uns? Will er hier republikanische Propaganda machen, um auch bei uns Revolution zu erregen! O, sie mögen sich nur in acht nehmen! Wir sind noch zeitig genug gewarnt worden. Mit uns haben sie nicht so leichtes Spiel wie mit Ludwig dem Sechzehnten und Marie Antoinette. Was mich betrifft, so erkläre ich, daß ich erbarmungslos sein werde.«
Ich hatte noch nicht Zeit zum Antworten gefunden, als die Tür sich öffnete, und man den Kapitän François Caracciolo anmeldete. »Kommen Sie, kommen Sie, mein Herr!« sagte die Königin. »Sie sind der einzige, der neulich meiner Meinung war.« Caracciolo verbeugte sich. »Und das ist ein großes Glück für mich,« sagte er, »denn neulich sprachen Ew. Majestät im Namen der neapolitanischen Ehre.«
»Nun, heute sagen Sie einmal offen, was geht jetzt vor?«
»Das, was ich vorausgesehen habe, Madame. Die französische Flotte ist vom Sturm zerstreut und beschädigt worden. Wenn wir nun vierundzwanzig Stunden Widerstand geleistet hätten, so wären wir Herren der Situation.«
»Können wir es nicht noch werden?«
»Inwiefern, Madame?« – »Ihrer Meinung nach kommt die französische Flotte nur wieder nach Neapel zurück, weil sie Schaden gelitten?« – »Nach dem, wie ich es beurteilen kann,« sagte Caracciolo, indem er nach dem Meere blickte, »ist kein einziges Schiff unbeschädigt geblieben.« – »Nun gut, wenn man die Situation nun benutzte und heute das versuchte, was man neulich nicht zu tun gewagt, würden Sie dann immer noch bereit sein, das Admiralschiff mit Ihrer Korvette anzugreifen?« – »Das ist unmöglich, Majestät.« – »Wie, unmöglich?« – »Ja, denn neulich schlug ich vor, einen Feind angreifen zu wollen.« – »Und jetzt?« – »Und jetzt ist dieser Feind unser Verbündeter geworden.« – »Unser Verbündeter?« – »Gewiß. Ein Wort ist gewechselt, ein Vertrag ist unterzeichnet worden. Neulich wollte der Admiral von Latouche-Tréville einer feindlichen Nation Gesetze vorschreiben, heute sucht er um die Hilfe eines verbündeten Königreiches nach. Neulich zu kämpfen, war meiner Meinung nach eine Pflicht, heute anzugreifen, wäre ein Verrat.«
»Und wenn der König Ihnen dennoch Befehl dazu gäbe?« – »Anzugreifen?« – »Ja.« – »Ich hoffe, Madame, daß der König mir keinen solchen Befehl geben wird.« – »Wenn er Ihnen aber dennoch einen solchen gäbe?«
»Dann würde ich den Kummer haben, meine Entlassung bei ihm einzureichen.« – »Du hörst es, Emma!« rief die Königin, indem sie sich nach mir herumdrehte. »Beurteile die andern nach ihm; dies ist ihre Ergebenheit für uns!« Und zu Caracciolo gewendet fuhr sie fort: »Es ist gut, mein Herr, ich habe alles von Ihnen erfahren, was ich wissen wollte; ich halte Sie nicht länger zurück.« Caracciolo verneigte sich und ging hinaus.
»Jetzt erklärt sich alles,« fuhr die Königin fort. »Die Flotte hat Schaden gelitten und in Neapel will man sie wieder ausbessern. Warum nicht? Ist Neapel denn nicht, wie der Bürger Caracciolo« – sie betonte das Wort Bürger – »gesagt hat, mit dieser französischen Republik, welche soeben den Königen den Krieg erklärt hat und meinen Schwager enthaupten will, verbündet?« Ich blieb stumm.
»Nun,« fragte die Königin, »du antwortest mir nicht? Du hast mir nichts zu sagen?«
»Ich würde fürchten, die Königin zu verletzen, wenn ich ihr meine Meinung offen sagte.«
»Mich zu verletzen, du? Du bist wohl toll! Inwiefern könntest du mich denn verwunden?«
»Wenn ich mich der Meinung dieses Mannes anschlösse.«
»Welches Mannes?«
»Des Fürsten Caracciolo, und Gott weiß, daß dies nicht aus Entzücken über ihn geschieht.«
»Du findest also, daß diese Franzosen recht haben, wenn sie uns den Fuß auf den Nacken setzen?«
»Ich finde, Madame, daß man unrecht getan hat, mit ihnen zu unterhandeln.«
»Und, daß wir jetzt, wo man einmal unterhandelt hat, auch die Folgen unseres gegebenen Wortes tragen müssen. Vielleicht hast du recht. Wir wollen Sir William hierüber zu Rate ziehen.« Unterdessen war die französische Flotte in den Hafen gesegelt, wie man in einen befreundeten Hafen kommt, und hatte daselbst geankert. Eine Stunde darauf erfuhren wir, daß alles, was der Kapitän Caracciolo vorausgesehen, auch geschehen war. Kaum auf dem offenen Meere, war die französische Flotte von einem furchtbaren Sturm ereilt, von elf Schiffen waren sieben arg beschädigt worden und der Admiral von Latouche-Tréville verlangte, mit seinem Vertrag in der Hand, einem Vertrag, welcher ihm die Vorteile der begünstigtsten Nationen sicherte, seine beschädigten Schiffe ausbessern, seinen Vorrat an süßem Wasser erneuern und mit dem Hafen unterhandeln zu dürfen, um Lebensmittel, Tauwerk und Segel zu kaufen. Alle diese Bitten wurden ihm gewährt. Man tat noch mehr. In der Eile, welche die neapolitanische Regierung hatte, um sich diese gefährlichen Gäste vom Halse zu schaffen, tat man sein möglichstes, um dem Admiral Arbeiter, Materialien und Lebensmittel herbeizuschaffen; durch einen provisorischen Kondukt leitete man die Wasser von Carmignano, die hellsten und gesündesten Wasser von Neapel, bis an die Spitze des Hafendammes.
Was die Königin betraf, so zog sie sich, um nicht fortwährend diese verhaßten Uniformen und abscheulichen Trikoloren vor Augen zu haben, nach Caserta zurück, obgleich es im ärgsten Winter, das heißt im Januar war, und nahm mich mit sich.
Während wir in Caserta waren, verwirklichten sich in Neapel alle Prophezeiungen der Königin. Sei es, daß Latouche-Tréville wirklich seine Schiffe ausbessern lassen mußte, sei es, daß dies nur eine List war und daß er den geheimen Instruktionen der Republik folgte, welche dahin lauteten, alle Völker, mit welchen Frankreich in Berührung käme, auf den Weg der Revolution zu treiben, kurz, er benutzte seine Gegenwart in der Hauptstadt des Königreiches beider Sizilien, indem er die neapolitanischen Patrioten veranlaßte, eine geheime Gesellschaft zu organisieren und für Süditalien den Sieg der Prinzipien, welche damals in Frankreich herrschten, vorzubereiten. Täglich begaben sich seine Offiziere – und man weiß, daß die Offiziere der französischen Marine im allgemeinen ausgezeichnete und unterrichtete Männer sind – ans Land, mischten sich unter die Bevölkerung, machten Proselyten und streuten in alle jungen Herzen den Samen der Empörung, der einige Jahre später so viel Blutvergießen herbeiführen sollte.
Am Abend vor dem Tage, an welchem die Flotte die Anker lichten sollte, gaben die jungen Männer den Offizieren der Flotte eine großes Diner. Man sang revolutionäre Lieder, und unter diesen die Marseillaise, welche Rouget de Lisle verfaßt und welche, indem sie am 10. August zu Tage trat, dem Dichter eine so furchtbare Unsterblichkeit verliehen. Man hatte die rote Mütze aufgepflanzt und geschworen, auch in Neapel eine dreifarbige Kokarde haben zu wollen, welche die weiße Kokarde der Bourbonen ersetzen sollte. Dann hatten alle die, welche an diesem Diner teilgenommen, die französische Mode angenommen, welche Talma in seiner Tragödie »Titus« aufgebracht. Sie hatten sich nämlich das Haar kurz schneiden lassen, den Puder verschmäht und alle, welche der alten Mode Treue bewahrten, mit dem Namen Caudini, das heißt Schwanzträger getauft. Während dieser ganzen Zeit war mir die Königin, ohne mich irgendwie zu ihrer Vertrauten zu machen, mit einem dunklen Werk beschäftigt erschienen. Oft, wenn wir zusammen waren, sprach man leise mit ihr, sagte ihr, daß jemand sie zu sprechen wünsche, worauf sie sich, ohne weiter zu fragen, erhob, als ob sie schon im voraus die Ursache dieser Störung gewußt hätte, und dann kam sie nach einer viertel, einer halben, einer ganzen Stunde zurück, drückte mir die Hand und sagte: »Es geht alles gut.«
Eines Tages, während die Königin in eine dieser geheimen Konferenzen gegangen war, ging ich in den Garten hinunter und sah einen schwarzgekleideten, mir unbekannten Mann in demselben. Ohne zu wissen, daß dieser Mann später eine furchtbare Berühmtheit erlangen würde, konnte ich dennoch nicht umhin, mir sein Äußeres genau einzuprägen. Er war eher groß als klein, und trug den Kopf auf die Brust gesenkt, obgleich sein finsterer und unheimlicher Blick in Mannshöhe vor ihm hinstarrte; doch dieser Blick sollte, das verstand man wohl, oft umherblicken, ohne zu sehen. Sein Gesicht war aschfarben, sein Gang unregelmäßig wie der wilder oder unruhiger Tiere, bald langsam und bald schnell. Er ging an mir vorüber und schien mich dennoch nicht zu sehen; er sprach mit sich selber und ich hörte folgende Worte, die er zwischen den Zähnen hervorstieß: »Die Tortur! Ich muß die Tortur anwenden! Was soll ich ohne die Tortur ausrichten! Sie werden sonst niemals Geständnisse ablegen!« Dieser Mann flößte mir Furcht ein. Ich folgte ihm mit den Augen; man suchte ihn im Auftrage der Königin. Ich setzte mich auf eine Bank, alle meine Glieder zitterten mir. Bald sah ich die Königin an der Gartentür erscheinen. Sie sah sich überall um, sie suchte mich. Ich stand auf und ging ihr entgegen. »Guter Gott, teure Königin,« fragte ich, »wer ist dieser Mann, dem ich hier im Garten begegnet bin und der so traurige Worte murmelte?« – »Welcher Mann denn?« fragte die Königin. – »Der, welchen Ew. Majestät haben holen lassen.«
»Ah!« sagte die Königin lachend, »du hast ihn gesehen? – Das ist mein Spürhund. Ich bin, wie der König von der Leidenschaft zur Jagd erfaßt; wie er will auch ich meine Meute haben und es wird nicht lange dauern, so können wir den Jakobiner hetzen. Er ist ein sehr gefährliches Tier, doch nur, wenn man ihm einen Vorteil über den Jäger gewinnen läßt.« – »So ist also dieser Mann, Madame?« – »Nun, was ist mit diesem Mann?« – »Dieser Mann ist wohl der Scharfrichter?« – »Nicht ganz; ich hoffe jedoch, daß er der Lieferant desselben sein wird.« – Dann breitete sie die Arme nach Frankreich zu aus und rief: »O meine Schwester, meine arme Schwester, sie haben dich, ich aber habe sie! Und sei ruhig, denn da alle Menschen Brüder sind, so werden die Brüder von Neapel für die Brüder von Paris büßen.« Ich blieb stumm. Ich begriff wohl den Haß der Königin gegen die Revolution, allein so viel Energie in einer Frau erschreckte mich. Diese Frau war in Wahrheit die Tochter der Königin Maria Theresia.
Ich ging still, auf den Arm der Königin gestützt, weiter, auf den Arm, der infolge eines nervösen Krampfes die Kraft eines Männerarmes zu besitzen schien. »Was willst du, meine arme Emma!« sagte Karoline, nachdem sie einen Augenblick lang mit festem und schnellem Schritt gegangen war; »jetzt mußt du dich entschließen. Du glaubtest in ein Land der Wonne zu kommen, du hattest sagen hören, die Luft von Pästum sei so mild, daß die Rosen zweimal im Jahre daselbst blüheten; die Luft von Sorrento sei so balsamisch, daß man eine Sorrentinerin an ihrem duftenden Haar erkennte. Du glaubtest, daß das Leben hier wie in dem alten Sybaris inmitten von Festen und Lustbarkeiten verflösse, daß man auf Mooslagern ruhete und auf Blumenteppichen wandelte. Allein man hatte vergessen, dir zu sagen, daß inmitten dieser Herrlichkeit ein Berg stünde, der die Hölle in seinen Eingeweiden verschlösse, der wie die ganze andere Schöpfung zu lächeln schien und der plötzlich, indem er die Häuser wie Kartenhäuschen erschütterte, Herkulanum mit Lava, Pompeji mit Asche bedeckte und das erschreckte Meer vom Ufer von Regina bis an den Felsen von Capri zurückweichen ließe. Das hatte man dir zu sagen vergessen, ich aber sage es dir.« Ich blickte sie beinahe entsetzt an. »Wir beginnen einen furchtbaren Kampf, in welchem wir unterliegen können, obgleich wir fast mit Gewißheit darauf rechnen können, daß wir die Sieger sein werden; doch aber müssen wir kämpfen und der Kampf wird hart sein. Kind der frischen Wiesen und grünen Rasen, fühlst du dich zu schwach, auf meinen Kriegswagen zu steigen? Dann verlasse deine Königin, kehre in dein Land Wales zurück zu deiner Wiege, wie ein klarer Bach, welcher sich fürchtet, sich mit den unruhigen Fluten des Meeres zu vermischen und zu seiner Quelle zurückkehrt.« – »O nein, nein, nein!« rief ich, indem ich beide Arme um den Hals der Königin schlang, »ich liebe Sie zu sehr, als daß ich Sie in einem Augenblicke verlassen könnte, in welchem Sie, wie Sie mir selbst sagen, in Gefahr sind. Ich bin schwach, Sie aber sind stark, stark für Sie und für mich. Sie werden mich stützen, wenn ich schwach bin, Sie werden mich aufrichten, wenn ich falle. Ich bin nicht so tief in die Geheimnisse der Politik eingedrungen, um zu wissen, wer in diesem großen Kampfe der Völker gegen die Könige Recht hat; wenn Sie aber Unrecht haben, teure Königin, will ich auch mit Ihnen Unrecht haben, und wenn der Vesuv oder die Revolution über Neapel hereinbricht, dann will ich von derselben Lava verbrannt und unter derselben Asche erstickt werden, wie Sie.« Die Königin umarmte mich und drückte mich an ihr Herz. »Gut denn!« sagte sie. »Es schien mir seit einiger Zeit, als ob ich dich halb verloren hätte; jetzt aber finde ich dich wieder. Ich betrübte mich schon, mich so allein zu fühlen. O, ich will keine Geheimnisse vor dir haben. Ja, ich arbeite an einem finstern Werke, wie die Eumeniden, ich flechte Schlangen in der Finsternis. Mit Gold und Titeln kann man hier tun, was man will. Der Mann, den du gesehen hast, und der dich so sehr erschreckt hat, ist eine meiner Vipern: er heißt Vanni. Die beiden andern heißen Guidobaldi und Castelcicala. Der letztere ist Fürst; er war unser Gesandter in London. Ich habe ihm vorgeschlagen zurückzukommen und der Chef meiner Spione, der Präsident meiner Staatsjunta zu werden, und er hat meinen Vorschlag angenommen. O, ich werde den Anklägern solche Belohnungen schenken, daß ich, wie im alten Rom, aus der Anklage ein ehrenwertes Amt, oder wenn nicht ein ehrenwertes, so doch wenigstens ein beneidenswertes machen werde.«
»Nun,« sagte ich, »erkläre ich mir, warum dieser Vanni von Tortur sprach und sagte, daß man ohne Tortur nichts gestehen würde.« – »Ja, die Tortur ist seine fixe Idee, und von seinem Gesichtspunkte aus hat er auch recht. Er hat Ehrgeiz dieser Mann. Wenn andere sich begnügen, zu sagen: ›Unser König,‹ sagt er: ›Mein König,‹ als ob der König ihm ganz allein gehörte, und als ob er ganz allein beauftragt wäre, ihn zu behüten. So werden denn die Angeklagten, die Denunzierten nicht fehlen, vielleicht aber die Schuldigen, denn der Meinung gewisser hartnäckiger Leute nach sind nur diejenigen anerkannte Schuldige, welche ihr Verbrechen gestehen, und hier gesteht niemand etwas. Vanni behauptet nur, daß er mit Hilfe gewisser Mittel, die er erfunden, und vorausgesetzt, daß man ihm Vollmacht gibt, diese Mittel in Anwendung zu bringen, Steine zum Reden bringen könnte. Ich habe ihm gesagt, daß ich mich dem durchaus nicht widersetze, und daß die Wahrheit ein so köstliches Ding sei, daß alle Mittel zur Erlangung derselben gut wären. Jetzt ist nur noch eine Schwierigkeit vorhanden. Es schien nämlich, als ob nichts davon in den Gesetzen stünde. Doch die Jakobiner sind ebensowenig in den Gesetzen, der Jakobinismus ist kein vorhergesehenes Verbrechen. Deshalb konnte man auch kein Gesetz gegen denselben schreiben, und weil er nicht im Gesetz steht, kann man sich, um ihn zu bestrafen, auch der Mittel bedienen, welche nicht im Gesetz stehen. Du wirst dir wohl denken, daß ich kein so geschickter Rechtsgelehrter bin, um dies alles selbst zu wissen; meine Viper, mein Vanni hat mir diesen Beweisgrund eingeblasen. Er hat Cicero angeführt, als er Lentulus und Cethegus erwürgte, des Gesetzes ungeachtet, welches verbot, römische Bürger ums Leben zu bringen. Dieser Meister Vanni ist sehr gelehrt. Ich werde ihn zum Ritter des Ordens vom heiligen Georg machen.« Ich blickte die Königin voller Erstaunen und, ich muß es gestehen, auch nicht ganz frei von einem gewissen Entsetzen an. – Sie bemerkte den Eindruck, den sie auf mich hervorbrachte. »Ja,« sagte sie, »du begreifst, du findest, daß ein Unterschied zwischen der ehemaligen und jetzigen Karoline ist. Jene Karoline fand Gefallen daran, dasselbe Kleid, denselben Haarschmuck, denselben Schal wie du anzulegen, ihr ganzer Ehrgeiz bestand darin, selbst neben dir schön gefunden zu werden. Sie kannte den Schmerz, aber noch nicht den Haß. Wenn sie sich mit dir allein einschloß, wollte sie die Funken eines vergangenen Glückes in der Asche ihrer Liebe suchen; sie wollte dir sagen: ›Ich habe geliebt und werde niemals wieder lieben; auch ich, obgleich ich eine Königin bin, habe ein Herz gehabt.‹ Die Karoline von jetzt aber hat nicht mehr Zeit, an die Vergangenheit zu denken, sie muß für die Zukunft kämpfen. Was ist ein nach Sizilien verbannter Geliebter neben einer in Frankreich eingekerkerten Schwester, neben einem Bruder, der bereits mit einem Fuße auf den Stufen des Schafotts steht? Jetzt handelt es sich nicht um Glück, nicht um Poesie, nicht um Liebe! Es handelt sich um das Leben! Es gibt kein Tier, vom Adler bis zur Taube, welches sein Nest nicht verteidigte und nicht für seine Jungen kämpfte. Den umbringen, der uns umbringen will, ist keine Rache, sondern Instinkt der Selbsterhaltung. Wenn auch bei uns Vergniauds, Pétions und Robespierres erstehen, so werden wir nicht warten, bis sie einen 20. Juni und einen 10. August herbeiführen, sondern wir werden ihnen eine Bartholomäusnacht bereiten. Die Valois haben die Bourbons gelehrt, daß es besser ist vom Louvre auf die Straße herab, als von der Straße in den Louvre hinaufschießen zu lassen. Man möge mich Madame Veto oder Madame Defizit, oder wie man sonst will, nennen, niemals aber wird man mich Jane Gray oder Maria Stuart nennen.«
»Gott bewahre uns vor einem solchen Unglück!« sagte eine Stimme hinter uns. Die Königin und ich drehten uns schnell herum und standen einem Manne gegenüber, den man an seinem eher priesterlichen als laienhaften Gewande leicht als einen Würdenträger der Kirche erkannte. Ich sah an dem Blick der Königin, daß sie den Fremden nicht kannte, der so kühn gewesen, uns einzuholen und sich in unser Gespräch zu mischen. Ich aber erkannte ihn und rief: »Monsignore Fabrizio Ruffo!« – »Da Lady Hamilton mir die Gnade, erweist, mich zu erkennen, würde sie mir dann wohl auch eine zweite Gnade zur ersten gesellen, indem sie mich der Königin vorstellt, zu welcher ich übrigens vom König gesandt worden?« – Ich blickte die Königin fragend an. Als sie hörte, wie ich den Liebling des Papstes Pius VI. nannte, mit welchem, wie ich schon erwähnt habe, der Hof von Neapel auf dem besten Fuße stand, hatte ihr Gesicht einen Ausdruck von Wohlwollen angenommen, der mir erlaubte, den Wünschen des edlen Prälaten nachzukommen. – »Madame,« sagte ich, »gestatten Sie, daß ich auf den soeben ausgesprochenen Wunsch des Herrn die Ehre habe, Euer Majestät Monsignore Fabrizzio Ruffo, Schatzmeister Seiner Heiligkeit vorzustellen.« – »Madame,« sagte der Prälat, indem er sich verneigte, »gestatten Sie mir, daß ich, indem ich Lady Hamilton für ihre Güte danke, zugleich zwei kleine Irrtümer, die sie begangen und auch begehen mußte, berichtige. Ich bin nicht mehr Schatzmeister, ich bin Kardinal.« – »Ich gratuliere Ihnen dazu, mein Herr,« sagte die Königin. »Haben Eure Eminenz mir aber nicht gesagt, daß der König Sie gesandt?« – »Ja, das habe ich gesagt, Madame, und Seine Majestät der König wäre selbst mit mir nach Caserta gekommen, hätte er nicht eine Eberjagd in den Wäldern am See Fusaro abhalten müssen, da es ihm unmöglich war, dieselbe aufzuschieben.« – »Daran erkenne ich meinen erhabenen Gatten,« sagte die Königin lächelnd. »Deswegen aber sind Sie mir nicht weniger willkommen, besonders wenn Sie mir eine gute Nachricht bringen.« – »Ich bringe Ihnen wenigstens eine große, Madame, eine Nachricht, welche die schlimmsten Folgen nach sich ziehen kann. Der Gesandte der französischen Republik zu Rom, der Bürger Basseville, ist soeben bei einem Aufstand ermordet worden.« – Die Königin schauderte.
»Das ist allerdings eine große Nachricht, die Sie mir da bringen! Und wie ist die Sache denn zugegangen?« – »Ew. Majestät weiß doch, daß der französische Admiral, als er seinen Gesandten, den Bürger Mackau, mit an den Hof von Neapel nahm, zugleich auch den Gesandten am römischen Hofe, den Bürger Basseville bei sich an Bord hatte?« – Der Kardinal betonte das zweimal wiederholte Wort Bürger, so daß, dank der Art und Weise, in der er es aussprach, nichts Unangenehmes für das Ohr der Königin darin lag. So ließ sie denn diesen ersten Satz an sich vorübergehen, indem ihr Gesicht keinen anderen Ausdruck als ein verächtliches Lächeln annahm und sie dem Kardinal andeutete, daß sie ihn hörte. Der Kardinal fuhr fort: »Die Nachricht hatte große Aufregung verursacht und sich bis in unsere Provinzen verbreitet. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, Madame, in welchem Lichte unsere würdigen Priester ihren Beichtkindern auf den Dörfern und in der Stadt die französische Republik schilderten. Sich mit ihr verbünden, heißt sich der Hölle verschreiben. Bei dieser von den Kanzeln angekündigten Nachricht hatten sich die Bewohner von Rom, die Barbaren von Trastevero, die Wilden von Sabinien, die Ochsenhirten der Sümpfe, blind und wild wie ihre Büffel, auf dem Wege zusammengerottet, auf welchem der Gesandte kommen mußte. Drei Tage lang warteten sie. Alle Abende wiederholten die Priester in den Beichtstühlen den bestürzten Frauen, daß dieser französische Gesandte in der heiligen Stadt die Fahne des Satans aufpflanzen wolle. Die Frauen zündeten Kerzen an, beteten und wehklagten, die Männer knirschten mit den Zähnen und schliffen ihre Messer.« – »Braves Volk!« murmelte die Königin. – »Endlich verkündete vorgestern, am 13. Januar, ein großes Geschrei das Näherkommen des Wagens. Alles Volk stürzte nach der Richtung, von welcher er kam. Der Gesandte trug sein republikanisches Galakostüm, einen blauen Rock, eine dreifarbige Schärpe darüber, einen dreieckigen Hut mit einer dreifarbigen Kokarde, und zwei seiner Freunde, die ziemlich ebenso gekleidet waren, saßen mit in dem Wagen. Als die Menge das sah, brach sie in ein lautes Geschrei aus. Die drei Reisenden schienen taub oder völlig gleichgültig zu sein und setzten ihren Weg fort. Die Räder und Pferde ihres Wagens waren verschwunden, der wie eine Barke auf Menschenwellen schaukelte. So kommen sie an den Palast des Kardinals Zelada, begeben sich zu diesem und fordern ihn auf, ihre Vollmachten anzuerkennen. Der Kardinal, welcher von Sr. Heiligkeit bestimmte Instruktionen erhalten, weigert sich und erklärt, daß die französische Republik für den römischen Hof weder existiere, noch jemals existieren würde. Der Gesandte grüßt den Kardinal, steigt wieder in den Wagen und pflanzt, sei es um Frankreichs Ehre zu retten, oder um an die italienischen Patrioten zu appellieren, eine Trikolore neben dem Kutscher auf. Als das Volk das sieht, verdoppelt sich, wie Ew. Majestät sich denken kann, das Geschrei und ein Steinregen beginnt auf den Gesandten und seine Freunde herabzuhageln. Der erschreckte Kutscher treibt die Pferde bis zum schärfsten Galopp an und lenkt den Wagen in den Hof eines französischen Bankiers. Zum Unglück oder zum Glück, je von welchem Gesichtspunkte aus man die Sache betrachtet, ist die Zeit zu kurz, die Tore hinter dem Wagen zu schließen, das Volk stürzt herein und man weiß wirklich nicht, wie es in dem Tumult gekommen ist, daß man Sr. Exzellenz dem Bürger Basseville den Leib mit einem Rasiermesser aufgeschlitzt hat.«
»Und kennt man den Mörder?« fragte die Königin schnell. – »Ja und nein,« erwidert Ruffo. »Seine Heiligkeit kennt ihn, die Regierung Seiner Heiligkeit aber wird ihn nicht kennen. So ist denn der Papst, bereits durch den Krieg in der Vendée, den seine Emissäre gepredigt haben, bloßgestellt, noch ärger durch den Tod des französischen Gesandten kompromittiert. Es wird ihm schwerlich gelingen, gleich wie dem seligen Pilatus, seine Hände von dem Blute Basseville's zu reinigen, es wird stets eine Spur davon an seinen Fingern kleben bleiben. So ist denn Basseville's Tod der Krieg gegen Frankreich. Ich komme im Namen Seiner Heiligkeit, um den König Ferdinand zu fragen, ob er imstande ist, dieselbe zu unterstützen, und wenn dies der Fall ist, ebenfalls im Namen Seiner Heiligkeit dem Kämpfer für die Kirche die wenigen Talente, mit denen die Natur und die Erziehung mich hierzu ausgerüstet hat, zur Verfügung zu stellen.« – Die Königin lächelte. »So gehören Eure Eminenz, wenn ich recht verstanden habe, der streitenden Kirche an?« – »Ja, glauben Sie es nur, Madame! Ich gehöre zu dem Geschlechte der la Valette und der Richelieu. Im Mittelalter hätte ich den Küraß und den Degen getragen und gegen die Türken und Hugenotten gekämpft. Heute bin ich vollständig bereit, gegen die Franzosen zu ziehen, die Heiden von noch schlimmerer Art sind!« – »Nun Herr Kardinal,« sagte die Königin, »wir werden suchen, Ihnen Arbeit zu geben. Unglücklicherweise hängt die Sache nicht von mir allein ab!« – »Das weiß ich,« erwiderte Ruffo, »wenn aber,« fuhr er fort, indem er mich anblickte, »Lady Hamilton sich ins Mittel legen wollte.« – »Ich, Herr Kardinal? Und was soll ich denn dabei tun, mein Gott?« – »Nun, Madame, Perikles hat den Krieg von Samos, von Megara und den peloponnesischen Krieg infolge der Ratschläge und des Einflusses der Aspasia unternommen. – Aspasia war nicht schöner als Sie und Perikles hatte nicht mehr Einfluß auf die Angelegenheiten Griechenlands als Sir William Hamilton durch seinen Milchbruder, den König Georg, auf die Angelegenheiten Englands hat. England braucht Frankreich nur den Krieg zu erklären und wir sind gerettet!« – »Hörst du?« sagte die Königin zu mir. »Der Kardinal spricht im Namen unseres heiligen Vaters, des Papstes, und unser heiliger Vater, der Papst, ist unfehlbar!« – »Nun gut denn, teure Königin!« erwiderte ich, »ich werde mein möglichstes tun. Ha, da kommt Perikles gerade, um sich uns zur Verfügung zu stellen!«
Wirklich kam Sir Williams auch auf uns zu. Da die Stunde des Diners gekommen war, so begaben wir uns wieder in das Schloß. Ihre Majestät lud Sir William zur Tafel ein, wie auch den Kardinal, und während wir speisten, entwarfen wir die kriegerischsten Pläne von der Welt. Wenn ich heute daran denke, was ich in der Wage, wenn auch nur so viel wie ein Sandkörnchen, wog, so daß durch dieses Gewicht die Schale sich einem zwanzigjährigen Kriege zuneigte, der vielleicht noch nicht beendet ist, so erschrecke ich vor der Verantwortlichkeit, die ein Sandkörnchen vor Gott haben kann.
Der Kardinal hatte recht. Basseville's Tod rief in Frankreich eine ungeheure Aufregung hervor. Der Konvent beschloß, furchtbare Rache für diesen Mord zu nehmen, und das Vaterland sollte den Sohn des Gemordeten adoptieren.
Dieses Gerücht aber verschwand bald vor dem Gerüchte von einer viel furchtbareren Katastrophe! Am 27. Januar erfuhr man in Neapel, daß Ludwig XVI. zum Tode verdammt worden sei und am 1. Februar kam die Kunde seiner Hinrichtung. Gleich in dem Augenblicke, in welchem diese Nachricht nach London kam, deutete Pitt dem französischen Minister an, daß er England binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen habe. Von mir gedrängt, und ich muß sagen, daß es dieses Antriebes nicht bedurfte, hatte Sir William sogleich drei oder vier Briefe an den König Georg geschrieben und dieser hatte ihm in einem kleinen Billette selbst geantwortet, daß England, welches die Schuld auf Frankreich schieben wollte, warten würde, bis die Franzosen ihren König wirklich hingerichtet hätten; sobald dies aber geschehen wäre, würde man sofort mit der Republik brechen.
Wir erhielten beide Briefe in Neapel zugleich; den, welcher die am 21. Januar vollzogene Hinrichtung Ludwigs XVI. mitteilte, und den, in welchem man uns die Ausweisung des französischen Gesandten aus London anzeigte. Obgleich man den Tod Ludwigs erwartete, so war dies doch ein furchtbarer Schlag für die Königin. Der Brief des Gesandten war auf schwarzgerändertes Papier geschrieben und schwarz gesiegelt. Als Karoline den Brief sah, wußte sie alles. Sie stieß einen Schrei aus und ward ohnmächtig, indem sie sagte: »Sie haben ihn gemordet!«
Augenblicklich ward befohlen, daß alle Karnevalsfeste aufhören, daß der ganze Hof und alle Würdenträger des Reiches Trauer anlegen sollten, und daß in allen Kirchen Totengebete gelesen würden. Castelcicala, Guidobaldi und Vanni wußten nun, daß sie mit dem Werke beginnen konnten, zu dem man sie berufen. Verhaftungen wurden vorgenommen, und erst als die Zahl der eingekerkerten Jakobiner nicht weniger als dreihundert betrug, lächelte die Königin wieder. Dann bereitete sich das neapolitanische Gouvernement, indem es dabei immer mit Frankreich verbündet blieb, für den Krieg vor. Die Landarmee ward bis auf eine Stärke von 36 000 Mann erhöht und die Seemacht bis zu einer Anzahl von 102 Schiffen von allen Größen vermehrt.
Der Kardinal Ruffo hatte bei allem einen militärischen oder politischen Einfluß ausüben wollen, den ihm ohne Zweifel das Bewußtsein seines Verdienstes wünschen ließ, und auf welchen ihm nicht nur die Empfehlung des Papstes, sondern auch Studien, die er in der Artilleriekunst gemacht, ein Recht gaben – Studien, die, wie ich glaube, in der Erfindung einer neuen Methode, glühende Kugeln zu machen, bestanden. Allein, mochte nun der Minister Acton das Vertrauen nicht teilen, welches der Kardinal zu seinem eigenen Verdienst hatte, oder fürchtete er im Gegenteil den Einfluß eines überlegenen Mannes für sein Glück, oder hatte die Königin, welche eine gewisse Abneigung gegen den Kardinal empfand, die guten Absichten des Königs, der ihn offen unter seinen Schutz genommen, neutralisiert, kurz, es vergingen zwei bis drei Monate, ohne daß der Kardinal Ruffo irgend eine offizielle Stellung am Hofe erhielt. Marie Karoline ließ sich jetzt nicht im entferntesten träumen, welchen Dienst ihr derselbe Kardinal, den sie jetzt von militärischen Angelegenheiten fernhielt, sechs Jahre später als Soldat erweisen würde! Der König aber, welcher, wie ich bereits gesagt habe, eine große Sympathie für Se. Eminenz empfand, wollte dem Kardinal endlich einen Beweis dieser Sympathie geben, nur wies er ihm, wie er so gern den Spott zu seiner Gnade gesellte, einen Posten an, der gewiß am wenigsten für einen Diener der Kirche paßte. Er ernannte ihn nämlich zum Inspektor seiner Kolonie in San-Leucio.
Ich möchte hier auf einige Einzelheiten in bezug auf diese Kolonie von San-Leucio eingehen, von der ich in einem früheren Kapitel dieser Memoiren nur einen kurzen Begriff gegeben habe. Die Sache ist ziemlich schwer zu sagen, allein es tut nichts. Ich habe bereits schon so viele schwere Dinge gesagt, und habe deren noch so viele zu erzählen, daß damit zu zögern, lächerlich sein würde. Überdies werde ich den König Ferdinand selbst sprechen lassen, und jeder wird dann selbst entscheiden können, ob Gutherzigkeit, Heuchelei oder Zynismus ihn bewogen, über seine Schöpfung, die Kolonie von San-Leucio, einen ländlichen Harem, wo er nicht weniger Sultan war, als der Sultan in dem seinigen, Rechenschaft zu geben. Ich folge hier dem Originalmanuskripte des Königs, welches mir die Königin Karoline an einem ihrer heiteren oder verächtlichen Tage mitteilte und welches betitelt war: »Ursprung und Fortschritt der Bevölkerung von Leucio.«
»Da einer meiner lebhaftesten Wünsche,« sagte Ferdinand in dieser Schrift, »stets der gewesen war, einen angenehmen und vom Geräusch des Hofes entfernten Ort zu finden, wo ich die wenigen Mußestunden, die mir die ernsten Regierungsgeschäfte lassen, nützlich anwenden könnte, und da das herrliche Caserta und der prachtvolle Palast, den mein Vater begonnen hat und den ich vollendet habe, nicht die Stille und Einsamkeit bieten, die zum Nachdenken und zur Ruhe des Geistes erforderlich sind, sondern vielmehr, um so zu sagen, eine zweite Hauptstadt inmitten des Landes bilden, wo dieselbe Pracht und derselbe Luxus wie in Neapel mich umlagern, so beschloß ich, mir in dem Park von Caserta einen einsameren Ort zu wählen, wo ich völlig mir selbst leben könnte, und meine Wahl fiel auf San-Leucio.«
Man wird sogleich sehen, was der König Ferdinand unter Nachdenken und Ruhe des Geistes verstand.
»Nachdem ich daher 1773 den Wald mit einer Mauer hatte umgeben lassen, innerhalb welcher der Weinberg und das alte Kasino der Prinzen von Caserta, welches das Belvedere hieß, lagen, ließ ich auf einer kleinen Anhöhe einen kleinen Pavillon einzig und allein zu meiner Bequemlichkeit auf der Jagd bauen. Außerdem ließ ich auch, so gut es eben ging, ein altes, halb verfallenes Haus ausbessern, auch einige neue Häuser bauen und berief fünf oder sechs Individuen, welche zu der Bewachung des Waldes und des besagten Pavillons dienten, auf die Weinpflanzungen und die Ländereien, welche innerhalb der Ringmauer lagen. 1776 ward der Salon des alten Kasinos in eine Kirche verwandelt und diese Kirche zur Bequemlichkeit der Bewohner, die sich täglich vermehrten und bald die Zahl von siebzehn Familien erreichten, zum Kirchspiel erhoben. So ward es denn wegen der vielen Bewohner nötig, noch mehr Häuser zu bauen.«
Der König fährt fort:
»Als der Pavillon vergrößert worden, fing ich an daselbst zu wohnen und den Winter dort zuzubringen; da ich aber das Unglück hatte, mein erstes Kind zu verlieren und deswegen mich nur vorübergehend dort aufhielt, so beschloß ich einen nützlicheren Gebrauch von dieser Wohnung zu machen. Da die Bewohner, von denen ich gesprochen, mit vierzehn andern Familien, die sich zu ihnen gesellt, die Zahl von vierunddreißig Köpfen erreicht hatten – dank der Fruchtbarkeit, welche durch die Reinheit der Luft und die Ruhe und den häuslichen Frieden, in dem sie lebten, herbeigeführt ward – so fürchtete ich, daß so viel Säuglinge, welche sich tagtäglich vermehrten, in Zukunft infolge ihrer mangelhaften Erziehung eine gefährliche Gesellschaft von Wüstlingen und Bösewichtern werden könnten, und wollte ein Erziehungshaus für Kinder beiderlei Geschlechts gründen, wozu ich meinen Jagdpavillon benutzte. So fing ich denn an, Regeln aufzusetzen und geschickte und geeignete Personen für die Ämter zu suchen, die zur Erfüllung meines Zweckes gegründet werden mußten. – Nachdem ich beinahe alles geordnet, dachte ich darüber nach, daß alle Mühe, die ich mir gegeben, alle Kosten, die ich aufgewendet, leider ohne Nutzen sein würden, da diese jungen Leute, nachdem ich ihre Erziehung beendet, entweder Müßiggänger werden oder, wenn sie irgendein Handwerk erlernen wollten, die Kolonie verlassen müßten, um ihren Lebensunterhalt anderswo zu verdienen, da ich in meinem Dienst nur einige beschäftigen konnte. Ich bedachte, wie schmerzlich jede Trennung für die betreffenden Familien sein müßte und wie sehr ich mich selbst betrüben würde, wenn ich mich dieser schönen Jugend beraubt sähe, die ich alle wie meine eigenen Kinder betrachtet und mit so viel Mühe aufgezogen hatte. Ich wendete mich daher einem anderen Zweck zu. Ich beschloß diese Kolonie, die, da sie sich unaufhörlich vergrößerte, dem Staate sehr nützlich werden konnte, in einer Weise zu regieren, welche geeignet wäre, diese armen Leute ruhig und glücklich zu machen und ihnen ein Leben in der Furcht Gottes und vollkommener Harmonie zu bereiten. Sie hatten mir bisher kein einziges Mal Anlaß zu Verdruß gegeben, sondern im Gegenteil dazu beigetragen, daß ich unter ihnen die erhabene Zufriedenheit, die in den Stunden, wo die Staatsangelegenheiten gegen meine Ruhe konspirierten, so beneidenswert war, genießen konnte.«
Wie man sieht, hatte der König Ferdinand nun endlich »die für das Nachdenken und die Ruhe des Geistes so notwendige Einsamkeit und den so nötigen Frieden gefunden.«
Als der König diesen unverhofften Zweck erreicht hatte, beschloß er aus Dankbarkeit für die schöne Jugend, die sein Herz erquickte, seiner so gut gedeihenden Kolonie, die immer blühender zu werden versprach, Gesetze zu geben, welche an die erinnerten, die Saturnus und Rhea ihren Völkern im goldenen Zeitalter gegeben. Demnach begann er die tyrannischen Rechte der Eltern über die Kinder aufzuheben, durch welche letztere so oft gehindert werden, den Regungen ihres Herzens und ihrer Natur zu folgen. So stand es den Kindern frei, sich zu wählen und zu heiraten, ohne daß die Eltern etwas in dieser ernsten Angelegenheit zu tun hatten, in die sie sich oft nur mischen, um alles zu verderben. Jedes Jahr zu Pfingsten mußten die jungen Leute, wenn sie aus der großen Messe kamen, dem ganzen Dorf zeigen, welche Wahl sie getroffen. Unter dem Portal der Kirche bot der junge Mann, nicht mehr und nicht weniger als ein Schäfer auf einem Gemälde von Watteau oder Boucher, dem jungen Mädchen, das er liebte, einen Strauß roter Rosen. Wenn die Person, welcher er angeboten ward, die Liebe des jungen Mannes erwiderte, so gab sie ihm einen Strauß weißer Rosen, und alles war gesagt. Die beiden Liebenden waren von diesem Tage an Brautleute und wurden den folgenden Sonntag getraut. In der Zwischenzeit ließ der König sie zu sich kommen, natürlich jedes allein. Er hielt ihnen eine Rede über ihre ehelichen Pflichten, und da er sich das Recht vorbehalten, das junge Paar auszustatten, vermehrte oder verminderte sich je nach der Aufmerksamkeit, mit welcher das junge Mädchen die Rede des Königs angehört, die Ausstattung. Nun wird man wohl begreifen, mit welcher Aufmerksamkeit die Braut einer so wichtigen Rede lauschte. Übrigens gab es keine Richter, kein Tribunal. Wenn irgendein Prozeß vorkam, so gaben drei Greise, welche die Kolonie gewählt hatte, unter einer Eiche ihr Urteil ab, wie ehemals der heilige Ludwig. Um Narrheiten und Luxus zu vermeiden, von denen sich selbst Bäuerinnen fortreißen lassen, trugen alle jungen Mädchen der Kolonie dasselbe Kostüm, welches einfach, aber geschmackvoll war, und welches der König durch seinen gewöhnlichen Maler hatte zeichnen lassen. Die Auszeichnungen ausgenommen, welche der König Ferdinand selbst daran zu Gunsten guter Arbeiterinnen vornahm, konnte niemand etwas daran ändern. Unter anderem war auch die Konskription abgeschafft.
Man wird leicht sehen, daß der König, um zu einem so glücklichen Resultate zu kommen, die Weisheit des Königs Salomo mit dem sozialen Wissen eines Idomeneus hatte vereinigen müssen. Da nun der königliche Gründer der Kolonie von San-Leucio nicht wußte, was er mit dem Kardinal Ruffo anfangen sollte, so stellte er ihn an die Spitze dieser Kolonie. Vielleicht war dies kein geeigneter Platz für einen Kardinal; geistreiche Leute aber, sagt man, sind nirgends am unrechten Platze, und der Kardinal Ruffo besaß außerordentlich viel Geist. Was die Königin betraf, die nicht weniger geistreich als der Kardinal war, so sah sie mit großer Befriedigung, wie die Kolonie von San-Leucio gedieh, sich vergrößerte und bevölkerte. Wenn der König den Salomo und Idomeneus studiert hatte, so hatte sie dagegen Frau von Pompadour studiert und regierte, während der König sich belustigte. Zwar war es nicht ein heiteres Geschäft, im Jahre der Gnade 1793 zu regieren. Das werden wir bald sehen, indem wir uns wieder den Staatsangelegenheiten zuwenden.
Ich habe gesagt, daß noch an demselben Tage, wo man in London die Nachricht von der Hinrichtung Ludwigs des Sechzehnten erhalten, die englische Regierung dem französischen Gesandten andeutete, daß er das Land zu verlassen habe. Das war eine Beschimpfung, die das stolze Frankreich nicht ertragen konnte. So wie es Österreich den Krieg zuerst erklärt, so erklärte es auch neun Tage nach der Ausweisung seines Gesandten England und Holland den Krieg. Darauf hatte England nur gewartet. Ich hörte, wie Sir William und die Königin die Kräfte der beiden Mächte berechneten und mit Freude die Überlegenheit der materiellen Kräfte Großbritanniens über die Frankreichs konstatierten. Frankreich war ohne Geld, ohne Waffen, fast ohne Heer; seine ganze Seemacht bestand in sechsundsechzig Linienschiffen und achtzig Fregatten oder Korvetten. England war in finanzieller Hinsicht in einem so blühenden Zustand, daß Mr. Pitt sagte, daß er, wenn er soviel Geld hätte, um die Nationalschuld abzutragen, doch dies nicht tun, sondern das Geld lieber in die Themse werfen würde. Was die Seemacht Englands betraf, so bestand diese aus hundertundachtundfünfzig Linienschiffen, aus zweiundzwanzig Schiffen von fünfzig Kanonen, aus fünfundzwanzig Fregatten und hundertundacht Kuttern. Also besaß England ungefähr viermal soviel Schiffe als Frankreich. Wenn man nun noch die hundert Kriegsschiffe Hollands dazurechnet, so wird man sehen, daß die beiden verbündeten Mächte fünfhundertunddrei Kriegsschiffe gegen zweiundsechzig aussenden konnten. Diese Rechnung, welche man dem König Ferdinand wohl zehnmal wiederholen mußte, gab ihm endlich den Mut, sich mit England zu verbünden und am 20. Juli 1793 unterzeichnete die neapolitanische Regierung, ohne, daß man Frankreich irgend etwas von dem Bruche mitgeteilt, einen geheimen Vertrag mit England.
In diesem Vertrag ward bedingt, daß der König von Neapel zwölf Schiffe, darunter vier Linienschiffe und ebensoviel Fregatten zu dem Geschwader schicken sollte, mit welchem England im Mittelmeere kreuzen wollte, wie auch sechstausend Mann zu dem Landungsheer dieses Geschwaders. Der König hatte nach und nach den Vorsitz im Staatsrate aufgegeben und die Königin wohnte stets den Verhandlungen bei, die sie mit der Wut des Hasses betrieb. In zwei Monaten waren Soldaten und Schiffe ausgerüstet und ein Teil stieß zu der anglo-spanischen Flotte, welche vor Toulon kreuzte. Durch einen royalistischen Agenten, den die Königin in dieser Stadt hatte, wurden wir von allem unterrichtet, was vorging. Toulon hatte Teil an dem großen Aufstand genommen, welcher sich im Süden Frankreichs gegen den Konvent gebildet. Die Stadt war in drei Parteien geteilt: in die Jakobiner, die konstitutionellen Royalisten und die entschiedenen Royalisten. Wir wußten, daß die konstitutionellen und die anderen Royalisten, durch die Hinrichtungen erschreckt, die ihre Zahl zu vermindern begannen, sich vereinigt hatten, und daß es sich um nichts Geringeres, als um die Überlieferung der Stadt an die Engländer handelte.
Am 10. September signalisierte man ein englisches Schiff, welches auf den Hafen von Neapel zusegelte und von Frankreichs Küsten zu kommen schien. Seit einigen Wochen schon entfernten wir uns nur sehr wenig aus Neapel, da wir wichtige Nachrichten erwarteten. Man unterrichtete also die Königin von dem Ereignis und sie ließ uns, Sir William und mich, davon benachrichtigen. Ich sage von dem Ereignis, denn in den Umständen, in denen wir uns befanden, war die Ankunft eines englischen Schiffes ein Ereignis. Wir begaben uns sogleich in den Palast. Die Königin befand sich auf der Terrasse, mit einem Fernglas in der Hand, und erforschte das Schiff, welches nach und nach seine Segel reffte, um langsamer segeln zu können, und jetzt in den Hafen einlief. An den Signalen sah man schon, daß dieses Schiff der »Agamemnon«, ein Linienschiff des Königs von England, war, und daß es von Toulon kam. Das wenige, was man soeben erfahren, war so viel, daß der König und Sir William es nicht erwarten konnten, die Nachrichten, welche das Schiff brachte, zu hören, und dieselben daher selbst holen wollten. Beide stiegen in ein Boot der königlichen Marine und alle Gesundheitsrücksichten verachtend begaben sie sich an Bord. Kaum waren sie daselbst angelangt, als man eine Ehrensalve abfeuerte und der »Agamemnon« in einer Rauchwolke verschwand. Nach Ablauf einer halben Stunde kamen der König und Sir William wieder ans Land zurück. Sir William hatte sich sogleich in das Gesandtschaftshotel begeben, und ließ mir sagen, zu ihm zu kommen, da er meiner bei dem Empfang eines unerwarteten Gastes bedürfte. Ich überließ es dem König, der Königin die Nachrichten mitzuteilen, die zu erfahren sie so begierig war, und da ich dachte, daß Sir William alles ebensogut wie der König wissen würde, da er bei der Unterredung des Königs mit dem Kapitän des »Agamemnon« als Dolmetsch gedient, so nahm ich Abschied von der Königin und stieg in den Wagen, indem ich dem Kutscher befahl, nach dem Hotel zu fahren. Sir William erwartete mich.
»Liebe Emma,« sagte er, als er mich erblickte, »ich werde dir bald einen kleinen Mann vorstellen, der sich nicht rühmen kann, schön zu sein, der meiner Meinung nach aber eines Tages einer der größten Kriegshelden sein wird, die England jemals besessen.« Ich mußte über Sir Williams Enthusiasmus lachen. »Und woher weißt du das?« fragte ich. – »Aus den wenigen Worten, die wir miteinander gewechselt haben, und ich wollte wetten, daß dieser Mann die Welt in Erstaunen setzen wird. Du weißt, daß ich nie einen englischen Offizier bei mir habe empfangen wollen, aber ich bitte dich, diesem gegenüber aus Liebe zu mir diese Honneurs des Hauses zu machen. Gib also deine Befehle, daß man ein Zimmer für ihn bereit halte, und daß es ihm an nichts fehle.« – »Und wann kommt denn dein zukünftiger großer Mann?« fragte ich. – »Er muß jeden Augenblick kommen. Wir dinieren alle zusammen bei dem König und morgen werden wir alle den ganzen Tag in Portici verbringen.« – »Du kannst mir aber wenigstens sagen, wie dein Held heißt.« – »Horace Nelson, liebe Freundin. Vergiß diesen Namen nicht; er wird einmal berühmt werden.« – Ich hatte keine Bemerkung zu machen und machte auch keine.
Das Gesandtschaftshotel war ungeheuer groß. Vor einiger Zeit war das Gerücht gegangen, daß der Prinz von Wales – derselbe Prinz, den ich eines Abends durch die offenen Fenster bei Miß Arabella im vollen Glanze der Jugend und Liebe gesehen – nach Neapel kommen würde und bei dieser Nachricht hatte Sir William eiligst ein Zimmer für ihn herrichten lassen. Der Prinz war aber nicht gekommen, dies Zimmer war zum Empfang eines Prinzen bereit geblieben und ich dachte, daß es weder zu gut, noch zu schön für den zukünftigen großen Mann Sir Williams sei. Ich bestimmte also das Zimmer des Prinzen von Wales für den Kapitän Nelson. Der Zufall wollte, daß eines der schönsten Bilder, die Romney von mir gefertigt, sich in diesem Zimmer befand. Als ich wieder in den Salon trat, war Sir William nicht mehr allein. Ein Offizier, der die Uniform der englischen Marine trug, war bei ihm. Sobald ich eintrat, erhoben sich beide und kamen auf mich zu. Sir William stellte mir den Kapitän Nelson vor. Wenn man an Ahnungen glauben dürfte, so würde ich hier erwähnen, daß ich, sei es infolge instinktiver Anziehung oder infolge der Eingenommenheit, die sich meiner nach dem, was Sir William mir mitgeteilt, bemächtigt, eine gewisse Bewegung empfand, als ich den Gruß des Kapitän Nelson erwiderte. Dennoch war, wie Sir William mir erzählt hatte, der Kapitän Nelson weit entfernt, ein schöner Mann zu sein. Achtzehn Jahre sind seitdem verflossen und doch sehe ich ihn gerade noch so vor mir, wie an dem Tage, wo er mir vorgestellt ward und wo der Krieg ihn noch mit den Verstümmelungen verschont hatte, die er später erlitt.
Nelson war ein Mann von fünfunddreißig Jahren, von kleiner Statur mit bleichem Gesicht, blauen Augen, einer Habichtsnase, wie sie das Profil der Männer des Krieges auszeichnet, und mit dem scharfausgeprägten Kinn, welches bis zur Hartnäckigkeit gesteigerte Zähigkeit andeutet. Sein Haar und Bart waren rotblond, das Haar dünn der Bart schlecht gewachsen. Nelson küßte mir die Hand ziemlich linkisch, aber ziemlich galant. Es war leicht, in jedem seiner Worte den Seemann in der ganzen Bedeutung des Wortes zu erkennen, und man würde vergebens in ihm den englischen Gentleman gesucht haben, von welchem meine ersten Bekanntschaften mir noch einige Erinnerung gelassen hatten. Man weiß bereits, welche Nachricht er brachte. Eine furchtbare Nachricht für Frankreich. Der erste Kriegshafen war den Engländern überliefert worden.
In Folgendem gebe ich kurz die Einzelheiten des Ereignisses, welches ich aus dem Munde des Kapitän Nelson selbst erfuhr.
Ich habe bereits gesagt, daß, wie wir wußten, drei verschiedene Parteien in Toulon existieren, die Jakobiner, die konstitutionellen Royalisten und die entschiedenen Royalisten. Die beiden letzteren, welche sich gegen die Jakobiner verbündet hatten, warteten nur auf eine günstige Gelegenheit, um mit ihren Gegnern einen Kampf zu beginnen. Diese Gelegenheit sollte sich bald bieten. Die Konstitution von 1793 war dekretiert worden und die Jakobiner hatten sie unter Pauken- und Trompetenschall in Toulon proklamieren lassen. Eine allgemeine Gährung verbreitete sich in der ganzen Stadt infolge dieser Proklamation und die Konterrevolutionäre beschlossen, sich der Annahme der Konstitutionsakte zu widersetzen. Die jakobinischen Behörden, welche voraussahen, was wohl geschehen würde, ließen ein Dekret anschlagen, in welchem man jedem mit der Todesstrafe drohte, der es wagen würde, die Eröffnung der Sessionen zu beantragen. Dieses Dekret brachte aber ganz die entgegengesetzte Wirkung von der, die man erwartet hatte, hervor. Jede der verbündeten Parteien strömte nämlich in Masse nach den Sektionen und der Eifer war so groß, daß man die Türen nicht öffnete, sondern einschlug. In einem Augenblicke war die Gegenrevolution vollendet, die Papiere des Jakobinerklubs wurden genommen, die Hauptchefs der Gesellschaft arretiert und in die Gefängnisse gesetzt, aus welchen man die Royalisten befreite, um ihnen Platz zu machen. Es war mit dem Schafott wie mit den Gefängnissen, die, nachdem sie den Royalisten gedient, jetzt den Jakobinern dienten. Weit entfernt davon, das Schafott einzureißen, ließ man es fortarbeiten, nur daß jetzt republikanische Häupter darauf fielen, wie vordem royalistische.
Eine dieser Hinrichtungen führte einen großen Tumult herbei und beinahe wäre alles verloren gewesen. Das neue Tribunal verdammte einen gewissen Alexander Lambert, einen sehr populären Mann in Toulon, zum Tode. Eine Verschwörung, ihn zu retten, bildete sich und wirklich stürzte sich in dem Augenblicke, wo man Lambert zum Tode führte, eine Unmasse Volks auf die Wache, welche ihn eskortierte. Der traurige Zug war in der Straße der Kupferschmiede angekommen, welche nun der Schauplatz eines schrecklichen Kampfes ward. Als ein Mann der Eskorte sah, daß das Volk siegen würde, schoß er auf den Gefangenen, welcher gefährlich, vielleicht aber nicht tödlich verwundet, obgleich die Kugel ihm durch den Leib gegangen war, zu Boden stürzte. Wie dem auch sein mag, endlich gelang es den Sektionen, die Oberhand zu gewinnen. Die Angreifer wurden in die Flucht geschlagen, Alexis Lambert, dessen Blutspur man wie der eines verwundeten Wildes folgte, fiel wieder in die Hände der Sektionäre, welche sich um die Beute stritten. Die einen wollten, daß man seine Hinrichtung aufschieben, die anderen, daß man dieselbe augenblicklich vollziehen sollte. Die Mehrzahl stimmte für die unmittelbare Hinrichtung und wirklich ward Alexis Lambert noch an demselben Tage enthauptet.
Toulon ward von dem Konvent außer dem Gesetz erklärt. Sonderbarerweise aber hatte Toulon, ungeachtet seines Aufstandes, alle republikanischen Einrichtungen beibehalten und die Trikolore wehte noch immer über der Stadt. Die Royalisten glaubten noch nicht genug getan zu haben. Als sie nach dem Meere blickten, sahen sie die anglo-spanisch-neapolitanische Flotte den Hafen blockieren. Sie beschlossen, Toulon den Engländern zu übergeben und durch diesen Verrat dem Banne des Nationalkonvents zu entrinnen. Man begann Unterhandlungen mit dem Admirale Hood anzuknüpfen, der jedoch nichts entscheiden wollte, so lange er nicht der Mitwirkung des Generals Grafen Maudés, Platzkommandanten, und des Admirals Trogof, des Kommandanten der Flotte, sicher wäre. Beide gingen auf den Plan ein, allein man konnte dem Kontreadmiral Saint-Julien, der ein unverbesserlicher Jakobiner war, nicht so leicht Vernunft beibringen. Kaum hatte er Kenntnis von dem Plane erhalten, so versammelte er, anstatt denselben zu unterstützen, seine Mannschaft, hielt eine feurige Rede und ließ die Offiziere und Matrosen schwören, nie zu dulden, daß die feindlichen Flotten in den Hafen von Toulon einliefen. Der Kontreadmiral Saint-Julien hatte zu dieser republikanischen Rede einen Augenblick benutzt, wo sein Vorgesetzter am Ufer war. Als Saint-Julien die Einmütigkeit nicht seiner Mannschaft allein, sondern auch die der anderen Schiffe sah, nahm er den Befehl über das Geschwader und manöverierte auf solche Weise, daß es ihm gelang, die Passage der Reede vollkommen zu sperren.
Wenn die Royalisten jetzt keinen verzweifelten Schlag führten, so waren sie verloren. Die Armee des Generals Carteaux, welcher soeben Marseille genommen, marschierte gegen Toulon und indem Saint-Julien die Reede sperrte, schnitt er ihnen den Rückzug ab. Die Royalisten versuchten diesen verzweifelten Schritt und er gelang. Sie schlossen mit den Engländern einen Vertrag, in welchem ausgemacht ward, daß, wenn sie in den Hafen von Toulon kämen, sie die Stadt im Namen und als Verbündete Sr. Majestät des Königs Ludwig des Siebzehnten in Besitz nehmen sollten. Nachdem dieser Vertrag geschlossen worden, erklärten sie die Flotte für eine Rebellin gegen den allgemeinen Willen der Einwohner und beschlossen, daß Gewalt gegen sie angewendet werde.
Demgemäß stellte man auf alle Posten, wo republikanische Offiziere standen, royalistische und besonders an den dicken Turm, dessen Kommandanten man auftrug, die glühenden Batterien zu heizen und beim ersten Signal auf die Flotte zu schießen, während der Admiral Hood sie von seiner Seite angreifen und den Eingang in den Hafen zu erzwingen suchen sollte. Diese Nachrichten wurden dem Kontreadmiral Saint-Julien mitgeteilt, der darauf erwiderte, daß er die Stadt bombardieren und alle Schiffe sich zum Kampf fertig machen lassen werde. Ein blutiger Bürgerkrieg war im Begriff auszubrechen und niemand kann sagen, wie die Sache hätte enden können, als die Fregatte »Die Perle«, welche der Leutnant Van Kempen befehligte, sich plötzlich von der Flotte trennte und für die Stadt erklärte. Der Admiral benutzte die Gelegenheit sogleich. Er ließ sich nach der Fregatte rudern und pflanzte auf derselben seine Kommandantenflagge auf, denn er wußte, welchen Zauber dieselbe auf die Matrosen ausübte. Wirklich verließ auch ein Teil des Geschwaders bei dem Anblick derselben den Kontreadmiral Saint-Julien. Da ihm bloß noch sieben Schiffe blieben, so beschloß er, sich in die Mitte der englischen Flotte zu begeben, ein Entschluß, den er mit unerhörtem Glück ausführte.
Von nun an aber war Toulon ohne Verteidiger und die nun herrschenden Royalisten ließen die Engländer herein. Obgleich die Erzählung dieser Ereignisse nicht zu den Memoiren einer Frau zu gehören scheint, so habe ich doch aus zwei Gründen dabei verweilt. Erstens hatten diese Ereignisse großen Einfluß auf andere, an denen ich später nur regen Anteil nahm, und zweitens hat meine Vertrautheit mit der Königin von Neapel es mir möglich gemacht, Einzelheiten zu erfahren, die selbst Geschichtsschreibern, die über diese Epoche geschrieben haben, unbekannt geblieben sind.
Einige Zeit nach der Ankunft Nelsons in Neapel begab ich mich, vielleicht vor der gewöhnlichen Stunde, zur Königin. Man sagte mir zu meinem großen Erstaunen, daß die Königin sich eingeschlossen, und daß sie verboten habe, irgend jemanden ohne ihre Erlaubnis bei ihr eintreten, zu lassen.
Da die Königin mit mir jedoch stets eine Ausnahme gemacht, so zog ich mich zurück, erstaunt, daß diese Ausnahme heute nicht wie an anderen Tagen beibehalten worden, als ich im Zimmer der Königin klingeln hörte. Man eilte bei dem Geräusch der Klingel herbei und fragte an der geschlossenen Tür: »Was befehlen Ihre Majestät?«
»Ruft Louis Custode,« erwiderte die Königin.
Da ich wissen wollte, warum ich wie die andern an die Tür ihres Zimmers gewiesen worden, so rief ich: »Ich bin da, Majestät!«
»Emma!« sagte sie und öffnete die Tür ganz weit.
»Ich sehe wohl, daß du da bist,« sagte Karoline lachend, »warum stehst du denn aber hier?«
»Weil,« erwiderte ich, »Eure Majestät jedem, wer es auch sein mag, den Eintritt in Ihr Zimmer verboten haben.«
»Bist du denn jemals mit dem ›wer es auch sein mag‹ gemeint? Du bist Emma, das heißt meine Freundin, die einzige, vor der ich keine Geheimnisse habe. Komm, komm!« Und sie rief mich durch eine Kopfbewegung ebenso wie mit dem Munde. Ich folgte ihr. In ihrem Schlafzimmer lagen auf einem breiten Kanapee, welches dem Bett gegenüber stand, eine ganze Welt von Papieren, die wie ein Wasserfall von dem Sofa auf den Boden gefallen waren.
»O Gott!« rief ich, »ich hoffe, daß Ihre Majestät nicht verurteilt ist, dies alles zu lesen?«
»Nein, ich habe es aber gelesen, ohne dazu verurteilt zu sein.« – »Dann überrascht es mich nicht, daß Ihre Majestät heute morgen so bleich und so leidend aussehen.«
»Das ist begreiflich, denn ich habe nicht geschlafen.«
»Was haben Ihre Majestät denn getan?«
»Ich habe es dir ja gesagt, ich habe alle diese Papiere, die du hier liegen siehst, vom ersten bis zum letzten gelesen.«
»Und zu welchem Zweck?« – »Sieh', an wen diese Papiere adressiert sind,« sagte Karoline und zeigte mir ein Kuvert. »An den Bürger Mackau, Gesandter der französischen Republik in Neapel.« Ich blickte die Königin an. »Wie!« fragte ich sie erstaunt, »der Bürger Mackau teilt Ihrer Majestät die Briefe mit, die er von seiner Regierung erhält?« – »O welche Unschuld!« rief die Königin. In diesem Augenblicke hörte man eine Stimme, welche vor der Tür sagte: »Hier ist der Mann, den Eure Majestät haben rufen lassen.« Karoline zog den Riegel, den sie vorgeschoben, selbst zurück und öffnete die Tür.
Ein Mann, der zu der Dienerschaft zu gehören schien, trat ein. Als er die Königin erblickte, verneigte er sich bis auf die Erde. »Ist es gewiß,« fragte ihn Karoline, »daß ich hier alle Papiere der französischen Gesandtschaft habe?«
»Alle, ohne Ausnahme, Majestät! Selbst die, welche in dem Schreibtisch des Gesandten lagen.« – »Du lügst nicht?« – »Ihre Majestät werden es an dem Geschrei sehen, welches der Gesandte erheben wird, wenn er bemerkt, daß er bestohlen worden ist.« – »Ich habe dir zweitausend Dukaten für diesen Diebstahl versprechen lassen.« – »Ja, Majestät, und ich habe tausend als Abschlagszahlung erhalten.« – »Obgleich die Papiere nicht so sind, wie ich es wünschte, so sind doch hier die anderen tausend Dukaten.« – »Ich danke, Majestät; man hat mir aber noch mehr versprochen.« – »Was denn noch?« – »Da ich der einzige bin, der das Zimmer des Gesandten betreten, so wird man mich zuerst in Verdacht haben und gewiß festnehmen.« – »Was kann es dir denn schaden, wenn die Richter dich nicht verurteilen?« – »Ich werde dennoch einige Monate im Gefängnis sitzen müssen.« – »Was kann das dir denn aber schaden, wenn du für jeden Monat, den du im Gefängnis zubringen wirst, hundert Dukaten erhältst?« – »Wenigstens ist dies dann eine Entschädigung. Auf alle Fälle vertraue ich mich der Gnade der Königin an.« – »Lasse dich festnehmen, leugne kühn, was auch für Beweise wider dich sein werden, stelle uns unter keinem Vorwand bloß und sei ruhig.«
Der Dieb – denn, wie man gesehen haben wird, war es wirklich ein Dieb – steckte die Börse ein. »Wie!« sagte die Königin, »du zählst ja nicht?«
»O, das wäre ja ein Beweis von Mißtrauen.«
»Es ist gut, du wirst wegen deines Vertrauens belohnt werden. Verlaß mich jetzt.« Der Mann verneigte sich abermals bis auf die Erde und ging fort. »Nun?« fragte mich die Königin, »verstehst du jetzt den Stand der Dinge?«
»Nein, denn ich kann nicht glauben, daß Ihre Majestät den französischen Gesandten durch diesen Mann haben seiner Papiere berauben lassen.«
»Dies ist aber dennoch die einfache und genaue Wahrheit.«
Ich gestehe, daß ich erschrak, denn ich dachte, daß ein auf den Befehl meiner Königin ausgeführter Diebstahl doch immer ein Diebstahl sei. Karoline erriet, was in meinem Innern vorging. »Ich glaubte in diesen Papieren Beweise für ein Einverständnis zwischen den Jakobinern von Neapel und den Jakobinern von Paris zu finden,« sagte sie. »Ich habe mich allerdings geirrt, jedoch darin etwas nicht weniger Wichtiges gefunden.«
»Und was haben Ihre Majestät gefunden?«
»Warte,« sagte Karoline, »es ist mir, als ob das der Tritt des Königs wäre – ja, er ist es. – Was will er denn zu dieser Stunde bei mir?« In diesem Augenblicke klopfte man ziemlich laut an die Tür.
»Ob ich nicht recht habe!« sagte die Königin, indem sie sich so setzte, daß sie die Papiere unter den Falten ihres Gewandes verbarg. Ich öffnete. Der König sah sehr unruhig aus.
»Mein Himmel!« rief Karoline lachend, »was fehlt Ihnen denn, mein Herr, und warum sehen Sie denn so verstört aus?«
»Sie wissen wohl nicht, was diese Nacht geschehen ist?« – »Nein, wenn Sie mir es aber gesagt haben werden, so werde ich es wissen.« – »Gestatten Sie aber vorher, daß ich als galanter Kavalier Mylady die Hand küsse und mich nach dem Befinden Sir Hamiltons erkundige.« Ich reichte dem König die Hand, die er, wie er gesagt, galant küßte. »Sir William befindet sich ausgezeichnet gut,« erwiderte ich, »und wird sich sehr darüber freuen, daß Ew. Majestät sich seiner so gnädig erinnern.«
»Jetzt, nachdem Sie diese Pflichten erfüllt haben,« hob die Königin wieder an, »erzählen Sie mir die schreckliche Begebenheit, die sich diese Nacht ereignet hat.«
»Nun, diese Nacht hat man die Papiere der französischen Gesandtschaft gestohlen.« – »Bah!« – »Und heute morgen hat der Kanzler in Namen des Bürgers Mackau bei dem General Acton auf Klage angetragen.« – »Wirklich?« – »Und die Klage lautet dahin, daß man eine Person am Hofe von Neapel der Tat verdächtig hält.« – »Dann ist er intelligenter, als ich glaubte.« – »Wer er?« – »Der Bürger Mackau.« – »Was meinen Sie?« – »Ich meine, daß Ihr bester Spürhund, Sire, die Spur der Papiere nicht besser hätte verfolgen können, als es der Bürger Mackau getan.« – »Wie, Madame! Sie wissen um diesen Diebstahl?« – »Ja, ich habe davon sprechen hören.« – »Und Sie wissen, wo die Papiere sind?« – »Ich vermute es.« – »Wo sind sie denn aber?« – »Wollen Sie es wissen?« – »Gewiß, und wäre es nur um den Forderungen des Bürgers Mackau nachzukommen.« – »Nun, hier sind sie!« sagte die Königin, indem sie sich erhob und die Papiere sichtbar machte, auf denen sie gesessen, und die sie unter den Falten ihres Gewandes verborgen hatte. »O mein Gott!« rief der König erbleichend. – »Emma! Emma« sagte die Königin lachend, »rücke Seiner Majestät einen Fauteuil hin, sie wird schwach.«
Die Lachlust steckte auch mich an und ich rückte dem König einen Lehnstuhl hin, auf dem er niedersank. »Madame,« sagte er, »man wird aber erfahren, daß wir es sind, die die Papiere haben stehlen lassen, und der Diebstahl dieser Papiere zieht einen Krieg mit Frankreich nach sich!«
»Erstens, mein Herr,« sagte die Königin, »haben nicht wir die Papiere stehlen lassen, sondern ich habe es getan; zweitens wird man nicht erfahren, daß ich es gewesen bin, und drittens hätten wir auch ohne den Diebstahl dieser Papiere einen Krieg mit Frankreich gehabt. Der Diebstahl der Papiere ändert also nichts.« – »Und warum hätten wir ohnedies Krieg mit Frankreich?« – »Ganz einfach, weil der Bürger Mackau Augen hat, weil er unsere Rüstungen gesehen, die Soldaten und Schiffe, die wir nach Toulon geschickt haben, gezählt hat, weil Frankreich von allem unterrichtet ist und weiß, daß wir viertausend Mann und vier Schiffe in Toulon haben.«
»Wir können dem französischen Gesandten dennoch nicht die geforderte Genugtuung verweigern.« – »Und welche Genugtuung fordert er?« – »Kriminelle Untersuchung des Diebstahls, wenn der Dieb ein Neapolitaner ist.« – »Geben Sie ihm nur diese Genugtuung!« – »Wenn der Dieb nun aber gesteht?« – »Er wird nichts gestehen!« – »Wenn er aber dennoch verurteilt wird?« – »Er wird nicht verurteilt werden, da er vor einem neapolitanischen Tribunal stehen wird.« – »O Madame,« sagte der König, »verlassen Sie sich nicht darauf; heutzutage strebt man nach Unabhängigkeit.« – »Eben das will ich verhindern, mein Herr,« sagte die Königin, indem sie die Stirn runzelte, »und wenn es sein muß, so werde ich mit den Tribunalen den Anfang machen.«
»So ist dies also Ihre Sache?« – »Jawohl!« – »Sie wollen dies Geschäft auf sich nehmen?« – »Ja.« – »Dann handeln Sie nach Ihrem Dafürhalten. Meinetwegen mag geschehen, was da will, wenn mir nur meine Wälder bleiben, in denen ich jagen, und ich den Golf behalte, wo ich fischen kann.« – »Und San-Leucio, wo Sie sich ausruhen können,« fügte die Königin mit verächtlichem Lachen hinzu.
»Würde mir Ihre Majestät die Ehre erweisen, sich um San-Leucio zu kümmern?« fragte der König.
»Und warum sollte ich das, wenn jetzt an der Spitze dieser interessanten Kolonie ein so verdienstvoller Mann wie der Kardinal Ruffo steht? O, wenn er anstatt Inspektor Schatzmeister wäre, so würde ich vielleicht nicht so ruhig sein.« – »Was haben Sie denn gegen den armen Kardinal? Ich versichere Sie, daß er ein Mann von großer Ergebenheit für uns ist.« – »Für Sie wollen Sie wohl sagen?« – »Du mein Gott, Madame,« sagte der König lachend, »sind wir denn nicht beide eins?« – »O nein, mein Herr, und ich rühme mich dessen.«
»Sie behandeln mich heute morgen sehr ungnädig, Madame.« – »Behandle ich Sie denn abends besser als am Morgen?« – »Was soll denn Lady Hamilton von mir denken?«
»Lady Hamilton bildet ihre Meinungen nach den meinigen.« – »Das heißt,« sagte der König lachend, »daß Lady Hamilton mir, wie Sie, die Ehre erweist, mich zu verabscheuen.« – »O!« sagte die Königin, »Sie wissen recht wohl, daß ich ein anderes Gefühl als das des Hasses für Sie empfinde.« – »Ich sehe nun wohl ein, daß ich heute morgen bei Ihnen nicht das letzte Wort behalte.«
»Waren Sie deshalb gekommen?«
»Nein, Madame; ich war gekommen, um Sie zu sehen und Ihnen die Neuigkeiten des Morgens mitzuteilen.« – »Nun gut, ich will Ihnen dafür die Neuigkeiten des Tages sagen. Wir, Monsignor Acton und ich, haben beschlossen, daß zwei Schiffe und dreitausend Mann Verstärkung zur anglo-spanischen Flotte gesandt werden. Die Generale von Gambo und Pignatelli sollen den Oberbefehl erhalten. Ich überlasse Ihnen die Ehre der Initiative, wenn Sie dieselbe heute im Kabinettsrat nehmen wollen, nur drängen Sie zur Eile, denn der Kapitän Nelson verlangt diese Verstärkung durchaus.«
»Und wird es mir durch diese Tätigkeit gelingen, Ihre Gnade wiederzuerlangen?« – »Sie haben dieselbe ja niemals verloren, mein Herr,« sagte die Königin mit halb anmutigem, halb spöttischem Lächeln. – Der König näherte sich ihr, faßte ihre Hand und küßte dieselbe, indem er sie mit einem unbeschreiblichen Ausdruck anblickte. »So sind Sie also entschieden zum Krieg entschlossen?«
»Ja, entschieden, mein Herr, und dies um so entschiedener, als es gar nicht anders geht.«
»So sei es denn, Madame! In den Kampf! Sie werden sehen, daß, wenn der Augenblick gekommen sein wird, den Degen aus der Scheide zu ziehen, ich eben so tapfer sein werde, wie jeder andere.« – »Das wird Ihnen um so leichter sein, mein Herr, da König Carl der Dritte, als er Neapel verließ, Ihnen den Degen zurückgelassen hat, mit dem Philipp Spanien und er selbst das Königreich Neapel besiegt hatte. Nun ist dieser Degen seit der Schlacht von Velletri nicht ans Tageslicht gekommen und in dreiundvierzig Jahren kann zwischen einer Scheide und einer Klinge vieles geschehen.« – »Meiner Treu, meine liebe Schulmeisterin,« sagte der König kopfschüttelnd. »Sie besitzen für mich zu viel Geist und ich lasse Sie daher im alleinigen Besitz des Terrains.«
Nachdem er sich vor uns verneigt, zog er sich zurück. »Jetzt,« sagte die Königin, »während mein teurer Gemahl ein Alexander oder ein Cäsar wird, wollen wir die nutzlosen Papiere verbrennen und nur die aufheben, die es wert sind.« Wir machten uns ans Werk und ich muß offen bekennen, daß dieser entschiedene Charakter mich in seinem Willen mit fortriß, wie ein Gestirn den Trabanten in seinen Kreislauf mitzieht.
Die Begebenheiten, die ich soeben erzählt, waren acht oder zehn Tage vor der Ankunft des Kapitän Nelson geschehen, auf den zurückzukommen, es jetzt Zeit ist.
Man wird sich der Antwort erinnern, die Desdemona auf die Frage des Senats von Venedig gab:
»Wie habt Ihr, die Ihr jung, schön und edel seid, den Mann lieben können, der weder edel, noch schön, noch jung ist?« – Desdemona erwidert: »Er erzählte mir von seinen Reisen, seinen Gefahren, Kämpfen und stundenlang hing meine Seele an seinen Lippen.« – Ungefähr ebenso war es, ich will nicht sagen mit dem ersten Gefühl der Liebe, sondern mit dem ersten Gefühl von Sympathie, welches mir Nelson einflößte. Er war ein rauher Seemann, eine Art John Bull, der symbolische Typus des englischen Volkes. Von den ehrgeizigsten Wünschen beseelt, ward er, da er fern von den Thronen geboren worden, bei der ersten Annäherung derselben von dem Glanz geblendet, der von ihnen ausging. Hier ist seine Geschichte, wie er sie eines Abends der Königin und mir erzählte.
Er war am 29. September 1758 in einem kleinen Dorfe der Grafschaft Norfolk geboren. Demnach war er zu der Zeit, wo ich ihn kennen lernte, fünfunddreißig Jahre alt.
Er hatte Teneriffa noch nicht belagert und auch den korsischen Feldzug noch nicht mitgemacht; daher hatte er auch noch weder den rechten Arm, noch das linke Auge verloren. Er war der Sohn eines einfachen Geistlichen. Das Dorf, wo er geboren ward, hieß Burnham-Thorpes. Seine Mutter starb jung und hinterließ der Fürsorge des armen Dorfgeistlichen elf Kinder. Der Vater erzog sie sparsam und mit der milden Liebe, welche die Glieder einer armen und zahlreichen Familie miteinander verbindet. Er unterrichtete sie alle selbst, Knaben wie Mädchen, richtete aber seine Gesundheit dabei zu Grunde, und um dieselbe wieder herzustellen, war er genötigt, die Bäder von Bath zu brauchen. Der älteste Sohn, William Nelson, übernahm in der Abwesenheit des Vaters die Leitung der kleinen Kolonie. Die arme Familie hatte einen Verwandten, einen Bruder der Mutter, welcher mit der Familie Walpole verwandt war. Dieser Onkel war Schiffskapitän und hieß Morris Suckling. Eines Tages wollte der Zufall – wovon hängt oft das Schicksal der Menschen, selbst der gekrönten Häupter ab! – eines Tages wollte der Zufall, daß der kleine Horace Nelson während des Osterfestes in einer Zeitung las, daß sein Onkel den Oberbefehl über den »Reasonable«, ein Schiff von vierundsechzig Kanonen, erhalten hatte. »Bruder,« rief er, indem er sich an William wendete, »schreibe sogleich, ohne einen Augenblick Zeit zu verlieren, an den Vater, und bitte ihn, meinen Onkel Morris zu fragen, ob ich mit ihm zur See gehen dürfte.« – Noch an demselben Tage ward der Brief abgeschickt. Als der Vater denselben las, rief er aus: »Ich glaube, Horatio ist dazu berufen. Ich würde nicht erstaunen, wenn er die höchste Mastspitze erkletterte!« Wirklich tat Nelson das auch. Suckling nahm den Vorschlag an, und der kleine Nelson, der so schmächtig wie eine Weidenrute war, ward an Bord des »Reasonable« aufgenommen. Horatio Nelson machte auf diesem Schiffe zwei Reisen, eine dritte auf dem »Triumph«, und nachdem das letztere desarmiert worden, schiffte er sich auf einem Kauffahrteischiffe ein. Bei seiner Rückkehr nach London fand er seinen Onkel als Direktor einer praktischen Seemannsschule auf demselben »Triumph«, auf dem er gesegelt, wieder. Er trat in diese Schule ein, da ihm aber dieses Leben auf süßem Wasser unerträglich, so ließ er sich freiwillig zum Teilnehmen an einer Entdeckungsexpedition nach dem Nordpol anwerben. Demgemäß begab er sich an Bord des »Race-Corse«. Nachdem das Schiff die äußersten Grenzen des Ozeans erreicht, blieb es zwischen den Eisbergen festsitzen. Bei einer dieser Expeditionen auf dem in Eis verwandelten Meere begegnete der junge Horatio einem Bären und griff diesen zuerst an, obgleich er weiter keine Waffe als ein Messer besaß. Von seinem furchtbaren Gegner fest umschlungen, wäre er beinahe zwischen den Armen des Ungeheuers erstickt, als einer seiner Gefährten den Bären ins Ohr schoß und tötete.
Nelson war sechzehn Jahre alt und noch so schwächlich, daß man ihn kaum für zwölf alt hielt. »Warum hast du bei deiner geringen Kraft,« fragte ihn der Kapitän, »einen solchen Gegner angegriffen?« »Ich wollte sein Fell meinem Vater und meinen Schwestern mitbringen,« erwiderte Nelson. Die rauhen Proben, denen das Meer die Seefahrer unterwirft, verdoppelten später Nelsons Kräfte und befestigten seine Gesundheit. Nachdem das Schiff aus den Eisfelsen befreit worden, befand es sich dann wieder im offenen Meere. Hierauf begab sich Nelson auf das Schiff »Sea Horse«, ein Schiff von zwanzig Kanonen, und befuhr den indischen Ozean. Nachdem er zwei Jahre an den Küsten desselben verweilt, wo die Luft vergiftet ist, kehrte der junge Seemann in einem Zustand solcher Kränklichkeit zurück, daß man glaubte, er würde sterben. Sechs Monate genügten jedoch, um ihn wieder herzustellen. Er benutzte die Zeit seiner Genesung dazu, um sich für seine Examina vorzubereiten, aus denen er siegreich und mit dem Grade eines Marineunterleutnants hervorging. Hierauf kämpfte er gegen Amerika, als es den Unabhängigkeitskrieg begonnen, verteidigte Jamaika gegen den Admiral Estaing, ging nach Südamerika und erneuerte hier die Heldentaten jener Küstenbrüder, deren Geschichte mit dem Zauber eines Romans bis zu uns gedrungen ist. Eines Tages schlief er bei einem seiner Streifzüge in den Wäldern von Peru am Fuße eines Baumes ein. Eine Schlange kroch in den Mantel, in den Nelson sich eingewickelt hatte.
Eine Bewegung, welche der Schlafende machte, störte die Schlange, welche ihn biß. Es war eine schwarze Schlange von der gefährlichsten Gattung. Das Gegengift, welches die Eingeborenen noch rechtzeitig innerlich und äußerlich bei ihm anwendeten, rettete den jungen Seemann, zum zweiten Male aber kam er todkrank nach England zurück. Er genas jedoch wieder, wenn auch nicht vollständig, und sein ganzes Leben hindurch fühlte er die Nachwirkung dieser Vergiftung. Drei Monate nach seiner Rückkehr erhielt er auf die Empfehlung des Lord Cornwallis den Oberbefehl über eine Brigg von 26 Kanonen, mit der er in der Nordsee kreuzte und die Küste Dänemarks kennen lernte. Im Frühling ward Nelson nach Nordamerika geschickt. Von vier französischen Fregatten verfolgt und umringt, entkam er dadurch, daß er mit seiner Brigg durch einen bis dahin für unzugänglich gehaltenen Paß segelte. Er berührte Kanada. Hier war es, wo Nelson zum ersten Male liebte, und an der Heftigkeit dieser ersten Leidenschaft konnte man sehen, welchen Einfluß die Liebe auf sein Leben haben würde. Um sich nicht von der Frau zu trennen, die er liebte, wollte er seine Entlassung einreichen, seinem Beruf entsagen und sein Schiff nach England zurückschicken, selbst aber zurückbleiben. Seine Untergebenen, die ihn anbeteten, behandelten ihn wie einen Tollen und beschlossen, ihn von seiner Tollheit zu heilen. Sie taten nämlich, als ob sie seinen Befehlen gehorchten, entfernten sich, kamen die Nacht zurück, drangen bis in sein Zimmer, fesselten ihn an Händen und Füßen, und nachdem sie ihn so in ihrer Gewalt hatten, schleppten sie ihn an Bord, lichteten die Anker und gaben ihm die Freiheit erst dann wieder, als man sich auf dem offenen Meer befand. Diese Leidenschaft erlosch nur, um einer andern das Feld zu räumen. Bei seiner Rückkehr nach England verliebte er sich in Mistreß Nisbett, eine junge Witwe von neunzehn Jahren und heiratete sie. Er nahm seine junge Frau und einen reizenden kleinen Knaben, namens Josua, einen Sohn aus ihrer ersten Ehe, mit in das Haus seines sterbenden Vaters und zum zweiten Male glaubte man ihn für den Seemannsberuf verloren. Und wirklich bedurfte es der Kriegserklärung Frankreichs gegen England, um ihn dem angenehmen Dunkel zu entreißen, in welches er sich geflüchtet. Die Admiralität suchte ihn in seinem Hause auf und übertrug ihm den Oberbefehl über den »Agamemnon«, mit dem er zum Geschwader des Admirals Hood im Mittelmeere zog. Er kam gerade noch zeitig genug, um an der Einnahme von Toulon teilzunehmen, nach welcher man ihn, wie man bereits gesehen, nach Neapel schickte, wo er Verstärkung holen sollte. Ich habe gesagt, wie er von dem König und der Königin empfangen ward. Einmal zum Kriege entschlossen, konnte Ferdinand nicht bessere Nachrichten wünschen, als wie Nelson sie ihm brachte. Man hatte offen und vollständig mit Frankreich gebrochen. Auf die Klage des Bürgers Mackau hatte man den Dieb der Papiere des französischen Gesandten festgenommen, vor ein Tribunal gestellt und freigesprochen, obgleich die Beweise seiner Strafbarkeit offenkundig vorlagen.
Wie die Königin aus den Briefen des Gesandten ersehen, hatte Mackau alle Wortbrüchigkeiten des Hofes von Neapel erkannt. Er hatte die Flotte in See gehen, Nelson ankommen sehen, das Echo der Artigkeiten, welche der König, wie die Königin dem Seehelden erwiesen, war bis zur französischen Gesandtschaft gedrungen, kurz, eines Morgens erhielt der Gesandte von seiner Regierung den Befehl, Neapel zu verlassen, und war, über die neapolitanische wie päpstliche Regierung aufgebracht, abgereist. Mit ihm reisten die Gattin und die Tochter Basseville's, den man in Rom ermordet. Die eine beweinte den Vater, die andere den Gatten. Von der Terrasse des Palastes aus sahen wir Mackau sich auf ein neutrales Schiff begeben und da er seinerseits eine Gruppe Frauen den königlichen Zimmern gegenüber sah, so glaubte er, die Königin sei auch da und streckte die Arme drohend nach uns aus. Ich hatte jedoch in dem Gefolge des Gesandten für nichts Augen, als für jene beiden schwarzgekleideten Frauen, deren Trauer lauter um Rache schrie, als die drohende Gebärde des Gesandten. Nelson war von dem Empfange, der ihm vom Könige, von der Königin und Sir William bereitet worden, berauscht. Als ein Kind des Volks, fern vom Hofe geboren, fühlte er gleich wie ich den Zauber, den ein königliches Lächeln ausübt, tiefer als die Personen, welche von Geburt einen höheren Rang besitzen.
Hier folgt der Brief, den er am 14. September 1793 an seine Gattin schrieb:
»An Mistreß Nelson. Die Nachrichten, die ich gebracht habe, sind mit der größten Zufriedenheit aufgenommen worden. Nachdem der König mir zuerst einen Besuch an Bord des »Agamemnon« abgestattet, hat er sich zweimal nach meinem Befinden erkundigen lassen. Er nennt die Engländer die Retter Italiens und besonders die Retter seines Reiches. Übrigens habe ich für Lord Hood mit einem Eifer gearbeitet, wie niemand denselben weitertreiben kann, und ich übersende ihm den herrlichsten Brief, den die Hand eines Königs je geschrieben. Ich habe diesen Brief durch die Verwendung Sir William Hamilton's und des Premierministers, der ein Engländer ist, erhalten. Lady Hamilton empfindet anbetungswürdige Teilnahme für Josua. Diese Lady Hamilton ist eine junge Frau von ausgezeichnetem Anstand, die dem Rang, zu dem sie erhoben worden ist, alle Ehre macht. Ich werde Lord Hood sechstausend Mann Verstärkung von hier zuführen. Grüße meinen lieben Vater, wie auch Lord und Lady Walpole. Ich bin wie stets dein Dich liebender
Horace Nelson.«
Solange Nelson sich in Neapel aufhielt, wohnte er in dem Gesandtschaftshotel. Ich habe bereits gesagt, welchen Eindruck er auf mich hervorbrachte. Später wiederholte er mir oft, daß er mich von dem ersten Augenblicke an, wo er mich gesehen, geliebt habe; während dieser ersten Reise jedoch sprachen nur seine Blicke und noch so wenig entschlossen, daß er abreiste und mich in dem Zweifel zurückließ, ob er mich liebte, oder nur einfach eine brüderliche Zuneigung für mich empfände. Bei mir galt das Gefühl, welches ich empfand, wenn es überhaupt die Grenzen der Freundschaft überschritt, gänzlich dem schönen Jüngling, dem Sohn der Mistreß Nisbett, der in einem Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren bereits die Uniform eines Marineoffiziers trug. Wenn ich, auf einem Divan liegend, den Arm um Josua's Hals geschlungen, der Erzählung von den Reisen, den Gefahren und den Kämpfen seines Stiefvaters lauschte, pflegte Sir William, der stets für das Altertum eingenommen war, mich mit der Königin von Karthago zu vergleichen, wie sie Ascanius liebkoste und dabei den Erzählungen des Aeneas lauschte.
Marie Karoline war eine Zeitlang durch Nelsons Anwesenheit in Neapel von den furchtbaren Plänen, welche die Anklage gegen ihre Schwester ihr eingegeben, abgelenkt worden, sobald Nelson aber abgereist war, kehrten ihr Geist und Herz wieder nach der Conciergerie zurück, gleichwie die Magnetnadel, nachdem sie einen Augenblick und durch Zufall von ihrem Punkt abgewichen, unveränderlich zu dem Pol zurückkehrt. Unterdessen hatte der Prozeß gegen Marie Antoinette einen schnellen und verhängnisvollen Verlauf genommen. Vor das Revolutionstribunal verwiesen und am 1. August nach der Conciergerie gebracht, hatte Marie Antoinette am 12. Oktober ein Verhör gehabt und war am 16. zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Obgleich die Königin von Neapel sich wohl dachte, daß der Konvent Marie Antoinette, den Hauptgegenstand seines Hasses, nicht schonen würde, so war doch der Schlag nicht weniger furchtbar für sie, als sie die Hinrichtung ihrer Schwester erfuhr. Sie fiel in Krämpfe, die sie mit Drohungen und lautem Geschrei begleitete, und ihr Gesicht verzerrte sich dabei auf solche Weise, daß es sehr zu bezweifeln war, ob es je seine frühere Schönheit wieder erhalten würde. Wie bei dem Tode Ludwig XVI. befahl man öffentliche Trauer, Gebete in allen Kirchen und Totenprozessionen auf allen Straßen. Die Königin schloß sich in ihr Zimmer ein und wollte außer mir niemanden bei sich empfangen. Während der ersten acht Tage, welche den verhängnisvollen Nachrichten folgten, verließ ich die Königin keine Stunde. Ich schlief bei ihr, aß bei ihr, sie aber schlief weder, noch aß sie. Endlich vermochte sie zu weinen und fühlte sich durch die Tränen etwas erleichtert. Während dieser acht Tage aber hatte sie tausend Racheschwüre ausgesprochen, wie auch ich es tun mußte. Wie wollte sie sich rächen? Das wußte sie nicht. Wodurch sollte ich sie in ihrer Rache unterstützen? Das wußte sie ebensowenig. Wie Hamilkar es aber mit dem jungen Hannibal getan, so legte sie auch meine Hand auf den Altar und schrie: »Rache! Rache!« Was den König betraf, so schien er den ersten und zweiten Tag sehr erschüttert und besonders sehr erschreckt zu sein; am dritten Tag aber ging er unter dem Vorwand, sich zerstreuen zu wollen, auf die Jagd und kam unter einer Woche nicht wieder zum Vorschein. Jetzt war es, wo der Haß die Königin Karoline dem Minister Acton näher brachte. Dreimal des Tages ließ sie ihn holen, fragte ihn um Nachrichten über den Krieg und wenn sie ihn entließ, rief sie aus: »Sie, der Sie ein Mann sind, könnten doch ein Mittel zur Rache für mich finden.« Dann pflegte Acton sie so gut zu trösten, wie sie sich eben trösten ließ, indem er sagte, in welchen blutigen Zuckungen Frankreich seine Kräfte erschöpfe.
Eines Tages aber sah ich ihn bleich, mit zusammengekniffenen Lippen und vor Wut am ganzen Körper bebend eintreten. Als die Königin ihn bemerkte, wußte sie sogleich, daß er der Überbringer irgendeiner verhängnisvollen Nachricht war.
Karoline richtete sich hoch auf, und indem sie meine Hand, die sie bei dem Eintritt des Generals gefaßt hatte, heftig drückte, sagte sie: »Was ist denn wieder?« – »Die Republikaner haben Toulon wiedergenommen, Madame,« sagte Acton. – »Toulon!« rief die Königin, indem sie erbleichte, »sie haben Toulon wiedergenommen und vor ungefähr acht Tagen sagten Sie mir noch, daß Sie vom General Hood einen Brief empfangen hätten, in welchem er Ihnen geschrieben: ›Wenn die Jakobiner mir Toulon wiedernehmen, so werde ich selbst Jakobiner.‹« – »Nun, es bleibt ihm jetzt weiter nichts übrig, als sich die rote Mütze bis über die Ohren zu ziehen.« – »Wie ist dies denn aber möglich? Ihrer Aussage zufolge waren die Belagerer Toulons ja Blödsinnige. Carteaux, der General Carteaux, sagten Sie, wäre unfähig, selbst eine Stadt dritten Ranges zu belagern.« – »Und ich sage es noch, Madame, nur hat man unglücklicherweise Carteaux abgerufen und Dugonnier an seine Stelle geschickt. Die Generale aber sind es nicht, die Toulon wiedergenommen haben; es ist vielmehr allem Anschein nach ein junger, vollkommen unbekannter Offizier, der zum ersten Male ins Feld gezogen.« – »Und wie heißt er?« – »Bonaparte.« – »Wer ist das, Bonaparte? Ist er ein Italiener?« – »Ja und nein.« – »Woher ja und nein?« – »Er ist ein Korse.« – Die Königin stampfte mit dem Fuße. »Toulon ist wiedergenommen!« wiederholte sie. Sie schwieg einen Augenblick, indem sie die Stirn runzelte und die Arme ausstreckte. »Und weiter weiß man nichts von diesem Bonaparte?« – »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich von ihm weiß, Madame. Die Nachricht ist von einer Handelsbrigg, die man im Hafen blockiert und die denselben zugleich mit der englischen und unserer Flotte verlassen, gebracht worden. Nur hat sie, da sie ausgezeichnet segelte, die beiden Flotten überholt und von einem kleinen Sturm unterhalb der Insel Elba gepackt, ist sie in drei Tagen von Pinosa bis hierher gekommen.« – »Wen haben Sie befragt?« – »Den Kapitän.« – »Kann ich diesen Mann nicht sprechen?« – »Nichts ist leichter, nur hat er mir bereits alles gesagt, was er wußte.« – »Wann hoffen Sie weitere Nachrichten zu erhalten?« – »Diesen Abend, diese Nacht, spätestens morgen früh.« – Jetzt blickte der General unwillkürlich nach der Küste. »Ah, sehen Sie, Madame,« sagte er, »dort kommt ein Schiff mit vollen Segeln auf uns zu und es ist mir, als ob ich am Horizonte noch mehr Schiffe auftauchen sähe.« – »Bringe das Fernrohr, Emma,« sagte die Königin.
Die Königin hatte wirklich vom Kapitän Nelson ein gutes Fernrohr verlangt, und dieser hatte ihr das beste, was es auf dem »Agamemnon« gab, gesandt.
Der General nahm es, und nachdem er es gestellt, richtete er es auf das Schiff, welches am Horizont erschien.
Und während er die Rohre wieder ineinanderschob, sagte er:
»Wenn ich mich nicht sehr irre, so werden wir noch vor zwei Stunden die genauesten Nachrichten und zwar von einem Mann erhalten, der sich von dem ganzen Vorgang nichts wird haben entgehen lassen.«
»Sie haben das Schiff also erkannt?« fragte Karoline.
»Ja, ich glaube, es ist die »Minerva«, deren Kapitän Francisco Caracciolo ist.« – »Ah,« sagte die Königin, »wenn er es ist, so teilen Sie ihm doch mit, daß ich ihn zu sprechen wünsche und zwar zuerst. Wenn Sie wollen, General, so begleiten Sie ihn; zuerst aber soll er hierherkommen.« – Der General verneigte sich und ging. Wir blieben allein. Die Königin nahm das Fernrohr wieder zur Hand und folgte der Korvette mit den Augen, bis diese in den Hafen eingelaufen war. Die Korvette aber hatte, noch ehe sie in den Hafen einlief, Signale mit dem Kastell d'Uovo gewechselt, so daß der Kapitän nicht einmal wartete, bis der Anker den Meeresgrund berührte, um in seine Jolle zu steigen und sich nach dem Hafendamme rudern zu lassen. In der Ferne sah man sechs bis acht andere Schiffe, die mehr oder minder beschädigt zu sein schienen, und je nach den Schäden, die sie erlitten, mehr oder minder langsamer segelten.
Seitdem die Königin die Schaluppe, welche der Kapitän der Korvette bestiegen, aus den Augen verloren, blickte sie unverwandt auf die Tür.
Nach Ablauf von zehn Minuten hörten wir schnell näherkommende Schritte, die Tür öffnete sich und der General Acton selbst meldete: »Der Kapitän Caracciolo.« – Der Kapitän trat ein, machte eine tiefe Verbeugung, die es mir freistand als auch für mich geltend anzusehen, und erwartete die Fragen der Königin. »Nun, mein Gott! mein Herr!« sagte sie. »Ich habe soeben gehört, diese schändlichen Jakobiner hätten Toulon wiedergenommen! Ist das wahr?« – »Es muß wohl wahr sein, Madame,« erwiderte Caracciolo mit traurigem Lächeln, »da ich hier bin!« – »Und man hat Toulon also übergeben, ohne sich zu verteidigen?« – »Man hat sich verteidigt, Madame, denn von den unsern sind zweihundert Mann getötet und vierhundert zu Gefangenen gemacht worden.« – »Dann erklären Sie mir diese Niederlage, mein Herr, denn das ist doch eine Niederlage, nicht wahr?« – »Jawohl, Madame, und zwar eine Niederlage in der ganzen Bedeutung des Wortes und der ganzen Wirklichkeit der Sache.« – »Wer hat es denn aber vermocht, in wenigen Tagen den ganzen Stand der Dinge zu verändern?« – »Ein Mann von Genie, Madame.« – »Dieser Bonaparte?« – »Ja, dieser Bonaparte.« – »Was hat er denn getan?« – »Er hat den einzigen Punkt entdeckt, an welchem Toulon angreifbar war. Er hat diesen Punkt mit dem Bajonett genommen, und von demselben aus die Stadt beschießen lassen.« – »Und dann? Weiter, weiter! Sie sehen wohl, daß ich höre, mein Herr.« – »Nun, Madame, dann . . . als man gesehen, wie die Haubitzen die Stadt einäscherten, als man die Kugeln durch die Straßen pfeifen hörte, als man gesehen, wie die Forts von Eguilette und Balagnier sich mit Klein-Gibraltar vereinigten, um Toulon zu zerstören, brach Streit zwischen den Engländern, Spaniern und Neapolitanern aus. Die Engländer, welche sich fest vorgenommen hatten, die Stadt zu räumen, ohne weder den Spaniern, noch uns etwas davon zu sagen, legten im Zeughaus, in den Magazinen der Marine und in den französischen Schiffen, die sie nicht mit fortnehmen konnten, Feuer an, begannen sich unter dem Feuer der französischen Batterien einzuschiffen und verließen diejenigen, die ihretwegen Frankreich verraten und die sie nun ihrerseits verrieten. Von jetzt an, Madame, entstand Verwirrung, Flucht und Unordnung! Die Engländer ließen auf die Royalisten schießen, die sich an den Seiten ihrer Schiffe anklammerten, um der Rache der Patrioten zu entrinnen. Ich hielt es für meine Pflicht, das Beispiel der Engländer nicht nachzuahmen, sondern habe ungefähr zwanzig Royalisten an Bord aufgenommen und unter anderen auch den Gouverneur der Stadt, den Grafen Mandes. Ich bringe die Unglücklichen mit hierher. Ob sie nun hier vor Hunger umkommen, wenn der König sich ihrer nicht erbarmt, oder ob sie dort erschossen oder guillotiniert werden, so ist dies ja einerlei.« – »Sie haben recht gehandelt, mein Herr,« rief die Königin, »und Ihre Royalisten werden nicht vor Hunger umkommen, das sage ich Ihnen, denn wenn der König sich weigert, ihnen Brot zu geben, so werde ich meine Diamanten verkaufen und den Armen Brot verschaffen.« Caracciolo verbeugte sich. »Ich weiß nicht, mein Herr,« fuhr die Königin fort, »ob mein Einfluß so weit geht, daß ich Sie zum Admiral ernennen lassen kann. Auf alle Fälle aber werde ich den König und Monsieur Acton um diese Gunst bitten, und wenn ich mich nicht täusche, so wird man Ihnen diese Belohnung gern gewähren.« – Karoline machte eine Handbewegung, Caracciolo verbeugte sich und ging. »Was meinen Sie denn zu der Sache, mein Herr?« fragte die Königin den General Acton. – »Ich meine, Madame, daß der Fürst Caracciolo die Engländer nicht leiden kann. Daher kommt ohne Zweifel die häßliche Rolle, die er meine Landsleute in dieser Angelegenheit spielen läßt.« – »Sie wollen hiermit also sagen, daß Sie, mein Herr, nicht meiner Meinung sein werden, wenn man im Staatsrat erörtern wird, ob der Grad, den ich für den Kapitän Caracciolo fordern werde, bewilligt werden soll?« – »Eure Majestät weiß,« sagte Acton, indem er sich verneigte, »daß ich stets Ihrer Meinung bin. Würde die Königin es jetzt nicht für gut finden, wenn ich schleunigst Order gäbe, daß die Schiffe und Menschen, die soeben in den Hafen gekommen, der Gegenstand der Pflege und der Sorge der Regierung sein sollen?« – »Gehen Sie, mein Herr, gehen Sie! Lassen Sie die Verwundeten verbinden, die Kranken pflegen, und denen, die sich ausgezeichnet haben, Belohnungen erteilen, denn wir sind keine solche Großmacht, daß wir das Recht hätten, undankbar gegen unsere Verteidiger zu sein.« – Acton verließ uns.
Am Abend kehrte der König von der Jagd zurück. Gegen elf Uhr erkundigte sich die Königin nach allem, was er gesagt und getan. Er hatte ganz ruhig soupiert, hatte sich während seines Soupers die Ereignisse, von denen man soeben Kunde erhalten, erzählen lassen und war dann, ohne ein Wort zu sagen, zu Bett gegangen. Um Mitternacht bat mich die Königin, sie zu begleiten. Ich sah mit Erstaunen, daß sie einen Dolch und einen schwarzen Bleistift nahm, und als ich sie fragte, was sie zu tun im Begriff sei, sagte sie: »Komm nur mit und du wirst es sehen.« – Ich folgte ihr durch den stets einsamen Korridor, auf welchem der König gewöhnlich zu ihr kam. So gelangten wir an ein kleines Zimmer, welches sich vor dem des Königs befand. Hier blieb Karoline stehen und horchte, ob sich nirgends ein Geräusch vernehmen ließe. Es herrschte jedoch das tiefste Schweigen sowohl in dem Zimmer des Königs, der in tiefem Schlafe lag, als auch in dem Zimmer des diensttuenden Hofkavaliers. Die Königin näherte sich dem Schlafzimmer ihres Gatten, stieß den Dolch in die Tür und indem sie mir den schwarzen Bleistift gab, sagte sie: »Da der König deine Schrift nicht kennt, so schreibe hier um diesen Dolch die Worte, die ich dir sagen werde.« Ich setzte den Bleistift auf das Holz der Tür. – »Schreibe: Alle Moden kommen aus Frankreich.« Ich schrieb es. – »Jetzt komm,« sagte Karoline, »wir werden ja sehen, ob der König morgen früh ebenso gut frühstücken wird, wie er heute abend soupiert hat!«
Am nächsten Morgen um acht Uhr kam der König schreckensbleich im Schlafrock zur Königin hereingestürzt, zeigte ihr mit zitternder Hand den Dolch und wiederholte mit einer Stimme, die durch das Klappern seiner Zähne unterbrochen ward, die Worte, welche ich an die Tür geschrieben. Karoline schien nicht weiter erstaunt zu sein. – »Das beweist,« sagte sie, »daß sogar in unseren Palast bereits Jakobiner eingedrungen sind.« – »Was sollen wir aber tun?« rief der König verzweifelt. – »Gerade das Gegenteil von dem, was Karl I. und Ludwig XVI. getan haben,« erwiderte die Königin, »den Jakobinern vorgreifen und sie umbringen, damit wir nicht umgebracht werden.« – »Ja, das will ich auch,« sagte der König; »wen aber sollen wir töten? – »Die Jakobiner.« – »Wir wollen uns das einmal klar machen,« sagte der König, der mit seinem einfachen Menschenverstand nicht begreifen konnte, was die Königin unter den Jakobinern verstand. »In Frankreich sind allem Anscheine nach die Jakobiner Sansculotten mit roten Mützen, welche lästernde und mordbrennerische Journale schreiben, hier sind die Jakobiner anständige, unterrichtete, ja gelehrte Männer, die gute Bücher oder wenigstens solche schreiben, welche man für gute Bücher hält. In Frankreich heißen die Jakobiner Santerre, Collot, d'Herbois, Hubert, sie sind Bierhändler, ausgepfiffene Komödianten, Verkäufer von Kontremarken. Hier dagegen heißen die Jakobiner Hektor, Caraffa, Cirillo, Conforti, das heißt, sie gehören dem ersten Adel und den medizinischen und juristischen Wissenschaften an. Gibt es denn wie in so vielen anderen Dingen, auch unter den Jakobinern einen Unterschied?« – »Ja,« erwiderte die Königin, »es gibt auch unter den Jakobinern einen, und je unterrichteter, vornehmer und reicher die unsrigen sind, desto mehr muß man sie fürchten. In Frankreich ist das Volk schlecht und die Klasse der Gebildeten gut, hier ist im Gegenteil das Volk gut und die Klasse der Gebildeten schlecht.« – »Gut! Also heute ist das Volk gut! Warum haben Sie es denn da so verachtet, als es mir Beifall klatschte, als es mich Makkaroni essen sah und als es auf den Tritt meines Wagens stieg, um mich an der Nase zu zupfen und mich in die Ohren zu kneifen?« – »Weil ich es damals nicht kannte, heute aber kenne ich es und lasse ihm Gerechtigkeit widerfahren, ja ich habe bereits das vor Ihnen voraus, daß ich es bereits getan habe. Gewiß, das Volk hat seine guten Seiten, beim heiligen Januarius aber, es hat auch seine schlimmen. Der Mann aber, der heute nacht in den Palast eingedrungen ist, der den Dolch in die Tür Ihres Zimmers gestoßen und die Worte um denselben geschrieben hat: ›Alle Moden kommen aus Frankreich‹, ist kein Mann aus dem Volke gewesen, denn er hat es nicht im neapolitanischen Dialekt, sondern in schönem und gutem Italienisch geschrieben.« – »Das muß ich allerdings zugeben. Es ist dies so wahr, daß ich schon im Begriff war, den armen Riario Sforza, der heute nacht Dienst bei mir hatte, festnehmen zu lassen; als er aber den Dolch sah, ward er, glaubte ich, noch bleicher und erschrak noch mehr als ich.« Die Königin ging an das Fenster und öffnete es. »Sehen Sie,« sagte sie zum König, indem sie ihm die Schiffe zeigte, die man am vorhergehenden Abend in der Ferne hatte auftauchen sehen, und die der Reihe nach mehr oder minder beschädigt in den Hafen einliefen, wie Seevögel, denen das Blei des Jägers die Flügel zerschossen hat. »Ist das nicht ein trauriges Schauspiel für die Menschheit? Eine Schande für die Regierung! Unsere Soldaten sind entweder niedergeschossen oder gefangen, unsere Flotte ist entmastet! Es ist dies ein Unglück für das ganze Volk und sehen Sie, ganz Neapel ist auf den Kais, um diesem traurigen Schauspiel beizuwohnen. Nun, wenn Sie können, verkleiden Sie sich, mischen Sie sich unter diese Menge, ohne erkannt zu werden, und Sie werden sehen, daß alle, die in Tuch gekleidet gehen, daß alle Reichen, Gelehrten, Patrizier, daß alle sich über unser Unglück freuen werden, während im Gegenteil die Halbnackten, die Unwissenden, die Armen weinen, wehklagen und die Franzosen verwünschen werden. Wenn die Franzosen kommen, so werden alle Ihre Ärzte, Ihre Gelehrten, Ihre Fürsten sich ihnen anschließen. Wer wird ihnen entgegentreten? Das Volk! Wer wird sich für Sie, mein Herr, umbringen lassen? Die Lazzaroni!« – »Hm!« sagte der König, »die Narren sind sehr geistreich, daß sie für jemanden oder für eine Sache das Leben hingeben! Zum Teufel! Es ist ein so angenehmes Leben, mit dem Kopfe in dem Schatten und den Füßen in dem Sonnenschein dazuliegen und nur aufzustehen, um Polichinelle, Morra spielen oder Makkaroni essen zu sehen.« – »Wenn die Franzosen kommen, werden Sie es schon sehen!« – »Na!« sagte der König mit einer Gebärde, die nur ihm allein eigen war, »die sind noch weit, die Franzosen! Sie müssen zu Lande kommen, da das Meer von Engländern beherrscht wird, und die letzteren ihnen in Toulon zwanzig Kriegsschiffe verbrannt und fünfzehn mit fortgenommen haben. Dann sind doch auch, wenn Toulon auch wiedergenommen ist, Mainz und Valenciennes es noch nicht, und die Vendée macht dem Konvent viel zu schaffen. Die republikanische Armee hat die Schlacht bei Wattigny gewonnen; wo liegt denn nur Wattigny? Ich glaube in Frankreich, nach Lille zu. Es liegt auf dem Wege nach Flandern und nicht auf dem Wege nach Neapel. Von anderer Seite habe ich sagen hören, daß unsere Verbündeten, die Engländer, Sankt Domingo genommen hätten.« – »Ich sage ja auch nicht, mein Herr, daß die Jakobiner in Frankreich, sondern daß die Jakobiner in Neapel zu fürchten sind.« – »Nun, die Jakobiner von Neapel, meine liebe Schulmeisterin, können Sie ja durch Medici festnehmen lassen; Sie haben Vanni, Guidobaldi und Castelcicala, welche Sie verurteilen können, und den Maestro Donato, der die Verurteilten hängen kann. Ich überlasse sie Ihnen, machen Sie mit ihnen, was Sie wollen. Nur möchte ich gern Cottugno behalten, der ein guter Arzt ist, und mein Temperament genau kennt; für alle übrigen aber, für die Gelehrten, Juristen, die Adeligen, die Conforti, die Pagano, die Caraffa, würde ich keine Prise dieses guten spanischen Tabaks hingeben, den mir mein Bruder Karl IV. zum Geschenk gemacht . . . . Ah, da fällt mir ein, daß ich mein Jagdjournal mit dem seinigen verglichen und gefunden habe, daß ich seit letztem Januar bis heute, also in einem Jahre weniger einige Tage, ein Drittel mehr Wild als er erlegt habe.« – »Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück dazu,« sagte die Königin, indem sie die Achseln zuckte. »Es ist allerdings eine sehr interessante Beschäftigung, in den gegenwärtigen Verhältnissen vom Morgen bis zum Abend zu jagen.« – »Glauben Sie denn, Madame, daß es die Revolutionäre verhindert haben würde, Toulon wiederzunehmen, wenn ich nicht gejagt hätte?« – »Ich weiß wirklich nicht, mein Herr,« sagte Karoline mit Verachtung, »ob Sie mehr Philosoph als Logiker, oder mehr Logiker als Philosoph sind, und ich rate Ihnen daher, sich einer dieser Wissenschaften oder beiden zu widmen, wenn Sie wollen, während ich Ihre Erlaubnis, die Talente Medicis, Vannis, Guidobaldis, Castelcicalas und die Donatos zu benutzen, annehmen werde. Gehen Sie, mein Herr, vergessen Sie Ihren Dolch nicht, behalten Sie ihn im Auge, denken Sie über die Worte nach, die um ihn herum geschrieben standen, und es werden heilsame Reflexionen daraus für Sie erwachsen. Gehen Sie heute auf die Jagd?« – »Nein, Madame, ich fische.« – »Ah, der Augenblick ist wirklich gut dazu gewählt! Fischen Sie, mein Herr! Fischen Sie nur, und wenn Sie zurückkommen, teilen Sie mir etwas über Ihre Fische mit.«
Der König, der sich bereits erhoben und einen Schritt nach der Tür gemacht hatte, blieb stehen. »Sie haben recht,« sagte er, »ich werde den Fischfang abstellen. Ich werde mich heute damit begnügen, einige Fasanen in Capodimonte zu schießen.« – Und er ging hinaus.
Karoline ließ den General Acton zu sich bescheiden und beide beschlossen:
Zweihundertfünfzig Millionen waren das Ergebnis dieses Fischzuges.
Außerdem erhielt die Staatsjunta von der Königin selbst den Befehl, ihr Amt zu beginnen, was sie denn auch dadurch tat, daß sie auf Marie Karolinens Befehl hundert Personen festnahm.
Wir wollen hier einige Worte über den Verbrecher oder vielmehr über den ersten Unschuldigen sagen, der so vielen Opfern den blutigen Weg zum Schafott und zum Galgen öffnete. Da die Königin sich in Neapel befand, um das Osterfest daselbst zu feiern, was sie niemals unterließ, so hörten wir erzählen, daß die Kirche del Carmine, eine der berühmtesten Kirchen Neapels, durch eine furchtbare Ruchlosigkeit geschändet worden sei. Ich muß jedoch erst etwas über die Kirche del Carmine selbst sagen. Die Kirche del Carmine war von der Königin Elisabeth, der Mutter des jungen Conradin, gegründet worden. Elisabeth kam mit einem goldbeladenen Schiff, um ihren Sohn aus den Händen des Herzogs von Anjou oder vielmehr aus denen des Königs von Neapel loszulaufen, allein sie kam zu spät. Das Gold, mit welchem sie das unglückliche Kind hatte loskaufen wollen, ward nun zum Bau einer Kapelle verwendet, in welcher man die irdischen Überreste Conradins und die des Herzogs von Österreich, seines Freundes, der, da er nicht ohne ihn leben konnte, mit ihm sterben wollte, beisetzte.
Im Jahre 1438 schoß René d'Anjou, als er Neapel belagerte, eine Kugel nach dem großen Kruzifix, welches oben auf dem Altar angebracht war, unter welchem Conradin begraben lag. Das Kruzifix neigte jedoch den Kopf auf die rechte Schulter, so daß die Kugel daran vorbeiflog, ohne es zu berühren, und in die Mauer hineinfuhr. Das Kruzifix stand bereits in dem Rufe großer Heiligkeit. Durch ein ganz eigentümliches Wunder des Himmels wachsen auf seinem Haupte Haare, wie auf einem lebendigen Haupt, und an jedem Ostertage schneidet der Syndikus von Neapel das Haar mit einer goldenen Schere ab. Nachdem er dem Könige, der Königin und den königlichen Prinzen einen Teil von diesen Haaren gegeben, verteilt er die übrigen unter die Gläubigen.
In dem Kreuzgange dieser Kirche ward auch Masaniello 1647 ermordet. So stand denn die Kirche del Carmine, welche an den Altmarkt, also an den bevölkertsten Teil von Neapel stößt, wegen dieser halb historischen, halb religiösen Traditionen, nicht nur bei den Lazzaroni, sondern auch bei den anderen Klassen der Gesellschaft in hohem Ansehen. Am Ostersonntag 1794 nun, gerade in dem Augenblicke, wo der Priester die Hostie emporhielt, ließen sich abscheuliche Gotteslästerungen hören und ein bleicher Mann mit emporgesträubtem Haar, schweißbedeckter Stirn und schäumendem Munde bahnte sich, indem er rechts und links um sich schlug, einen Weg durch die Menge, stürzte auf den Altar zu, schlug den Priester auf die Wange, riß ihm die Hostie aus den Händen und zertrat dieselbe mit den Füßen. Im Mittelalter würde man gesagt haben, dieser Mann sei vom Teufel besessen und man hätte ihm denselben ausgetrieben. Im achtzehnten Jahrhundert betrachtete man ihn wie einen Gotteslästerer und Tempelschänder, einen Verbreiter der schändlichen Prinzipien Frankreichs und man machte ihm den Prozeß. Dieser war nicht lang. Der Schuldige leugnete nicht nur nichts, entschuldigte nichts, sondern leugnete auch im Angesichte der Richter Gott, Jesum und die heilige Jungfrau. Er hieß Tommaso, war aus Messina, siebenunddreißig Jahre alt, hatte drei Brüder und eine Schwester, keine Eltern mehr und hatte nicht einmal, soviel man wußte, eine Wohnung. So sagte er wenigstens.
Die Geistlichkeit zog großen Vorteil aus diesem Vorfall. Sie sagte, daß dieser Mann die Ruchlosigkeit der Zeit repräsentierte und ein lebendiges Symbol der Verderbtheit wäre, in welche die revolutionären Prinzipien die Menschen gestürzt hätten. Was die Richter betraf, so glaubten sie den Abscheu, den ein solches Verbrechen in ihnen erweckte, nicht deutlich genug ausdrücken zu können. Sie verurteilten den Schuldigen nicht nur zum Tode am Galgen, sondern er sollte auch auf dem Wege zur Richtstätte einen Knebel im Munde tragen, weil man fürchtete, daß die Lästerungen, welche er in seiner letzten Stunde ausstoßen würde, den guten Christen ein Greuel sein könnten. Außerdem sollten drei Tage vor der Hinrichtung in allen Kirchen öffentliche Gebete gelesen werden, damit dieses Verbrechen gesühnt würde. Nur zwei Richter, der Präsident Cito und der Rat Potenza, waren gegen die Todesstrafe und verlangten, daß Tommaso Amato in ein Irrenhaus gebracht würde.
Der 17. Mai, ein Sonnabend, ward für die Hinrichtung bestimmt. Man führte den Verurteilten durch alle Straßen Neapels, nur mied man diejenigen, welche in der Nähe des königlichen Palastes lagen, weil man in einer derselben dem König hätte begegnen und eine solche Begegnung den Verurteilten hätte retten können. Die Geistlichkeit wollte ganz Neapel zeigen, was ein Gotteslästerer war. Endlich führte man den Verurteilten auf den Marktplatz, wo die Hinrichtung stattfinden sollte. Die Bianchi, das heißt die Glieder der Bruderschaft, welche das traurige Vorrecht genießen, die Verurteilten in ihrer letzten Stunde moralisch und physisch zu stützen, begleiteten ihn, wie auch zehn bis zwölf andere Bruderschaften von allen Farben, die in Neapel existieren. Trotz des langen und ermüdenden Weges, welchen der Verurteilte zurückgelegt, hielt ihn doch eine gewisse fieberhafte Aufregung aufrecht. Er stieg die Leiter mit so festem Tritt hinauf, als ob er nicht gewußt hätte, daß jede Stufe ihn dem Tode näherführte. Als die Hinrichtung vorüber war, warf man seine Leiche auf einen Scheiterhaufen, worauf man die Asche des Scheiterhaufens, mit der sich die seinige vermischt hatte, in alle vier Winde streute. Noch an dem Abend des Tages, an welchem diese Hinrichtung ganz Neapel mit Schrecken erfüllte, kam ein Brief des Generals Danero, Gouverneurs von Messina, welcher bat, daß man einen unglücklichen Wahnsinnigen, Namens Tommaso Amato, der aus dem Hospitale von Messina entflohen wäre, zurückschicken möchte. So geheim man diesen Brief auch zu halten versuchte, so ward derselbe dennoch bekannt, und ganz Neapel wußte, da die Jakobiner sich beeilten, die Nachricht zu verbreiten, daß die Richter die Aufregung eines Wahnsinnigen für die Ruchlosigkeit eines Atheisten gehalten hatten. Dieser Irrtum, welcher dem Eifer der Richter hätte Einhalt tun sollen, schien denselben im Gegenteil gerade zu verdoppeln. Sie bestimmten, daß die Tribunalsitzungen ohne Unterbrechung fortdauern sollten und daß nur zur Essens- und Schlafenszeit Ausnahmen stattfinden dürften.
Zu derselben Zeit ungefähr war es auch, daß England, welches die Niederlage von Toulon rächen wollte, beschloß, gegen Korsika zu Felde zu ziehen. Das Kabinett von St. James hatte schon seit langer Zeit die Kräfte Paolis erprobt und wußte, daß es auf diesen Mann den seine Landsleute für den Größten hielten, der je in ihrem Lande geboren worden, rechnen könnte.
Die Königin war von diesem Plane durch Sir William Hamilton oder vielmehr durch mich unterrichtet. Es handelte sich nämlich darum, sie dahin zu bringen – und das war nicht schwer – daß sie, dem Vertrage zwischen England und dem Königreiche beider Sizilien gemäß, ihre Truppen mit denen der Engländer vereinigte. Hierauf ließ der König das Gerücht verbreiten, daß er für diese Expedition zehn Millionen aus seiner Privatschatulle gegeben habe, die Königin zeigte sich auf den Promenaden und im Theater mit falschen Diamanten geschmückt und sagte, daß sie ihre echten Edelsteine den Bedürfnissen des Staates geopfert habe. Nelson ward mit der Belagerung von Calvi beauftragt. Eine Kugel, die einige Schritte von ihm in den Boden schlug, schleuderte einen Hagel von Kieseln in die Höhe. Einer dieser Kiesel traf Nelson am linken Auge und schlug es ihm aus. Wenn man wissen will, aus welchem Metalle das Herz dieses rauhen Seemanns bestand, welchem die Kugeln Frankreichs ein Glied nach dem andern abrissen, bis er es endlich, für zwei vernichtete Flotten, bei Trafalgar niederschmetterte, so muß man den Brief lesen, den er noch an demselben Tage, wo er die furchtbare Wunde erhielt, an den Admiral Hood schrieb:
»Mein lieber Lord!
Aus den Nachrichten, die Sie über die Schlacht erhalten haben, ist Ihnen wahrscheinlich nichts von einer allerdings an und für sich sehr unwichtigen Sache bekannt geworden. Es handelt sich nämlich um eine leichte Wunde, die ich heute Morgen erhalten habe, und die leicht sein muß, da ich Ihnen heute Abend noch schreiben kann.
Seien Sie meiner aufrichtigsten Hochachtung und Treue versichert.
Horace Nelson.«
Sir William und ich, wir erhielten auch Nachricht von dieser leichten Wunde, ohne zu ahnen, daß damit der Verlust eines Auges gemeint war. Die Königin, die noch nicht voraussehen konnte, welche Dienste Nelson ihr einige Jahre später leisten würde, nahm dennoch ein gewisses Interesse an dem Vorfalle. Als der König erfuhr, daß Nelson ein Auge verloren hatte, fragte er: »Welches denn?«
»Das linke, Sire,« antwortete man.
»Gut,« sagte er, »das wird ihn also nicht hindern, auf die Jagd zu gehen.« – Schon lange hatte ich, seitdem ich in Neapel war, einen Ausbruch des Vesuvs zu sehen gewünscht und ich hatte Sir William lachend gebeten, daß er, da er so vertraut mit dem Vulkane wäre, diesem doch befehlen möchte, für mich ein tüchtiges Erdbeben hervorzurufen. Mein Wunsch war erfüllt. Am 12. Juni abends kam Sir William und da ich noch bei der Königin war, so holte er mich bei der letzteren ab. »Madame,« sagte er zu mir, nachdem er die beiden Majestäten begrüßt hatte, »ich komme soeben von dem Observatorium. Sie haben einen mit einem Erdbeben verbundenen Ausbruch des Vesuvs gewünscht, und wenn ich den Voranzeigen glauben darf, so werden Sie bald einen sehen und zwar einen sehr schönen.«
»Gut,« rief der König, »weiter fehlte uns nichts!«
»Mein Herr,« sagte die Königin, »es gibt Augenblicke, in denen die Natur an den Ereignissen des menschlichen Lebens teil zu nehmen und mit in den Zorn der Menschen auszubrechen scheint. Sie wissen doch, welche Anzeichen dem Tode Cäsars vorausgingen.« – »Meiner Treu, nein, Madame. Ich habe Sir William einmal von etwas wie von einem Kometen sprechen hören, allein die Kometen sind mir ziemlich gleichgültig, während mir die Erdbeben Furcht einflößen, erstens mir persönlich, wie alle Gefahren, deren Ursache ich nicht vollkommen begreife, und zweitens ruinieren sie mich durch die Wiederherstellungskosten . . . Erinnern Sie sich noch, was mich das Erdbeben von 1783 gekostet hat?« – »Ich hoffe, daß Sie im vorkommenden Falle,« erwiderte die Königin, »nicht nach diesem Erdbeben wieder dieselben Torheiten begehen werden, denn wir können jetzt einen besseren Gebrauch von unserem Gelde machen, als es zum Wiederaufbau der Hütten Ihrer Calabreser verwenden.« – »Vielleicht wäre es aber dazu besser angewendet, als daß wir es in einem Krieg gegen Frankreich ausgeben. Frankreich ist ein furchtbarer Vulkan, Madame, der nicht nur die Hütten, sondern die Paläste umstürzt.«
»Fürchten Sie nicht, daß die Jakobiner von Paris Ihnen Caserta und Portici nehmen?« – »O, o!« – Die Königin zuckte die Achseln.
»Sagen Sie, was Sie wollen, Madame,« fuhr Ferdinand fort, »ich fürchte die Jakobiner von Paris mehr als die von Neapel. Zum Teufel! Ich kenne mein Neapel! Ich bin hier geboren und mit drei F mache ich, was ich will.« – »Und welche sind diese drei F?« fragte ich lachend den König. – »Wie, meine liebe Emma,« sagte die Königin, »du kennst nicht den beliebten Wahlspruch des Königs?« – »Nein, Madame.« – »Mit drei F regiert man ganz Neapel: »Forca, Festa, Farina.«. – »Ist dies auch Ihre Meinung, Madame?« fragte ich lachend. – »Meine Meinung ist die, daß zwei F zuviel sind und daß die ›Forca‹ allein genügt.« – »Es droht uns also ein Erdbeben; wenigstens meinen Sie es wohl, Sir William?« – »Ich fürchte es.« – Der König klingelte, ein Diener erschien an der Tür.
»Laß anspannen,« befahl der König.
»Wo wollen Sie denn hin?« fragte Karoline. – »Nach Caserta,« erwiderte Ferdinand. »Und Sie?« – »Ich bleibe hier.« – »Und Sie, Madame?« fragte mich der König. – »Wenn die Königin bleibt, so bleibe ich auch,« erwiderte ich. – »Und Sie, Sir William?«
»Sire, mir ist es gerade recht, dieses Phänomen in der Nähe studieren zu können.« – »Dann studieren Sie, mein Freund, studieren Sie! Zum Glück sind Sie weder korpulent, noch leiden Sie an Asthma wie jener römische Gelehrte, der in Stabia erstickte. . . . Wie hieß er nur?« – »Plinius, Sire.« – »Ja Plinius, so hieß er. Nun sagen Sie einmal, ich wüßte nichts vom Altertum, Madame?« – »Ah, mein Herr, wer hat Ihnen denn je einen solchen Vorwurf machen können? Wenn man den Herzog von San-Nicandro zum Lehrer gehabt hat, so weiß man alles.«
»Nun, Madame,« sagte der König, »man weiß schon sehr viel, wenn man weiß, daß man nichts weiß. Weil ich anstatt der Intelligenz Instinkt besitze, so ergreife ich die Flucht. Viel Vergnügen, meine Damen! Viel Vergnügen, Sir William!« – Und als der Diener wieder erschien, um zu melden, daß angespannt sei, rief der König: »Hier bin ich!« und eilte hinaus. Einen Augenblick darauf hörten wir das Rollen des Wagens, der Seine Majestät aus Neapel hinwegführte.
Marie Karoline war von Natur tapfer und mutig und sie liebte es besonders, wenn der König einen neuen Beweis seiner Feigheit lieferte, einen Beweis ihres Mutes zu geben. Obgleich die Luft drückend war, obgleich der Sirocco, dieser Wind, den jeder Neapolitaner für seinen persönlichen Feind hält, heftig wehte, so schlug sie sowohl mir, als auch Sir William vor, mit ihr, sozusagen, der Gefahr entgegenzugehen und durch die Marina bis zur Magdalenenbrücke zu fahren. Sir William besaß die mutige Kaltblütigkeit eines wahren englischen Gentleman, und wenn es sich um wissenschaftliche Dinge handelte, so trieb er diese Kaltblütigkeit bis zur Verwegenheit. Er nahm daher den Vorschlag der Königin mit Freuden an. Ohne den wissenschaftlichen Enthusiasmus meines Gemahls zu teilen, ohne den launenhaften Wunsch nach Abenteuern der Königin zu besitzen, konnte ich mich dennoch nicht weigern, wenn beide eine vielleicht nur eingebildete Gefahr suchten, es gleichfalls auf diese Gefahr ankommen zu lassen. Ich hätte es allerdings lieber gesehen, wenn ich hätte zurückbleiben und das Erdbeben abwarten können, allein die Scham bewog mich, ihm entgegenzugehen. Als es Mitternacht schlug, stiegen wir unter dem Portal des Palastes in den Wagen.
»Nach der Magdalenenbrücke!« befahl die Königin.
Der Kutscher gehorchte, fuhr über den Largo del Castello und noch ehe die Uhren die zwölfte Stunde ausgeschlagen hatten, waren wir auf dem Molo. Der afrikanische Wind hatte sich vollständig gelegt, die wenige Luft, die man einatmete, war mit Schwefel geschwängert und trotz des Rollens des Wagens hörte man das unterirdische Geräusch, welches den großen vulkanischen Explosionen vorangeht und der ganzen Natur ein unbestimmtes Vorgefühl der Gefahr einflößt, noch ehe die Gefahr selbst vorhanden ist. Das Meer bewegte sich, nicht in langen, übereinanderrollenden Wellen, wie wenn ein Sturm im Anzuge ist, sondern es kochte wie ein über dem Feuer hängender Kessel und das Kochen stieg von dem Boden auf die Oberfläche. Dieses Sieden machte den ganzen Golf, der von Phosphor funkelte, zu einem großen Feuerspiegel. Der Mond schwamm in einem aschfarbenen Dunst. Um elf war er hinter dem Vulkan aufgegangen, und obgleich er kaum im zweiten oder dritten Tage des Abnehmens stand, so glich er, als er über dem Krater aufstieg, einer ungeheuren, aus einem kolossalen Mörser in die Luft geschleuderten Bombe. Die ganze beklagenswerte Einwohnerschaft des Basso Porto hatte sich in die Höhlen verkrochen, die sie sich unter den Häusern gegraben, und das Rollen des Wagens war das einzige, was die Einsamkeit der engen und dunklen Gäßchen störte, welche nach den Kais führten. Einige unruhige und verirrte Hunde suchten sich auf ihren vier Beinen festzuhalten, als ob sie die Erde bereits unter sich zittern fühlten, und heulten den Mond kläglich an. Ich faßte die Hand der Königin.
»Was fehlt dir?« fragte sie. »Deine Hand ist ja eiskalt!« – »Ich fürchte mich,« erwiderte ich. – »Beruhigen Sie Ihre Gemahlin doch, Mylord,« sagte die Königin, »denn sonst könnte sie ohnmächtig werden.« – In diesem Augenblicke blieb ein Mann, der trotz der drückenden Hitze in einen Mantel gehüllt war, stehen und sah erstaunt den Wagen vorbeifahren. Und allerdings war dies, obgleich Sir William uns begleitete, keine Stunde, zu welcher Frauen gewöhnlich und besonders in einem solchen Viertel, spazierenfuhren.
»Königin Karoline,« sagte dieser Mann, »Sie versuchen Gott!« Und er verschwand in einem kleinen überwölbten Gäßchen, welches das Seufzergäßchen heißt, weil die zum Tode Verurteilten durch dieses Gäßchen gehen und von hier das Schafott zuerst erblicken. »O mein Gott, Madame!« rief ich aus, »wer war denn das?«
»Irgendein von Vanni vergessener Jakobiner, der mir droht, weil er nichts anderes tun kann,« flüsterte die Königin. Wir kamen bis zur Magdalenenbrücke, an der hohen Statue des heiligen Januarius aber wollten die Pferde durchaus nicht weiter. Der Kutscher peitschte vergebens auf sie los, sie gingen nicht, bäumten sich und drängten sich rückwärts an die Brustwehr der Brücke. »Madame, Madame!« rief ich, indem ich die Hand der Königin faßte, »dieser Mann war kein Feind, sondern vielmehr ein Freund. . . . Fahren Sie nicht weiter! versuchen Sie Gott nicht!«
»Was ist denn mit deinen Pferden, Gaetano?« fragte die Königin.
»Ich weiß es nicht, Madame,« sagte der Kutscher, »sie wollen durchaus nicht an der Statue des heiligen Januarius vorüber.«
»Ist jemand oder etwas auf dem Wege, was sie erschrecken könnte?«
«Ich sehe nichts, Madame; die Tiere sehen aber oft Dinge, welche die Menschen nicht sehen.«
»Haben Sie gehört, was dieser Dummkopf schwatzt?« fragte die Königin Sir William.
»Madame,« erwiderte dieser, »Ihr Kutscher konstatiert eins der Probleme der Natur, ohne es zu erklären. Es ist bis zur Evidenz erwiesen, daß bei Finsternissen, Erdbeben, kurz bei allen großen Erschütterungen der Natur, die Tiere von ihrem Instinkt davon benachrichtigt werden, noch ehe der Mensch durch seinen Verstand gewarnt ward. Allem Anscheine nach wird der Berg bald etwas von sich hören lassen.« – Und als ob der Vesuv nur diesen Augenblick abgewartet hätte, um seinem Zorne Luft zu machen, ließ sich mit einem Male ein schreckliches Brüllen vernehmen und ein heftiger Stoß schleuderte den Wagen ein Stück rückwärts. Die Pferde wieherten und ohne irgendeine Bewegung zu machen, bedeckten sie sich mit Schweiß, wie das Meer sich mit Schaum bedeckt. »Madame, Madame!« rief der Kutscher, »ich sagte es wohl, daß meine Pferde etwas sähen, was ich nicht bemerke. Sehen Sie, sehen Sie!«
Und er zeigte mit dem Finger auf den Gipfel des Berges. Ein schwarzer, dicker Rauch begann aus dem Krater in vertikaler Richtung wie ein ungeheurer Turm aufzusteigen. Durch diesen Rauch zuckten Blitze, auf die furchtbare Donnerschläge, die einer Batterie von wohl hundert Kanonen glichen, folgten. Die Königin faßte meine Hand und drückte dieselbe. Dieses eherne Herz begann Furcht zu fühlen. Ich sank beinahe ohnmächtig zusammen. Sir William war entzückt.
»Wenn Ihre Majestät durchaus hier bleiben wollen,« sagte Gaetano mit zitternder Stimme, »so bitte ich die Herrschaften inständig, auszusteigen, denn ich kann nicht mehr für meine Pferde stehen.« In diesem Augenblicke erdröhnte ein furchtbarer Donnerschlag, wir empfanden einen heftigen Stoß und es war mir, als ob alles um mich herum schwankte.
»Madame, um Himmels willen!« rief ich, »wir wollen umkehren, wir wollen umkehren!« Die Königin brauchte das jedoch nicht erst zu befehlen, denn mit einer Bewegung, welche die Hand des Kutschers ohnmächtig machte, drehten sich die Pferde von selbst um und jagten dann, ohne daß sie aufzuhalten waren, im tollsten Galopp die Brücke hinab und die Marina entlang.
»Madame, Madame!« rief der Kutscher, der sich vergebens festzuhalten suchte, »ich bin nicht mehr Herr meiner Pferde.«
»Nun, dann schütze uns Gott!« sagte die Königin.
Ein neuer Donnerschlag, furchtbarer als alle bisherigen, erdröhnte; ich fühlte, wie ein Schauder durch meine Adern rieselte und ward vor Schrecken ohnmächtig. Als ich die Augen wieder öffnete, stand der Wagen, Gaetano hielt die Pferde am Gebiß und wir befanden uns dem Seufzergäßchen gegenüber. In dem Augenblicke, wo der Wagen eben an der Biegung des Kais zerschellen wollte, war derselbe Mann, der der Königin zugerufen, Gott nicht zu versuchen, den Pferden in den Zügel gefallen und hatte sie in der Gefahr, von ihnen zertreten zu werden, mit übermenschlicher Kraft zum Stehen gebracht. Der Stoß war so heftig gewesen, daß Gaetano von seinem Sitze geworfen worden war. Er hatte sich jedoch sogleich wieder erhoben und die Pferde beim Gebiß gefaßt.
Als der Unbekannte sah, daß der Kutscher wieder Herr seiner Tiere war, hatte er sich entfernt und war verschwunden. Ich hatte nichts gesehen. Ich erwachte wie aus einem Traume. Die Königin ließ mich an ihrem Flakon riechen. »O, Gott sei Dank!« rief ich aus, als ich wieder zu mir kam, »daß Ew. Majestät kein Unglück zugestoßen ist!« Und ich warf mich in ihre Arme, indem ich sie mit Tränen und Küssen bedeckte. Dies war vielleicht seltsam, die Königin übte aber auf mich dieselbe Kraft aus, wie der Magnetiseur auf den Magnetisierten. Wenn ich bei ihr war, so war es mir stets, als ob meine Seele fortwährend strebte, aus meinem Körper zu fliehen und sich mit der ihrigen zu vereinigen. Gaetano stieg wieder auf seinen Sitz und die Pferde schienen wie durch einen Zauberspruch beruhigt zu sein, so daß wir glücklich im Palais anlangten. Ich war wie zerschlagen. Die Königin befahl mir, mich auf mein Zimmer, welches an das ihrige stieß, zu begeben und mich zu Bett zu legen. Sir William bat um die Erlaubnis, auf die Terrasse des Palastes gehen zu dürfen, um von da aus die Phänomene des Vulkans besser beobachten zu können. Ich glaube, daß er sich, um ein geologisches Problem zu lösen, wie Empedokles in den Krater gestürzt und seinen Pantoffel auf dem Gipfel des Berges zurückgelassen hätte.
Ich sah weiter nichts von dem Erdbeben, man erzählte aber Folgendes davon: Die Stöße folgten schnell aufeinander, indem sie sich besonders von Norden nach Süden, also von Portici nach Torre-del-Annunziata, erstreckten. Wie immer, blieb Neapel auch diesmal verschont. Gegen drei Uhr des Morgens bedeckte sich der Weg längs des Fußes des Berges mit Flüchtlingen, die ihre Wohnungen verließen und wie hinter einem Wall hinter der Magdalenenbrücke oder vielmehr hinter der Statue des heiligen Januarius, der von dem höchsten Punkt der Brücke die Stadt beschützt, Zuflucht suchten. Die Sonne war hell am reinen Himmel aufgestiegen, bald aber hatte sich die Rauch- und Aschensäule, die aus dem Krater des Vesuvs emporstieg, über das ganze Firmament verbreitet. Die Wasser, welche der Spiegel des Himmels sind, überzogen sich mit grauer Farbe und das Tageslicht verschwand allmählich wie bei einer Finsternis. Als ich mich erhob, hätte man schwören mögen, daß es abends um acht und nicht frühmorgens um zehn Uhr sei.
Von diesem Augenblicke an bis zum übernächsten Morgen, also vom 13. bis zum 15. Juni, zeigte sich die Sonne nicht mehr, das Toben im Berge verdoppelte sich und die Finsternis ward mit jeder Minute dichter. Am folgenden Morgen wäre es, wenn die Uhren den Lauf der Zeit nicht angezeigt hätten, geradezu unmöglich gewesen, zu sagen, ob es Morgen, Abend oder Nacht sei. Die Finsternis war so groß, daß man sich in Chiaja und in Toledo, das heißt in den beiden größten Straßen Neapels, in einem finstern Zimmer zu befinden glaubte. Der Kardinal-Erzbischof holte aus der Kathedrale, von allen Geistlichen der Stadt begleitet, die vergoldete Büste des heiligen Januarius und begab sich damit, von dem ganzen Adel, welcher Gebete sprach, und von dem ganzen Volk, welches Hymnen sang, begleitet, auf die Magdalenenbrücke, wo er den heiligen Beschützer der Stadt um Gnade anflehte. Die Königin hörte die Messe, die dieser Zeremonie voranging, da ich aber protestantisch war, konnte ich nicht mitgehen. Wenn das Volk eine Ketzerin in einer Kirche gesehen hätte, so wäre es imstande gewesen, mir die Katastrophe zuzuschreiben und mich in Stücke zu zerreißen. Der Erzbischof, der Adel und das Volk beteten von zwei Uhr nachmittags bis zum Abend auf der Brücke. Wenn ich aber sage Abend, so ist dies unrichtig, denn es gab jetzt weder Tag noch Abend und nur die Glocken, welche das Ave Maria läuteten, zeigten die Wiederkehr der Nacht an.
In der Nacht vom 15. zum 16. zog ein Knall, als ob eine Pulvermühle in die Luft flöge, aller Aufmerksamkeit an, denn die ganze Bevölkerung von Neapel war auf den Straßen. Die furchtsamsten der Bewohner lagen mit dem Gesicht auf der Erde und die minder erschreckten lagen auf den Knien oder beugten sich wenigstens unter der Last des furchtbaren Ereignisses. Eine unermeßliche Feuergarbe flog aus dem Krater bis an den Himmel und fiel dann in flammenden Trümmern auf den Abhang des Berges. Hierauf quoll aus dem Gipfel des Berges ein doppelter Feuerstrom, wovon sich der eine Arm nach Resina, der andere nach Torre-del-Greco wandte.
Dreißigtausend Personen, Männer, Frauen und Kinder, folgten erstarrend diesem doppelten Lavastrom mit den Blicken. Die ganze Ebene, welche sich zwischen dem Vulkan und Resina ausdehnte, und alle Landhäuser, welche auf dieser Ebene standen, wurden von Lava überströmt; an den Toren von Resina aber stand die furchtbare Überschwemmung, wie auf ein überirdisches Gebot, plötzlich still. Zum Unglück geschah dies nicht bei Torre-del-Greco. Eine frühere Lavaüberschwemmung hatte die Hälfte der Stadt bedeckt, war dann plötzlich stillgestanden und hatte eine dunkle Klippe gebildet, welche beinahe hundert Meter weit den von der Lava verschonten Teil der Stadt umgab. Auf dieser Klippe hatte sich, wie auf einem neuen tarpesischen Felsen, eine neue Stadt erhoben und den verbindenden Teil zwischen der alten und der neuen Stadt bildete eine in die Lava gehauene Treppe. Diesmal ward nun sowohl die alte, wie die neue Stadt vollständig verheert und überschwemmt. Der vulkanische Strom durchfloß die neue Stadt an ihrer Basis und von der Höhe der Klippe riß er sie wie einen feurigen Katarakt auf die alte Stadt herab, welche er verschlang und bis an die höchsten Häuser und den Glockenturm überdeckte. Dann stürzte der Strom, welcher die Trümmer zweier Städte mit sich fortriß, dem Meere zu, wo er einen Damm bildete, hinter welchem die Schiffe Schutz finden konnten. Dies geschah alles in der Nacht vom 15. zum 16., als ob die schreckliche Katastrophe, um den Gipfelpunkt ihrer Furchtbarkeit zu erreichen, des Schreckens bedurft hätte, welchen die Finsternis einflößt.
Am Morgen des 16. erschien die Sonne, die man drei Tage lang nicht gesehen, wieder am heiteren Himmel. Ein Teil des Vesuvs war vom Vesuv selbst verschlungen worden; der höchste Teil des Berges war in den Krater gestürzt und da er von einer Höhe nun mehr als tausend Meter herabstürzte, hatte er den Krater eingedrückt und dabei mit einem furchtbaren Getöse die ungeheure Feuergarbe aufsprühen lassen, die das Meer in einer Runde von zehn Meilen erleuchtet und die beiden Lavaströme hatte austreten lassen, die das Land überschwemmt hatten. Durch diesen Sturz ward der Kegel des Berges, der bis dahin der niedrigste gewesen, der Beherrscher der Lüfte. Während dieser Trauer- und Schreckensstunden hörten alle Arbeiten, nur nicht die der Staatsjunta, auf, denn einige von ihr erlassene Aktenstücke datieren von den drei Tagen des Erdbebens. Der Zorn Gottes hatte den Zorn der Könige nicht besänftigt. An dem Morgen nach der Nacht, in welcher durch das Durchgehen der Pferde das Leben der Königin und das unsrige in Gefahr schwebte, und in welcher wir durch die wunderbare Dazwischenkunft des geheimnisvollen Unbekannten gerettet worden waren, hatte die Königin den Polizeichef zu sich beschieden und diesem befohlen, die genauesten Nachforschungen zur Entdeckung ihres Retters anzustellen. Alle Mühe war jedoch nutzlos und obgleich der Polizeichef seine geschicktesten Agenten ausgeschickt hatte, so vermochte doch keine Hand den Schleier zu lüften, der auf diesem seltsamen Ereignisse ruhte. Der König schrieb am 15., daß er, da das Wetter sich wieder aufgeheitert habe, am 17. auf die Jagd gehen, und folglich erst den 18. zurückkommen werde.
Vom dem, was in Neapel oder dessen Umgebungen hätte geschehen können, erwähnte er kein Wort. Ihm selbst war kein Unglück zugestoßen, alles andere war ihm gleich.
Ich habe mit wenigen Worten die Verurteilung und den Tod Tommaso Amatos, eines der ersten Opfer der Junta, erzählt, bei dessen Prozeß notwendig das Verbrechen der Gotteslästerung erst bestraft werden mußte, ehe man gegen die Verbrechen der Majestätsbeleidigung vorschreiten konnte. Gleich nach der Abreise des Admirals Latouche-Tréville hatten die Festnehmungen begonnen. So waren einige der Gefangenen jetzt fast vier Jahre in Haft. Es handelte sich um rund fünfzig Angeklagte. Der Fiskalprokuratur, Basilio Palmieri, hatte bei Eröffnung des Prozesses gesagt, daß er Beweise gegen zwanzigtausend Menschen hätte. Inzwischen hatte er beschlossen, dreißig der Angeklagten zum Tode zu verurteilen, das heißt nach vorheriger Anwendung der Tortur. Das Tribunal aber begnügte sich damit, drei zur Todesstrafe, drei zu den Galeeren und dreizehn zu leichteren Strafen zu verurteilen. Die übrigen wurden freigesprochen. Das Haupt der Verschwörung war ein gewisser Pietro di Falco. Er legte Bekenntnisse ab und offenbarte den Plan der Verschworenen, aber ohne, daß diese Bekenntnisse jemals öffentlich abgelegt wurden. Man schickte den Ankläger auf die Insel Tremiti, ohne daß man ihn je seinen Mitschuldigen gegenübergestellt hatte. Die Wahl der Richter hinsichtlich der Todesstrafe war seltsam. Man hätte meinen sollen, sie wollten ein Opfer bringen, welches dem bleichen Gott angenehm wäre. Die drei Verurteilten waren drei junge Leute, fast drei Kinder, welche der aristokratischen Klasse angehörten, dem Alter nach noch Schüler, unbekannt mit der Welt, in die einzutreten sie noch nicht Zeit gehabt, und nur durch ihre Triumphe im Kolleg bei ihren Mitschülern bekannt. Das Alter aller drei zusammen machte nicht das Alter eines Greises aus. Der Älteste hieß Vicenzo Vitagliano und war zweiundzwanzig Jahre alt; der zweite hieß Emanuele de Deo und war zwanzig Jahre alt, und der dritte hieß Vicenzo Gagliani und war neunzehn Jahre alt. Durch die ganze Stadt tönte ein Wehruf, als man die verhängnisvolle Wahl der Junta und zugleich erfuhr, daß diese Wahl auf drei junge Männer gefallen war, die ›weiter kein Verbrechen begangen hatten,‹ als daß sie Dinge gesagt, über die es besser gewesen wäre zu schweigen, und daß sie dem Beifall gespendet, was erst einer Untersuchung bedurft hätte. Das große Verbrechen, das sie begangen, bestand darin, daß sie sich das Haar hatten kurz schneiden lassen und zuerst die aus Frankreich durch den Schauspieler Talma bei Gelegenheit der ersten Aufführung des »Titus«, wie ich erzählt, aufgebrachte Mode angenommen hatten.
Ich muß gestehen, daß, als man mir diese Nachricht mitteilte, als man mir das Alter der Verurteilten nannte, als man mir sagte, wer sie waren und als man mir erklärte, daß sie unmöglich eine ernstliche Verschwörung beabsichtigt hätten, ich von tiefem Mitleid für diese drei Bäumchen ergriffen ward, die mit der Wurzel ausgerissen werden sollten, ohne daß sie Zeit gehabt, Früchte zu tragen.
Ich eilte zur Königin. Sie empfing mich mit strengem Gesichte und gerunzelter Stirn. »Willst du auch für sie bitten?« fragte sie. – »Und wenn ich es nun wollte, Madame, würden Sie sich weigern, mir Gehör zu schenken?« – »Ja, denn ich habe mir fest vorgenommen, der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen und deine Bitte würde nur eine nutzlose Mühe sein.« – »O Madame,« sagte ich, indem ich die Hände faltete, »so jung und so ungefährlich!« – »Allerdings gehören sie nicht zu denen, die Tarquinius dem Boten seines Sohnes bezeichnete, denn es waren die höchsten Mohnköpfe des Gartens, die er mit seinem Stabe abschlug.« – »O Madame, Sie geben das also selbst zu.« – »Siehst du, es gibt Augenblicke, in denen ich mich frage, ob die elenden Richter jene drei Kinder aus Dummheit oder aus Verrat gewählt haben; ich muß dir aber gestehen, daß ich für den Verrat bin.« – Ich sah die Königin erstaunt an. – »Du verstehst mich wohl nicht? Wenn ich jene begnadige, so bin ich verpflichtet, auch alle zu begnadigen, denn alle werden sich für so unschuldig wie jene halten, oder wenigstens sagen, sie wären es. Wenn ich sie hinrichten lasse, so wird man über solche Grausamkeit, solchen Kannibalismus ein lautes Geschrei erheben, alle Väter werden mich hassen, alle Mütter werden mir fluchen und wo eine Mutter ist, die einen zwanzigjährigen Sohn hat, wird sie diesen Sohn an ihr Herz drücken und sagen: ›Gott bewahre dich vor der fremden Königin, der Österreicherin!‹ wie man meine Schwester genannt hat.« – »O Madame, Sie sehen wohl, daß Sie zögern!« rief ich aus, »und wenn Sie zögern, so liegt der Grund darin, daß die Richter Unrecht haben.« – »Die Gerechtigkeit kann niemals Unrecht haben, Emma. Ich werde ihr also freien Lauf lassen.«
Ich stieß einen Seufzer aus und ließ den Kopf auf die Brust herabhängen, indem ich einige Worte leise vor mich hinsprach. »Was murmelst du denn da vor dich hin?« fragte Karoline. – »Ich danke Gott, daß ich keine Königin bin,« erwiderte ich. – Ein momentanes Stillschweigen herrschte, welches die Königin zuerst brach. – »Überdies ist das Urteil erst heute ausgesprochen worden, so daß wir noch drei Tage Zeit haben, einen Entschluß zu fassen. . . . . Du wirst heute abend hier bleiben. Guter Rat kommt über Nacht.« In diesem Augenblicke trat der König ein. Wie gewöhnlich grüßte er mich sehr höflich, indem er mir andeutete, wieder Platz zu nehmen und sich selbst neben seine Gemahlin setzte. – »Meine liebe Schulmeisterin,« sagte er zu derselben, »ich teile Ihnen hierdurch mit, daß ich drei bis vier Tage abwesend sein werde.« – »Und wo wollen Sie hin?« – »Ich will in Persano jagen.« – »Dachten Sie etwa, daß ein neues Erdbeben stattfinden könnte?« – »Nein, dann würde ich nicht nach Salerno, sondern in die Gegend von Capua gehen. Sie wissen wohl, daß der Vesuv und der Ätna die Trennung der Meerenge von Messina, die, wie man mir erzählt hat, einmal durch ein Erdbeben erfolgt sein soll, niemals ernst genommen haben. Sie stehen miteinander durch unterirdische Verzweigungen in Verbindung, und wenn sie sich etwas zu sagen haben, so ist es nicht gut, ihnen in den Weg zu kommen. . . . Nein, vor einem Erdbeben fürchte ich mich in diesem Augenblicke nicht.« – »Und wovor fürchten Sie sich denn?« – »O, Sie werden es schon wissen.« – »Sollten Sie nicht mehr so fest wie bisher von der Wahrheit Ihres Wahlspruchs überzeugt sein und an der Kraft eines Ihrer drei F zweifeln?« – »Nicht an der Kraft, wohl aber an der Gelegenheit.«
»Und in diesem Zweifel? . . .«
»Entferne ich mich. . . . Gibt der Weise nicht einen ähnlichen Rat?« – »Das heißt, Sie wollen bei allem, was vorgeht, nichts sein oder wenigstens tun, als ob Sie nichts dabei zu schaffen hätten?« – »Ich mag weder dabei sein, noch so scheinen. Habe ich etwa die Junta zusammenberufen? Habe ich Castelcicala aus London kommen lassen? Habe ich die berühmte schwarze Kammer organisiert, von der man so viel spricht, und deren Vorhandensein ich glücklicherweise leugnen kann, da ich niemals dort gewesen bin und nicht einmal weiß, in welchem Palast sie sich befindet? Dies alles habe ich nicht getan, sondern nur Sie allein. Ich jage, ich fische, ich erhole mich in San-Leucio, ich bin, um historisch zu sprechen, einer der faulen Könige. Sie aber, Sie sind die Königin, Sie führen das Szepter, Sie sind eine Katharina die Zweite, man wird Sie eines Tages die Semiramis des Südens nennen, wie man die Zarin die Semiramis des Nordens nannte, und dies wird sowohl für Sie, wie für mich sehr ruhmvoll sein. Da Sie aber die Annehmlichkeiten des Staates genießen, so ist es billig, daß Sie auch die Lasten desselben tragen.« – »Das heißt, daß Sie mir Neapel und Europa gegenüber die Verantwortlichkeit für den Tod dieser drei jungen Männer überlassen wollen?«
»Von was für drei jungen Männer sprechen Sie denn?« – »Von denen, die heute morgen von der Junta verurteilt worden sind.« – »Ah, die Junta hat heute morgen drei junge Männer verurteilt?« – »Sie wissen es wohl nicht?« – »Nein, meiner Treu! Ich besitze einen so mittelmäßigen Einfluß auf die Regierung, daß man sich gar nicht die Mühe nimmt, mit mir von Staatsangelegenheiten zu sprechen.«
»Hier ist aber nicht zu scherzen, mein Herr. Die Sache ist ernst, wir wollen also ernst davon sprechen, oder es überhaupt nicht tun.«
»Dann wollen wir es nicht tun; das ist mir am liebsten. Sie kennen meine Gewohnheit, mich nicht in Dinge zu mischen, die mich etwas angehen. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich nach Persano gehen und mich einige Tage daselbst aufhalten werde, denn wenn Sie nicht gewußt hätten, was aus mir geworden wäre, so hätten Sie sich meinetwegen beunruhigen können und ich möchte Ihren Geist durchaus nicht von den hohen politischen Spekulationen dadurch abziehen, daß er sich mit meiner armseligen Person beschäftigte. Sie sagten, es seien drei junge Männer zum Tode verurteilt worden? Die armen jungen Leute! Das tut mir leid, allein wenn sie schuldig sind, wenn sie eine Verschwörung angezettelt haben. . . .«
Jetzt ergriff ich das Wort. »Das ist es eben, Sire, was das vortreffliche Herz Ihrer Majestät der Königin beunruhigt. Sie weiß nicht gewiß, ob diese jungen Leute wirklich schuldig sind, ja, sie fürchtet sogar, sie seien unschuldig.«. – »Zum Teufel! In diesem Falle, liebe Lady, darf die Königin die Verurteilten nicht hinrichten lassen. Der Tod jenes Wahnsinnigen, den man da neulich gehängt, hat bereits einen schlechten Eindruck hervorgebracht und der Tod dreier Unschuldiger würde einen noch schlimmeren Eindruck hervorbringen. Das bedenken Sie nur, Madame, bedenken Sie das!« – »Wenn ich die Verurteilten,« hob die Königin, die sichtlich ärgerlich darüber war, in einer Diskussion mit ihrem Gatten die Überwundene zu sein, wieder an, »auch begnadigen wollte, mein Herr, habe ich denn das Recht dazu? Ich bin doch nicht der König.« – »Wie, Sie wären nicht der König?« – »Nein, ich bin nur die Königin.« – »Und das sagen Sie mir? Zum Teufel, Sie sind wohl König. Wer ist König? Der, welcher im Staatsrat den Vorsitz führt. Wer ist König? Der, welcher Krieg erklärt, oder Frieden schließt. Wo aber zum Teufel haben Sie denn gesehen, daß ich mich mit solchen Dingen beschäftigt habe? Sie beschäftigen sich damit, Madame; also sind Sie in Wirklichkeit König.« – »König, mein Herr, ist auch der, welcher unterzeichnet.« – »Sie wissen recht wohl, Madame, daß ich so träge bin, daß ich, um nicht einmal die Mühe zu haben, unterzeichnen zu müssen, mir einen Namensstempel habe fertigen lassen.« – »Der in einem Kästchen liegt, zu welchem Sie den Schlüssel haben, mein Herr.« – »Das habe ich eben bemerkt, als ich mich entschloß, nach Persano zu gehen. Ich dachte, es sei abgeschmackt, daß, da einmal alles in Ihren Händen ist, dieser Schlüssel es nicht auch wäre und ich bringe Ihnen denselben.« – »O, geben Sie her, geben Sie her, Sire!« rief ich aus und riß ihm den Schlüssel fast aus den Händen. – »Madame,« sagte Ferdinand zur Königin, die ihn düster anblickte, »ich bitte Sie hiermit zu bedenken, daß die königliche Unterschrift sich in diesem Augenblicke in den Händen von Lady Hamilton befindet und daß es gefährlich sein würde, sie im Besitze dieser Unterschrift zu lassen. Sie brauchte nur, wozu sie auch große Lust hat, an unsere Verbündeten, die Engländer, entweder Malta oder Sizilien zu verkaufen und könnte dadurch unserer Krone großen Schaden zufügen.«
Und indem er uns, die Königin und mich, mit der spöttischen Miene grüßte, die nur ihm eigen war, ging er hinaus, indem er die Gebärde eines Menschen, der sich die Hände wäscht, nachahmte. »Ja, ich verstehe,« sagte die Königin, »du wäschest dir die Hände! Pilatus hat es ebenfalls getan, der Fluch der Geschichte hat ihn aber deswegen nicht weniger achtzehn Jahrhunderte lang verfolgt. – Gib mir den Schlüssel, Emma. Wir wollen sehen, was damit zu tun ist!« Ich überreichte ihr kniend den Schlüssel. In diesem Augenblicke meldete man, daß der Fiskalprokurator Vasilio Palmieri – derselbe, welcher sagte, daß er gegen zwanzigtausend Menschen Beweise hätte und der dreißig der Angeklagten zum Tode und zur vorherigen Unterwerfung der Tortur verurteilt hatte – um die Ehre bäte, der Königin seine Huldigungen darbringen zu dürfen. »Das trifft sich ausgezeichnet!« sagte Karoline. »Wenn er nicht gekommen wäre, so hätte ich ihn holen lassen,« und sie fuhr zu mir gewendet fort: »Willst du das Gesicht eines kriechenden Schurken sehen, Emma?« – »Ich bin bereit zu bleiben, oder hinauszugehen, wie Eure Majestät es mir befehlen werden.« – »Nein, es steht dir frei, du mußt selbst wissen, wie viel du vertragen kannst.« – »Nun, da Eure Majestät mir freien Willen lassen, und ich ein großes Interesse an allem nehme, was unsere drei unglücklichen jungen Männer betrifft, so ziehe ich es vor zu bleiben.« – »Dann bleibe,« sagte Karoline, und zu dem Diener, der den Besuch der Magistratsperson gemeldet hatte, gewendet fuhr sie fort: »Der Fiskalprokurator Basilio Palmieri mag eintreten.«
Wenn jemals ein Gesicht seinen Eigentümer zu einem kriechenden Schurken stempelte, wie die Königin gesagt hatte, so war dies gewiß das Gesicht Basilio Palmieris. Er trat bis auf die Erde gebückt ein; wenn er von der Türe bis zur Königin hätte kriechen können, so hätte er es getan. Die Königin empfing ihn stehend. Der Herr Fiskalprokurator versuchte es anfangs, sich zu entschuldigen, beim Tribunal so wenig ausgerichtet zu haben. Er hätte dreißig Köpfe gefordert, allein es wäre nicht seine Schuld, daß ihm nur drei bewilligt worden, er hätte die Tortur verlangt, es wäre nicht seine Schuld, daß man diese Forderung zurückgewiesen.
»Es ist gut, mein Herr,« erwiderte Karoline kalt, »Sie sind vielleicht ein anderes Mal glücklicher.«
«Ich lege der Königin meine demütigen Huldigungen zu Füßen und frage Ew. Majestät, ob ich vielleicht in irgendeiner Weise nützen kann.«
»Sie können mir zwei Dienste erweisen, mein Herr,« erwidert die Königin.
»Ich!« rief der Fiskalprokurator erstaunt aus, »ich könnte Ew. Majestät zwei Dienste erweisen? Sie wollen sagen, Madame, Befehle empfangen!«
»Sie können,« fuhr die Königin fort, »mir sagen, welcher von den drei Verurteilten dem königlichen Palaste am nächsten wohnt.« – »Das ist der junge Emanuele de Deo, Madame,« erwiderte der Fiskalprokurator, der eine solche Frage nicht begreifen konnte. – »Hat er noch Eltern?« hob die Königin wieder an. – »Nur noch den Vater.« – »Wissen Sie seine Adresse?« – »Ja, Madame.« – »Geben Sie mir diese.« – »Giuseppe de Deo in der Brigittenstraße, nahe bei dem Getreidehändler, ziemlich in der Mitte der Straße.« – »Ich danke, mein Herr. Schreibe diese Adresse auf, Emma.« – Ich zog ein paar kleine Elfenbeintäfelchen aus der Tasche und schrieb eifrig die von dem Fiskalprokurator gegebene Adresse darauf. Die Königin sah nach mir hin, bis ich die Adresse vollständig aufgeschrieben, als ob sie den Mann nicht anblicken wollte, den sie erst, als die höchste Zeit war, zu sich beschieden. Endlich wendete sie sich wieder an ihn und sagte: »Jetzt sagen Sie mir, wo die Verurteilten gefangensitzen.« – »In der Vicaria, Madame.« – »Hier ist Papier, Tinte und eine Feder, schreiben Sie, mein Herr.« – Die Königin zeigte dem Fiskalprokurator einen Tisch, auf welchem die von ihr genannten Gegenstände lagen. Don Basilio Palmieri, der sich in Gegenwart der Königin nicht zu setzen wagte, beugte ein Knie zur Erde, nahm die Feder zur Hand und war zu schreiben bereit. – »Sind Sie bereit, mein Herr?« fragte die Königin. – »Ja, Madame.« – Die Königin diktierte: »Der Oberkerkermeister der Vicaria wird allen Befehlen, die ihm die Person, welche dieses Billett vorzeigt, geben wird, blindlings Gehorsam leisten.« – »Ich bin fertig, Madame.« – »Nun gut, dann schreiben Sie das Datum und Ihren Namen darunter, und benachrichtigen Sie Ihren Oberkerkermeister, daß Sie einen Befehl für ihn gegeben hätten.« – »Und soll ich ihm sagen, welche erhabene Person –« »Sie sollen ihm nichts sagen, mein Herr, denn Sie wissen meine Absichten nicht, und ich wünsche, daß Sie dieselben auch nicht zu erfahren suchen.« – »Haben Ew. Majestät noch weitere Befehle für mich?« – »Nein, mein Herr.« – »Dann habe ich die Ehre, mich Euer Majestät zu empfehlen und Ihnen meine tiefste Hochachtung zu Füßen zu legen.« – Die Königin neigte das Haupt ein wenig und der Fiskalprokurator verließ rückwärtsgehend das Zimmer. Die Tür schloß sich hinter ihm.
»Was soll ich denn mit dieser Adresse machen, Madame?« fragte ich. – »Behalte sie. Wenn der Augenblick gekommen sein wird, wo ich sie benutzen will, werde ich dir weitere Anweisungen geben.« Was den Befehl betraf, den sie sich für den Oberkerkermeister der Vicaria hatte geben lassen, so las sie denselben noch einmal durch, um zu sehen, ob er auch so geschrieben, wie sie ihn diktiert, dann faltete sie ihn, überzeugt, daß keine Silbe mehr und keine Silbe weniger darin sei, sorgfältig zusammen und steckte ihn in ein kleines Portefeuille, welches sie gewöhnlich bei sich trug. Ich folgte allen ihren Bewegungen mit den Augen und suchte ihre Gedanken zu lesen. »Ich sehe mit Freude, Madame,« sagte ich, »daß der König wahrscheinlich keine unnütze Vorsicht angewendet hat, indem er Ihnen den Schlüssel zum königlichen Siegel zurückgelassen.« – »Ich habe noch keinen bestimmten Entschluß gefaßt, es wird alles von den Verurteilten selbst abhängen,« erwiderte die Königin. »Auf alle Fälle habe ich dir eine Rolle in der Lösung der Umstände, welche diese nun auch sein mag, vorbehalten, bereite dich also auf diese Rolle vor.« – »Und welche Vorbereitungen soll ich denn treffen?« – »Du mußt heute abend um acht Uhr mit einem schwarzen Kleide und einem schwarzen Mantel hier sein.« – »O, Madame, schwarz hat eine schlimme Vorbedeutung!« – »Sei ruhig, man soll uns in der Nacht nur nicht sehen.« – »Wir werden also heute nacht zusammen ausgehen, Madame?« – »Vielleicht beide, vielleicht mußt du auch allein gehen.« – »Wozu wollen Sie mich denn machen?« – »Dazu, wozu dich Gott bereits gemacht hat, ohne mich erst zu fragen, zu einer Gesandtin.« – Ich wollte fragen, die Königin legte mir aber die Hand auf den Mund. »Mit der Zeit wirst du alles erfahren, schöne Freundin, ich werde dir nichts verheimlichen. So gedulde dich denn ruhig bis heute abend.« – »Dann verlasse ich Sie, Madame, denn ich würde nicht den Mut besitzen, bei Ihnen zu bleiben, ohne Sie zu fragen.« – »Das ist allerdings das beste, was du tun kannst, denn deine Fragen würden doch nur nutzlos sein.« – »Sie sind heute wirklich grausam!« – »Was schadet es denn, wenn meine Grausamkeit sich auf dich allein erstreckt und der Blitz durch diesen Blitzableiter von deinen Schützlingen abgelenkt wird?« – »O, unter dieser Bedingung überliefere ich mich Ihnen. Hier ist mein Arm, beißen Sie mich bis aufs Blut.« – Sie faßte meinen Arm, als ob sie mich wirklich beißen wollte, allein sie berührte ihn nur mit den Lippen. »Meiner Treu, nein,« sagte sie, indem sie den beabsichtigten Biß in einen Kuß verwandelte, »das würde schade sein! Überdies weiß man ja nicht, ob dein Arm Fleisch oder Marmor ist, und ich fürchte meine Zähne daran zu zerbrechen. Geh und versäume ja nicht, heute abend Punkt acht Uhr hier zu sein.« – »O, seien Sie unbesorgt, Madame, ich werde nicht auf mich warten lassen.« – Und Punkt acht Uhr trat ich ganz schwarz gekleidet in das Zimmer der Königin. Sie erwartete mich in demselben Kostüm. – »O,« sagte sie, als sie mich erblickte, »heute sehe ich dich zum ersten Male schwarz gekleidet. Weißt du, daß schwarz dich wundervoll kleidet und du entzückend schön bist?« – »Sie sind es ebenfalls, Madame; ich möchte Sie aber dennoch lieber anders gekleidet sehen; wir sehen wie zwei Witwen aus.« – »Meinst du denn, daß dies das größte Unglück wäre, welches uns treffen könnte?« – »Ja, was mich betrifft, so schwöre ich es Ihnen! Ich liebe den guten Sir William sehr!« – »So, daß du ihm ein Grabmal errichten lassen würdest, wie die Königin Artemisia es getan,« erwiderte lachend die Königin, »nur daß du dich nicht mit auf seinem Scheiterhaufen verbrennen ließest.«
»Ich schwöre Ihnen, daß, wenn ich in Malabar geboren wäre –«
»Ja, du bist aber, glaube ich, in dem Fürstentums Wales geboren, so daß ich vollkommen beruhigt bin. Jetzt handelt es sich aber um das alles nicht. Ich habe dir bereits gesagt, daß ich dir heute abend eine Rolle als Gesandtin übertragen würde; bist du bereit dazu?«
»Ich erwarte die Befehle Ew. Majestät.« – »Du hast doch die Adresse, die dir Don Basilio gegeben?« – »Wenn ich sie auch nicht hätte, so erinnerte ich mich doch derselben. Es war die Brigittenstraße, nahe bei dem Getreidehändler, ungefähr in der Mitte der Straße.« – »Und der Vater des Verurteilten?« – »Giuseppo de Deo.« – »Gut. Du wirst in einem Wagen ohne Wappen und Namenszug, den ich für dich habe anspannen lassen, in die Brigittenstraße fahren, Giuseppo de Deo abholen und mit hierher zu mir bringen.«
»Wie, Madame,« rief ich hoch erfreut, »Sie wollen mit dem Vater des unglücklichen jungen Mannes sprechen?«
»Ja, es ist eine Grille von mir.« – »Dann ist er ja aber gerettet!« – »Noch nicht.« – »Und ich soll ihn holen?« – »Ja, du müßtest dich denn weigern.« – »Ich sollte mich weigern, der rettende Engel eines unglücklichen Verurteilten, der Himmelsbote einer unglücklichen Familie zu sein!«
»Nun, wenn du deine Aufgabe für eine Wohltat hältst, so verliere keine Zeit, dieselbe auszuführen.«
»O, ich eile, Madame! Mein Mantel! mein Mantel!«
Ich hatte denselben bei meinem Eintritte in das Zimmer auf einen Sessel geworfen. Die Königin ergriff ihn und legte mir ihn um.
»Und jetzt geh', du Taube der Arche,« sagte sie, »möchtest du einen Olivenzweig zurückbringen!«
Ich flog leicht wie der Vogel, dessen Namen die Königin mir beigelegt, die Treppe hinunter, ließ den Wagen vorfahren und sprang hinein, indem ich dem Kutscher zurief: »In die Brigittenstraße!«
Vom königlichen Palast bis zur Brigittenstraße waren es nur wenige Schritte, so daß ich in einem Augenblick daselbst anlangte. Ich stieg an dem bezeichneten Ort aus. Da es kaum acht Uhr abends war, so hatte der Getreidehändler seinen Laden noch nicht geschlossen und ich konnte fragen lassen, wo Don Giuseppe de Deo wohnte. Der Getreidehändler, welcher Lieferant für die königlichen Ställe war, erkannte den Kutscher, der ihn nach Don Giuseppe fragte, und als er eine Dame an der Wagentür sah, so kam er schnell herbei, da er die Wahrheit vermutete und sich dachte, daß der König oder die Königin geschickt hätten. Man hatte mich so oft in dem königlichen Wagen durch die Straßen Neapels fahren und neben der Königin sitzen sehen, daß der Getreidehändler mich sogleich erkannte. »O Mylady,« sagte er, »der, den Sie zu sehen wünschen, befindet sich augenblicklich in großer Betrübnis, denn sein Sohn ist heute morgen durch die Junta zum Tode verurteilt worden.« – »Das weiß ich,« erwiderte ich, »und gerade deshalb möchte ich mit ihm sprechen. Da Sie nun sein Nachbar sind, so möchte ich von Ihnen wissen, in welchem Hause und in welcher Etage er wohnt.« – »Er wohnt in diesem Hause, Madame,« sagte er, »und zwar in der dritten Etage.« – Und zu gleicher Zeit zeigte er mir das Haus, welches neben dem seinigen stand. »Laßt öffnen,« sagte ich zu dem Kutscher. – »Ich fürchte aber, Madame,« fuhr der Getreidehändler fort, »daß Sie ihn nicht zu Hause antreffen weiden.« – »Wo kann er denn sein?« – »Ich habe ihn fortgehen sehen.« – »Zu dieser Zeit?« – »Ja.« – »Er ist gewiß zu einem der Richter gegangen, um für seinen Sohn zu bitten.«
»O, Madame, zu dieser Stunde kann kein Richter mehr weder für den armen Vater, noch für das arme Kind etwas tun.«
»Wo ist er denn aber dann hingegangen?« – Der Getreidehändler sah mich an. – »Wollen Sie durchaus zu ihm?« fragte er. – »Ja, durchaus und zwar augenblicklich.« –
»Ist es zu seinem Heil? Verzeihen Sie, wenn ich darnach frage, Madame, der arme Vater trägt aber bereits eine so große Last des Schmerzes auf seinen alten Schultern, daß es, wenn Sie die Wucht dieser Last auch nur um ein Körnchen vermehren wollten, eine Wohltat sein würde, wenn man Ihnen nicht sagte, wo er ist.«
»Ich kann zwar nichts versprechen, allein ich komme in einer barmherzigen Absicht.« – »Dann kommen Sie, Madame, und ich will – Gott verzeihe mir, wenn Sie mich täuschen – Sie zu ihm führen.« – »Haben wir weit zu gehen?« fragte ich. – »Ungefähr zehn Schritte.« – Der Mann ging vor mir her; ich folgte. Er blieb auch wirklich, nachdem er ungefähr zehn Schritte weit gegangen war, an der kleinen Kirche der St. Brigittenstraße stehen. »Ah,« murmelte ich, »nun verstehe ich, warum er nicht zu Hause ist!« Der Getreidehändler klopfte an die kleine Tür, die sich sogleich öffnete. Eine Art Küster führte uns in die Kirche, die mit Ausnahme einer einzigen erleuchteten Kapelle finster war. Wir traten ein. Der Getreidehändler zeigte mir einen Greis, der nicht auf den Altarstufen kniete, sondern vielmehr auf denselben lag, und mit der Stirn den Marmor berührte. »Sehen Sie,« sagte der Kaufmann, »dort liegt der Mann, den Sie suchen.« Ich dankte ihm, er zog sich zurück und ließ mich allein, an der Tür aber hielt ihn die Neugierde zurück und er blieb mit dem Küster stehen, um zu sehen, was vorgehen sollte. Ich näherte mich geräuschlos dem Greis. Er betete, und da er mich nicht hatte kommen hören, so berührte ich seine Schulter. Er richtete sich auf, so daß er eine kniende Stellung einnahm, und stützte sich mit der einen Hand auf die Altarstufen.
»Wer sind Sie und was wollen Sie?« fragte er. »Sind Sie der Engel, nach welchem ich rief?« – »Nein, ich bin der Engel nicht, den Sie gerufen,« erwiderte ich, »wenn ich aber auch kein Engel bin, so komme ich vielleicht deswegen nicht minder im Namen Gottes.« – »Was meinen Sie, Madame? Wissen Sie, wer ich bin und für wen ich bete?« – »Sie sind Giuseppo de Deo und beten für Ihren Sohn Emanuele de Deo.« – »Ja, ja, ja.« – »Dann folgen Sie mir.« – »Wohin?« – »Zur Königin.« – Sein Gesicht verdüsterte sich. – »Zur Königin?« fragte er zwischen Freude und Furcht schwankend. »Was kann mir die Königin zu sagen haben? Wissen Sie, daß das Gerücht geht, sie sei es, welche die Hinrichtungen wünscht? Wenn dem so wäre, so möge Gott ihr gnädig sein! Was sie aber auch für eine Königin sein mag, so möchte ich doch lieber an meiner als an ihrer Stelle sein.« – »Kommen Sie nur,« wiederholte ich. »Ich hoffe, daß, wenn Sie mit Ihrer Majestät gesprochen, Sie eine bessere Meinung von ihr haben werden.« – »Übrigens,« sagte der Greis, »können die Sachen nicht schlimmer werden, als sie schon sind, ich folge Ihnen daher, Madame.«
Und indem er den Marmor der Stufen küßte, erhob er sich.
Ich ging voran. Als wir an die Kirchtür kamen, ging Don Giuseppo an mir vorbei, tauchte seine Finger in den Weihkessel und reichte mir das geweihte Wasser.
Als er sah, daß ich meine Finger nicht benetzte, sah er mich erstaunt an.
»Ich bin Protestantin,« sagte ich.
Da schien der letzte Hoffnungsschimmer, der auf seiner Stirn leuchtete, zu schwinden; mechanisch machte er das Zeichen des Kreuzes, stieß einen Seufzer aus, senkte das Haupt auf die Brust und folgte mir.
Wir stiegen in den Wagen. »In den königlichen Palast,« befahl ich dem Kutscher. Fünf Minuten später hielt der Wagen am Fuße der Treppe, die zu den Zimmern der Königin führte.
Anstatt sich zu freuen, wie er es doch hätte tun sollen, war der Greis düster wie die Verzweiflung, bleich wie der Tod. Ehe wir in das Zimmer traten, in welchem uns die Königin erwartete, ergriff er mich bei der Hand und stützte sich auf die Einfassung der Tür. Er war nahe daran ohnmächtig zu werden.
»Aus Gnade, einen Augenblick!« sagte er.
Was mich betraf, so war alle Freude im Grunde meines Herzens erstorben. So stellte man sich also die Königin vor! Sie war es, die das Urteil durch den Mund der Richter aussprach, die durch die Hand des Henkers tötete!
Endlich schien Don Giuseppe seine Kräfte wieder zu gewinnen. Ich gab dem Türsteher ein Zeichen, die Tür öffnete sich. Die Königin hatte das Geräusch unserer Schritte gehört, und da sie wissen wollte, was wir in dem anstoßenden Zimmer taten, so hatte sie sich erhoben und kam uns entgegen. Ihr Gesicht war finster, beinahe zornig, denn sie erriet, was vorgegangen war. Ich schob Don Giuseppe zu den Füßen der Königin und sagte zu ihm: »Hier ist sie, von der die Begnadigung Ihres Sohnes abhängt, bitten Sie sie wie die heilige Jungfrau darum und Sie werden diese Gnade erhalten.« Der arme Greis sank auf die Knie, faltete die Hände, seine Bitte aber waren die Worte: »Ist es wahr, Madame?« – »Was?« fragte die Königin mit ihrer kurzen und befehlenden Stimme. – »Daß Sie, wenn ich Sie um Gnade für meinen Sohn anflehe, Sie mir diese Gnade auch gewähren wollen?« – »Ich hoffe doch, daß niemand etwas in meinem Namen versprochen hat?« fragte Karoline, indem sie mich mit der Härte, die bisweilen in ihrem Auge lag, anblickte. – »Nein, Madame,« erwiderte ich, »ich habe aber zu einem Vater, der an dem Altar der Jungfrau für das Leben seines Sohnes betete, gesagt: Kommen Sie und ich werde Sie zu einer Königin führen, die schön und gnädig ist wie eine Madonna.« – »Madame! Madame!« sagte Don Giuseppe, der ein wenig Mut faßte, weil ich ihn unterstützte, »Sie können alles: Sie sind Königin, mehr als Königin, Sie sind König! Gnade, Madame! Gnade für meinen Sohn! Er ist vor drei Tagen zwanzig Jahre alt geworden. Er ist mein einziger Sohn, Madame! Ich dachte, er solle mir meine Sterbestunde einmal erleichtern, nie aber ist es mir eingefallen, daß ich ihn überleben würde! Madame, bei Ihren teuren Kindern, bei dem Prinzen Franz, bei dem Prinzen Leopold, bei Ihrem kleinsten Sohn, der noch in der Wiege liegt, bei dem Prinzen Albert, flehe ich Sie an, Madame, beschwöre ich Sie, Königin, Majestät, haben Sie Mitleid mit meinem Sohne!« – »Madame! Madame!« sagte ich zur Königin, indem ich meine Bitten mit denen des armen Vaters vereinigte und ihr die Hand küßte. – »Und wenn ich nun etwas für Ihren Sohn täte, mein Herr,« sagte die Königin, »würde er sich dann weigern, auch etwas für mich zu tun?« – »Für Sie, Madame? Für Sie, die Sie reich, jung, schön, allmächtig sind? Und was sollte er denn für Sie tun? Sagen Sie es! Sagen Sie es, und die ganze Macht eines Vaters will ich anwenden, damit er Sie ehre, verehre und Ihnen auf den Knien diene von dem Tage an, wo Sie ihn mir wieder geschenkt haben werden, bis zu seiner Todesstunde.« – »Ihr Sohn ist ein Jakobiner, mein Herr,« sagte die Königin.
Don Giuseppe unterbrach sie. »Er ein Jakobiner, er, Madame? Weiß er es wohl selbst, was ein Jakobiner ist? Wissen Sie, daß der Unglückliche bereits drei Jahre im Gefängnisse ist? Er war siebzehn Jahre, Madame; hat ein Kind von siebzehn Jahren wohl eine selbständige Meinung? Er hat sich das Haar kurz schneiden lassen, das ist sein einziges Verbrechen. Während der drei Jahre aber, die er im Gefängnisse zugebracht hat, haben seine Haare Zeit gehabt, wieder zu wachsen.« – »Das ist gleich, er weiß etwas von der Verschwörung, die uns umgibt und uns bedroht. Er mag gestehen, was er weiß, und ich will ihn und seine beiden Gefährten begnadigen.« – »Er soll bekennen?« rief der arme Vater, »er soll bekennen?! Hat er denn etwas zu bekennen? Weiß er denn etwas? Und kann er, selbst wenn er sprechen wollte, etwas bekennen, wenn er nichts von dieser Verschwörung weiß, von der Sie sprechen, Madame, und die, wie man sagt, nur in dem Hirn der Richter existiert? Wie können Sie verlangen, daß er etwas bekenne, was er nicht weiß? Wer sollte ihm übrigens auch Ihre Bedingungen überbringen? Wer wird eine überzeugende Stimme besitzen, um seine etwaigen Skrupel zu besiegen? Wer wird ihn im Namen seines Vaters beschwören, um diesen Preis zu leben? O, niemand, ich würde vielleicht diese Person sein – und selbst dann noch!« – »Auf Sie rechne ich eben, mein Herr, Sie sollen Ihren Sohn sprechen.« – »Ich soll meinen Sohn sprechen, meinen Emanuel!« rief der Vater, indem er seine Stirn mit beiden Händen faßte, als ob er fürchtete wahnsinnig zu werden. »Was sagen Sie mir da?« – »Hier ist ein Befehl für Don Basilio Palmieri, den Fiscalprocurator. Ich sage ihm darin, Ihnen die Erlaubnis zu geben, Ihren Sohn zu sehen und sich eine Stunde lang ohne Zeugen mit ihm zu unterhalten.« – »Wann, Madame, wann –, bedenken Sie, daß ich ihn seit drei Jahren nicht gesehen habe.« – »Heute abend, von zehn bis elf Uhr.« – »Und wenn ich Don Basilio nun nicht antreffe?« – »So werden Sie Ihren Sohn morgen anstatt heute besuchen.« – »Es ist aber bereits neun Uhr, Madame, ich habe keinen Augenblick zu verlieren.« – »Ich halte Sie auch nicht länger zurück; gehen Sie!« – »O, es ist mir, als sollte ich vor Freude wahnsinnig werden.« – »Was suchen Sie?« – »Ihre Hand, Ihre Hand, Madame, um sie zu küssen!« Die Königin reichte ihm ihre Hand. Sie war wirklich von dieser tiefen Bewegung gerührt, und wenn der arme Vater in ihrem Herzen hätte lesen können, wie ich, so hätte er beharrlich gefleht und sie hätte ihm das Leben seines Sohnes ohne irgendeine Bedingung geschenkt. Zum Unglück sagte er weiter nichts; stürzte aus dem Zimmer und wiederholte die Worte: »Mein Sohn! mein Sohn! mein Emanuel! . . .« Und das Geräusch seiner. Schritte verhallte allmählich mit dem Klang seiner Stimme.
Die Königin und ich, wir blieben allein. Marie Karoline war bewegt; man fühlte aber, daß es bei diesem mit einem dreifachen Panzer bekleideten Herzen ganz anderer Bewegungen bedurfte, um es zu schmelzen. »Jetzt kommt die Reihe an uns,« sagte sie. Ich hatte meinen Mantel nicht abgelegt, sie band den ihrigen um, schlug ihre Kapuze über das Gesicht, nahm meinen Arm und zog mich nach der Treppe. Am Fuße derselben fanden wir den Wagen, in dem ich nach der Brigittenstraße gefahren war. Die Königin stieg ein, ich folgte. Der Lakai schloß die Tür. »Wohin?« fragte er. – »Nach der Vicaria,« erwiderte die Königin. Und der Wagen fuhr schnell durch die Toledostraße, verließ dieselbe an der Ecke des Palastes Maddalone, um sich in dem Labyrinth von Gäßchen zu verlieren, welche nach dem alten capuanischen Palaste führen. Ich war mehrere Male am Fuße dieser Mauern vorübergekommen und hatte mit Grauen die Gefangenen an dem Gitter ihres Gefängnisses hängen und die Häupter der Geköpften an den Ecken der Mauern ihres eisernen Käfigs vertrocknen sehen. Jetzt aber sollte ich in den furchtbaren Umkreis treten, wo die Verurteilten ihren dreitägigen Todeskampf kämpften.
Es war sehr wahrscheinlich, daß ich nicht nur etwas Neuem, sondern auch etwas Schrecklichem, Furchtbarem, etwas Unerhörtem beiwohnen sollte.
Ich schmiegte mich schaudernd an die Königin und fühlte, wie sie hart und kalt wie Marmor war. Sie mußte furchtbar gelitten haben, daß sie so gleichgültig hatte werden können.
Ohne Zweifel erwartete man uns, denn schon bei dem Geräusch unseres Wagens öffnete sich die Tür und wir befanden uns auf dem Hof. Ein Mann stand am Fuße einer linksgelegenen Treppe mit einer Laterne. Der Lakai öffnete den Schlag, die Königin stieg aus und schritt gerade auf diesen Mann zu. Ich folgte ihr mit wankendem Tritt.
»Sie sind der Oberkerkermeister, nicht wahr?« sagte die Königin in dem befehlenden Tone, der nur ihr eigen war. – »Ja, Madame.« – »Sie erwarten mich?« – »Ich erwarte eine Person, die mir einen Befehl des Fiscalprocurators überbringen soll.«
»Hier ist dieser Befehl.«
»Sie erlauben doch, daß ich ihn lese?«
»Das ist sogar Ihre Pflicht.«
Der Kerkermeister las den Befehl des Fiscalprocurators, faltete das Papier zusammen und steckte es in die Tasche. »Jetzt, Madame,« sagte er, »haben Sie mir zu befehlen, und ich habe zu gehorchen. Was wünschen Sie?« – »Der Vater des Verurteilten Emanuelo de Deo hat von dem Herrn Fiscalprocurator die Erlaubnis erhalten, eine Stunde mit seinem Sohne zu sprechen. Ich möchte der Unterredung beiwohnen, ohne daß man wüßte, daß ich da wäre, und wo möglich hören, was sie sprechen.«
»Nichts ist leichter, Madame. Die drei Gefangenen sind in der Totenkammer.« So nennt man nämlich das Zimmer, in welchem die Verurteilten die letzten drei Tage ihres Lebens zubringen. Von einer Seite steht dieses Zimmer mit der Kapelle in Verbindung, von der anderen mit der Garderobe, in welcher die Brüderschaft der Bianchi, welche die Verurteilten zur Richtstätte begleiten, ihre langen weißen Kleider aufbewahrt. In diesem Kabinett, in welches man durch eine geheime Treppe gelangt, ohne daß man weder durch die Kapelle noch durch die Totenkammer gehen muß, sind unsichtbare Öffnungen angebracht, damit die Richter das Gespräch der Gefangenen untereinander hören, und selbst ihre Gebärden wahrnehmen können. »Sie können in dieses Kabinett gehen, und werden daselbst alles sehen und hören, was in der Totenkammer vorgeht.«
»Es ist gut. Wir wollen gehen!«
Der Kerkermeister öffnete das Gitter, an welches er sich lehnte, die Königin ging durch und stieg kühn die dunkle Treppe hinauf, die sich vor ihr befand.
»O Madame, Madame, warten Sie!« rief ich ihr zu.
Das Gitter schloß sich hinter uns, indem es in seinen Angeln knarrte. Dann rasselte der Schlüssel im Schloß.
Karoline hatte den ersten Treppenabsatz erreicht, tastend hatte ich sie gesucht und gefunden, denn dank unserer schwarzen Kleider waren wir in der Dunkelheit vollkommen unsichtbar. Ich klammerte mich an die Königin an.
Der Kellermeister ging an uns vorüber und seine Laterne warf einen bleichen Lichtschein auf die schwarzen Mauern.
In der ersten Etage schloß ein zweites Gitter die Treppe in ihrer ganzen Breite. Der Kerkermeister öffnete es wie das erste, mit demselben Knarren der Angeln und Schlüssel, dann gingen wir hindurch, dann schloß es sich hinter uns und ich fühlte mich doppelt bedrückt, denn jedem, auch dem Unschuldigen, der ein Gefängnis betritt, ist es, als ob diese furchtbaren Pforten, obgleich sie für das Verbrechen allein gemacht sind, sich nie wieder öffnen sollten. Wir gingen einen feuchten und engen Korridor entlang, auf den sich vergitterte Fenster öffneten, die Licht in die Zellen bringen sollten. Als die Laterne zu einer so ungewöhnlichen Stunde an den Fenstern vorüberkam, sah man hier und da die undeutliche Gestalt eines Gefangenen sich auf seinem Lager aufrichten und hörte das Knistern des Strohes. Ich war von unendlicher Furcht erfüllt, wie es stets der Fall ist, wenn man sich an einem unbekannten und unheimlichen Orte befindet. Von Zeit zu Zeit mußten wir warten; ein neues Gitter ward vor uns geöffnet, dann wieder geschlossen und bei jedem war es mir, als ob ich, wie Dante, eine neue Stufe in der Hölle überschritte. Wenn ich mit unserem Führer allein gewesen wäre, so wäre ich ohnmächtig zusammengesunken, und wenn ich ganz allein gewesen wäre, so hätte die Furcht mich getötet. Endlich erreichten wir das Ende des Korridors, welches an eine ebenso enge Treppe wie der Korridor selbst stieß und die mit einem Gitter eiserner Querstangen wie die der Fenster geschlossen war. So klein meine Hand auch war, so konnte ich doch dieselbe nicht durch diese Stangen bringen. Der Kerkermeister drehte sich herum und sagte mit leiser Stimme: »Wir brauchen nur dieses Gitter noch zu öffnen und diese Treppe hinaufzugehen, dann sind wir da.« – »Dann öffnen Sie,« sagte die Königin mit einer Stimme, welche nicht die geringste Gemütsbewegung verriet.
Der Kerkermeister gehorchte, jedoch mit einer Vorsicht, welche bewies, daß mir uns wirklich unserem Ziele näherten und daß er nicht von denen gehört zu werden wünschte, denen unser Besuch galt. Übrigens waren die Schlösser und Angeln dieses letzten Gitters so angebracht, daß sie sich ohne das geringste Geräusch bewegten. Mußten nicht Augen und Ohren sich denen, die sie bespionieren und verraten wollten, schweigend nähern können?
Wir erreichten eine Art großes Kabinett, in welches die Königin entschlossen eintrat, ich aber blieb auf der Schwelle stehen. An den Wänden hingen, stehenden unbeweglichen Schatten gleich, die langen weißen Gewänder der Bianchi, nur an den Augen durchlöchert, denn, wie wir bereits gesagt haben, legten die Bianchi in diesem Kabinette, welches an die Totenkammer stieß, das unheimliche Kostüm an, in welchem sie die zum Tode Verurteilten zum Schafott begleiteten.
Die Königin sah meine Furcht und erriet die Ursache derselben. Ohne etwas zu sagen, faßte sie eins der Gewänder und schüttelte es, um mir zu beweisen, daß nichts unter seinen Falten verborgen wäre, nicht einmal ein Gespenst. Dann deutete sie mir an, daß ich eintreten sollte.
Hierauf zeigte ihr der Kerkermeister in dem Getäfel der Wand so angebrachte Löcher, daß man sie von der Totenkammer aus nicht bemerken konnte. Übrigens konnten die Gefangenen in dieser Kammer, da sie nicht mehr die Freiheit ihrer Bewegungen besaßen, weder das Getäfel noch die Wände untersuchen. Außerdem war eine blecherne Röhre nach Art eines Sprachrohres für das Ohr angebracht, ebenso wie das Auge gerade in die Öffnung hineinpaßte, so daß die in dem Kabinette versteckte Person zugleich sehen und hören konnte, was in der Totenkammer vorging. Es waren zwei solche Öffnungen und zwei solche Röhren vorhanden. Der Kerkermeister zeigte uns dieselben.
»Erwarten Sie uns unten an der Treppe auf dieser Seite des Gitters,« sagte die Königin zu ihm.
Der Kerkermeister gehorchte. Er ließ seine Laterne auf der Erde stehen, die Königin hob sie auf und gab sie ihm in die Hand.
Wir blieben im Dunkeln, da aber die Totenkammer, um den Namen einer »brennenden Kapelle« zu verdienen, tageshell erleuchtet war, so erschienen zwei lichte Punkte an dem dicken Getäfel und zeigten genau den Ort an, zu welchem das Auge hineinsehen sollte. Wir näherten uns, indem wir den Atem einhielten, dem Getäfel, legten sorgfältig die Hand darauf, damit es nicht knistern sollte, dann blickten wir durch die Öffnung und sahen folgendes: In einem viereckigen Gemach von mittlerer Größe, das keinen anderen Ausgang als eine nach einer Kapelle führende Tür besaß, lagen drei Matratzen am Boden, und auf den Matratzen lagen die drei Verurteilten, Emanuelo de Deo, Gagliani und Vitagliano. Ihre Füße und Hände staken in eisernen, am Boden befestigten Ringen. Nur waren die Fußringe fest im Boden, während die Handschellen, welche an einer, drei bis vier Fuß langen Kette hingen, den Gefangenen erlaubten, sich auf ihr Bett zu setzen und selbst die Hand zu einer gewissen Höhe zu erheben. Diese drei Matratzen waren an die Wand gelehnt, die eine im Hintergrunde des Zimmers uns gegenüber, die beiden andern uns zur Rechten und Linken. Nur war die zur Rechten liegende, welche dem jungen Emanuele de Deo gehörte, an eine an die Wand gemalte Freske gelehnt, die Christus am Kreuze und Maria zu seinen Füßen kniend darstellte. Vor dieser Freske brannten ungefähr zwanzig Kerzen, die den Gefangenen wie eine feurige Mauer umgaben. Er saß auf seinem Lager, wie das Gemälde oder der Kupferstich – denn ich habe das Gemälde nie gesehen – wie der Kupferstich von Davids Gemälde uns Sokrates darstellt, wie er eben im Begriff ist, den Giftbecher zu trinken. Anstatt des alten Weisen aber mit der gewölbten Stirn, der abgeplatteten Nase, wie er zu den Athenern sagt: »Es war gar nicht der Mühe wert, mir das Leben zu nehmen, Ihr hättet mich nur sterben zu lassen brauchen,« saß hier ein junger Mann mit griechischem Profil, bleichem Teint, flammenden Augen und schwarzem Haar, welches in langen Locken auf seine Schultern herabfloß, denn, wie sein Vater gesagt hatte, hatte sein Haar während der dreijährigen Haft Zeit gefunden, wieder zu wachsen.
Ich weiß nicht, welches Gefühl des Mitleids oder der Bewunderung der Anblick des jungen Emanuele der Königin einflößte; was mich betraf, so kehrten meine Augen, nachdem ich einen Blick auf seine Gefährten geworfen, wieder zu ihm zurück, um ihn nicht wieder zu verlassen. Ein Maler hätte ein prachtvolles Bild schaffen können, wenn er diesen jungen Mann dargestellt hätte, der von den ihn umgebenden Kerzen beleuchtet ward, an eine Matratze zu Füßen der Freske, an die er sein Haupt lehnte, gefesselt war, nur mit einem schwarzen Beinkleide bekleidet, den Kragen auf die Schultern zurückgeschlagen, das Hemd auf der Brust offen. So sprach er mit seinen Gefährten über Tod und Unsterblichkeit. Er war wirklich wunderschön und man hätte ihn für den heiligen Johannes, den Lieblingsjünger des Herrn, halten können, hätte er nicht schwarzes Haar an Stelle der blonden Locken gehabt, die Leonardo da Vinci, der unsterbliche Maler des »heiligen Abendmahls«, dem Jünger gibt.
In dem Augenblicke, wo wir eintraten, hörten wir Worte, die wie eine sanfte Melodie klangen, und an dem Versmaß, wie an der energischen Form erkannte ich, daß der junge Neapolitaner Verse von Dante rezitierte. Da unser Eintritt durchaus kein Geräusch verursachte, und die Gefangenen gar nicht vermuteten, daß sie gehört und gesehen würden, so fuhr er fort. Ich habe schon gesagt, welchen Eindruck er auf mich hervorbrachte, als meine Blicke auf ihn fielen, um sich nicht wieder von ihm wegzuwenden; ich habe schon gesagt, daß er, wie er so da saß, sich auf die eine Hand stützte, während er die andere, so weit es die Länge seiner Kette gestattete, zum Himmel erhob, die Stellung eines Sokrates eingenommen hatte, und daß er das begeisterte Antlitz eines Propheten besaß.
Ohne Zweifel dachte er, daß seine beiden Gefährten der Stütze und Ermutigung bedürften, denn er rezitierte ihnen den vierzehnten Gesang des »Paradieses«, in welchem Dante, von Beatrice geführt, bis in den Himmel des Mars steigt, und die Seelen derer findet, die für den wahren Glauben gekämpft haben, und die in Gestalt feuriger Zungen das Kreuz umgaben und das heilige Kruzifix verherrlichten.
In den Augen dieses jungen Enthusiasten war der wahre Glaube die Freiheit, für die er starb, und seine Hoffnung, die er auch seinen Gefährten einzuflößen suchte, war die, eines Tages auch eine dieser melodischen feurigen Zungen zu sein.
Jetzt, nachdem ich gesagt habe, was wir gesehen, werde ich auch sagen, was ich hörte.
Als die Stimme deutlich an mein Ohr drang, hatte Emanuele bereits dreiviertel des Gesanges rezitiert und mit vibrierender Stimme, mit auf einen unbekannten Gegenstand geheftetem Auge war er an die Zeile gekommen:
»Qui vince la memmoria mia lo'ngegno.«
Seine Gefährten hörten ihm mit offenem Munde und lächelnden Lippen zu. Man hätte glauben können, sie sagten zu ihm: »Singe dein letztes Lied, du schöner Schwan der Freiheit!« Er war bis zu dem Verse gekommen:
»Hier muß die Dichtkunst dem Gedächtnis weichen.«
Und vielleicht dachte er jetzt nicht einmal mehr an seine Freunde und fühlte sich wie Dante von dem Anblick, der sich seinem geistigen Auge bot, hingerissen und bezaubert. Er fuhr fort:
Am Kreuze leuchtend sah ich ragen Christus,
So hell, daß es kein Wortbild kann erreichen.
Doch wer sein Kreuz hat nachgetragen, Christus
Entschuldigt gerne, was ich hier verschwiegen,
Wird ihm in jenem Licht einst tagen, Christus.
Von Arm zu Arm, vom Fuß zum Gipfel stiegen
Zuckende Lichter, und durch ihren Reigen
Schien beim Begegnen hellre Glut zu fliegen.
So pflegen tanzend wohl mit Heben, Steigen,
Langsam und eilig, grade und geschweift,
Staubteilchen groß und winzig sich zu zeigen
Im Sonnenstrahl, der durch ein Ritzchen streift
Zum dunkeln Raum, wenn Kühlung zu erringen
Absicht und Kunst nach einer Schutzwand greift.
Und wie sich wohlgestimmte Saiten schwingen
Von Harfen oder Geigen süß im Klang,
Mag auch von fern die Weise unklar klingen,
So aus den Lichtern, die das Kreuz umschlang,
Floß eine Melodie, mein Herz berauschend,
Obwohl kein Wort verständlich mir vom Sang,
Als nur, daß er, erhabnen Lobspruch tauschend,
»Steh auf und siege!« rief; war's deutlich zwar,
So stand ich doch, umsonst nach Deutung lauschend.
Während der Gefangene diese letzte Zeile sprach, war er so schön, so begeistert, er schien so überzeugt zu sein, daß seine Gefährten laut ihren Beifall kundgaben, wie einem Schauspieler gegenüber und indem sich das Klirren ihrer Ketten mit ihren Beifallsrufen vermischte. Plötzlich hörte man inmitten dieser Bravorufe und dieses Klirren der Ketten eine Stimme in dem Nebenzimmer, also in der Kapelle, welche rief: »Mein Sohn! wo ist er denn? wo ist mein Sohn?« Emanuele erkannte diese Stimme. »Vater, Vater!« rief er, »hier bin ich!« Er vergaß, daß er angekettet war, und machte eine so heftige Bewegung, um seinem Vater entgegenzustürzen, daß er eine der Ketten, die welche er am rechten Arme trug, sprengte. Der junge Mann ward aber mitten in seinem Sprung durch die Füßlinge und die Kette am linken Arme zurückgehalten und sank seufzend auf sein Lager zurück. In diesem Augenblicke erschien der alte Giuseppe de Deo an der Tür, eilte in die Arme seines Sohnes und rief: »Emanuele, teurer Emanuele!« Und Vater und Sohn hatten sich einen Augenblick lang umschlungen, wobei das schwarze Haar des jungen Mannes sich mit den weißen Locken des Greises mischte. Es herrschte ein Stillschweigen von einigen Augenblicken und man hörte nur das Schluchzen des alten Vaters, dessen Herz bei der Umarmung des Sohnes in Tränen zerfloß. Der Greis brach das Schweigen zuerst. »Sie wissen,« sagte er zu den beiden Kerkermeistern, die ihn begleitet hatten, »daß ich das Recht habe, allein mit ihm zu bleiben.« Ohne Zweifel waren die Kerkermeister von dieser, dem armen Vater gewährten Gnade unterrichtet, denn sie lösten bereits die Ketten der anderen beiden Gefangenen, die sie dann in die Kapelle hinausführten. Vater und Sohn blieben allein.
»O Madame,« flüsterte ich der Königin ins Ohr, »wird man ihm nicht die Ketten abnehmen, damit er wenigstens in diesem Augenblick des Glücks, das er Ihnen verdankt, vergißt, daß er Gefangener ist?« – »Er mag um diese Gnade bitten,« erwiderte die Königin, »und sie soll ihm gewährt werden.« – Als ob selbst die Gefangenenwärter von dieser Lage gerührt worden wären, kamen sie wieder herein und befreiten Emanuele de Deo von den Fußschellen und der letzten Fessel, an die seine linke Hand gekettet war. – Er erhob sich, schüttelte das Haupt wie ein junger Löwe, der soeben seine Freiheit wiedererlangt hat, und stieß einen Seufzer der Befriedigung aus. »O mein lieber Vater!« rief er freudig, als ob alle Gefahr vorüber sei, »wie mich dieses Wiedersehen freut! – Und welchem Wunder verdanke ich dieses Glück deiner Gegenwart und dieses Augenblicks der Freiheit?« – »Es ist allerdings ein Wunder, geliebter Emanuel, und ich kann kaum daran glauben,« erwiderte der Greis. »Ich war in der St. Brigittenkirche, wo ich Gott um Hilfe für uns anflehte, als eine Dame mich im Namen der Königin holte.« – »Im Namen der Königin?« rief Emanuel, indem er seinen Vater mit dem größten Erstaunen anblickte. Und während sich seine Stirn sichtbar umdüsterte, wiederholte er: »Im Namen der Königin? Das ist unmöglich!« – »Das habe ich anfangs auch gesagt, ich habe es aber doch glauben müssen. Ich folgte der Dame, wir stiegen in einen Wagen und sie nahm mich mit auf das Schloß.« – »Und du kennst diese Dame?« fragte der junge Mann lebhaft. – »Nein,« erwiderte der Greis zögernd. – »O, du kennst sie, Vater,« hob Emanuel wieder an. »Ist es die Marquise von San-Marco, die Baronin von San-Clemente?« – Der Greis schüttelte das Haupt. – »Bitte, Vater, sage mir, wer die Dame war!« – »Ich glaube,« erwiderte Don Giuseppe mit sichtbarer Furcht, daß sein Geständnis schlimm aufgenommen werden möchte, »ich glaube, es war die Gemahlin des englischen Gesandten.« – »Die Gemahlin des englischen Gesandten! Lady Hamilton! Emma Lyonna! Und wer hat diesem verlorenen Geschöpf das Recht gegeben, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen?« – »Mein Sohn,« rief der Greis, »sprich nicht in dieser Weise von ihr. Ich möchte schwören, daß sie es gewesen ist, die bei der Königin um Gnade für dich gebeten hat.« – »Um Gnade für mich, bei der Königin? Was sagst du da, Vater? Da die Königin es ist, die uns verurteilen läßt, so kann sie uns doch nicht begnadigen wollen?« – »Ich versichere dir diese Gnade aber dennoch.« – »Du versicherst mir sie?« – »Ja, jedoch unter einer Bedingung.« – »Ah!« sagte Emanuele mit einem verächtlichen Zucken seiner Lippen. »Laß diese Bedingung hören, Vater.« Und der junge Mann setzte sich auf einen Schemel. Sein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter. »Vor allen Dingen, mein Sohn,« sagte der Greis, »mußt du bedenken, wie groß meine Liebe zu dir ist und in welchen Schmerz, in welche Vereinsamung mich dein Tod versetzen würde . . .« – »Vater, sage mir sogleich, welches diese Bedingung ist, denn sonst muß ich glauben, was ich bereits vermute, nämlich, daß sie anzunehmen geradezu unmöglich ist.« – »Wir wollen fortgehen, mein Kind; wir wollen Italien, ja, wenn es sein muß, Europa verlassen! Wenn ich nur bei dir bin, so ist mir jeder Winkel der Erde, wo wir wohnen werden, gleich!« – »Gestehe, Vater,« sagte der junge Mann mit einem bittern Lächeln, »gestehe, daß man eine Feigheit von mir verlangt, die dich selbst erschreckt!« – »Denke an die Schande, die eine öffentliche Hinrichtung über unser Haus bringen wird, bedenke, daß du zu einem entehrenden Tode verurteilt bist!« – »Ein entehrender Tod ist besser, als ein entehrendes Leben, mein Vater. Welches ist die Bedingung, unter der man mir das Leben schenken will?« – »Denke, mein Sohn, daß du nicht nur dein Leben, sondern auch das deiner beiden Gefährten rettest, wenn du tust, was die Königin wünschet.« – »Was will denn die Königin aber?« rief Emanuele, indem er vor Ungeduld mit dem Fuße stampfte. – »Was dir das Todesurteil gebracht hat, mein geliebter Emanuele,« sagte der Greis, »ist der Umstand, daß du so trotzig gewesen bist, den Richtern nichts zu bekennen.« – »Ha, und man hofft, daß ich vor dem Schafott Geständnisse ablegen werde! Und gerade meinen Vater hat man dazu gewählt, mir einen solchen Vorschlag zu machen! Man hat meinen Vater zu einem Boten der Schande gemacht!« – Don Giuseppe sank vor seinem Sohn auf die Knie nieder und verbarg das Haupt an seiner Brust. »Mein Sohn, mein geliebter Sohn!« rief er aus. Und er brach in lautes Schluchzen aus, in dem man nur die Worte unterscheiden konnte: »Ich liebe dich so sehr! Ich liebe dich so sehr! Du weißt nicht, wie groß die Liebe eines Vaters ist!« – »Nein, ich wußte es nicht, jetzt aber weiß ich es, da du dich nicht geweigert hast, mir einen solchen Vorschlag zu machen. O, du mußt mich außerordentlich lieben, da du auf mich, auf dich, auf unsere ganze Familie Schande laden wolltest, nur um mich zu retten!« – »Mein Sohn,« rief der Greis, indem er ihn an sein Herz drückte, ohne ihn anzusehen, »habe Mitleid mit dem Zustand, in welchem du mich siehst!« – »Steh' auf, mein Vater,« sagte der junge Mann, indem er ihm die Hände küßte, »und höre stehend, was ich dir sagen will.«
Der Greis gehorchte, denn er war es, der da flehte, und sein Sohn war es, welcher befahl. »Es scheint,« fuhr Emanuele de Deo fort, »als ob die Tyrannei, in deren Namen du kommst, nicht genug am Blute der Patrioten hat, sondern auch ihre Ehre will und für das Leben der Schande, das sie mir anbietet, so und so viel andere Häupter fordert. Weißt du nicht, wieviel, Vater? Man hätte dir eine Zahl bestimmen sollen! O, ich sagte es wohl, daß von dieser Frau nichts Gutes kommen könnte, und als du mir ihren Namen und den ihrer würdigen Freundin nanntest, ist mir alle Hoffnung entsunken . . . Nein, nein, laß mich sterben, Vater! O ich weiß, daß Neapel die Freiheit viel kosten wird und daß, um dieselbe einzubürgern, noch Ströme Blutes fließen müssen, vergiß aber nicht, daß das Blut, welches zuerst vergossen worden, das ruhmvollste bleiben wird. Denke doch an die verhaßte Existenz, die du mir anbietest! Fliehen! und in welchem unbekannten Lande der Erde, in welchem dunkeln Winkel der Erde sollten wir unsere Schande verbergen? Nein, besänftige deinen Schmerz, tröste dich mit der Überzeugung, daß ich unschuldig sterbe und daß mein Tod eine Huldigung der Redlichkeit ist. Tragen wir beide, du und ich, unser Märtyrertum eines Augenblicks mit Mut. Der Tag wird kommen, an dem mein Name mit Ruhm in der Geschichte genannt werden wird, und an welchem du stolz sagest: »Mein Sohn war einer der Ersten, die für ihr Vaterland starben.« – »Nun, ich sehe ein, daß du dich weigerst, unter solchen Bedingungen zu leben; laß mich aber noch einmal zur Königin gehen, laß mich bei ihr um Gnade flehen, ohne daß du erröten mußt, dieselbe anzunehmen! Ich bin überzeugt, daß die Königin, wenn sie mich zu ihren Füßen liegen sieht, wenn sie meine Bitten, mein Flehen hört, mir diese Gnade bewilligen wird.« – »O tue das nicht, Vater! O nein, um Himmels willen tue es nicht! Siehst du denn nicht, daß diese Frau den Weg der Verdammnis wandelt, und daß eine gute Handlung sie vielleicht wieder auf den Weg des Heils führen könnte? Der Tag der Tyrannen ist gekommen; wie ihre Schwester Marie Antoinette ist Karoline eine Verräterin ihres Landes, ihrem Gatten treulos! Unreine Liebe genügte ihr nicht, sie mußte sich auch entehren. Auf den Fürsten Caramanico, diesen edlen und tapferen Chevalier, folgte ein intriganter Irländer von zweifelhafter Herkunft, der, von der französischen Marine ich weiß nicht wegen welches schmachvollen Verbrechens fortgejagt, sich nun mit neapolitanischem Gelde bereichern will, und der, als elender Minister einer gekrönten Maitresse, wenn er uns verfolgt, nicht einmal die Entschuldigung seines eigenen Hasses hat. Endlich folgt jetzt in der Gnade der Königin auf diesen Acton eine Höflingin von niedriger Herkunft, eine von einem Charlatan von den Trottoirs von Haymarket aufgelesene Person, eine Prostituierte, welche die Königin auf den Thron, auf dem sie sitzt, zu erheben glaubt und die im Gegenteil die Königin mit in das Bordell hinabzieht, aus dem sie hervorgegangen . . . Nein, nein, mein Vater! Bitte diese Dreieinigkeit ohne Seele um keine Gnade! Wir haben bis hierher rein gelebt: so wollen wir denn auch rein sterben, wie wir gelebt haben.« – »O ja,« murmelte die Königin, »du sollst sterben, Elender! und nun soll dich nichts mehr retten. Wenn Gott selbst vom Himmel herabstiege, um mich um Gnade für dich anzuflehen, so würde ich diese Gnade nicht gewähren! – Komm, Emma! komm! wir haben, wie mir scheint, genug gehört. Ich sage ›wir‹, denn du hast auch deinen Teil bekommen.« – Und indem sie meine Hand mit einer Art Schnauben ergriff, welches lange zurückgehalten worden, nun mit jeder Stufe, die wir die Treppe hinuntereilten, stärker ward, zog sie mich mehr tot als lebendig aus dem Kabinett hinaus. Zum ersten Male hörte ich mir fluchen!
Während des ganzen Weges sprach die Königin kein Wort, nur hielt sie meine Hand fest in der ihrigen und an den krampfhaften Bewegungen derselben fühlte ich, bis zu welchem Paroxysmus ihre Wut sich steigerte. Als wir ihr Zimmer erreicht hatten, warf sie sich, immer noch stumm und aufgeregt, in einen Lehnstuhl. Dann rief sie plötzlich: »Wie mich diese verworfenen Neapolitaner hassen! Hast du ihn gehört? Er ist der Dolmetsch seiner ganzen Generation. – O, wie froh ich bin, das mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört zu haben, was ich gesehen und gehört habe! – Ich machte mir Gewissensbisse, ich wollte begnadigen – begnadigen! Jetzt mögen sie nur kommen und um Gnade flehen, ich werde ihnen zu antworten wissen: ›Ihr habt rein gelebt, so sterbet auch rein!‹ O sie sollen sterben und mit ihnen alle, die nicht Haupt und Knie beugen wollen!« Nach augenblicklichem Schweigen fuhr sie fort: »Die Junta ist abgeschmackt; ich werde eine andere ernennen. Man fordert dreißig Köpfe von ihr, und sie bewilligt nur drei und wählt gerade die Jüngsten, deren Tod die meiste Bewegung in der Öffentlichkeit hervorrufen wird. Sie sollen aber nicht etwa enthauptet werden, diese Ehre soll ihnen nicht widerfahren, sondern wie gemeine Diebe, wie Mörder von gemeiner Geburt will ich sie hängen lassen. O, ich habe meine Leute dazu und werde diesen elenden Jacobinern ein Tribunal geben, welches sie nicht schonen wird . . . . Vanni, Castelcicala, Guidobaldi, das sind Männer, auf die ich mich verlassen kann. Castelcicala ist Fürst und ich kann ihm keinen höheren Titel geben, Vanni aber werde ich zum Marquis und Guidobaldi zum Grafen machen, ich werde sie mit Gold überhäufen, während sie mich mit Blut sättigen!« Und sie erhob sich gleich einer Nemesis, um dann mit Wutgeschrei auf ihr Bett zu sinken. Ich folgte ihr, warf mich vor ihr auf die Knie und sagte: »Schonen Sie sich, Madame!« – »O nichts wider sie zu können! Sie töten, das ist alles! Und hast du nicht gesehen, daß sie dem Tode trotzen, daß sie ihn laut herbeirufen, daß sie die Märtyrer spielen! Sage mir, wäre es nicht besser, sie in dem Bergwerk von Favignana oder von Maritimo zu begraben?« – »Ja, Madame,« rief ich, »das ist eine Eingebung des Himmels! Sie hätten dann Zeit zu bereuen.« – »Zu bereuen, sie? Niemals! sie werden mich nur um so ärger hassen. Übrigens gibt es auch kein so gut verwahrtes Gefängnis, aus dem sie nicht entflöhen. – Man hat mir erzählt, daß ein französischer Gefangener, namens Latude, dreimal aus der Bastille entwischt sei. – Nein, nur dem Grabe kann niemand entfliehen. Ich will bei ihrer Todesstrafe nichts als die Art ihres Todes ändern.« – »Fürchten Sie denn keinen Aufstand, Madame?« – »O, ich wünsche einen! Ich wünsche eine Gelegenheit herbei, bei der ich Neapel verbrennen und ein Drittel seiner Einwohner vernichten könnte! Nur das Volk ist gut, nur die Lazzaroni sind treu, alles, was ein Tuchkleid trägt, ist durch die Vico, Genovese, Beccaria, Filangieri, Pagano und Conforti verderbt worden. Es ist ein Glück, daß dieser Emanuele de Deo den armen Caramanico geschont hat, denn wenn er von diesem dasselbe gesagt hätte, wie von Acton, so hätte ich ihm das Fleisch mit glühenden Zangen zerreißen lassen!« Ich ergriff die Gelegenheit, die sie mir selbst bot, ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben. »Haben Sie lange nichts von ihm gehört?« fragte ich. – »Von wem?« – »Von dem Fürsten von Caramanico.« – »O, er schreibt mir schon lange nicht mehr. Wenn ich ihm schreibe, so geschieht dies, wie ich dir bereits gesagt zu haben glaube, durch die Vermittelung seiner Gemahlin, die in Neapel geblieben ist. Sie schickt ihm meine Briefe zu, da sie glaubt, daß es sich um Staatsangelegenheiten handelt, ihm aber habe ich selbst befohlen, mir nicht mehr zu schreiben, denn ich traue hier niemandem als dir. Wenn man denken sollte, daß er noch an mich denkt oder sich einbildet, daß er wieder erster Minister werden will, so mag Gott wissen, was geschehen könnte! . . . . Du hast wohlgetan, mit mir von ihm zu sprechen, Emma. Siehe, das beruhigt mich, . . . o, wenn er doch hier wäre!« Und sie umschlang schluchzend das Kissen. »Befehlen Sie, daß ich Sie zu Bett bringe und den Kasten mit den Briefen und Buketts neben Sie stelle?« – »O,« sagte sie, »du bist mein Trost, du allein weißt, was den Frieden in meinem Herzen herstellen kann, und auch dich beschimpfen sie!«
»Denken Sie nicht an mich, Madame. Zum Unglück haben diese Menschen in ihren Bemerkungen über mich recht, da sie mir nichts Unwahres vorwerfen, und ich bin ihnen sogar noch dankbar, daß sie bei der Wahrheit geblieben sind. Denken Sie also nicht mehr an mich, Madame, sondern nur an ihn. Vielleicht denkt er gerade in dieser Stunde an Sie.« – »O, du bist von Sinnen! Er hat dort schöne Sizilianerinnen. Ich bin mit meinen siebenunddreißig Jahren eine alte Frau, er dagegen mit seinen vierzig ein junger Mann. Von dreißig Jahren an muß man die Jahre bei uns doppelt zählen, das wirst du eines Tages auch erfahren.« –
»Pst, Madame!« sagte ich lachend, »ich habe es bereits erfahren. Obgleich ich das Datum meiner Geburt, das nicht wie das Eurer Majestät in dem Almanach von Gotha verzeichnet steht, nicht genau kenne, so muß ich doch meine zweiunddreißig, mindestens aber meine einunddreißig Jahre alt sein.« – »Du bist zwanzig Jahre alt,« sagte sie, »und ich glaube, Gott vergebe mir, du wirst es immer bleiben.«
»Wollen Eure Majestät mir den Schlüssel zum Sekretär geben?« – »Nein, das ist nutzlos. Ich will mich zu Bett legen, denn ich bin wie gerädert, du wirst dich zu mir setzen, und dann wollen wir von ihm sprechen. Es ist außerordentlich, wie schon die Erinnerung an ihn mich beruhigt. O, ich weiß nicht, warum ich mich beklage, denn ich bin ja zwei oder drei Jahre glücklich gewesen, und welche Frau, besonders welche Königin, kann drei Jahre des Glücks in ihrem Leben zählen!«
Zuerst war ihr Zorn in Aufregung übergegangen und jetzt verwandelte sich ihre Aufregung in Melancholie. Ich half ihr beim Auskleiden, sie legte sich zu Bett, ich rückte einen Lehnstuhl an ihr Bett und nahm ihre Hand.
»Und jetzt,« sagte ich, »erzählen Sie mir von ihm.«
Nun öffnete sich dieses übervolle Herz und schüttete sich aus. Eine Stunde lang rief sie sich auch die kleinsten Ereignisse dieser drei glücklichen Jahre ins Gedächtnis zurück. Keine Einzelheit entschlüpfte ihr, und während dieser Stunde vergaß sie alles, sogar die tiefverwundende Beschimpfung, die man ihr angetan. Eine so große Macht haben die Erinnerungen einer ersten Liebe auf das Herz des Weibes! Allmählich aber ward ihre Stimme matter, ihre Hand entzog sich der meinigen, ihre Augen schlossen sich und ein sanfter Atem wie der eines Kindes strömte aus diesen vor zwei Stunden noch wutschäumenden Lippen. Sie schlief. Ich vermutete, daß ihr Schlaf nach den Aufregungen, die sie soeben durchgekämpft, ein tiefer und langer sein würde und gab daher in den Vorzimmern Befehl, daß man am folgenden Morgen diesen Schlaf durch nichts stören solle. Dann zog ich mich in mein Zimmer, welches an das der Königin stieß, zurück und ließ die Tür zwischen beiden offen. Am folgenden Morgen oder vielmehr am folgenden Tage, am 3. Oktober 1794, erwachte die Königin erst um zehn Uhr und rief mich beim Erwachen.
Ich war vor ungefähr fünf Minuten aufgestanden und eilte an ihr Bett. »Wirklich,« sagte sie, »du bist die mächtigste Zauberin, die existiert hat. Du besitzest Macht über die Herzen und über die Leidenschaften. Ich habe sieben Stunden lang den Schlaf eines Kindes geschlafen. – O, du wirst mich niemals verlassen, nicht wahr? Du bist mein guter Genius!« Sie breitete die Arme nach mir aus. Ich neigte mich über sie und küßte sie auf die Stirn.
»Frage, ob niemand zu mir gewollt hat,« sagte sie.
Ich erriet ihre Gedanken. Sie hoffte, daß der verzweifelte Giuseppe trotz des Abredens seines Sohnes doch einen Versuch bei ihr machen würde, ihre Gnade zu erlangen. Ich ging selbst in die Vorzimmer und fragte nicht nur die Ehrendamen, sondern sogar die Türsteher; allein es war niemand gekommen. Ich kehrte zu Karolinen zurück, und teilte ihr diesen Umstand mit. Ihre Stirne umdüsterte sich.
»Sie haben es gewollt,« murmelte sie, »und ich habe mir dann keinen Vorwurf zu machen.« Zu mir gewendet fuhr sie dann fort: »Ich gebe dir auf den ganzen Tag deine Freiheit. Ich habe mehrere Briefe zu schreiben, mehrere Personen zu empfangen und morgen viele Befehle zu erteilen. Sei um sechs Uhr hier; wir werden uns heute abend nach Caserta begeben.«
»Und – wenn der Vater wieder kommen sollte –« sagte ich bittend.
»Wenn er wieder käme, so wollten wir sehen, was zu tun wäre,« erwiderte die Königin. »Sei doch ruhig, er wird nicht wieder kommen.«
Als ich das Palais verließ und die Kirche des heiligen Ferdinand passierte, um in die Chiajastraße einzubiegen, sah ich wie eine Menge Menschen nach dem Largo del Castello strömte. Ich befahl meinem Lakai, vom Wagen zu springen und nach der Ursache dieses Gedränges zu fragen. Er stieg ab, näherte sich einer Gruppe, die er fragte, und kam dann zurück. Mir war es, als ob die Leute in dieser Gruppe mich drohend anblickten. »Was gibt es denn?« fragte ich den Lakai. – »Mylady,« erwiderte er, »es scheint morgen auf dem Largo del Castello eine Hinrichtung stattfinden zu sollen. Man errichtet das Schafott.«
«Ins Hotel! ins Hotel!« rief ich, indem ich meinen Kopf in den Händen verbarg.
Ich begab mich zu Sir William.
»Sie wissen doch, was geschieht, mein Herr?« fragte ich.
»Ja,« erwiderte er, »das Tribunal scheint drei Jacobiner zum Tode verurteilt zu haben und morgen wird man sie wahrscheinlich hängen.« – »Die Königin fürchtet, daß morgen, eben wegen dieser Hinrichtung, ein Aufstand ausbrechen könnte, und fordert uns auf, den Tag in Caserta bei ihr zuzubringen.« – »Gehen Sie nur mit. Ich kann Neapel nicht verlassen. Ich soll meiner Regierung morgen über alle Vorgänge berichten und wenn ich in Caserta wäre, so könnte ich der Genauigkeit meiner Depesche nicht gewiß sein.«
»Ich hoffe doch, daß Sie der Hinrichtung der Unglücklichen nicht beiwohnen werden?« – »Ich weiß es noch nicht. Der englische Bankier Leigh hat mir einen Platz an seinen Fenstern angeboten, und da er am Largo del Castello wohnt, so nehme ich sein Anerbieten vielleicht an. Auf alle Fälle werde ich morgen abend oder spätestens übermorgen früh nach Caserta kommen und das Nähere über den Vorgang mitteilen.« Ich schauderte bei dem Gedanken an diese Einzelheiten, die mir Sir William so ruhig versprach. Da er durchaus nicht wußte, was in der vorhergehenden Nacht geschehen war, so konnte er meine Aufregung nicht begreifen; da er mich aber überhaupt niemals fragte, so richtete er auch jetzt keine Frage an mich. Zur bestimmten Stunde war ich bei der Königin, nur hatte ich dem Kutscher befohlen, durch Chiatamone und Santa-Lucia zu fahren, weil ich die Nähe des Largo del Castello meiden wollte. Dennoch mußten wir nach Caserta durch die Toledostraße fahren. Wir saßen aber in einem geschlossenen Wagen und ich zog die Vorhänge zu. Da wir einen Wagen ohne Wappen und in Livreen gekleidete Diener hatten, so konnten wir durch die Menge, die fortwährend auf der Toledostraße hin- und herwogte, fahren, ohne Neugierde zu erregen. Ich fühlte mich doch erst wieder ruhig, als ich, nachdem wir uns außerhalb der Stadt befanden, das Fenster herunterlassen und die Luft der Felder atmen konnte. Ich hatte nicht nötig gehabt, die Königin zu fragen, ob jemand bei ihr gewesen, und ob sie Gnade hätte gewähren oder verweigern müssen. Wir kamen ungefähr halb acht Uhr in Caserta an. Als wir das massive und schwere Gebäude betraten, war es mir, als ob wir in ein Grab stiegen.
Man wird sich vorstellen können, welchen traurigen Abend wir verbrachten. Wir wurden beide, die Königin sowohl als ich, von einem und demselben Gedanken gepeinigt. Wir konnten an nichts anderes denken, und dennoch wollte keine von uns von der Sache sprechen, die uns so hartnäckig beschäftigte. Was mich betraf, so schwebten mir fortwährend jene drei jungen Männer und besonders der, welcher die Hauptrolle in dieser Tragödie spielte, vor Augen. Sein braunlockiges Haupt, seine beredten Augen, seine vibrierende Stimme, seine feierlichen Gebärden, alles trat mir so lebhaft vor die Seele, daß ich, wäre ich allein gewesen, dem Wunsche nicht hätte widerstehen können, einen Bleistift zu nehmen und die ganze Szene zu skizzieren. Die Königin hatte ein Buch genommen und tat, als ob sie lese, da sie jedoch die Blätter umzuwenden vergaß, so konnte man leicht sehen, daß sie nicht las.
Gegen zwei Uhr brachte man uns einen Imbiß, wir tranken jedoch nur eine Tasse Tee. Zu wiederholten Malen versuchte sowohl die Königin als ich, einige der gleichgültigen Phrasen zu erwähnen, auf denen in Ermanglung großer Gedanken die gewöhnlichen Unterhaltungen beruhen, jede dieser Phrasen aber glich einem Stein, der in einen Schlund fällt und ohne Echo darin versinkt. Die Pendule auf dem Kamin war von Meißener Porzellan. Sie stellte die mit einer Sense bewaffnete Zeit dar. Nie habe ich eine frappantere und düstrere Allegorie gesehen. Nach und nach schlug die Uhr die zehnte, die elfte und die zwölfte Stunde. Mit dem letzten vibrierenden Klange der Glocke traten wir in den 4. Oktober ein; es war der Tag der Hinrichtung.
Die Königin erhob sich, ging nach dem Kamin, nahm die Glasglocke der Uhr in die Höhe und hielt den Perpendikel an. Sie sorgte dafür, daß die Uhr die vierte Stunde nicht schlüge, denn um vier Uhr sollte sie nicht mehr die Zeit messen, sondern die Ewigkeit anzeigen. Die Hinrichtung der drei jungen Männer sollte um vier Uhr stattfinden. Ich wußte es nicht, die Königin aber wußte es, und wir waren beide so sehr mit einem und demselben Gedanken beschäftigt, daß, als sie den Pendel der Uhr anhielt, ein Schauer meinen ganzen Körper durchrieselte, denn ich verstand ihre Absicht.
Ich weiß nicht, wie die Königin schlief, ich aber hatte schreckliche Träume. Gegen Morgen erst verschwanden die Visionen, die mein Gehirn beunruhigten, und ich konnte einige Ruhe genießen. Das erste, was ich sah, als ich erwachte, war die Königin, die an meinem Fenster stand. Sie hauchte an die Fensterscheiben und hatte auf den Hauch ihres Atems mit dem Finger eine Art Grabhügel und auf diesem drei Kreuze gemalt. Als sie hörte, wie ich mich auf meinem Bette erhob, nahm sie schnell ihr Taschentuch und wischte die Scheibe ab.
»Wie langweilig!« sagte sie; »ich war zeitig aufgestanden, da ich hoffte, wir könnten einen Spaziergang machen, und nun fällt ein feiner Regen, der uns vielleicht den ganzen Tag am Ausgehen verhindern wird.«
»Haben Eure Majestät schon lange gewartet?« fragte ich.
»Meine Majestät sind schon eine Stunde da, weil meine Majestät sehr schlecht geschlafen haben. Schnell erhebe dich, wir wollen uns zu zerstreuen suchen.« Ich erhob mich. »Ah!« sagte die Königin, indem sie mich betrachtete, »so habe ich denn einmal die Befriedigung, dich weniger außerordentlich schön als gewöhnlich zu finden! Du bist heute bleich und hast rote Augen, das will ich dir nur sagen, meine liebe Freundin.«
»Ach, Madame,« erwiderte ich, »ich fürchte sehr, heute abend noch bleicher auszusehen und noch rötere Augen zu haben, als jetzt.« Sie tat, als ob sie mich nicht gehört hätte, sondern fragte: »Hast du denn nicht Sir William eingeladen, mit uns nach Caserta zu kommen?«
»Jawohl, Madame; er wird aber durch Geschäfte in Neapel zurückgehalten und wird daher erst heute abend oder morgen früh kommen.«
»Ah, um so besser!« sagte die Königin mit sichtbarer Anstrengung. »So kann er uns nähere Nachrichten mitteilen.« Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß das Gespräch zwischen uns hiermit beendet war. Karoline begab sich in ihr Zimmer. Ich kleidete mich an.
Gegen zwei Uhr hörte der Regen auf. Man sollte beim ersten Sonnenstrahl, der durch die Wolken blicken würde, den Wagen anspannen. Man benachrichtigte uns, daß es geschehen sei. Wir gingen hinunter und machten eine Promenade im Park. In dem Maße, wie die Zeit vorrückte, bemächtigte sich auch eine fieberhafte Aufregung der Königin. Sie hatte das Gespräch auf die Gefangenschaft, die Leiden und den Tod ihrer Schwester Marie Antoinette gebracht, die am 16. des Monats, in den wir soeben eingetreten, hingerichtet worden war. Da keiner ihrer Gedanken mir entging, so verstand ich sehr wohl, daß sie darin eine Erleichterung ihrer Gewissensbisse suchte, die Leiden hervorhob, welche die Franzosen einer Frau bereitet hatten, die durch ihren Rang als unverletzlich hätte dastehen sollen. Der Himmel ward wieder finster, und der Kutscher glaubte wieder nach dem Schlosse fahren zu müssen. Die Königin machte keine einzige Bemerkung. Der Wagen hielt am Fuße der großen Ehrentreppe. Karoline wechselte den Gegenstand der Unterhaltung.
»Diese Treppe ist wirklich sehr schön,« sagte sie, »und diese Treppe allein hätte den Ruf Vanvitellis begründen können.« Und sie machte mich auf alle Wunder dieses Bauwerks aufmerksam. So gelangten wir in ihr Zimmer. Karoline war die Beute einer jener nervösen Überreizungen, die bei ihr gewöhnlich mit einer Krisis endeten. Sie ging sehr schnell, als ob sie ihre äußeren Bewegungen, die trotz ihrer Verstellung den Zustand ihrer Seele verrieten, ins Gleichgewicht bringen wollte. Plötzlich und gerade in dem Augenblicke, wo sie wieder in ihr Zimmer trat, blieb sie unbeweglich stehen, den Blick auf die Pendule geheftet.
Es war gerade vier Uhr. Die Uhr ließ eben jenes Ausheben hören, welches dem Stundenschlag vorausgeht; die Zeit erhob ihre Sichel wie zum Schlage und die Glocke erdröhnte viermal unter dem stählernen Hammer. Die Vorsicht der Königin, am Abend vorher die Uhr anzuhalten, war vergeblich gewesen und seltsamerweise schlug die Uhr gerade in dem Augenblicke, wo die Königin ins Zimmer trat, die verhängnisvolle Stunde, die sie auf dem Zifferblatt anzuhalten versucht hatte. Nachdem die Königin mit mir in den Wagen gestiegen, war nämlich ein Lakai hereingekommen, und als er sah, daß die Uhr stand, hatte er dieselbe aufgezogen und gestellt. Daher kam das Wunder. Die Wirkung war jedoch bereits hervorgebracht, ehe die Königin sich die Ursache erklärt, und wenn ich Karolinen nicht gestützt hätte, so wäre sie, glaube ich, umgefallen. Ich wollte klingeln, sie verbot es mir.
»O nein,« sagte sie, »ich kann vielleicht schwach sein, es darf es aber niemand erfahren. Da es aber wahrscheinlich ist, daß Gott für diese drei elenden Jakobiner kein Wunder hat geschehen lassen, so will ich dies Geheimnis der Uhr wissen. Hilf mir mich auf mein Bett legen und dann erkundige dich darnach.«
Ich führte die Königin bis an ihr Bett, sie legte sich angekleidet darauf und ich ging hinaus, um die Diener zu fragen. Da erzählte mir der Lakai, daß er, da er gesehen, daß die Uhr gestanden und er geglaubt hätte, sie sei zufällig stehen geblieben, es für seine Pflicht gehalten, sie aufzuziehen und zu stellen. Ich ging sogleich wieder zur Königin und brachte ihr diese Erklärung. Ihr Gesicht hellte sich auf; sie wischte sich den Schweiß von der Stirne und versuchte zu lachen, die Muskeln des Gesichts schienen jedoch steif geworden zu sein, so daß sie keinen milderen Ausdruck annehmen wollten.
»Jetzt muß übrigens,« sagte sie, indem sie nach der Uhr blickte und sah, daß es halb fünf war, »alles vorbei sein. Ein großes Exempel ist statuiert worden, das war in Neapel nötig.« Ich schwieg. »Bist du nicht auch meiner Meinung?« fragte sie.
»Ach, Madame,« erwiderte ich, »erlauben Sie, daß ich über diese schrecklichen Dinge, wobei es sich um Leben und Tod handelt, keine Meinung habe. Ich bin zu entfernt von denen geboren, denen Gott das Recht gegeben, über das Leben anderer zu verfügen, als daß ich mich je mit dieser ernsten Frage beschäftigt hätte. Ich bin nur ein Weib, demnach ein schwaches Geschöpf, und ich hätte es lieber gesehen, wenn diese Pendule die Stunde der Gnade anstatt die Stunde der Verdammung geschlagen hätte.«
»Wenn diese Pendule die Stunde der Verdammung geschlagen hat, so ist es die Schuld der Verurteilten selbst,« rief Karoline lebhaft. »Hast du nicht alles getan und auch mich bewogen, alles zu tun, was zu ihrer Rettung nötig war? Habe ich nicht noch gestern, trotz der mir von diesen Leuten angetanen Beschimpfung, den ganzen Tag in Neapel gewartet, ob niemand aus ihrer Familie, Vater, Mutter, Bruder, Schwester, mich um Gnade für sie anflehen würde? Als du fort warest und ich allein blieb, habe ich da nicht Befehl gegeben, daß man jeden der zu mir wollte, vorlassen sollte? – Nun, ich habe von elf Uhr früh bis abends zehn Uhr vergebens gewartet und bei jedem Schritt, der sich meiner Türe näherte, in Hoffnung gezittert. Sie verachten aber meine Gnade, sie sind glücklich, für die heilige Sache der Freiheit sterben zu können. Sie bilden sich ein, daß Neapel ihnen einst Bildsäulen errichten werde, und in dieser Erwartung gehen sie wie Märtyrer zur Richtstätte. – Bildsäulen in Neapel!« – Die Königin brach in ein gellendes Gelächter aus. »Darauf zu rechnen! – Die Völker wissen wohl zu zerstören, nicht aber aufzubauen. Vielleicht wird man die Statuen der Könige umstürzen, gewiß aber nicht, um dafür den Jakobinern deren zu errichten.«
Sie versank wieder in tiefes Schweigen. Ich hütete mich wohl, dieses Schweigen zu stören. Den Kopf in ihre Hand gestützt, zählte ich mechanisch die fieberhaften Schläge ihres Pulses, als plötzlich das Rollen eines Wagens unter der Wölbung des Palastes widerhallte. Bei diesem Geräusch erhob sich Karoline von ihrem Lager. »Was ist das?« fragte sie.
»Wahrscheinlich ist es,« erwiderte ich, »Sir William, der seinem Versprechen gemäß zu uns kommt.«
»Wenn er es ist, so lasse ihn eintreten!« rief die Königin. »Ich will so schnell als möglich erfahren, was dort unten geschehen ist.«
Es war Sir William wirklich. Er brachte Nachrichten und zwar so unerwartete, daß er keinen Augenblick hatte zögern wollen, uns dieselben mitzuteilen, und dank seinen ausgezeichneten Pferden hatte er den Weg in fünf Viertelstunden zurückgelegt. Folgendes war geschehen und er hatte es mit seinen eigenen Augen vom Fenster des Bankier Leigh aus gesehen. Wie gewöhnlich waren die Bianchi in das Gefängnis der Vicaria gegangen, um die Verurteilten abzuholen, die zu Fuß gingen und von zwei Kompagnien Infanterie und einer Abteilung Kavallerie begleitet wurden. Sie hatten zum erstenmal an der Kathedrale Halt gemacht, dann ihren Weg fortgesetzt bis zur Toledostraße, in die sie bei dem Palais Maddalone einbogen. In der Toledostraße mußten die Soldaten dem traurigen Zug einen Weg bahnen, so dicht gedrängt standen die Menschen. Die drei jungen Männer, deren jeder zwischen zwei Büßern ging, auf deren Schultern sich zu stützen sie verschmähten, und vor denen ein Priester vorausging, der sich von Zeit zu Zeit umdrehte und ihnen das Kruzifix zum Kusse reichte – ein Akt, den sie mit ehrfurchtsvoller Inbrunst ausführten, – wandelten festen Schrittes dahin und grüßten die an die zu beiden Seiten der Straßen stehenden Häuser zurückgedrängte Menge und die an den Fenstern der gedrängt vollen Häuser stehenden Bekannten. Diese erwiderten die Grüße dadurch, daß sie die Taschentücher schwenkten und riefen: »Lebt wohl! lebt wohl!« Ungefähr dreiviertel auf vier Uhr kam der Zug an die Sankt-Ferdinandskirche und gelangte, nachdem man das Theater San Carlo passiert, auf dem Schloßplatz an, in dessen Mitte das Schafott errichtet war, welches von drei Galgen überragt ward, welche die Form eines großen H hatten, bei welchem man den Querstrich bis an das oberste Ende der beiden Grundstriche hinaufgeschoben. Vitagliano, der älteste der drei jungen Leute, der zuerst ging, rief aus: »Freunde, hier ist das Werkzeug unseres Märtyrertums.« – »Es sei uns willkommen!« erwiderte Emanuele de Deo. »Das Märtyrertum führt zu Gott!« – »Und der Tod zur Freiheit!« fügte Gagliani, der jüngste der drei Verurteilten, hinzu. Man hörte diese drei Worte und die, welche sie gehört hatten, sagten sie weiter. Die Menschenmenge war eine ungeheure und kaum hatten vierhundert Mann Infanterie vor einer halben Stunde auf den Platz rücken und um das Schafott herum ein großes leeres Viereck bilden können. Hierauf hatten diese vierhundert Mann im Angesichte aller und auf Befehl ihrer Offiziere ihre Flinten geladen. Von der anderen Seite sah man die Artilleristen des Castello Nuovo die Mündungen ihrer Kanonen auf den Schloßplatz richten und sie selbst standen mit angezündeten Lunten hinter den Geschützen, bereit Feuer zu geben, sobald man einen Versuch zur Befreiung der Gefangenen machen würde. Zu diesen Truppen gesellten sich dann auch noch die, welche die drei Verurteilten begleiteten. Ungefähr achthundert Mann Soldaten umstanden das Schafott. In dem Augenblicke, wo die Verurteilten in den verhängnisvollen Kreis traten, der wie eine eiserne Mauer zwischen dem Leben und ihnen stand, schlugen zwölf Tambours einen gedämpften Wirbel, welcher anzeigte, daß das düstere Drama seinen Anfang nähme.
Da Gagliani der jüngste der drei Verurteilten war – ich habe bereits gesagt, daß er kaum neunzehn Jahre alt war – so stieg er zuerst auf die Plattform. In dem Augenblicke, wo dieses so jugendliche und dennoch dem Tode geweihte Haupt erschien, durchlief ein Schauer die Menge und einige Stimmen riefen um Gnade. »Gnade?« rief Gagliani, die Stimme erhebend. »Man hat uns auf Kosten unserer Ehre Gnade angeboten und wir haben sie verschmäht.« Der Henker saß schon rittlings auf dem Querbalken des Galgens, die Gehilfen stießen Gagliani an die Leiter; er stieg die fünf oder sechs Stufen leise hinauf und die Schlinge ward ihm um den Hals gelegt. »Es lebe die Freiheit!« hatte er noch Zeit zu rufen. Sofort stieß der Henkersknecht die Leiter mit dem Fuße um, und der von dem Stoße bewegte Körper baumelte in der Luft. Der Henker glitt auf die Schultern des Gehängten herab, der Knecht klammerte sich ihm an die Füße, eine unförmliche, von Todeszuckungen bewegte Gruppe erschreckte die Zuschauer einen Augenblick lang, dann sprang der Henker auf die Erde, der Knecht zur Seite und der Leichnam des ersten Märtyrers hing mit gebrochenen Halswirbeln unbeweglich am Galgen. Jetzt kam Emanuele de Deo an die Reihe. Er stieg die Stufen der Plattform schnell hinauf und schien jemanden in der Menge mit den Augen zu suchen. Da erhob sich mitten in dem tiefen Schweigen eine Stimme, welche schmerzerfüllt rief: »Du suchst mich wohl? Hier bin ich, mein Kind!« Und nun sah man den alten Vater Emanuels, der sich mit tränenbetautem Antlitze auf den Fußspitzen erhob, sein Taschentuch schwenkte und ohne Zweifel in Erfüllung eines letzten Versprechens gekommen war, um seinem Sohne Lebewohl zu sagen. »Lebe wohl, mein Vater, lebe wohl!« rief seinerseits der junge Mann. »Ich sterbe für mein Vaterland. Möge mein Vaterland sich meines Todes erinnern und denselben rächen!« Und indem er selbst nach der Leiter stürzte, ging er die Stufen rückwärts hinauf, steckte seinen Hals durch die verhängnisvolle Schlinge und der zweite Akt des furchtbaren Dramas begann. In dem Augenblicke aber, wo sich der Henker auf die Schultern des Gehenkten gleiten ließ, wo der Henkersknecht sich an seine Füße klammerte, wo der Greis jammernd seinen Sohn rief und die Hände verzweiflungsvoll rang, ertönte ein furchtbares Geschrei, das halb Mitleid, halb Drohung war. Eine schwankende Bewegung durchlief die Menge, das Kommando: »Fertig! Schlagt an!« ließ sich hören und dann folgte ein Klirren, welches den schnellen Gehorsam derer anzeigte, denen dieses Kommando gegeben worden. Eine Rauchwolke, auf welche der Knall einer blindgeladenen Kanone folgte, zeigte sich an einem der Türme des Kastells; das neapolitanische: »Fliehe, wer kann!« »Fuga! Fuga!« ward von Tausenden von Stimmen wiederholt, die Reihen der Soldaten wurden durchbrochen, nicht von Angreifenden, sondern von Fliehenden und der Henker, welcher fürchtete, daß man ihm inmitten dieses Tumultes sein letztes Opfer rauben könnte und er die zehn Dukaten verlieren möchte, welche die Munizipalität für jede Hinrichtung bewilligt, stürzte sich mit einem Messer auf Vitagliano und durchbohrte ihn. Dieser sank zum Tode getroffen nieder. Und während die bestürzte Menge durch die zahlreichen Straßen, die an den Largo del Castello stießen, von diesem Kommando, diesem Musketengeklirr und von diesem Kanonenschusse verfolgt, entfloh, schleppten der Henker und seine Knechte den sterbenden Vitagliano auf die Plattform, wo er sein Leben aushauchte, und da sie nichts anderes tun konnten, so hingen sie anstatt eines Lebendigen einen Toten an den Galgen. Dies waren die Ereignisse, die Sir William, der Augenzeuge dieser furchtbaren Szene gewesen war, uns mit diplomatischer Genauigkeit erzählte.
Marie Karoline hörte der Erzählung vom Anfange bis zu Ende zu, ohne ein Zeichen von Erregung zu geben; nur verlangte sie, als Sir William geendet, ein Glas Wasser. Ich holte selbst eins von ihrer Toilette und brachte es ihr, als sie es aber aus meiner Hand nahm, zitterte die ihrige und ich hörte, wie ihre Zähne an dem Rande des Glases klapperten. »Sie sind krank, Madame,« sagte ich. – »Ja, ich glaube selbst,« erwiderte sie, »daß ich etwas Fieber habe.« Dann drückte sie mir die Hand, wie von plötzlichem Schrecken ergriffen, und sagte: »Du wirst doch die Nacht in meiner Nähe bleiben, nicht wahr?« – »Gott bewahre mich davor, Sie auch nur einen einzigen Augenblick zu verlassen, Madame! Man sollte aber nach dem Arzte schicken.« – »Warum denn?« – »Weil ich fürchte, daß Sie ernstlich krank sind und denke, daß einige beruhigende Mittel vielleicht genügen würden, eine gefährliche Krankheit abzuwenden.« Die Königin dachte einen Augenblick nach, richtete sich auf ihrem Ellbogen empor und ließ dann das Haupt wieder auf das Kissen sinken. »Die Sache ist die,« sagte sie, »daß ich mich nicht wohl fühle. Ich habe Ohrensausen und rote Flecke vor den Augen. Schicke einen Kurier nach Neapel und schreibe Domenico Cirillo, morgen früh so zeitig wie möglich zu mir zu kommen.« »Wollen Eure Majestät mir erlauben, Ihren Puls zu fühlen? Ich verstehe mich ein wenig auf Medizin,« sagte Sir William. »Fühlen Sie,« sagte Karoline, indem sie den Arm ausstreckte. Sir William zog seinen Handschuh aus, nahm seine Uhr heraus und während er mit der einen Hand dieselbe hielt, untersuchte er mit der anderen den Puls der Königin. Er zählte zweiundachtzig Schläge in der Minute. »Nicht morgen erst,« sagte er, »sondern heute noch muß der Arzt kommen, Madame, und da ich wegen meiner Korrespondenz nach Neapel zurückkehren muß, so werde ich Ihr Kurier sein. Wenn Cirillo abwesend sein sollte, so werde ich Ihnen Cottugno schicken.« – »Schicken Sie mir wen Sie wollen, Mylord, nur keinen englischen Arzt. Ich verabscheue Ihre Kalomelverschreiber; sie haben für alle Krankheiten nur ein Mittel, man sollte meinen, sie hätten das Universalheilmittel erfunden.« Sir William verabschiedete sich von uns und ging fort, indem er die Königin inständig bat, nicht, wie sein skeptischer Geist ihn fürchten ließ, falls sie kränker würde, einen Dorfarzt holen zu lassen, sondern den zu erwarten, den er ihr aus der Stadt schicken würde. Sir William hatte sich nicht getäuscht. Das Übel der Königin nahm schnell zu, und zwei Stunden, nachdem er fort war, lag sie im Fieberwahnsinn. In diesem Delirium wohnte sie der Hinrichtung der drei jungen Männer bei und erzählte alle die Einzelheiten, die Sir William ihr soeben berichtet.
Um Mitternacht fuhr ein Wagen donnernd durch die Einfahrt des Palastes. Man wußte, daß ein Arzt aus Neapel erwartet ward und man war wach geblieben, damit er ohne Verzögerung heraufkommen könnte. Ich eilte an die Treppe. Es war der Doktor Cottugno. Er ward von Sir Williams Sekretär begleitet, der mir einen Brief meines Gatten überbrachte. Domenico Cirillo hatte nicht kommen wollen, sondern gesagt, daß er um fünf Uhr seine Entlassung als Hofarzt ins Palais geschickt habe. Das war eine Stunde nach der Hinrichtung, die Absicht war also deutlich und bestimmt, und der Beweggrund, aus welchem Cirillo seine Entlassung eingereicht, bedurfte keiner weiteren Erklärung. Sir William, der die patriotischen Ansichten Cirillos kannte, war über seine Weigerung durchaus nicht erstaunt und hatte sich an Cottugno gewendet. Ich führte den letzteren zur Königin. Sie sah im Gesicht ganz purpurrot aus, sprach in kurzen Worten und ihr Auge war fieberhaft. Ihr Puls ging noch schneller und man konnte in einer Minute neunzig Schläge zählen. Cottugno, der sich durch seine schnelle Entschlossenheit auszeichnete, warf nur einen einzigen Blick auf die Kranke.
»Die physischen Kräfte,« sagte er, »sind durch die moralischen sehr erschüttert worden. Es handelt sich daher darum, auf die moralischen Kräfte durch die physischen zu wirken.« Und er zog sein Besteck aus der Tasche. Dann fuhr er zu mir gewendet fort: »Madame, wollen Sie mich unterstützen, Ihrer Majestät zur Ader zu lassen, oder wollen Sie eine der Kammerfrauen rufen?« – »Wenn ich Ihnen nun helfen wollte, mein Herr,« sagte ich, »würde dann das, was ich zu tun haben würde, schwer sein?« – »Ach, mein Gott, nein! Es handelt sich einfach darum, daß Sie nicht ohnmächtig werden. Können Sie dafür stehen?« – »Ja, mein Herr, ich besitze Mut.« – »Man hat bisweilen Mut für sich, ohne ihn für andere zu haben. Übrigens handelt es sich nur darum, die Schüssel zu halten.« – »Rechnen Sie auf mich.« – »Gut, dann wollen wir keine Zeit verlieren.« – Und der Doktor unterband hierauf selbst den Arm der Königin und ohne eine andere Hilfe als die meinige ließ er der Königin reichlich zur Ader. Ich sah zum ersten Male Blut fließen und zwar das kostbare Blut einer gekrönten Freundin; der Eindruck war demnach ein tiefer. Ich kniete vor dem Bett der Königin und hielt das Becken, in welches sich ihr Blut, wie mir es schien, in furchtbarer Menge ergoß. Ich wußte noch nicht, was mir Sir William später mitteilte, daß der menschliche Körper sechzehn bis siebzehn Pfund Blut enthält. In dem Maße, in welchem das Blut floß, ward es mir dunkel vor den Augen und der kalte Schweiß trat mir auf die Stirn. Ich hielt jedoch trotzdem nicht weniger fest, bis zu dem Augenblick, wo der Arzt mir sagte: »Sie können das Becken auf die Erde stellen, Madame, es ist alles vorbei.« Als ob ich in meiner Hilfeleistung all meine Kräfte, besonders meine Willenskraft, erschöpft hätte, ließ ich mich, nachdem ich auf die Erlaubnis des Doktors das Becken kaum niedergesetzt, auch mich völlig gehen und den Kopf auf das Bett der Königin sinken. »Ich hatte es Ihnen wohl gesagt,« bemerkte Cottugno.« – »O, es ist nichts, Doktor, es ist nichts,« erwiderte ich, »Sie haben ihr aber soviel Blut entzogen.« – »Nicht mehr als fünf bis sechs Unzen. Das Gehirnfieber muß gemildert werden. Es hat eine Gehirnerschütterung stattgefunden; wir müssen das Gleichgewicht wieder herstellen. Wenn das Fieber, die Röte und besonders das Delirium andauern sollten, so müßte die Königin die Füße in so heißes Wasser setzen, als sie es nur ertragen kann, und in welchem man drei bis vier Unzen Senfmehl aufgelöst. Hilft dies noch nicht, so müssen ihr Senfpflaster auf die Fußsohlen gelegt werden, denn alles das Blut, welches jetzt nach dem Kopfe strömt, muß in die Extremitäten gezogen werden.« »Bitte, schreiben Sie das alles auf, Doktor,« sagte ich. »Warum wollen Sie aber nicht bei der Königin bleiben?« – »Ja und meine Spitäler! Wer sollte denn dort meinen Dienst übernehmen? Das ist unmöglich, schöne Frau, unmöglich! . . . Um zwei Uhr nachmittags werde ich wieder hier sein. Die Königin mag sich gedulden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird das Delirium bis dahin schwächer geworden sein und unsere erhabene Kranke sich auf dem Wege der Besserung befinden . . . Und sehen Sie, da schläft sie schon.« In diesem Augenblicke schlug die Uhr.
Bei dem ersten Schlag öffnete die Königin die Augen und schien ängstlich zu horchen. Ich horchte fast ebenso ängstlich wie die Königin, denn ich kannte die Ursache ihrer Aufmerksamkeit, mit der sie auf dieses Geräusch hörte. Die Uhr schlug die dritte Stunde. »Gut!« sagte Karoline, »noch eine Stunde!« Und ihr Haupt sank wieder auf die Kissen. »Man muß zu verhüten suchen,« sagte Cottugno, »daß diese Uhr die Stunden, besonders aber die nun folgende schlägt.« Er sprach diese Worte mit solcher Einfachheit, daß es unmöglich zu erkennen war, ob er eine andere Absicht hatte hineinlegen wollen, als die, der Uhr Schweigen zu gebieten. Ich ging an den Kamin und hielt den Zeiger an. Cottugno fühlte den Puls der Königin; er hatte sich um zwölf Schläge vermindert. »Alles geht gut,« sagte der Doktor, »und wenn nichts Neues geschieht, wird die Königin in drei Tagen hergestellt sein.« Dann wischte er mit der größten Sorgfalt seine Lanzette ab, hielt die Spitze derselben in die Flamme der Kerze steckte dann die Lanzette wieder in sein Besteck, dieses in die Tasche, empfahl mir, das Blut aufzubewahren, damit er die Zusammensetzung desselben untersuchen könnte, und ging fort, indem er mir riet, ein wenig auszuruhen. Ich bedurfte der Ruhe in der Tat sehr, denn seit drei Nächten hatte ich gar nicht oder doch nur wenig geschlafen. Der Schlaf der Königin war im ganzen ruhig, nur fuhr sie einigemal heftig zusammen. Ich zog einen Sessel an ihr Bett, nahm ihre Hand in die meinige, damit ich durch ihre leiseste Bewegung geweckt werden möchte, und schlief selbst ein. Wie lange mein Schlaf dauerte, weiß ich nicht, als ich aber die Augen aufschlug, von dem Geräusch geweckt, welches in dem Nebenzimmer entstanden, war es bereits heller Tag. Das Geräusch ward durch eine Person verursacht, welche heftig sagte: »Ich muß zur Königin! Ich sage Ihnen, ich muß zu ihr!« Ich sprang von meinem Sessel auf und stürzte in das Nebenzimmer. Hier sah ich eine vornehme Dame, die ungefähr dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt sein mochte und deren Gesicht tiefe Spuren von Schmerz zeigte. »O Madame,« rief sie, als sie mich erblickte, »machen Sie es möglich, daß ich zur Königin gelange, ich bitte Sie inständigst!«
Und sie faßte meine Hände, indem sie sich neigte, als ob sie auf die Knie sinken wollte. »Unmöglich, Madame!« erwiderte ich. »Die Königin ist sehr krank; es ist ihr diese Nacht zur Ader gelassen worden und der Arzt hat verboten, jemanden zu ihr zu lassen.« – »O, ich aber, ich,« rief die Dame, »ich bin nicht jemand. . . . Ich bin . . . ich bin . . . eine Freundin der Königin!« – »Entschuldigen Sie mich, Madame, ich habe Sie aber niemals am Hofe gesehen.« – »Wozu hätte ich denn an den Hof kommen sollen? Ich hatte ja dort gar nichts zu tun! Sehen Sie aber hier, Sie kennen doch die Handschrift der Königin?« – Sie zog mehrere Briefe aus der Tasche. »Sehen Sie, Madame, sehen Sie! . . . Teure Prinzessin! Nicht wahr, es ist ihre Handschrift?« – »Ja, wer sind Sie denn aber?« fragte ich ganz erstaunt. – »Ich bin . . .« Sie zögerte. »Ich bin die Fürstin von Caramanico.« – »Die Gemahlin des Mannes . . .« Ich stockte. »Ja,« sagte sie, »die Gemahlin des Mannes, den sie so sehr geliebt hat! . . . Nun, ich will ihr sagen, daß sie den Mann, den sie so sehr geliebt hat, nicht sterben lassen kann.« – »Ihn sterben lassen! Wen denn?« fragte eine Stimme hinter uns.
Wir, die Fürstin und ich, drehten uns herum und stießen einen doppelten Schrei aus. Die Königin, die ebenfalls von dem Geräusch geweckt worden war, hatte sich, da sie eine Frauenstimme auf die meinige antworten hörte, erhoben und stand mit bloßen Füßen, im Hemd, und ganz mit Blut befleckt, auf der Schwelle des Schlafzimmers. Sie erkannte die Fürstin von Caramanico, stieß ebenfalls einen Schrei aus, stürzte auf sie zu, faßte sie beim Arme, zog sie mit in ihr Zimmer und sagte: »Komm, Emma, komm!« Ich folgte der Königin und Prinzessin und schloß die Tür hinter mir.
Die Königin blickte uns beide verstört an, fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als ob sie alte Erinnerungen beleben wollte, und sagte dann, indem sie die Prinzessin anblickte: »Ich habe nicht recht gehört, nicht wahr? Sie haben nicht gesagt: ›Die Königin kann ihn nicht sterben lassen!‹« – »Nein, Madame, nein,« rief die Fürstin, »Sie haben recht gehört und ich habe gesagt und wiederhole es: »Nein, nein, nein, die Königin kann ihn nicht sterben lassen!« – »Wen aber kann denn die Königin nicht sterben lassen?« fragte Karoline. – »Den Mann, den sie so sehr geliebt hat!« – »Den Fürsten von Caramanico?« – »Ja.«
»Ist er in Lebensgefahr?« – »Lesen Sie nur, Madame, lesen Sie!« – Und indem die Fürstin auf die Knie sank, hielt sie der Königin einen Brief hin. Mit gebrochener Stimme und klappernden Zähnen las Karoline: »Liebe Freundin –« Sie blickte die Fürstin mit funkelnden Augen an. – »Lesen Sie nur, Madame, lesen Sie!« sagte diese in flehendem Tone. Die Königin fuhr fort: »Ich weiß nicht, was mit mir geschehen ist, seit vierzehn Tagen bleicht mein Haar sichtlich und meine Zähne lockern sich im Zahnfleisch und fallen aus. – Ich fühle mich von Todesschwermut ergriffen und fürchte, nicht mehr lange zu leben. Ich kann Dir nicht sagen, was ich glaube, Du kannst es aber erraten. Sage ihr nichts und leide allein: es gibt unglücklicherweise kein Mittel. Der Vater war Arzt und der Sohn war Chemiker gewesen!
Giuseppe.«
Die Königin stieß einen Schrei aus, ihre Augen schienen aus ihren Höhlen zu treten. »Das heißt,« rief sie aus, »daß er vergiftet worden ist!« – »Ja leider, Madame!« – »Warum hat man ihn denn aber vergiftet, da ich ihn nicht mehr liebte, oder da man wenigstens nicht wußte, daß ich ihn noch liebte?« – »Sie wissen, wie populär er war, Madame,« sagte die Fürstin; »man sprach von seiner Rückkehr nach Neapel, man sagte –« – die Fürstin machte eine Anstrengung, den Namen auszusprechen – »man sagte, daß Mr. Acton nicht mehr in solcher Gunst bei Ihnen stände, kurz, man sagte, daß, mit der Annäherung der schlimmen Tage – denn die schlimmen Tage kommen, wenn sie nicht schon da sind – es Ihre Absicht sei, einen geborenen Neapolitaner zum Minister zu nehmen, da die fremden Minister, so geschickt sie auch sein mögen, in Tagen der Revolution keine sicheren Werkzeuge seien. Dies alles sagte man, Madame. Man wird diese Stimme in weiteren Kreisen gehört haben und sie ist es, die ihn tötet!«
»O, wenn ich das glauben sollte!« murmelte die Königin zähneknirschend.
»Glauben Sie es, Madame, glauben Sie es, denn es ist Wahrheit, verhängnisvolle, furchtbare, unabänderliche Wahrheit! Giuseppe, unser Giuseppe stirbt an Gift!«
»Wann haben Sie denn diesen Brief erhalten?« – »Heute morgen.« – »Vor wieviel Tagen ist er denn geschrieben worden?« – »Vor vier Tagen.« – »Am 1. Oktober. . . . Er hat also an demselben Tage geschrieben, an dem jene jungen Leute verurteilt wurden!« – »O,« rief Karoline, indem sie die Hände rang, »das ist eine Strafe des Himmels!« – Die Heftigkeit ihrer Bewegung brachte den Verband der Ader in Unordnung, die schlecht geschlossene Öffnung sprang auf und ich sah einen Blutstrahl aus dem Arm der Königin spritzen und ihr Hemd rot färben. »O sehen Sie,« rief ich,« sehen Sie, Madame! Sie töten sie.« – Und von der Aufregung und dem Blutverlust erschöpft, erbleichte die Königin, stieß einen schwachen Seufzer aus und taumelte. Ich eilte noch zeitig genug herbei, um sie in meinen Armen aufzufangen. Sie war ohnmächtig geworden.
Die Prinzessin und ich, wir trugen sie auf ihr Bett. Ich drückte die Ader zusammen, wie ich es den Doktor hatte tun sehen, dann legte ich ein wenig Scharpie auf die Wunde, den Verband wieder darum und so gelang es mir, das Blut zu stillen, ehe die Kranke wieder zum Bewußtsein kam. Dann faltete ich die Hände und sagte zu der Fürstin: »Sie sehen, in welchem Zustand die Königin sich befindet. Zum Unglück kann sie nichts für den Fürsten tun. Nur Sie allein können etwas tun, Madame.« – »Was kann ich denn tun, mein Gott?« – »Madame, Sie können, ohne noch eine Minute zu zögern, nach Palermo reisen, den besten Arzt von Neapel mitnehmen und gegen das Verbrechen, welches uns alle in Trauer versetzt, an die Wissenschaft appellieren.« – »O, ich hoffte auf die Königin?« rief die arme Fürstin, indem sie einen Blick auf Karolinen warf. »O Gott, o Gott!« – »Die Königin kann Ihnen nicht helfen, Madame, es müßte denn durch die Bestrafung des Verbrechens geschehen und auch das ist noch sehr zweifelhaft, denn Sie wissen selbst, daß der Schuldige oder die Schuldigen so hoch gestellt sind, daß die Strafe nie bis zu ihnen emporsteigen wird. Dann handelt es sich auch um das Leben des Fürsten und nicht um die Bestrafung seiner Mörder. Denken Sie daher an das Leben des Fürsten und seien Sie ruhig, denn wenn die Königin bestrafen kann, so wird sie es auch tun!« – »O, sie wird bestrafen! Glauben Sie, daß Sie es tun wird?« – »Ja, sie bedarf aber dazu ihres ganzen Verstandes, ihrer ganzen Kraft und Macht. Lassen Sie daher das Delirium schwinden, das Fieber sich beruhigen, gehen Sie dahin, wo nicht allein Ihre Liebe, sondern Ihre Pflicht Sie ruft, retten Sie den Fürsten, wenn noch Rettung möglich, hören Sie seinen letzten Seufzer, wenn es zu spät ist, ihn zu retten, stehen Sie ihm sanft und helfend in seinem Todeskampfe zur Seite, sagen Sie ihm – denn da er keine andere Trösterin als Sie hat, so müssen Sie es ihm sagen – sagen Sie ihm, daß die Königin ihn stets und in Wirklichkeit nur ihn geliebt hat. Sie sind das zweien Herzen schuldig, die so viel gelitten und die, wie ich weiß, niemanden als Sie zur Vermittlerin, Vertrauten und Freundin gehabt haben.« – »Es ist gut,« rief die Fürstin. »Ich werde tun, was Sie mir raten, Madame, und wenn der Fürst durch die Wissenschaft eines Mannes und die Hingebung eines Weibes gerettet werden kann, so wird es geschehen. Ich danke Ihnen. Wenn er stirbt, so sagen Sie der Königin, daß ich ihr das Werk unserer Rache überlasse!«
Sie kniete neben dem Bett nieder, küßte die Hand der Königin, sendete mir mit Hand und Mund ein letztes Lebewohl und eilte aus dem Gemach. Die Ohnmacht der Königin war eine Wohltat der Vorsehung, denn ohne diese Ohnmacht wäre Karoline, in der Gemütsverfassung, worin sie sich befand, ohne Zweifel wahnsinnig geworden oder von einer Gehirnentzündung befallen worden.
Ich ging hinter der Fürstin hinaus, um den Dienstleuten zu befehlen, daß sie, im Fall sie von der Königin selbst gefragt würden, kein Wort von dem Besuch der Fürstin Caramanico sagen sollten; dann kehrte ich zur Königin zurück und da ich die Rückkehr derselben zur Besinnung nicht zu fürchten brauchte, weil die Fürstin fort war, so rieb ich Karoline die Schläfe mit kaltem Wasser und ließ sie Salze einatmen. Nach einigen Minuten öffnete sie die Augen, der Ausdruck derselben war aber so verstört, daß ich leicht sah, daß das Delirium der Nacht sie wieder befallen hatte. Für den Augenblick war dies das glücklichste, was es geben konnte. Zwar nannte Karoline im Delirium mehrmals den Namen Giuseppe und einmal den des Fürsten von Caramanico, jedoch mit unzusammenhängenden Worten, die mich hoffen ließen, daß sie nur im Traum die Erinnerung an das, was vorgefallen war, wiederfinden würde.
Ich klingelte den Kammerfrauen; zwei derselben kamen. Ich rief mir die Vorschriften des Doktors ins Gedächtnis zurück. Zuerst begannen wir damit, daß wir die Königin ein Fußbad von Senf nehmen ließen, dann umlegten wir, als die Röte im Gesicht, das Fieber und das Delirium nicht aufhörten, die unteren Teile der Füße mit Senfpflastern. Dies ward uns um so leichter, als Karoline mich trotz des Deliriums kannte, sehr sanft gegen mich war und alles mit sich machen ließ, was ich anordnete.
Gegen ein Uhr verfiel sie in einen Zustand von Erstarrung, der seltsam gegen die Aufregung abstach, in der sie sich soeben noch befunden. Punkt zwei Uhr hörte ich das Rollen eines Wagens. Cottugno hielt Wort. Ich ließ die Königin unter der Obhut zweier Kammerfrauen und eilte dem Doktor entgegen. Ich kam gerade noch zeitig genug, ihn oben an der Treppe zu begrüßen. Mit zwei Worten erzählte ich ihm, nicht das, was heute morgen vorgefallen war – denn ich besaß kein Recht über das Geheimnis der Königin – sondern, daß seine Kranke, nachdem sie wieder zum Bewußtsein gekommen sei, eine große Aufregung gehabt habe, wodurch die verbundene Ader wieder aufgesprungen sei, was eine Ohnmacht herbeigeführt habe. Ich fügte hinzu, daß wir seine Vorschrift Punkt für Punkt befolgt hätten und schilderte ihm den jetzigen Zustand der Königin. Cottugno untersuchte das Blut, erkannte darin die Anzeichen einer heftigen Entzündung und begab sich dann zur Königin. Karoline lag unbeweglich mit geschlossenen Augen da. Der Doktor fühlte ihren Puls, lauschte ihren Atemzügen und fragte sie nach ihrem Befinden; die Königin öffnete die Augen nicht und schwieg.
»Rücken Sie das Becken her,« sagte der Doktor zu einem der Kammermädchen, »die Königin hat noch nicht genug Blut verloren und ich muß ihr daher noch eine bis zwei Unzen entziehen.«
Die Königin zog ihren Arm zurück – ein Beweis, daß sie gehört hatte was Cottugno soeben gesagt hatte. Dieser schien jedoch die Bewegung nicht zu bemerken, sondern faßte den Arm der Königin.
»O,« sagte die Kranke, »ich bin schon schwach genug, machen Sie mich nicht noch schwächer. – Ich könnte dann nicht einmal mehr zwei Ideen miteinander verbinden.«
»Gut!« sagte Cottugno, »Eure Majestät müssen in dem Zustand, in welchem Sie sich befinden, nicht nur zwei Ideen nicht miteinander verbinden, sondern überhaupt gar keine haben.« Karoline seufzte; sie besaß nicht die Kraft zu widerstehen. Der Doktor öffnete die Ader und die Königin verlor wieder zwei Becken voll Blut: Das war mehr, als sie ertragen konnte; sie wurde ohnmächtig. Sogleich unterband Cottugno die Ader.
»So!« sagte er. »Diese Damen werden zum Apotheker gehen, oder hinschicken und den Arzneitrank bereiten lassen, den ich verschreiben werde. Unterdessen wollen wir plaudern.« Er schrieb das Rezept, übergab es den beiden Kammerfrauen und schob sie sozusagen zum Zimmer hinaus. Dann ging er zu der Königin hin, die noch immer bewußtlos war, und faßte ihre Hand.
»Sehen Sie,« sagte er zu mir, »mit den Ärzten muß man offen reden, denn sonst läuft man Gefahr, daß sie sich täuschen und dadurch den Kranken töten.«
»Mein Gott!« rief ich aus, »ist denn Lebensgefahr vorhanden?«
»Die ist stets vorhanden, wenn an der einen Seite eines Lagers die Krankheit und auf der anderen der Arzt steht. Ich denke mir aber, daß hier der Geist kränker ist, als der Körper.«
»Das glaube ich ebenfalls, Doktor, und bewundere Ihren Scharfblick.«
Cottugno zuckte die Achseln. »Da ist nun weiter kein Scharfblick dabei,« sagte er, »und die ganze Sache liegt klar wie der Tag vor mir. Ich will Ihnen erzählen, was vorgefallen ist. Wenn ich mich irre, so werden Sie mir ins Wort fallen; wenn ich aber den Hergang der Sache errate, so werden Sie mich fortfahren lassen.« – »Wenn die Königin Sie nun aber hört?« – »Das ist nicht zu befürchten. Ich habe meine Hand auf ihrem Puls, wenn sie wieder zu sich kommen will, so werde ich es eine Minute voraus wissen. . . . Nicht wahr, die gestrige Hinrichtung hat die Königin so in Aufregung gebracht?« – »Wie können Sie denn das erraten?« – »O, wie naiv! Erstens hat die Hinrichtung viele andere in Aufregung gebracht, wievielmehr nicht sie, welche diese Hinrichtung verhindern konnte, es aber nicht für gut befunden hat, es zu tun.« – »Doktor, die Königin hat den Verurteilten ihre Gnade anbieten lassen, sie haben jedoch diese zurückgewiesen.« – »Ja, ich habe so etwas erzählen hören; das geht mich jedoch nichts an, denn ich bin hier weiter nichts als Arzt. Die Hinrichtung hat gestern um vier Uhr stattgefunden und gestern um vier Uhr ist die Königin krank geworden.« – »Wer hat Ihnen denn das gesagt?« – »Sir William Hamilton: Sie sehen, daß ich für keinen Zauberer gelten will, er hätte mir es aber gar nicht zu sagen brauchen, denn diese Nacht, als ich hier war, zuckte die Königin, als sie die Uhr die dritte Stunde schlagen hörte, zusammen und rief: ›Gut, wir haben noch eine Stunde!‹ Das ist aber noch nicht alles, denn wie Sie mir sagten, hat sie heute morgen noch eine heftige Aufregung gehabt, nicht wahr?« – »Ja, eine sehr heftige!« – Er sah mich an. »Sie wird erfahren haben, daß der Fürst von Caramanico vielleicht an Gift sterben muß.« – »Seien Sie still!« rief ich, »seien Sie still!« – »Ich sage Ihnen aber, daß sie mich nicht hören kann.« – »Woher wissen Sie denn aber von diesem Vorfall?« – »Auf die einfachste Weise. – Die Fürstin war vor zwei Stunden bei mir. Sie fragte mich, ob ich mit ihr nach Palermo reisen könnte, ich aber erwiderte ihr, daß es mir unmöglich sei, da ich die Königin nicht verlassen dürfte. Ich habe die Fürstin zu Cirillo geschickt, dem ich das schuldig war, da er gestern Ihren Gemahl zu mir geschickt hatte. Die Fürstin und Cirillo müssen jetzt abgereist sein, und wenn es ein Mittel gibt, den Fürsten zu retten, so wird Cirillo es in Anwendung bringen, denn er ist ein geschickter Arzt. Während ich nun mit der Fürstin sprach, plauderte ihr Diener mit dem meinigen, und da der Mann keinen Grund hatte, ein Geheimnis daraus zu machen, so sagte er, daß er mit der Fürstin soeben von Caserta käme. Demnach ist die Aufregung der Königin durch die Nachricht, daß der Fürst vergiftet worden sei, verursacht worden. Ich hätte Sie in dem Glauben lassen können, ich hätte alles erraten, das wäre jedoch Scharlatanerie, und Gott sei Dank, ist wohl Gatti, aber nicht Cottugno ein Scharlatan. Soll ich Ihnen jetzt meinen Feldzugsplan gegen die Krankheit der Königin mitteilen? Er ist sehr einfach. Die Nachricht von der Vergiftung des Fürsten von Caramanico ist bei ihr gleichsam ein Traum. Sie weiß nicht, ob sie geträumt hat, daß sie die Fürstin gesehen oder ob sie dieselbe wirklich gesehen hat. Diese beiden Ideen kann sie nicht miteinander verbinden, und das darf sie auch gar nicht, deswegen habe ich sie auch, als sie sich über allzugroße Schwäche beklagte, durch den Aderlaß noch mehr geschwächt. Ich wäre stark genug, gegen die gestrige Hinrichtung oder die heutige Vergiftung zu kämpfen, wenn jede Sache für sich allein stände. Da die beiden Aufregungen aber zusammentreffen, so ist Cottugno wie ein ungeschickter General zwischen zwei Feuern gefangen und geschlagen. Cottugno muß es machen wie der verwundete Horatier. Er muß wie dieser die Curiatier nacheinander angreifen. Sie verstehen mich wohl? Mein erster Curiatier ist die gestrige Hinrichtung, mein zweiter die heutige Vergiftung und mein dritter ist der am wenigsten zu fürchtende, nämlich die Krankheit.«
»Wirklich, mein Herr,« sagte ich, indem ich ihn anblickte, »Sie sind ein wunderbarer Mann.«
»Nun, nicht wunderbarer als jeder andere; ich habe Praxis und Beobachtungsgabe, das ist alles. Jetzt hören Sie: Meine ganze Arbeit wird sich darauf beschränken, die Königin zu verhindern, sich zu erinnern. Wenn mir das in drei Tagen gelingt, so ist durchaus nichts mehr zu befürchten. Das, was ich ihr gebe, ist nur ein Beruhigungsmittel, jedoch ein solches, das man ihr mit der größten Vorsicht und Regelmäßigkeit reichen muß, denn sobald die Dosis eine zu starke wäre, würde dieselbe allzusehr beruhigen.« – »Mein Gott, was wollen Sie denn der Königin geben?« – »Ganz einfach Belladonna.« – »Ich dächte aber, Belladonna wäre Gift?« – »Es ist auch Gift; wenn es aber eingenommen wird, wie die Königin es einnehmen soll, so ist es ein Einschläferungs-, ja nur ein Beruhigungsmittel. Sie müssen der Königin alle Stunden einen Kaffeelöffel voll geben. . . . Ah, Ihre Majestät kommt wieder zu sich! Vergessen Sie nicht, daß die Hinrichtung der drei jungen Männer vor vierzehn Tagen stattgefunden hat und daß die Vergiftung des Fürsten eine Fabel ist . . . . Still!«
In diesem Augenblicke schlug die Königin die Augen groß auf und sah sich um. »Das ist gut,« sagte Cottugno, indem er sich erhob, »das Befinden Eurer Majestät ist herrlich! Mylady, vergessen Sie nicht, Ihrer Majestät von Zeit zu Zeit einen Kaffeelöffel von dem Tranke zu reichen, den ich ihr verschrieben habe. Am besten geschieht es so schnell wie möglich. Sehen Sie, da kommen die Damen mit der Arznei. Geben Sie mir einen kleinen Löffel, Ihre Majestät werden mir die Ehre erweisen, den ersten Löffel von meiner Hand anzunehmen.«
Und ohne der Königin Zeit zu lassen, sich zu besinnen, schob er ihr den Löffel in den Mund und gab ihr den Trank ein.
»Morgen werde ich zu derselben Stunde wiederkommen,« sagte er.
Zehn Minuten später lag Karoline in festem Schlafe.
* * *
Alles was der Doktor vorausgesagt, geschah. Drei Tage lang lag die Königin in halbem Schlafe, in einem Zustand von Schlafsucht, der weder Wachen noch Schlummer war. Dann, nach Ablauf dieser drei Tage, erlaubte Cottugno, daß der Tag allmählich in ihrem Geist dämmerte, und bei dem bleichen Schimmer dieses Tages zogen alle Ereignisse der Gegenwart an ihr vorüber, jedoch mit der unbestimmten und undeutlichen Färbung vergangener Begebenheiten. Da ich die Königin keinen Augenblick verließ, so war ich die Vertraute ihrer Rückkehr zum Leben und zum Schmerz. Drei oder vier Tage hatte sie kein Wort von dem Fürsten gesprochen. Eines Morgens aber sagte sie mit einer gewissen Anstrengung: »Hat die Fürstin von Caramanico mir während meines Deliriums keinen Besuch abgestattet?«
»Ja, Madame,« erwiderte ich, »sie hatte erfahren, daß ihr Gemahl leidend war und da sie nach Palermo abreise, so wollte sie Eure Majestät fragen, ob Sie nicht etwas an den Vizekönig zu bestellen hätten.« Die Königin, welche meine Hand gefaßt hielt, drückte dieselbe und fragte mich, indem sie mir ins Gesicht blickte: »Emma, die Fürstin ist nicht wiedergekommen?« – »Nein, Madame.« – »Sie hat auch nicht geschrieben?« – »Nein, Madame.« – »Gib Befehl, daß man sie bei ihrer Rückkehr sogleich zu mir lasse, sobald sie mich zu sprechen verlangt.« – »Wenn nun aber die Nachrichten, die sie bringt, schlechte wären, würden Sie sich dann stark genug fühlen, dieselben ohne Nachteil für Ihre Gesundheit zu hören?« – »Ja, sei unbesorgt; mit der Ruhe ist auch meine Stärke wiedergekommen. Erweise mir nur einen Dienst.« – »Befehlen Sie, Madame.« – »Hier ist der Schlüssel zu meinem Sekretär; du kennst doch das geheime Fach –« »Ja, Madame.« – »Gut, dann hole mir mein teures Kästchen; ich sehne mich, es bei mir zu haben.« – »Ich gehe sogleich.« – »Ja, gehe und komme schnell wieder! Wenn du dem König zufällig begegnen solltest und er so neugierig wäre, sich nach mir zu erkundigen, so sage ihm, daß es mir gut geht, daß ich aber noch einige Tage der Ruhe und Einsamkeit bedürfte. Nichts würde mir unangenehmer sein, als ihn gerade jetzt wiederzusehen.
»Gut, Madame.« Ich sah nach meiner Uhr. »Es ist jetzt neun Uhr, zu Mittag werde ich wieder hier sein.« – »O, ich danke. Ich wüßte nicht, was aus mir werden sollte, wenn ich dich nicht hätte!« – Ich faßte ihre Hände und küßte dieselben. »Vergiß nicht beim Fortgehen die Befehle in bezug auf die Fürstin zu geben.« – »Nein, Madame, seien Sie unbesorgt.« – »Und füge hinzu, daß man die Pendule wieder aufziehen kann; meine Nerven sind wieder genug gestärkt, daß ich die Uhr schlagen hören kann; selbst die vierte Stunde.«
Ich verließ die Königin und entledigte mich der beiden Aufträge, die sie mir erteilt. Dann stieg ich in den Wagen, indem ich dem Kutscher anempfahl, so schnell als nur möglich zu fahren, und fuhr davon. Am Maddalone begegnete ich einem schwarzen Wagen, auf dem ein in Trauer gekleideter Kutscher und Lakaien sich befanden. Ich schauderte, eine Ahnung sagte mir, daß eine Witwe in diesem Wagen säße. Ich erreichte Neapel. Ich sagte im Gesandtschaftshotel nur meinem Gemahle einige Worte, begab mich sofort in das Palais, wo ich den Auftrag der Königin vollführte, ohne das Unglück zu haben, dem Könige zu begegnen. Um ebenso schnell wieder nach Caserta zu kommen, hatte ich beim Aussteigen befohlen, die Pferde zu wechseln. Wenige Minuten vor Mittag war ich wieder in Caserta. Unter der Vorhalle hielt ein schwarzer Wagen, um welchen die schwarzgekleideten Diener standen, denen ich auf dem Wege begegnet war. Und als ich den Fuß auf die erste Stufe der großen Haupttreppe setzte, sah ich die Türen der Gemächer Karolinens sich öffnen. Eine ganz in lange schwarze Kreppschleier gehüllte Frau erschien. Sie hielt das Taschentuch vor die Augen und schluchzte, indem sie sich weitertastete. Ich stellte mich an die Seite; sie ging an mir vorüber, ohne mich zu sehen, obgleich ihr Gewand das meinige berührte. Sie stieg in den Wagen und fuhr fort. Ich trat bei der Königin ein, als die Pendule die zwölfte Stunde schlug. »Du hältst Wort, Emma,« sagte sie. »Komm her.« Ich näherte mich ihr, erstaunt, keine größere Veränderung in ihrer Stimme wahrzunehmen. Ich erwartete Karolinen trostlos und in Tränen zu finden, allein ich täuschte mich. Sie war kalt und entschlossen. Ich reichte ihr das Kästchen. Sie öffnete es mit dem Schlüssel, den sie bereit hielt, und indem sie eine Haarlocke aus dem Busen zog, sagte sie: »Sieh', das ist alles, was von ihm bleibt.« Sie drückte die Haarlocke heftig an ihre Lippen und schloß dieses Andenken an den Toten zu den Andenken ihrer Liebe in ein und dasselbe Kästchen. Dann schob sie das Kästchen unter ihr Kopfkissen, auf welches sie das Haupt sinken ließ, schloß die Augen und murmelte dieselben Worte, die ich bereits bei ihr gehört, vor sich hin: »Es ist eine Strafe des Himmels!«
Zum Unglücke stachelten die äußern politischen Ereignisse diese energische Seele, die nicht ohne Leidenschaften leben konnte und von dem Bedürfnisse zu lieben oder zu hassen verzehrt ward, bald wieder zu der Wut an, die nur einen Augenblick vom eigenen Schmerz gelindert worden war. Die Reaktion des 9. Thermidor, welche diejenigen vernichtete, die am meisten zur Hinrichtung Ludwig des Sechzehnten und Marie Antoinettes beigetragen, hatte Marie Karolinen eine momentane Erleichterung gebracht. Diese Reaktion schien jedoch den revolutionären Armeen ein Signal zur Verdoppelung ihrer Energie zu sein. Meine Notiztafeln tragen noch heute das Datum der Siege der republikanischen Generale, welche Siege ich verzeichnete, sowie wir von denselben Kunde erhielten und uns dieselben in Erstaunen setzten, denn da Frankreich rings von Feinden umgeben war, so schien es uns leicht besiegbar. Die Österreicher, die in das Innere Frankreichs gedrungen waren, ließen sich am 16. August vom General Scherer die Festung Guesnoy und am 27. August vom General Pichegru die Stadt Valenciennes wieder nehmen. Am 30. öffnete Condé den französischen Armeen wieder seine Tore. Landrecies war schon am 30. April wieder genommen worden, so daß von vier, von den Armeen des Kaisers eroberten Orten diesem auch nicht einer mehr blieb. An der Grenze Spaniens standen die Sachen wenig besser. Fontrabie und St. Sebastian wurden von dem General Mancey besetzt und das Fort Bellegarde war soeben in die Hände des Generals Dugommier gefallen. Der General Jourdan, welcher die Armee der Sambre und Maas befehligte, machte seinerseits Fortschritte, die uns in große Unruhe versetzten. Nachdem er sich zum Herrn von Aachen gemacht, hatte er am 2. Oktober die Schlacht von Aldenhoven gewonnen, am 3. hatte er Julliers genommen, hierauf nach der Reihe Andernach, Coblenz, Mastricht, Köln und dies alles, während Pichegru Nymwegen nahm und Amsterdam, aus welchem der Statthalter entfloh, besetzte und sich der holländischen Flotte bemächtigte, die zwischen dem Eis des Texel gefangen lag.
Endlich ward ein Friedensvertrag am 9. Februar 1795 zwischen Frankreich und Toscana geschlossen, wodurch der französischen Republik Aufnahme in das politische System Europas zugestanden ward. Die Königin ließ den General Acton eine Tabelle der französischen Heere zu Anfang des Jahres 1795 aufsetzen, und aus dieser Tabelle ging hervor, daß Frankreich am 1. März acht Landarmeen hatte: die Nordarmee, die vom General Moreau befehligt ward, die Armee der Sambre und Maas, vom General Jourdan befehligt, die Mosel- und Rheinarmee unter dem General Pichegru, die Armee der Alpen und Italiens unter Kellermann; die der östlichen Pyrenäen unter Scherer; die Armee der Westküsten unter Cancloux und endlich die Armee der Küsten von Brest und Cherbourg unter Hoche. Diese furchtbare Haltung brachte an dem spanischen Hofe noch eine größere Wirkung hervor, als am neapolitanischen, denn König Carl der Vierte, der Bruder des Königs Ferdinand, beschloß mit Frankreich in Unterhandlung zu treten und am 22. Juli 1795 ward der Friede unterzeichnet. Einen Monat vorher von diesem Abfall Carl des Vierten durch die Königin unterrichtet, teilte Sir William Hamilton seinerseits die Nachricht der englischen Regierung mit, so daß diese in Voraussehung dieser Feindseligkeiten die nötigen Schritte tun konnte.
Plötzlich kam die Nachricht vom Tage des 13. Vendémiaire – ich bediene mich dieser revolutionären Bezeichnung, weil die Geschichte sie geheiligt hat – nach Neapel und nannte zum zweiten Male den Namen Bonapartes. Nur war der Bataillonschef seit dem 19. Dezember 1794 bis zum 4. November 1795 General geworden. Bonaparte rettete den Convent, indem er die Sectionen auf den Stufen der Kirche St. Roch niederschmetterte. Dieser Sieg über den Bürgerkrieg und die Gunst des Generals Barras verschafften ihm in wenigen Monaten den Oberbefehl über die italienische Armee. Der Hof zu Wien hielt Frankreich für wahnsinnig, daß es sein Schicksal einem jungen Mann von sechsundzwanzig Jahren anvertraute, der erst durch zwei Siege, die er über Franzosen davongetragen, bekannt geworden. Die Königin erhielt einen Brief von ihrem Neffen. Alle alten Generale Österreichs lachten vor Mitleid, als sie das Kind sahen, welches man ihnen, den ausgezeichnetsten Kriegsmännern, entgegenstellte! Und was war auch der Ruhm des Generals Bonaparte neben dem Ruhm eines Beaulieu, eines Wurmser, eines Alvinzi und eines Prinzen Carl!
Wir erwarteten mit Ungeduld den Beginn des Feldzuges. Österreich hatte fünf Armeen, also ungefähr achtzigtausend Mann. Bonaparte rückte mit sechsunddreißigtausend Mann über Savone Beaulieu entgegen, der ihm seinerseits mit fünfzigtausend Österreichern entgegenmarschierte. Fast zu derselben Zeit erhielten wir die Nachricht von den Schlachten bei Mottenotte, Millesimo und Dego. Unsere Bestürzung war groß, denn Beaulieu war in jedem dieser drei Treffen geschlagen worden. Er hatte sechstausend Tote und achttausend Gefangene und zehn oder zwölf Kanonen verloren. Noch schlimmer aber war es, als man erfuhr, daß die sardinische Armee, von der österreichischen getrennt, ihrerseits bei Mondovi geschlagen worden war, daß 10 000 Österreicher mit 18 Kanonen auf der Brücke zu Lodi von 2000 Franzosen, die ebenfalls von Bonaparte befehligt wurden, bezwungen und in die Flucht geschlagen worden, daß der General Massena in Mailand eingezogen und daß in Paris zwischen der französischen Republik und dem König von Sardinien ein Vertrag geschlossen worden, in welchem der König Savoyen, Nizza und Tenda an die Republik abtrat, den Armeen derselben Durchzug durch seine Länder gestattete, ihr seine festen Plätze überließ und in die Zerstörung von Susa und Brunette willigte.
Wie man sich leicht denken kann, ist es meine Absicht nicht, diesem Feldzug in seinen Einzelheiten zu folgen. Ich will einfach die Tatsachen nennen und eine schwache Schilderung der Wirkung geben, die sie hervorbrachten. Wurmser, der Beaulieu folgte, ward bei Castiglione, Roveredo, Bassano geschlagen und gezwungen, sich in Mantua einzuschließen. Alvinzi, den man ihm zu Hilfe schickte, ward bei Arcole und Rivoli geschlagen. Und endlich erlitt Prinz Carl, der ihnen folgte, überall, wo er hinkam, ebenfalls Niederlagen. Dies alles in einem Jahre. Toscana und Sardinien hatten bereits Frieden mit Frankreich geschlossen. Dies taten nun auch der Herzog von Modena und der Papst. Venedig, welches die Franzosen bereits vor seinen Toren sah, befahl dem Bruder des Königs, der seit dem Tode des Dauphins den Titel Ludwig der Achtzehnte angenommen, Verona und die Staaten der Republik zu verlassen. Von diesem Augenblicke an folgten die Ereignisse mit erschreckender Schnelligkeit aufeinander. Der General Massena nahm Klagenfurt, Hauptstadt von Kärnthen, der General Bernadotte nahm Laibach, Hauptstadt von Krain. Endlich rückte Augereau in Venedig ein, stürzte die alte Regierung und setzte an ihre Stelle eine demokratische Municipalität ein. Die Situation war um so ernster für uns – ich sage uns, so sehr hatte ich mich mit der Königin identifiziert und so sehr bildeten der König und Sir Hamilton eine Person – die Situation war um so ernster für uns, als der Hof von Neapel nicht aufgehört hatte, den Sieger zu reizen, indem man Österreich Hilfe schickte, was jedoch nichts zu bedeuten gehabt hätte, wenn man nicht außerdem furchtbare Manifeste gegen Frankreich erlassen hätte.
Bei diesen Manifesten tat der König gewöhnlich weiter nichts, als daß er seinen Namen darunterschrieb und oft drückte man nur, anstatt seiner Unterschrift, den Stempel darauf, der dieselbe ersetzen sollte. Diese Manifeste wurden von dem General Acton, dem Fürsten Castelcicala und der Königin ausgearbeitet, und da die Königin ziemlich schlecht schrieb, so führte ich fast immer die Feder. Ich habe mehrere dieser Manifeste aufbewahrt und nach der Heftigkeit derselben wird man die gefährliche Stellung, in welche der Hof von Neapel sich der französischen Regierung gegenüber gebracht, beurteilen können.
»Nichts kann vor unseren Augen Gnade für diese Franzosen finden lassen, die ihren König gemordet, ihre Tempel verwüstet, ihre Priester verbannt und getötet, ihre besten und größten Bürger umgebracht, kurz, die nicht nur alle Gesetze der menschlichen Gesellschaft, sondern auch alle Gesetze der Gerechtigkeit umgestoßen haben, und die, mit ihren eigenen Verbrechen nicht zufrieden, sie auch zu den Besiegten oder den Nationen, die leichtgläubig genug gewesen sind, sie als Freunde aufzunehmen, verpflanzt und zur Blüte gebracht haben. Die seinerzeit ermatteten Völker aber haben sich nun erhoben, um sie zu vernichten. Ahmen wir das Beispiel dieser gerechten und mutigen Verteidiger nach; vertrauen wir auf die göttliche Hilfe und unsere Waffen, und in allen Kirchen sollen Gebete gehalten werden. Und Ihr, fromme Neapolitaner, betet zu Gott um Frieden im Königreiche, höret die Stimme eurer Priester, folget ihrem Rate, sei es, daß sie denselben von der Kanzel herab oder im Beichtstuhl verkündigen.«
»Und da in allen Gemeinden Listen für Freiwillige ausliegen, so mögen alle Waffenfähigen ihre Namen auf diese Ehrenregister schreiben. Bedenkt, daß es die Verteidigung des Vaterlandes, des Thrones, der Freiheit, der dreimal heiligen christlichen Religion gilt! Bedenkt, daß es sich um eure Frauen, eure Kinder, eure Güter, die Freuden des Lebens, die väterlichen Sitten, die Gesetze eurer Ahnen handelt! Ich werde der Genosse eurer Gebete und Kämpfe sein. Wer würde nicht den Tod einem Leben vorziehen, welches man nur auf Kosten der Freiheit und Gerechtigkeit erkaufen kann!« Dann wendete sich der König oder vielmehr die, welche in seinem Namen schrieben, an die Bischöfe, Pfarrer, Beichtväter und Missionare folgendermaßen:
»Unser Wille ist, daß in allen Kirchen beider Königreiche vierzigstündige Gebete und Bußpredigten gehalten werden sollen, um von Gott den Frieden unserer Staaten zu erflehen und deshalb sollt ihr am Altar, von der Kanzel, im Beichtstuhl den Neapolitanern und Einwohnern unseres Landes ihre Christen- und Untertanenpflichten ins Gedächtnis zurückrufen, damit sie Gott ein reines Herz und dem Vaterland einen Arm darbieten können, der für die Verteidigung der Religion und des Thrones gerüstet ist. Zeiget euren Beichtkindern die Irrtümer, in welche die Franzosen geraten sind, die Lügen der Tyrannei, die sie Freiheit nennen, die Ketzereien und noch schlimmeren Verbrechen der französischen Armeen und endlich die allgemeine Gefahr. Regt das Volk durch Prozessionen und andere heilige Zeremonien auf und schildert allen auf deutliche Weise, daß eine Revolution, welche die menschliche Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert, die Pfeiler derselben, die Kirche und den Thron, vernichtet.«
Diese Proklamation ward unter Trompetenschall in allen Straßen und Kreuzwegen Neapels verlesen, an allen Mauern angeschlagen, in allen Kirchen weiter ausgelegt. Die vierzigstündigen Gebete wurden im ganzen Königreich verkündigt und begannen sogleich in der Hauptkirche, nämlich in der des heiligen Januarius. Die Priester, das muß man sagen, unterstützten die Königin in ihren Absichten, sei es nun aus Überzeugung, sei es aus Fanatismus, auf das Beste. Der König und die Königin begaben sich unter großem Pomp in die Kathedrale, von den Ministern, den Höflingen, den Magistratspersonen, kurz von allen Personen begleitet, die auf irgend eine oder die andere Weise von der Regierung abhingen.
Das Volk folgte dem ihm gegebenen Beispiel und die Kirchen waren so mit Menschen überfüllt, daß es unmöglich war, die Straßen zu passieren, da es ja nur wenig Straßen in Neapel gibt, in denen keine Kirche sich befindet, so daß die Menschen, die nicht mehr in die Kirchen konnten, vor den Türen beteten. Von diesem Augenblicke an wurden die Franzosen den Neapolitanern als Diebe, Mörder, Räuber, Ketzer und vom Bannstrahle Getroffene geschildert, gegen die man weder Treu noch Glauben zu halten brauchte, die man wie Geächtete verfolgen, von hinten überfallen, am Herd der Gastfreundschaft vergiften, während ihres Schlafes morden, kurz wie tolle Hunde umbringen könnte.
So weit führt die Verblendung der Leidenschaft, daß auch ich die Wut gegen eine Nation teilte, die ich später um ein Asyl anflehte und die es mir gewährte, während England, für welches ich so viel getan, mir ein Stück Brod verweigerte! Übrigens wird der Leser meine Gefühle aus einigen Briefen von mir erkennen, die ich anführen und an denen ich kein Wort ändern werde. Eine Klasse der Gesellschaft in Neapel aber gab es, die diesen Haß gegen die Franzosen nicht teilte und folglich auch nicht in die Gebete einstimmte, die man gegen die Franzosen zum Himmel schickte. Es war dies die freie, unabhängige, unterrichtete Klasse des sogenannten Mezzo ceto, das heißt die Juristen, Ärzte, Philosophen, Advokaten und Dichter. Und die Königin, welche die Reue vergaß, die sie nach dem Tode der ersten Opfer, besonders nach dem des Fürsten Caramanico, empfunden, war die erste Person, welche die Staatsjunta reorganisierte und den drei Männern, welche man die Sbirren oder Häscher der Königin nannte, nämlich Vanni, Guidobaldi und Castelcicala, abermals Beschäftigung gab.
Von neuem füllten sich die Gefängnisse und diesmal wurden die ersten Namen von Neapel auf der Liste der Gefangenen verzeichnet. Inmitten dieser Vorbereitungen nicht nur zu einem Defensiv-, sondern auch zu einem Offensivkriege versetzte uns der Waffenstillstand von Brescia, welcher dem Vertrag von Tolentino mit Pius dem Sechsten voranging, wie ich bereits gesagt habe, in die größte Verlegenheit. In dem Vertrag von Tolentino trat der heilige Vater Bologna, Ferrara und die Romagna an Frankreich ab, wobei den abgetretenen Ländern das Recht zuerteilt ward, republikanische Verfassungen anzunehmen, was sie auch sogleich taten, nachdem ihre Abtretung erfolgt war. So rückte die Gefahr, welche die Königin für fern gehalten, immer näher. Die Franzosen wichen zwar zurück, die revolutionären Prinzipien aber machten einen Schritt vorwärts, der Gedanke, stärker als die Menschen, faßte Wurzel an den Orten, die sie verließen. Der General Acton und die Königin sahen ein, daß kein Augenblick zu verlieren war. Sie wußten, daß das Direktorium in Bonaparte drang, an dem Königreich beider Sizilien Rache zu nehmen und daß dieser geantwortet hatte: »Jetzt sind wir noch nicht mächtig genug, um dieser Rache die nötige Furchtbarkeit zu verleihen; es wird aber ein Tag kommen, wo Neapel seine vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Schändlichkeiten bezahlen muß, und ich stehe dafür, daß der König Ferdinand und die Königin Karoline nichts dadurch verlieren werden, daß sie ein wenig haben warten müssen.«
Diese Antwort war dem Hofe von Neapel wörtlich mitgeteilt worden, und obgleich die Rache noch einige Zeit aufgeschoben ward, so fürchtete sich der König doch so vor diesem Damoklesschwert, welches über seinem Haupte schwebte, daß er den Prinz Belmonte mit dem Auftrag an Bonaparte schickte, um jeden Preis einen Friedensvertrag abzuschließen. Am 11. Oktober ward der folgende Vertrag von den Bevollmächtigten der beiden Mächte unterzeichnet. Ich führe denselben hier an, damit der Leser beurteilen kann, in welchen Zustand der Abhängigkeit die Furcht den neapolitanischen Hof der französischen Republik gegenüber versetzt hatte. Je tiefer man in den Sumpf kommt, desto mehr füllt er sich mit Wasser und je tiefer man das Herz der Königin erniedrigte, desto mehr erfüllte es der Haß. Die Bedingungen des Vertrags waren durchaus nicht zweideutig und folgendermaßen:
»Neapel wird, indem es sich von seinen anderen Verbündeten trennt, neutral bleiben und seine Häfen allen Schiffen derjenigen Mächte, die gegen Frankreich Krieg führen, verschließen. – Höchstens sollen vier der französischen Republik feindselige Schiffe Aufnahme finden. Man soll allen Franzosen, die aus irgendeiner politischen Ursache gefangen sein könnten, die Freiheit wieder geben. Es sollen ernstliche Nachforschungen zur Entdeckung der Personen angestellt werden, welche die Papiere des Ministers Mackau gestohlen haben. Die Franzosen haben die Freiheit, die verschiedenen Kulte auszuüben, zu denen sie sich bekennen. Mit der französischen Republik werden Handelsverträge unterzeichnet, durch welche Frankreich in den sizilianischen Häfen dieselben Rechte erhält, wie die begünstigten Nationen. Die batavische Republik wird anerkannt und in diesen Frieden mit inbegriffen betrachtet.«
Außerdem sollte ein Artikel dieses Vertrages geheim bleiben und nur den Unterzeichnenden bekannt werden. Es war der folgende:
»Der König muß der französischen Republik acht Millionen Franks (zwei Millionen Dukaten) bezahlen. Ihrerseits werden die Franzosen, ehe sie sich mit dem Papste verständigen, nicht über die Festung Ancona vordringen, und weder moralisch noch materiell die militärischen Bewegungen Süditaliens unterstützen.«
Die Verhältnisse hatten sich in einem Jahre sehr geändert. Jener kleine General Bonaparte, über den alle Welt spottete, war nach einem siegreichen Feldzuge, den man den größten Heldentaten eines Alexander, Hannibal oder Cäsar an die Seite stellen konnte, von dem Direktorium »der Mann der Vorsehung« genannt worden und die französische Republik hatte ihm eine Fahne geschenkt, auf welcher mit goldenen Lettern geschrieben stand: »Der General Bonaparte hat fünf Armeen vernichtet, in achtzehn großen Schlachten und siebenundsechzig kleineren Kämpfen gesiegt, hundertsechsundsechzigtausend feindliche Soldaten zu Gefangenen gemacht, hundertsechzig Fahnen zum Schmucke der militärischen Gebäude, tausendhundertachtzig Kanonen für unsere Arsenale, zweihundert Millionen in den Staatsschatz, einundfünfzig Kriegsschiffe in unsere Häfen, Meisterwerke der Kunst zur Verschönerung unserer Galerien und Museen und kostbare Manuskripte für unsere Bibliothek nach Frankreich geschickt und außerdem achtzehn Völker befreit.« Man wird begreifen, wie sehr diese Ehrenerweisungen, die man unserem Feinde darbrachte, den Hof von Neapel, Sir William und mich erbitterten – mich, da ich als Freundin der Königin alle ihre Sympathien und ihren Haß teilte, und Sir William als englischen Gesandten. An dem Tage, an welchem die neapolitanische Regierung gezwungen ward, die cisalpinische Republik anzuerkennen, verfiel die Königin in einen Wutanfall, wie ich noch nie gesehen. Der Friede von Campo-Formio, der zwischen Frankreich und Österreich geschlossen worden, war von großer Wichtigkeit. Frankreich erstreckte nun seine Grenzen von den Alpen bis zum Rhein; Österreich verlor zwar Land, aber gewann an Untertanen; an der Stelle der sich neuerhebenden cisalpinischen Republik fiel die Republik von Venedig und ward das Eigentum des Kaisers.
Der Frieden schien gesichert, Sir William aber lachte in seiner diplomatischen Weise, wenn man von der Dauer dieses Friedens sprach. »So lange England noch Krieg führt,« sagte er, »kann in der Welt, besonders aber in Frankreich nicht Ruhe werden.«
Die Königin, welche diesen Frieden ebenfalls nicht ernster zu nehmen schien, als Sir William, benutzte die Gelegenheit, um die Hochzeit des Erbprinzen mit der Erzherzogin Clementine zu feiern. Ich werde von diesem Prinzen wenig zu sprechen haben, denn er spielte während der ganzen Zeit meines Aufenthaltes in Rom eine mehr als untergeordnete Rolle, während ich von der Prinzessin gar nichts sagen werde, denn diese spielte gar keine Rolle.
Der Prinz war damals ein ziemlich großer junger Mann von einundzwanzig Jahren, sehr dick, sehr rosig, sehr geschickt, sehr unterrichtet, sehr listig und sehr schweigsam. Die Augen auf Europa geheftet, verlor er keine der Einzelheiten des großen historischen Dramas, welches sich daselbst abspielte, und dennoch schien er nichts zu sehen. Durch die Heftigkeit seiner Mutter erschreckt, gewöhnte er sich, obgleich er alt und verständig genug war, seine Meinung abzugeben, allen sich darbietenden Fragen fremd zu bleiben, mochten sie auch von der größten Wichtigkeit für den Thron von Neapel und folglich auch für ihn sein, da er der Erbe war. Gleichwie der König inmitten aller dieser Wirren sich mehr mit einer Jagd bei Astrom oder Persano als mit dem Fall oder dem Erstehen einer Republik zu beschäftigen schien, schien der Prinz sich mehr mit den Entdeckungen Meßmers, Montgolfiers und Lavoisiers als mit dem Waffenstillstand von Brescia oder mit dem Vertrag von Tolentino zu beschäftigen. Seine Mutter liebte ihn nicht sehr und erklärte ihn im Vertrauen für ebenso dumm wie seinen Vater.
Der Liebling Marie Karolinens war der Prinz Leopold, der zu dieser Zeit acht oder neun Jahre alt war. Er war auch wirklich ein reizender Knabe, voll von Geist und Witz. Der dritte Prinz war ein Kind von sechs Jahren, namens Albert, und sehr schwächlich. Wie ich später erzählen werde, hatte ich den Schmerz, diesen Knaben nicht nur sterben, sondern ihn auch in meinen Armen verscheiden zu sehen. Ein neapolitanisches Geschwader holte die junge Erzherzogin von Triest und führte sie nach Manfredonia, wo sie der Prinz Franz erwartete, obgleich die Hochzeitsfeierlichkeiten erst in Foggia, also fünf bis sechs Meilen weiter im Lande, stattfinden sollten.
Der König und die Königin hatten ihren Sohn begleitet, natürlich war ich auch dabei. Sir William Hamilton war in Neapel geblieben. Ich war neugierig, die Braut zu sehen, die man mir übrigens als ziemlich unbedeutend schilderte. Das wäre wahr gewesen, wenn eine Blässe, die sich niemals mit dem geringsten Rot färbte, und eine tiefe Melancholie das Gesicht der Prinzessin nicht sehr interessant gemacht hätten. Woher kam diese Traurigkeit und diese Blässe wohl? Nie hat ein Mensch das erfahren. Vielleicht von einer verlassenen, aber nicht vergessenen Liebe am Hofe der Cäsaren, vielleicht war sie auch nur das verhängnisvolle Zeichen, welches denen auf die Stirn gedrückt worden, die jung sterben müssen. Die Hochzeit ward in der zweiten Hälfte des Monats Juni gefeiert und große Gnaden wurden bei dieser Gelegenheit gewährt. Acton, der erste Minister, ward zum Generalkapitän ernannt. Vierundvierzig vakante Bischofssitze wurden mit vierundvierzig neuen Bischöfen besetzt und damit brachte der König ein großes Opfer, denn so lange die Sitze unbesetzt waren, bezog der König die Einkünfte derselben. Grade und Ordenszeichen wurden den Offizieren verliehen, die sich in dem italienischen Krieg gegen Frankreich erklärt. Endlich wurden viele Einwohner von Foggia zum Marquis erhoben, hauptsächlich aus dem Grunde, weil man sie für die enormen Kosten belohnen wollte, die sie zur Feier der Hochzeit des Kronprinzen aufgewendet.
Ich habe mich verleiten lassen, dieser Hochzeit bis zu Ende zu folgen, wie unwichtig dieselbe auch für das öffentliche Leben, wie auch für das Privatleben des Prinzen Franz gewesen, und ich habe mich dadurch von den ernsten Ereignissen entfernt, die am römischen Hofe vorgefallen waren und deren Rückwirkung der neapolitanische Hof ein Jahr später erfahren sollte. Ich meine nämlich die Ermordung des französischen Generals Duphot. In meiner Stellung konnte mir keine Einzelheit eines solchen Vorfalls unbekannt oder dunkel bleiben. Ich werde denselben etwas ausführlich erzählen, denn in Folge dieses Vorfalls besetzten die Franzosen Rom, worauf die römische Republik proklamiert ward.
Jetzt, wo ich fern von diesen Ereignissen und dem Haß jener Epoche schreibe, hoffe ich in meiner Erzählung die Unparteilichkeit eines Geschichtschreibers, wenn auch nicht die eines Richters, zu besitzen. Man wird leicht begreifen, daß, seitdem man die Römer ermächtigt, eine republikanische Verfassung anzunehmen, sich in Rom eine republikanische Partei gebildet hatte. Diese Partei bestand besonders aus französischen Künstlern, die in der Stadt wohnten. Diese hätten es geradezu für eine Verletzung ihrer Pflichten als Patrioten angesehen, wenn sie nicht durch alle Mittel versucht hätten, für das Regierungssystem, dem sie huldigten, Proselyten zu gewinnen.
Der Bruder Napoleon Bonapartes (Joseph Bonaparte) war Gesandter in Rom. Die Familie war schnell gestiegen, da sie von der mächtigen Hand des Mannes der Vorsehung, wie ihn das Direktorium nannte, unterstützt ward. Joseph Bonaparte, in dem wir nie den zukünftigen Usurpator des neapolitanischen Thrones vermutet hätten, tat alles, was in seiner Macht stand, um die Republikaner zurückzuhalten, indem er ihnen sagte, daß der günstige Augenblick noch nicht gekommen sei. Trotz seiner Anstrengungen aber benachrichtigten sie ihn am 26. Dezember 1797, daß eine Bewegung sich vorbereite. Er verabschiedete sie, indem er sie wie immer bat, sich vorderhand dieser Bewegung, wenn sie könnten, noch zu widersetzen. Sie zogen sich zurück, indem sie versprachen, nach seinen Worten zu tun. Am folgenden Tage benachrichtigte der Chevalier d'Azara, der spanische Minister, Joseph Bonaparte selbst von der beabsichtigten Demonstration.
Und wirklich fand am 23. Dezember diese Demonstration auch statt. Von den Dragonern angegriffen, während eine Kompagnie Infanterie Feuer gab, flüchteten die Republikaner unter die Portale des Palais Corsini, welches der Gesandte bewohnte. Da das Ereignis, welches hierauf folgte, auf sehr verschiedene Weise erzählt worden ist, so werde ich mich begnügen, hier den amtlichen Bericht Joseph Bonapartes wiederzugeben. Man schickte uns eine Kopie dieses Berichts, und nach demselben schildere ich das Folgende. Da dieses Aktenstück gar nicht oder doch nur sehr wenig bekannt ist, so wird es hoffentlich dem Leser von gewissem Interesse sein. Ich beginne die Erzählung des Gesandten, wo ich die meinige unterbrochen habe.
». . . . Ein eben ankommender französischer Künstler benachrichtigte uns, daß der Zusammenlauf immer stärker würde, daß er in der Menge wohlbekannte Spione der Regierung unterschieden hätte, welche lauter als die andern geschrieen: ›Es lebe das römische Volk! es lebe die Republik!‹, daß man mit vollen Händen Piaster ausstreue, daß die Straße verstopft sei. Ich trug ihm auf, sogleich hinunterzugehen und den Aufwieglern meinen Willen kund zu tun. Die französischen Militärs in meiner Umgebung fragten, ob sie den Zusammenlauf durch Gewalt zerstreuen sollten und bewiesen mir dadurch ihre Ergebenheit. Ich nahm jedoch die Insignien meines Amtes und bat die Offiziere, mir zu folgen. Ich zog es vor, selbst mit den Aufrührern, deren Sprache ich redete, zu sprechen.
»Als wir mein Kabinett verließen, hörten wir eine längere Salve. Eine Abteilung Kavallerie war, ohne mich davon zu benachrichtigen, in das unter meiner Jurisdiktion stehende Gebiet eingedrungen, hatte dasselbe im Galopp durchritten und in die drei großen Portale des Palais hineingefeuert. Hierauf war die Menge in die Höfe und auf die Treppen gestürzt. Ich kam an Sterbenden, Fliehenden, Tollkühnen und solchen Leuten vorüber, die man bezahlt hatte, damit sie die Demonstration erregen und dann die Teilnehmer angeben sollten. Eine Abteilung Füsiliere war den Reitern gefolgt. Sie begegneten mir auf den Korridoren. Bei meinem Anblick blieben sie stehen. Ich suchte den Chef, er war jedoch in den Reihen versteckt, so daß ich ihn nicht herausfinden konnte. Ich fragte die Soldaten, auf welchen Befehl sie in die Jurisdiktion Frankreichs eingedrungen seien, und forderte sie auf, sich zurückzuziehen, was sie auch taten. Da ich glaubte, mit dieser Partei nun fertig zu sein, so wendete ich mich zu den Aufrührern, welche sich in das Innere der Höfe geflüchtet hatten. Bereits rückten einige in demselben Maße auf die Truppen los, in dem diese sich entfernten. In entschiedenem Tone sagte ich ihnen, daß der Erste, der es wagte, die Mitte des Hofes zu überschreiten, es mit mir zu tun haben würde; und zu gleicher Zeit zogen der General Duphot, Scherlack, zwei andere Offiziere und ich den Degen, um diesen unbewaffneten Haufen, in dem man kaum einige Pistolen und Dolche sah, zurückzuhalten. Während wir aber hier beschäftigt waren, gaben die Füsiliere, die sich nur auf Schußweite zurückgezogen hatten, alle Feuer. Mehrere tödliche Kugeln trafen die Personen der letzten Reihen. Wir, die wir in der Mitte standen, wurden verschont, und die Kompagnie zog sich zurück, um von neuem zu laden.
»Ich benutze diesen Augenblick, ich bitte den Oberst Beauharnais, Adjutanten des Generals Bonaparte, der sich zufällig auf der Rückreise von einer Mission in der Levante bei mir befand, und den Generaladjutanten Arrighi mit dem Degen in der Hand, diese Truppe, die von verschiedenen Gefühlen bewegt ward, zurückzuhalten. Ich selbst nähere mich mit dem General Duphot und dem Generaladjutanten Scherlack den Anführern, um diese zu überreden, den Platz zu verlassen und das Feuer einzustellen. Ich fordere sie auf, die Jurisdiktion Frankreichs zu verlassen, indem ich ihnen sage, daß der Gesandte es übernähme, die Aufrührer bestrafen zu lassen; daß sie zu diesem Zwecke nur in den Vatikan, zu ihrem General, dem Gouverneur von Rom, dem Senator oder sonst einem Beamten zu schicken brauchten, und die Sache dann ohne Blutvergießen beendet werden würde.
»Der allzumutige General Duphot, der gewohnt war, stets zu siegen, stürzte vor. Mit einem Sprung steht er zwischen den Bajonetten der Soldaten, die er zu beruhigen sucht. Der General Scherlack und ich, wir folgten ihm aus nationalem Instinkt.
»Von dem Strom mit fortgerissen, kommt Duphot bis an ein Stadttor namens Settimiana. Ich sehe, wie ein Soldat seine Muskete auf ihn abfeuert. Er sinkt in die Brust getroffen, erhebt sich aber wieder, indem er sich auf seinen Säbel stützt. Ich rufe ihn, er will zu mir. Da streckt ihn ein zweiter Schuß auf das Pflaster nieder und mehr als fünfzig Schüsse feuert man noch auf seinen Leichnam ab! Scherlack ist nicht getroffen. Er zeigt mir einen Umweg, der uns nach den Gärten des Palais führt und den Schüssen der Mörder Duphots entzieht, zu denen noch eine andere Kompagnie stößt, die von der anderen Seite der Straße Feuer gibt. Von dieser zweiten Kompagnie vertrieben, schließen sich die beiden Offiziere uns an. Wir müssen eine neue Gefahr ins Auge fassen: die zweite Abteilung Soldaten konnte ja frei in den Palast dringen, aus dem meine Gemahlin und meine Schwester, die den nächsten Tag die Gattin des braven Duphot werden sollte, soeben erst mit Gewalt von meinen Sekretären und zwei jungen Künstlern geschafft worden.
»Wir gelangten durch den Garten in das Palais, die Höfe waren von arglistigen und feigen Schurken, welche diese schreckliche Szene erst hervorgerufen, überfüllt. Ungefähr zwanzig dieser Kerle und zwanzig friedliche Bürger waren tot auf dem Platze geblieben. Ich trete in den Palast ein, die Stufen sind mit Blut bedeckt, Sterbende schleppen sich nur noch so hin, Verwundete stöhnen. Es gelingt, die drei Tore, die nach der Straße zu gelegen sind, zu schließen. Das Jammern der Braut Duphots, dieses Helden, der stets bei der Avantgarde der Armeen der Pyrenäen und Italiens, ein fortwährender Sieger, verteidigungslos von feigen Banditen ermordet worden war, die Abwesenheit seiner Mutter und seines Bruders, die, von Neugierde getrieben, das Palais verlassen hatten, um die Denkmäler Roms in Augenschein zu nehmen, das fortgesetzte Feuern in den Straßen und auf die Tore des Palastes; die ersten Gemächer des Palais Corsini, die ich bewohnte, von Menschen überfüllt, deren Absichten man nicht kannte, alle diese Umstände und noch viele andere gaben diesem Auftritte etwas so Furchtbares, daß nur der, der ihn mit erlebt, sich einen richtigen Begriff davon machen kann.
»Ich ließ meine Domestiken rufen, drei waren abwesend, einer war verwundet worden. Ich ließ die Waffen, deren wir uns auf der Reise bedient, in den Teil des Palastes bringen, den ich bewohnte. Ein Gefühl nationalen Stolzes, welches ich nicht besiegen konnte, gab den jungen Offizieren den Plan ein, den Leichnam ihres unglücklichen Generals zu holen. Dies gelang ihnen mit Hilfe einiger treuer Diener, indem sie einen Umweg einschlugen, trotz des Feuers, welches die feige und zügellose Soldateska von Rom auf der Kampfstätte fortsetzte.
»Die Offiziere fanden den Leichnam dieses braven Generals, der noch vor kurzem von so erhabenem Heldenmut beseelt gewesen. Man hatte ihn ausgeplündert, er war von Schüssen durchbohrt, mit Blut beschmutzt und mit den Steinen bedeckt, die man auf seine Leiche geworfen.
»Am nächsten Morgen um sechs Uhr, also vierzehn Stunden nach dem Morde des Generals Duphot, der Bestürmung meines Palastes und der Ermordung der ihn umstehenden Menschen, war noch kein Römer bei mir gewesen, der sich im Namen der Regierung von dem Stand der Dinge unterrichtet hätte. Ich beschloß meine Pässe zu fordern und Rom sofort zu verlassen. Ich reiste ab, nachdem ich mich des Zustandes der wenigen Franzosen versichert, die in den römischen Staaten zurückblieben. Der Chevalier Argiolini ist beauftragt worden, ihnen Pässe nach Toscana auszufertigen, wo sie mich mit den Offizieren und Dienern, die mich von dem ersten Augenblicke der Gefahr an nicht verlassen haben, finden werden.
»Bei Beendigung dieses Berichtes würde ich Republikanern Unrecht zu tun glauben, wenn ich nicht auf die Rache dringen wollte, welche die französische Regierung an dieser treulosen Regierung nehmen muß, die sich freiwillig zur Mörderin der ersten französischen Gesandten, die ihr zu schicken man sich herabgelassen, gemacht, und die einen General ermordet hat, der sich wie ein Wunder der Tapferkeit in einer Armee auszeichnete, in der jeder Soldat ein Held gewesen ist.
»Bürger Minister, ich werde mich unverzüglich nach Paris begeben. Sobald ich die Angelegenheiten geordnet haben werde, die mir noch zu regeln übrig geblieben sind, werde ich Ihnen Weiteres über die Regierung von Rom mitteilen und meine Meinung bezüglich der Strafe aussprechen, die über Rom zu verhängen ist.
»Diese Regierung verleugnet sich nicht; listig und verwegen, wenn es ein Verbrechen zu verüben gibt, feig und kriechend, wenn dasselbe verübt worden ist, liegt sie heute zu den Füßen des Ministers d'Azara, damit er sich nach Florenz zu mir begeben und mich wieder nach Rom zurückbringen soll. Dies schreibt mir dieser großmütige Freund der Franzosen, welcher würdig wäre in einem Lande zu wohnen, wo man seine Tugenden und seinen edlen Gerechtigkeitssinn besser zu schätzen verstände.
»Florenz am 30. Dezember 1797.
»Joseph Bonaparte.«
Ich gestehe, daß ich stets erstaunt bin, wenn ich die Feder niederlege, nachdem ich solche Zeilen wie die obigen geschrieben. Ich, das frivole Weib, durch meine Geschmacksrichtungen, meinen Charakter, mein Temperament im voraus dazu bestimmt, außerhalb aller politischen Intrigen, wie ein Schmetterling oder ein Vogel in einer Welt von Seide, Gaze, Gesang und Harmonie zu leben, schreibe schwerfällige, mit Blut befleckte Berichte ab, welche die Völker zu Krieg und zur Rache aufrufen! Gleiche ich nicht der Venus Aphrodite, die ihr Gesicht, das süße Lächeln, die verheißungsvollen Augen, den liebebeteuernden Mund mit der Maske der Nemesis bedeckt? Ich habe es aber unternommen, die Ereignisse zu berichten, an denen ich Teil genommen, und kann jetzt nicht vor der Aufgabe zurückweichen, die ich mir gestellt. Die Stimme meines Gewissens und vielleicht auch die meiner Reue, ruft mir zu »Weiter!« Und gezwungen, dieser Stimme von oben zu gehorchen, fahre ich fort. Der Bericht Joseph Bonapartes rief in Paris eine große Aufregung hervor. Bonaparte war der Gott des Augenblicks: einen seiner Brüder beschimpfen, war mehr als ein Majestätsverbrechen, es war ein Verbrechen an der Gottheit! Folgenden Brief schrieb der Bürger Talleyrand, dieser Thermometer der öffentlichen Stimmung, an Joseph Bonaparte in Erwiderung seines Berichts:
»Am 18. Jänner 1798.
»Ich habe den herzzerreißenden Brief erhalten, den Sie mir über die schrecklichen Ereignisse geschrieben, die am 8. Nivose in Rom vorgefallen sind. Trotz der Sorgfalt, mit welcher Sie sich bemüht, alles zu verschweigen, was Ihnen an diesem entsetzlichen Tage persönlich zugefügt worden ist, ist es mir doch nicht entgangen, daß Sie die größte Unerschrockenheit, Kaltblütigkeit und jene Intelligenz, der nichts entschlüpft, an den Tag gelegt und großherzig die Ehre des französischen Namens aufrecht erhalten haben. Das Direktorium beauftragt mich, Ihnen auf die nachdrücklichste und deutlichste Weise mitzuteilen, wie sehr Ihr ganzes Benehmen die vollste Zufriedenheit des Direktoriums verdient. Ich hoffe, daß Sie gern glauben werden, wie glücklich es mich macht, das Organ dieser Gefühle des Direktoriums zu sein. –«
Das Direktorium begann damit, die Bestrafung der Mörder zu fordern; mochte es nun aber aus Nachlässigkeit oder aus Mitschuld geschehen sein, keiner ward den Tribunalen überliefert, noch sonst in irgendeiner Weise beunruhigt. Man wußte, daß das Haupt der Mörder, namens Amadeo, sich des Degens und des Gurtes des Ermordeten bemächtigt, daß der Pastor des benachbarten Kirchspiels sich die Uhr angeeignet und daß die anderen sich in die Kleider und das Geld Duphots geteilt.
Das Direktorium befahl dem General Berthier, der in der Abwesenheit Bonapartes in Italien kommandierte, gegen Rom zu marschieren. Berthier empfing diesen Befehl in Mailand und setzte sich gleich am folgenden Morgen nach dem Tage, an dem er den Befehl empfangen, in Bewegung. Am 29. Januar war seine Avantgarde in Macerata, am 10. Februar waren alle Truppen unter den Mauern Roms vereinigt und ein Detachement nahm von der Engelsburg Besitz, welche die päpstlichen Soldaten nicht einmal zu verteidigen suchten. Der General Berthier aber verhinderte, daß man weiter vordrang, und unterrichtete nur die Häupter der Aufwiegler, daß sie auf seine Unterstützung rechnen könnten. Am 16. Februar, dem dreiundzwanzigsten Jahrestage der Erhebung Pius des Sechsten auf den päpstlichen Thron, versammelten sich eine Menge Aufrührer auf dem alten »Forum Romanum« und begaben sich von da nach dem Vatikan, wo sie unter den Fenstern des Papstes das Geschrei ertönen ließen: »Es lebe die Republik!« Aus Ehrfurcht, wie sie sagten, nicht vor dem Papste, sondern vor dem Greise, drangen sie nicht in den Vatikan selbst ein, bemächtigten sich aber der ganzen Stadt und verfaßten eine Adresse, welche die Souveränität des Volkes proklamierte, alle Mitschuld an der Ermordung Bassevilles und Duphots zurückwies, die päpstliche Autorität abschaffte und die politischen, finanziellen und bürgerlichen Angelegenheiten ins Auge faßte, indem sie eine republikanische, freie und unabhängige Regierung konstituierte.
Die Häupter der Bewegung beeilten sich, eine Deputation von acht Männern aus ihrer Mitte an den General Berthier zu schicken, die ihm diese Beschlüsse überbringen sollte. Sogleich hielt der General seinen Einzug durch das Volkstor und noch an demselben Tage bestieg er das Kapitol, wo er, den alten römischen Triumphatoren nachahmend, im Namen des Direktoriums die neue Republik begrüßte, die als frei und von Frankreich unabhängig anerkannt ward und zu welcher das ganze Gebiet gehörte, welches man dem Papste durch den Vertrag von Tolentino gelassen. Am folgenden Morgen sangen vierzehn Kardinäle, welche so feig gewesen waren, die Befreiungsakte und ihre Entsagung auf alle politischen Rechte zu unterzeichnen, das »Te Deum« in der St. Peterskirche. Der General Cervoni, der beauftragt war, Pius dem Sechsten seine Absetzung zu verkündigen, drang bis zu dem heiligen Vater und fand ihn auf den Knien im Gebete. Mit vollkommener Ruhe empfing Pius der Sechste die Nachricht von der Aufhebung seiner weltlichen Rechte, und als er aufgefordert ward, die neue Regierung anzuerkennen, erwiderte er:
»Meine Souveränität habe ich von Gott, es ist mir nicht erlaubt, derselben zu entsagen. Ich bin achtzig Jahre alt, das Leben ist mir also nichts wert. Was Beschimpfungen und Leiden betrifft, so fürchte ich dieselben nicht.«
Da die Gegenwart des heiligen Vaters sich aber nicht mit der neuen Regierung vertrug, so erhielt Pius der Sechste die Einladung, die Hauptstadt der Christenheit zu verlassen, und reiste auch wirklich am 20. Februar nach Toscana ab.
Alle diese Nachrichten kamen zu gleicher Zeit zu uns und verursachten, wie man leicht begreifen wird, eine große Unruhe an unserem Hofe. Die Republik, von den Franzosen Schritt für Schritt weiter geführt, machte täglich einen neuen Fortschritt in Italien und war nur noch dreißig Meilen von uns entfernt. Die Regierung des Königreiches beider Sizilien glaubte gegen diesen drohenden Gegner Vorsichtsmaßregeln ergreifen zu müssen. Ohne sich um den Vertrag zu kümmern, den er am 19. Februar 1797, also vor kaum vierzehn Monaten, mit Frankreich geschlossen, unterzeichnete Ferdinand am 19. Mai 1798 einen Vertrag mit dem Kaiser, seinem Neffen, wodurch der erste Vertrag vollständig ungültig ward. In Folge dieses neuen Vertrags mußte der Kaiser 66 000 Mann Bewaffnete in Tirol bereit halten und Ferdinand 30 000 an den neapolitanischen Grenzen zusammenziehen. Durch einen eigentümlichen Zufall war der 19. Mai 1798 derselbe Tag, an welchem die französische Flotte in Toulon unter Segel ging, um die Expedition nach Egypten zu unternehmen. Man wußte, daß Frankreich Vorbereitungen traf; welches Land aber von dieser furchtbaren Rüstung bedroht ward, wußte man nicht. Der Kommandant der englischen Flotte, Sir Jean Jervis, von jetzt an Graf von Saint-Vincent, wollte durchaus nicht in den Vorbereitungen der Republik einen Plan zu einer Expedition in dem Ozean sehen. So glaubte er denn genug zu tun, daß er die Meerenge von Gibraltar schloß und die spanische Flotte in dem Hafen von Cadix blockierte. In dieser Überzeugung schickte er Nelson, der unter ihm diente, mit drei Linienschiffen, vier Fregatten und einer Korvette in den Hafen von Toulon, indem er ihm außerdem versprach, ihm sofort Verstärkung zu schicken, sobald er dieselbe verlangte. Am 9. Mai verließ Nelson die Bai von Cadix, allein es war schon zu spät. Im Golf von Lyon angekommen, zerstreute ein Sturm seine Schiffe und entmastete dasjenige, welches er bestiegen. Um die Schiffe wieder auszubessern, lief er in den Hafen von Saint-Pierre ein, in welchen ihn ein Schiff bugsierte, welches weniger als das seinige gelitten hatte. Während seines Aufenthaltes im Hafen von Saint-Pierre erfuhr er, daß die französische Flotte den Hafen von Toulon verlassen, und schickte ein Schiff an Sir Jervis, um diesen um die versprochene Verstärkung zu bitten.
Erst am 8. Juni aber, also drei Wochen nach der Absegelung der französischen, konnte Nelson diese Verstärkung, die aus zehn Schiffen von vierundsiebzig und einem Schiffe von fünfzig Kanonen bestand, mit seinen Schiffen vereinigen. An der Spitze seines Geschwaders begann Nelson die Verfolgung der französischen Flotte. An den Südküsten von Korsika erfuhr er, daß man sie zwischen dem Kap von Korsika und Italien gesehen. Plötzlich kam Nelson der Gedanke ein – und derselbe war nicht unwahrscheinlich – daß die französische Flotte auf Neapel zusteuere. Und mit vollen Segeln schlug er den Weg nach Neapel ein. Am 15. Juni war er bei den Inseln von Ponsa und schickte uns seinen vertrauten Offizier, besser gesagt seinen Freund, den Kapitän Truebridge, der mit dem Generalkapitän und Sir William die Angelegenheiten erörtern sollte. Truebridge überbrachte mir einen Brief von Nelson. Der Eindruck, den ich auf diesen großen Mann hervorgebracht, war mir nicht entgangen, so daß ich es seltsam fand, daß er die Gelegenheit, selbst nach Neapel zu kommen und mich endlich wiederzusehen, unbenutzt ließ. Der Brief erklärte mir jedoch alles. Der Inhalt desselben war folgender:
»Mylady!
Wenn ich nach Neapel käme, ans Land stiege und Sie wiedersähe, so würde ich meine Pflichten vollständig vernachlässigen, die mir gebieten, die französische Flotte zu verfolgen, ohne einen Augenblick zu verlieren. Truebridge wird Ihnen diesen Brief überbringen, der, anstatt ein Beweis von Gleichgültigkeit zu sein, vielmehr durch die Erklärung, die er Ihnen gibt, ein Beweis für die Macht der Gefühle ist, die ich für Sie empfinde. Sobald Truebridge, je nach den Befehlen, die er von dem Generalkapitän und Sir William empfangen wird, wieder zurückgekehrt ist, werde ich meine Reise fortsetzen. Und wenn die Franzosen am anderen Ende der Welt wären, so will ich sie doch einholen, und Sie werden mich als Sieger und Ihrer würdig, Mylady, oder gar nicht wiedersehen. Tausendmal Ihr
Horace Nelson.«
Dieser Brief schmeichelte, ohne meinem Herzen weiter viel zu sagen, meinem Stolze in hohem Grade. Während der fünf Jahre, die verflossen waren, hatte Nelson sich wie ein Held oder vielmehr, wie er mir später sagte, wie ein Mann geschlagen, der den Tod sucht. Ich habe bereits erzählt, daß er bei Calvi ein Auge verloren, allein dies war nicht alles, denn bei Teneriffa hatte er auch einen Arm eingebüßt. Diesmal versprach er, meiner würdig oder gar nicht wiederzukommen, und ich war überzeugt, daß er Wort halten würde. Nelson gehörte nicht zu den Männern, welche versprechen und nicht Wort halten. Von der Terrasse des Palais aus sah ich das herrliche Schauspiel mit an, wie die Flotte vor Neapel vorbeidefilierte. Mit Hilfe eines Fernrohrs zeigte mir Sir William das Schiff, auf welchem die Admiralsflagge wehte. Ich konnte nicht erkennen, was an Bord vorging, allein ich wußte gewiß, daß Nelson die Augen auf das Palais, wie ich die meinigen auf sein Schiff richtete. Langsam teilte sich die Flotte vor dem Felsen von Capri; ein Teil wendete sich rechts, der andere links, und es dauerte drei Tage, ehe sie dem Blicke vollständig entschwunden war, da vollkommene Windstille herrschte. Diese Windstille war die Ursache, daß Nelson erst am 25. Juni am Fort von Messina anlangte. Hier erfuhr er, daß Bonaparte sich im Vorübersegeln der Insel Malta bemächtigt, eine Garnison von viertausend Mann daselbst zurückgelassen und dann seine Reise nach dem Orient fortgesetzt hatte.
Vom Leuchtturme aus, am 25. Juni, schrieb Nelson an Sir William, um ihm diese Nachricht mitzuteilen, und an mich, um die Versicherung der Gefühle, die er mir gestanden, zu erneuern.
Wir erhielten den Brief am 30. Juni und ich beantwortete denselben sogleich in folgender Weise:
»Teurer Freund!
Ich benutze die Gelegenheit, die der Kapitän Hope mir bietet, um Ihnen einige Zeilen zu schreiben und Ihnen für den liebenswürdigen Brief zu danken, den Sie mir durch den Kapitän Bowen zugesendet haben. Die Königin war sehr erfreut, als ich ihr übersetzte, was Sie ihr Verbindliches gesagt haben. Sie beauftragt mich, Ihnen zu danken und Ihnen zu versichern, daß sie für Ihr Wohlergehen betet. Was den Sieg betrifft, so ist sie überzeugt, daß Sie denselben gewinnen werden. Der königsmörderische Minister Garat ist jetzt bei uns. Er ist der unverschämteste, schamloseste Diplomat, den man sich nur denken kann und ich sehe deutlich voraus, daß der Hof von Neapel den Krieg wird erklären müssen, wenn das Land gerettet werden soll, denn der französische Gesandte macht täglich die drohendsten Bemerkungen. Die Königin versteht die ganze Wahrheit dessen, was Sie in Ihrem Briefe an Sir William gesagt haben. Sie besitzen das wahre Licht, welches die Ereignisse aufklärt. Dasselbe ist mit dem General Acton der Fall. Unglücklicherweise aber ist der erste Minister, Gatto, ein oberflächlicher und leichtsinniger Mensch, steif und dünkelhaft wie ein Hahnenkamm, der an nichts anderes denkt, als wie ihm sein gesticktes Kleid steht und welche Wirkung sein Diamantring hervorbringt. Die Hälfte der Neapolitaner hält ihn für einen halben Franzosen und ich glaube, daß die andere Hälfte sich irrt, wenn sie ihn für einen Neapolitaner hält. Die Königin und Acton können ihn nicht ausstehen. Kümmern Sie sich daher nicht um ihn, denn da er nur von dem Könige unterstützt wird, so wird er keine sehr große Macht erlangen. Dennoch aber ist ein erster Minister, sei er auch nur ein Minister von Rauch und Dunst, immer etwas, wäre er auch nur da, um jemandem einen schlechten Streich zu spielen. Sie wissen wohl, daß man die drei- oder vierhundert Jacobiner, die man gefangen hielt, alle nach einer drei- oder vierjährigen Haft für unschuldig erklärt hat. Wenn ich alles glaubte, was man in meiner Umgebung von ihnen sagt, so verdiente wenigstens die Hälfte von ihnen den Tod am Galgen. Garat durch seinen Einfluß und Gatto durch seine Schwäche, ja vielleicht durch seine Sympathie, haben das herrliche Werk verrichtet, diese niedlichen Herren der Gesellschaft wiederzugeben. Kurz, ich bin in großer Angst und sehe alles hier für fast verloren an. Es betrübt mich dies bis zu Tränen, um unserer teuren und reizenden Königin willen, die wirklich ein besseres Schicksal verdient. Sie werden verstehen, lieber Freund, daß ich Ihnen dies alles im Vertrauen und in Eile schreibe. Ich hoffe, daß Sie das Mittelmeer nicht verlassen werden, ohne uns mitzunehmen. Wir haben unseren Abschied genommen und alle Vorbereitungen getroffen, um augenblicklich abreisen zu können, sobald wir dazu aufgefordert werden; unterdessen aber bitte ich Gott, daß er Ihnen beistehen möge, diese Ungeheuer von Franzosen zu vernichten. Die Herrschaft solcher Gottlosen kann nicht von langer Dauer sein. Wenn sich Ihnen Gelegenheit bietet, so schreiben Sie uns, Sie glauben gar nicht, welcher Balsam Ihre Briefe für uns sind.
Gott segne Sie, teurer Freund, und seien Sie versichert, daß ich stets sein werde Ihre dankbare und treue Freundin
Emma Hamilton.«
Nelson erhielt diesen Brief auf dem Meere, während er die französische Flotte suchte, ohne sie finden zu können.
Wirklich hatte Nelson vollkommen jede Spur von Bonaparte und den dreihundertfünfzig Schiffen, die zu dessen Geschwader gehörten, verloren. Drei Tage lang in der Meerenge von dem Sirocco zurückgehalten, benutzte er einen Umsprung des Windes, um Reggio zu umsegeln und in das offene Meer zu steuern. Endlich überzeugt, daß Bonaparte sich nach Egypten begäbe, segelte er gerade auf Alexandrien zu, kam aber noch vor der französischen Flotte daselbst an, da der Admiral Brungs, ohne Zweifel um etwaige Verfolger irrezuführen, an der Küste der Insel Candia vor Anker gegangen war. Von dem Gouverneur von Alexandrien schlecht empfangen, der ihm drohte, auf ihn schießen zu lassen, wenn er die Durchfahrt zu erzwingen versuche, ohne Kenntnis des Weges, den die französische Flotte eingeschlagen, in der Vermutung, daß sie, da sie nicht in Alexandrien war, nach Konstantinopel segele, fuhr Nelson ziellos an den Küsten von Caramania und Morea hin und her, indem er versuchte, hier etwas zu erfahren, und nachdem er den ganzen Archipel durchsegelt, trieb ihn der Mangel an Wasser und Proviant wieder nach Sizilien zurück. Er sagte mir mehr als einmal, daß er vom 30. Juni an, wo er aus der Meerenge von Messina segelte, bis zum 21. Juli, wo er im Hafen von Syrakus einlief, wahnsinnig zu werden geglaubt hatte. Die Situation war in der Tat eine sehr ernste und in England zog sich ein furchtbares Unwetter gegen ihn zusammen. Als man daselbst erfuhr, daß er aus Toulon eine Flotte von vierhundert Segeln hatte auslaufen lassen und dieselbe vergebens einen Monat lang in dem Mittelmeer, also in einem großen See, gesucht hatte, fragte man sich auf allen Seiten, ob er nicht ein Verräter, den man vor ein Gericht stellen müsse, und der Admiral Saint-Vincent ein Leichtsinniger wäre, der sich den Tadel der Admiralität zugezogen, daß er ihr einen Kontre-Admiral vorgeschlagen, der dieses Grades unwürdig sei. Nelsons einzige Hoffnung stand auf uns oder vielmehr auf mir. Ich sollte es bei der Königin dahinbringen, daß er, trotz der Verträge mit Frankreich, allen Beistand erhielt, welche die Gouverneure der sizilianischen Häfen ihm gewähren konnten, denn wenn Neapel die Bedingungen des Vertrags mit Frankreich hielt, so mußte Nelson nach Gibraltar zurück und er war verloren. Ein glänzender Sieg allein konnte ihn retten.
Der folgende Brief, den er am 22. Juli an den Lord von Saint-Vincent schrieb, wird dem Leser einen Begriff von seinem Seelenzustande geben.
»Syrakus, am 22. Juli 1798.
Mein lieber Lord!
Ich habe Ihnen eine Menge Briefe und Papiere zu schicken, da ich aber keine Fregatte habe, die sie Ihnen überbringen könnte, und ich mich in diesem Augenblicke nicht von dem ›Orion‹ trennen kann, so überlasse ich es Ihnen, sich meine Verlegenheit vorzustellen. Ich weiß heute den Ort, wo die französische Flotte sein könnte, ebensowenig, als an dem Tage, an dem ich das Cap Passaro umsegelte. Was ich gewiß weiß, ist bloß der Umstand, daß sie am 18. Juni den Hafen von Malta verlassen hat. In der Dienstagsnacht waren alle Schiffe auf dem offenen Meere und am Mittwoch Morgen hat man sie mit einem Westnordwestwinde schnell weitersegeln sehen. Das ist mir von vierzehn Personen versichert worden, von da an aber sind alles nur Vermutungen. Wenn die Flotte nach Westen gesegelt wäre, so bin ich überzeugt, daß man sich in jedem Hafen, ja selbst an jedem Punkte Siziliens, von dem man sie gesehen haben würde, beeilt hätte, mich davon zu benachrichtigen. Weiter darf ich Ihnen nichts sagen, ich bin aber überzeugt, daß wir verraten sind und es ist mehr als wahrscheinlich, daß dieser Brief, den ich Ihnen über Neapel schicken muß, nicht einmal nach Neapel kommen wird, oder daß der französische Minister eine Kopie davon bekommen wird, wenn er ihn nicht selbst kopiert. Was mich betrifft, so sage ich Ihnen, daß ich, wenn nicht auf der einen oder der anderen Seite geradezu eine Unmöglichkeit vorhanden ist, die französische Flotte noch einholen werde. Auf der unsrigen ist kein einziger Kranker. Ich habe Ihnen über alles ausführlich berichtet und meine geheimsten Gedanken mitgeteilt. Gott beschütze Sie!
Ihr stets ergebener
Horatio Nelson.«
»N. S. Die Art und Weise, wie man uns in den Häfen von Sizilien empfängt, ist empörend. Der Gouverneur gesteht uns, daß er, wenn er die Mittel gehabt hätte, den erhaltenen Befehlen gemäß gezwungen gewesen wäre, unsere Einfahrt in den Hafen zu verhindern. Acton hätte versprochen, Befehle zu geben, allein es ist keiner geschickt worden. Was denken Sie davon?«
Noch an demselben Tage schrieb Nelson verzweifelt, fast wütend an Sir William Hamilton:
»Van-Guard, Syrakus, den 22. Juli 1798.
Geehrter Herr!
Ich bin äußerst erstaunt, daß der König von Neapel den Befehl gegeben hat, höchstens drei bis vier englische Schiffe in seine Häfen zu lassen. Ich dachte, es wären geheime Instruktionen erteilt worden, daß man uns ungehindert hereinlassen sollte. Wenn man fortfahren sollte, mir alle nötigen Mittel zu verweigern, so lassen Sie mich es so schnell wie möglich durch das erste Schiff wissen, damit ich noch Zeit habe, mich in Gibraltar zu verproviantieren. Die Weise, in der man uns behandelt, ist eine Schande für eine große Nation. Die Flagge der englischen Regierung ist in allen befreundeten Häfen geschändet worden.
Ich bin mit der größten Hochachtung usw.
Horatio Nelson.«
Dank meinen Bemühungen jedoch waren diese geheimen Instruktionen gegeben worden; sie kamen bloß etwas später. Noch an demselben Tage, an welchem Nelson diesen Brief schrieb, erhielten die Gouverneure von Syrakus sowohl, als auch die der anderen Häfen Befehl, ihm Lebensmittel, Wasser, Holz, kurz alles zu liefern, was er brauchte, und ganz besonders die Zahl der Schiffe, die in die Häfen einlaufen wollten, nicht zu beschränken.
Gleich am folgenden Morgen machte Nelson seine Heftigkeit durch folgenden Brief wieder gut:
»Syrakus, 23. Juli 1798.
Meine guten Freunde!
Dank für alle Ihre Mühe! Wir haben Proviant und Wasser und gewiß ist es eine Vorbedeutung des Sieges, wenn wir unser Wasser an der Quelle Arethusa schöpfen kommen. Bei der ersten günstigen Brise werden wir unter Segel gehen und seien Sie überzeugt, daß ich entweder mit Lorbeeren gekrönt, oder mit Zypressen bedeckt zurückkehren werde.
H. N.«
Zwei Tage später schrieb Nelson wieder an Sir William:
»Syrakus, 25. Juli 1798.
Geehrter Herr!
Die Flotte ist segelfertig und in dem Augenblicke, wo der Wind von der Küste her wehen wird, werde ich diese herrliche Reede verlassen, wo alle unsere Bedürfnisse in so reichlichem Maße befriedigt, und die größten Aufmerksamkeiten uns erwiesen worden sind. Ich bin aber in großer Angst gewesen, so lange dem Gouverneur keine geheime Instruktion erteilt worden war, uns ungehindert in den Hafen zu lassen. Ich habe die feste Zuversicht, daß ich die französische Flotte finden werde. Alsdann wird alles in den Händen der Vorsehung liegen, an deren Güte ich nicht zweifle.
Empfehlen Sie mich bestens Lady Hamilton und seien Sie der ewigen Treue versichert
Ihres
H. Nelson.«
Der Wind, auf den Nelson wartete, erhob sich in der Nacht vom 25. zum 26. Juli, und da die Flotte segelfertig war, so ward Befehl gegeben, die Anker zu lichten. Nelson schlug die Richtung nach Griechenland ein. Am 28. Juli lief der »Culloden«, als er bei Morea vorübersegelte, in den Hafen von Coron ein, fragte den türkischen Gouverneur und erfuhr von diesem, daß die Franzosen in Alexandrien wären. Der »Culloden« segelte sogleich zum Admiralschiff und durch Signale erteilte man Befehle, mit vollen Segeln auf Alexandrien zuzusteuern. Man gelangte am 1. August mittags an diesem Hafen an, die Franzosen hatten denselben aber bereits verlassen und sich weiter nach Osten gewendet. Man folgte ihrer Spur und dreiviertel auf drei Uhr signalisierte der »Zélé«, welcher das Geschwader anführte, daß sechzehn Linienschiffe, vor Anker liegend, in Sicht wären. Um drei Uhr gab Nelson das Signal, sich zum Kampfe vorzubereiten. Mir kommt es nicht zu, diese furchtbare Schlacht am Nil, die zwei Tage währte, zu schildern. Nie ward ein vollständigerer Sieg errungen, nie erschreckte ein ähnliches Unglück das Meer. Ein französisches Schiff, der »Orient«, sprang in die Luft, ein Schiff und eine Fregatte wurden in den Grund gebohrt, neun Schiffe wurden genommen, unter diesen neun Schiffen waren aber drei in einem solchen Zustand, daß der Sieger genötigt war, sie am nächsten Morgen zu verbrennen und zwei Tage später dasselbe Experiment mit zwei anderen Schiffen zu wiederholen. Unglücklicherweise hatte Nelson eine furchtbare Wunde erhalten. Eine Segelstange, von einer französischen Kugel zerschossen, war ihm in dem Augenblicke, wo er den Kopf bei dem Krachen einer platzenden Bombe in die Höhe hob, auf die Stirn gefallen und hatte ihm die Haut von der Stirn bis zum Munde abgeschunden. Nelson glaubte tödlich verwundet zu sein, so groß war die Heftigkeit des Schlages. Sogleich ließ er den Kaplan rufen, um diesem seinen letzten Willen anzuvertrauen, mit dem Kaplan aber war der Arzt gekommen, welcher die Wunde untersuchte. Da er keinen Bruch fand, was er leicht sehen konnte, da die Knochen bloßlagen, so zog er die Stirnhaut wieder in die Höhe und legte einen Verband darum. Als Nelson das Tageslicht wiedersah, dem er auf ewig Lebewohl zu sagen geglaubt, übernahm er mit übermenschlicher Anstrengung das Kommando über den »Vanguard«, und indem er alle seine Kraft, seine ganze Geistesgegenwart, alle seine Kaltblütigkeit wiederfand, harrte er auf seiner Quartierbank aus und befahl, so lange die Beschießung der französischen Flotte fortzusetzen, bis dieselbe vollständig zerstört war. Dann ergriff er, trotz seiner Verwundung, trotz seiner Blindheit die Feder und schrieb an uns, nämlich an Sir William und an mich: »Meine guten Freunde! Vollständiger Sieg! Die französische Flotte ist zerstört! Der Kapitän Capel, der auf der ›Mutine‹ abreist, wird Ihnen diesen Brief bringen und alle die Einzelheiten, die ich Ihnen nicht selbst mitteilen kann, erzählen. Ich habe eine leichte Wunde erhalten; beunruhigen Sie sich nicht. Auf ewig Ihr treuer Horatio Nelson.« – »Übermitteln Sie gefälligst diese gute Nachricht unserer liebenswürdigen Königin und legen Sie ihr meine ehrfurchtsvollen Huldigungen zu Füßen.«
Wirklich reiste der Kapitän auf der »Mutine« ab und kam am 4. September in Neapel an, wo er uns lebhaft erzählte, daß Nelson einige Tage nach ihm eintreffen würde und den Hafen von Neapel zum Versammlungsort seiner ganzen Flotte bestimmt hätte, da ein jedes seiner mehr oder minder beschädigten Schiffe nur so weit segeln konnte, als es seine Kräfte gestatteten.
Nachdem der Kapitän Capel sich seines Auftrages entledigt hatte, schrieb er an Nelson:
»Herr Admiral!
Es ist mir unmöglich, Ihnen die Freude zu schildern, die auf allen Gesichtern strahlte, wie den donnernden Applaus, der uns bei unserer Ankunft entgegenschallte. Die Königin und Lady Hamilton sind beide vor Freude ohnmächtig geworden. Kurz, man nennt Sie überall den Befreier Europas. Morgen wird ein Kurier nach Wien abgehen. Ich werde ihn begleiten, um keinen Augenblick zu verlieren. Ich werde auf alle mögliche Weise von Sir William Hamilton und den anderen fremden Ministern, welche die ruhmreiche Nachricht eiligst an ihre Höfe gesandt haben, unterstützt.
Ich habe die Ehre usw.
Capel.«
Was mich betraf, so schrieb ich gleich im ersten Augenblick an Nelson einen Brief voll überschwänglichen Entzückens, den ich jedoch hier nicht anführen kann, da ich keine Kopie desselben aufbewahrt habe, den Nelson aber teilweise in dem folgenden Brief, den er an seine Gattin schrieb, wiederholt:
»Auf offenem Meer, den 16. September 1798.
Das Königreich beider Sizilien ist wahnsinnig vor Freude, vom König an bis zu dem letzten Bauer. Nach dem, was mir Lady Hamilton in ihrem Briefe über die Königin schreibt, so muß einem der Zustand der letzteren wahrhaft leid tun. Ich wiederhole hier die eigenen Worte von Lady Hamilton: ›Wie vermöchte ich Ihnen das Entzücken der Königin zu schildern? Das ist geradezu unmöglich. Sie weint, sie schreit, sie läuft wie eine Wahnsinnige in ihren Gemächern umher, umarmt alle, welche ihr in den Weg kommen, und lacht und weint zugleich. ›O braver Nelson!‹ ruft sie bei jeder Gelegenheit aus: ›Gott segne unsern Befreier! O Nelson! Nelson! was verdanken mir Ihnen nicht! O Sieger, o Erretter Italiens! Warum kann mein dankbares Herz nicht bei Ihnen sein und Ihnen seine Freude kund geben!‹ Das übrige kannst Du Dir denken, teure Fanny. Lebe wohl. Mein Kopf gestattet mir nicht, Dir auch nur die Hälfte von dem zu sagen, was ich Dir sagen möchte; alle meine Anstrengungen wären beinahe verlorene gewesen, allein Gott hat mich beschützt.
Dein H. Nelson.«
Man muß die Ehrenbezeigungen, die Nelson erwiesen wurden, und die Belohnungen, mit denen er von allen Fürsten Europas buchstäblich erdrückt ward, kennen, um sich einen Begriff von dem Haß, ja vielleicht von dem Schrecken zu machen, den Frankreich zu dieser Zeit dem ganzen Europa einflößte. Eines Tages setzten wir mit Nelson eine Liste dieser Belohnungen auf. Es ist die folgende und geht vom Oktober 1798 bis zum Oktober 1799: Erstens erhielt er von dem König und der Königin von England die englische Pairswürde und eine goldene Medaille. Von dem Unterhause auf einen Befehl des Königs vom 22. November 1798 für sich und seine beiden nächsten Erben den Titel eines Barons vom Nil und von Burnham-Thorpe, mit einer Rente von zweitausend Pfund Sterling, die vom 1. August 1798, dem Tage der Schlacht am Nil, auszuzahlen war. Von dem englischen Parlamente für sich und seine beiden nächsten Erben ebenfalls eine Rente von zweitausend Pfund Sterling. Von dem irischen Parlamente eine Rente von tausend Pfund Sterling. Von der westindischen Kompagnie zehntausend Pfund Sterling. Von der türkischen Kompagnie ein kostbares Tafelservice. Von der Stadt London einen Degen, dessen Griff reich mit Diamanten besetzt war. Von dem Sultan eine Diamantagraffe mit dem Chelmik oder Siegesfederbusch, die auf zweitausend Pfund Sterling geschätzt ward und einen kostbaren Pelz, den man auf tausend Pfund schätzte. Von der Mutter des Sultans, der Sultanin Valide, eine mit Diamanten besetzte Dose an Wert von tausend Pfund Sterling. Von dem König beider Sizilien einen Degen, dessen Griff mit Diamanten besetzt war und der einen Wert von fünftausend Pfund Sterling hatte. Von dem König von Sardinien eine mit Diamanten besetzte Tabaksdose im Werte von zwölfhundert Pfund Sterling. Von der Regierung der Insel Zante einen Degen mit goldenem Griff und einen Stock mit goldenem Knopf. Von der Stadt Palermo eine goldene Dose und eine goldene Kette auf einem silbernen Teller. Das originellste Geschenk und sozusagen das englischste, welches Nelson auch die größte Freude bereitete, war das seines Freundes, des Kapitäns Hallowell, des Kommandanten des »Swiftsure«.
Wie ich bereits gesagt, flog das französische Schiff »der Orient« in die Luft und seine Trümmer bedeckten eine große Strecke weit das Meer. Unter diesen Trümmern bemerkte der Kapitän Hallowell den Hauptmast, der unbeschädigt geblieben war. Er ließ alle Schaluppen aussetzen, und unbekümmert darum, wie die Schwimmer sich inmitten der Trümmer abarbeiten mußten, befahl er, nur den Hauptmast des »Orients« zu retten. Alle Schaluppen des »Swiftsure« hingen sich an diesen Mast und schleppten ihn an Bord. Sogleich ließ Ben Hallowell den Schlosser und den Zimmermann kommen, und befahl ihnen in dem stärksten Teil des Mastes einen Sarg auszuhöhlen, der mit denselben Nägeln und Klammern beschlagen ward, die man aus demselben Mast gezogen. Nachdem der Sarg fertig war, schickte Hallowell denselben mit folgendem Brief an Nelson:
»An den ehrenwerten Lord Nelson.
Mylord!
Ich schicke Ihnen einen Sarg, der vollständig aus dem Holze und den Eisenbeschlägen des Hauptmastes des französischen Schiffes ›der Orient‹ gefertigt ist, damit Sie, wenn Sie diese Welt verlassen, in Ihren Trophäen ruhen können. Die Hoffnung, daß dieser Tag noch fern sei, ist der aufrichtige Wunsch Ihres gehorsamen und treuen Dieners.
An Bord des ›Swiftsure‹, den 23. Mai 1799.
Ben Hallowell.«
Wie ich gesagt habe, nahm Nelson dieses Geschenk mit der größten Freude auf. Eine Zeitlang ließ er den Sarg, mit dem Deckel an die Wand gelehnt, dicht hinter dem Lehnstuhle, auf welchem er sich zu Tisch setzte, stehen. Endlich erhielt ein alter Diener, den dieses posthume Möbel betrübte, von Nelson die Erlaubnis, den Sarg in das Zwischendeck zu schaffen. Als Nelson den arg beschädigten »Vanguard« verließ, kam der Sarg mit ihm an Bord des »Donnerers«, wo er lange auf dem Oberdeck des Schiffes stand. Eines Tages bewunderten die jungen Offiziere des »Donnerers« das Geschenk des Kapitäns Ben Hallowell; Nelson rief ihnen aber aus seiner Kajüte zu: »Bewundern Sie den Sarg, so lange Sie wollen, meine Herren; es wird ihn aber doch keiner von Ihnen bekommen.« Ach, ich brauche nicht erst zu sagen, daß der arme Nelson in dem Sarge ruht, den ihm Ben Hallowell geschenkt. Ich gestehe, daß mir die Hand zitterte und daß mir Tränen in die Augen traten, als ich mich dieser traurigen Einzelheiten erinnerte; sie machen aber einen Teil des Ruhmes und der Größe meines Helden aus, und ich habe mich nicht für berechtigt gehalten, sie mit Schweigen zu übergehen.
Am 19. erhielten wir die Nachricht, daß Nelson am 16. die Höhe von Stromboli passiert habe. Man dachte, daß er bald nach Neapel kommen müßte, und indem man es darauf ankommen ließ, was Garat, der Gesandte der französischen Republik, denken, sagen oder tun würde, traf man Vorbereitungen zu großen Festlichkeiten. Drei Tage vorher waren der »Culloden« und der »Alexander« eingetroffen, die, da sie weniger beschädigt waren, als der »Vanguard« diesem fünf Tage voraus waren. Auf dem Kap Campanella und dem höchsten Punkte des Felsens von Capri stellte man Wachen auf. Dieselben sollten durch Signale die Ankunft von Nelsons Flotte melden und sogleich diese Nachricht nach Neapel entsenden. Hierauf schmückte man eine große Barke prächtig aus. Man spannte ein purpurnes Zelt darüber, welches mit den Wappen Englands und des Königreichs beider Sizilien gekrönt war. Man verschönte die Barke durch Fahnen und Trophäen der beiden vereinigten Nationen, man bereitete zwölf bis fünfzehn andere Barken, welche der Hauptbarke folgen sollten, und wartete, nachdem man Befehl erteilt, daß ein jeder vom Hofe sich bereithalten sollte, beim ersten Zeichen Nelson entgegenzueilen. Inzwischen hatte die Königin ihre Zärtlichkeit gegen mich verdoppelt und mir ihre geheimsten Gedanken mitgeteilt. Marie Karoline verhehlte es sich nicht, daß die Feste, die sie dem Sieger am Nil zu Ehren geben wollte, einen Krieg mit Frankreich nach sich ziehen würden, und trotzdem, daß Frankreichs Kräfte durch den Verlust seiner Flotte und den von 30 000 Mann, die mit Bonaparte in Egypten eingeschlossen waren, vollständig erschöpft waren, war es doch nichtsdestoweniger ein Feind, den man fürchten, ja schonen mußte.
Daher mußte der Hof von Neapel um jeden Preis Nelson und hinter diesem England für sich gewinnen. Nun aber rechnete die Königin, um Nelson zu gewinnen, auf mich. Die stolze Marie Karoline bat die englische Gesandtin, wie die arme Amy Strong die bescheidene Emma gebeten hatte. Sollte ich weniger für eine Königin tun, als ich für eine kleine Bäuerin getan? Mein Leben hatte mit der Verführung des Admirals John Payne begonnen, und sollte mit der Verführung des Admirals Horatio Nelson enden. Ich bewunderte Nelson, ich liebte ihn aber noch nicht; meine Liebe zu ihm entstand erst durch seine große Liebe zu mir. Die bis zum Übermaß gesteigerten Gefühle sind auch ansteckend. Ich versprach der Königin, zu tun, was in meinen Kräften stände, sagte ihr aber, daß Sir William uns hindernd im Wege stehen würde. Karoline lachte. »Sir William,« sagte sie, »ist ein viel zu guter Engländer, als daß er den Sieger vom Nil nicht auch belohnen sollte. Überdies braucht er gar nicht gefragt zu werden. Wenn ich Nelson liebte, so würde ich mir gewiß nicht die Mühe nehmen, den König über das um Rat zu fragen, was mir zu tun beliebte.« – »Majestät,« erwiderte ich, »der König Ferdinand war Kronprinz und Sie waren Erzherzogin von Österreich, Sie haben ihm eine eben so große, ja größere Mitgift gebracht, als er Ihnen. Das war jedoch nicht mit Sir William und mir der Fall. Wer war ich denn, als er mich heiratete? Die Maitresse seines Neffen. Wer war ich vorher, ehe ich die Maitresse seines Neffen war? Er hat es vergessen, Madame, und ich möchte ihn nicht gerne wieder daran erinnern.« Die Königin legte mir die Hand auf den Mund. »Wir werden schon alles gut einzurichten wissen,« sagte sie. »Derjenige, der etwas anderes als dein Glück wollte, würde mein größter Feind sein. Bedenke doch, ob ich dich unglücklich machen wollte!« Ich ward nachdenklich, denn ich fühlte deutlich, daß sich mir eines jener Ereignisse näherte, die auf das ganze Leben Einfluß ausüben.
Am 22. September wurden wir früh um sechs Uhr benachrichtigt, daß zwei oder drei große Schiffe von den Wachen signalisiert worden seien, und daß das eine dieser Schiffe die Admiralsflagge trüge. Seit fünf oder sechs Tagen war der König in Erwartung der Festlichkeiten nicht auf die Jagd gegangen, was ihm tiefe Seufzer kostete, denen die Königin aber durchaus keine Beachtung schenkte. Sogleich ward Befehl gegeben, daß jeder auf dem ihm angewiesenen Posten sein sollte, die Geistlichen aller Kirchspiele wurden benachrichtigt, ihre Glocken zum Läuten bereitzuhalten, die Kommandanten aller Forts mußten die Kanonen laden lassen, denn man hatte sich vorgenommen, Nelson einen königlichen Empfang zu bereiten. Der Admiral Caracciolo sollte die Führung der kleinen Flottille übernehmen, die Nelson entgegensegeln sollte. Natürlich befehligte er die Hauptbarke, welche der König und die Königin besteigen wollten. Um daher zu jeder Stunde am Tage oder in der Nacht bereit zu sein, blieb er seit der Ankunft des »Culloden« und »Alexander« fortwährend an Bord der Hauptbarke. Die Königin hatte Sir William Hamilton, in seiner Eigenschaft als englischer Gesandter – und vielleicht auch aus anderen Gründen, die sie nicht nannte – die Ehre, Nelsons Wirt zu sein, überlassen und besonders an dem Tage seiner Ankunft sollte er uns ganz gehören. Sir William hatte große Vorbereitungen getroffen und ich hatte mit großer Freude, ja mit großem Stolze meine Sorgfalt den Vorbereitungen gewidmet, die von dem Auge einer Frau geleitet und von ihrem Geschmack geordnet werden müssen. Wie fast stets hatte ich die Nacht im Palais zugebracht, denn nur selten ließ mich die Königin in das Gesandtschaftshotel zurückkehren. Sir William allein hatte das Recht, sich darüber zu beklagen, und er beklagte sich nicht. Sir William war zu dieser Zeit beinahe siebenundsechzig Jahre alt. Die Königin, welche wünschte, daß ich schöner als je aussehen sollte, entwarf die großartigsten Pläne in bezug auf meine Toilette; mein Entschluß aber stand fest. Ich wollte kein anderes Kostüm, als das, in welchem Romney mich gemalt hatte, als wir, Sir William und ich, nach London zurückgekehrt waren, um unsere Vermählung sanktionieren zu lassen. Dieses Kostüm bestand bekanntlich aus einem langen weißen Kaschmirgewande in Form einer griechischen Tunika, welches in der Taille von einem roten, goldgestickten Maroquingürtel zusammengehalten ward, den eine Agraffe, eine Kamee, die nichts anderes als das Porträt Sir Williams war, schloß. Mein Haar, für welches ich stets allen Schmuck verschmäht habe, sollte ungepudert auf meine Schultern herabwallen und ich wollte mich in einen großen roten indischen Shawl, der mit Blumen gestickt war, hüllen. Dieser Shawl hatte mir oft bei der Königin und in unseren vertrauten Zirkeln bei dem von mir erfundenen Shawltanz gedient, den seitdem alle Tänzerinnen nachgeahmt. Die Königin machte dagegen eine königliche Toilette und war über und über mit Diamanten bedeckt. Auch der König war in großer Toilette und mit seinen Hausorden von Spanien, Frankreich und Österreich geschmückt.
Um acht Uhr waren alle bereit. Wir gingen die Arsenaltreppe hinab nach dem Kriegshafen. Die Hauptbarke erwartete uns; Caracciolo in großer Galaadmiraluniform stand auf seiner Quartierbank. Kaum befanden sich der König und die Königin an Bord, als von allen Seiten die Kanonen der Kastelle donnerten und die Glocken der dreihundert Kirchen von Neapel zu läuten begannen. Die Stadt bot mit ihren von Rauch umwölkten und von Blitzen erleuchteten Türmen ein majestätisches Schauspiel dar. Die Barke stieß vom Lande, sie war nach dem Muster der alten römischen Galeeren gebaut. Sir William hatte die Zeichnung dazu geliefert und er behauptete, daß dieselbe genau nach der Galeere gefertigt worden sei, in welcher Kleopatra dem Antonius entgegengesegelt. Die Königin sagte lachend, daß dies eine Anspielung des englischen Gesandten sei, und daß er nichts dagegen haben würde, wenn die neue Kleopatra in ihrer Liebe zu einem andern Antonius ihre Ähnlichkeit mit der Königin von Egypten noch weiter verfolgte. Die ganze Flottille setzte sich in Bewegung und die Hauptgaleere mit ihren vierzig Ruderern führte den Zug an. Dieser Golf, dessen azurnes Blau an Tiefe und Klarheit mit dem Azur des Himmels wetteifert, bot an dem schönen, lichtvollen Septembermorgen mit den zwölf oder fünfzehn Barken, die an Schönheit und Eleganz einander zu übertreffen suchten, die mit purpurnen Zelten, wehenden Flaggen und Blumen geschmückt waren, und deren jede eine balsamische Spur zurückließ, einen herrlichen Anblick dar. Die ganze Flottille setzte sich unter dem Läuten der Glocken, dem Donner der Kanonen und dem Beifallsrufen der unzähligen Menschenmenge von Neapel, die auf dem Molo und auf den Kais sich drängte, mit den Taschentüchern wehte, die Mützen in die Luft warf und wie toll rief: »Es lebe der König! Es lebe Nelson! Nieder mit den Franzosen!« in Bewegung. Die Königin biß sich mit gehässigem Lächeln auf die Lippen, denn nicht ein einzigesmal hörte man den Ruf: »Es lebe die Königin!« Übrigens waren wir bald so weit von der Stadt entfernt, daß wir das Rufen nicht mehr hören konnten, nur noch das Geläute der Glocken und der Donner der Kanonen drang zu uns.
Sobald wir den Hafen verlassen, hatten wir am Horizonte das Schiff bemerkt, dem wir entgegenfuhren. Der Wind trieb es uns entgegen, so daß mir ihm nicht hätten entgegenfahren können, wenn wir aus Mangel an Rudern hätten segeln müssen. So geschah es denn, daß sich durch dieses gleichzeitige Entgegenkommen zweier Flotten die Entfernung zwischen beiden schnell verminderte. Das Schiff, welches uns am nächsten war, trug, wie die Wachen gesagt hatten, an seinem Hauptmast die Admiralsflagge, und überdies erkannte der Admiral Caracciolo mit dem unfehlbaren Auge eines Seemanns den »Vanguard«. Ohne Zweifel hatte Nelson seinerseits, trotz der großen Entfernung, die kleine Flottille entdeckt und erkannt, denn da er erriet, daß sie zu ihm und seinetwegen kam, so ließ er einen Kanonenschuß abfeuern, von dem wir lange schon den Rauch sahen, ehe wir den Knall hörten, und einer Flamme gleich ward an der Mastspitze das rote englische Banner aufgehißt. Wir konnten die Schüsse vom »Vanguard« nicht erwidern, da wir keine Artillerie an Bord hatten, sogleich aber ließ unser Musikkorps unter der Leitung von Dominico Cimarosa die fröhlichsten Fanfaren ertönen, und mir für meinen Teil gefiel es besser, Nelson auf diese Weise meine Huldigungen darzubringen, als ihn mit dem rauhen Donner der Kanonen zu begrüßen. Nicht ohne heftige Aufregung fühlte ich mich zu dem Helden hingezogen, von dem ich wußte, daß er mich bis zum Wahnsinn liebte. Noch hatte kein Gefühl in meinem Herzen eine so entschiedene Gestalt angenommen, als daß ich selbst wissen sollte, welche Empfindungen mich bei seinem Anblick bewegten, nur fühlte ich an dem Schauder, der meinen ganzen Körper durchrieselte, und an der wechselnden Röte und Blässe meines Gesichts, daß diese Empfindungen sehr heftige sein würden. Der »Vanguard« hatte das Kap Campanella und wir Torre del Greco passiert; wir waren kaum noch drei Meilen voneinander entfernt und in einer Viertelstunde oder in zwanzig Minuten befanden sich die Hauptbarke und der »Vanguard« vielleicht einander dicht gegenüber. Die Königin sah meine Unruhe und da ich, wie gewöhnlich, zu ihren Füßen saß, so neigte sie sich an mein Ohr und flüsterte: »Mut, du Törichte! Denke an Amy Strong, den Admiral Payne und den Matrosen Richard. Nur bittet dich jetzt nicht Amy Strong, sondern die Königin von Neapel. Wir eilen auch nicht dem Admiral Payne entgegen, sondern dem Admiral Horatio Nelson und endlich handelt es sich nicht um die Rettung eines armen Matrosen, sondern um die eines ganzen Königreiches.« – »O Madame,« erwiderte ich, »eben das erschreckt mich. Wenn der Zweck kein so großer wäre, so würde auch meine Angst geringer sein; nie aber habe ich daran gedacht, daß man mir eines Morgens sagen würde: ›Das Heil eines Königreiches hängt von dir ab‹, so daß ich in dem Augenblicke, wo mir diese ernste Mission zuerteilt wird, zögere und nicht die Kraft zur Erfüllung derselben in mir fühle.«
Die Königin faßte meine Hand und drückte dieselbe, als ob sie mir ihre Kraft durch eine Art magnetischer Leitung mitteilen wollte. Und wirklich fühlte ich mich gestärkt, ja beinahe begeistert, so lange sie meine Hand hielt. Wir ruderten so fort und befanden uns endlich dem »Vanguard« dicht gegenüber. Ich sah und hörte nicht mehr, ich befand mich fast in einem ebensolchen Zustande, wie dem, in den mich Doktor Graham während der Ausstellung auf dem Apollobett zu versetzen wußte. Ich verstand, daß die Königin mich aufforderte, mich zu erheben; ich fühlte, daß sie mich nach der Schiffstreppe schob. Mechanisch und ohne zu bemerken, daß ich voranging, was doch gegen alle Etikette war, faßte ich das Geländer und stieg hinauf. Oben an der Treppe wartete Nelson mit gezogenem Hute. Hier gewann ich das Leben wieder, hier befand ich mich wieder dem Manne gegenüber, den ich seit seiner Reise von Toulon nach Neapel nicht gesehen. Seitdem hatte er ein Auge und einen Arm verloren, eine schwarze Binde bedeckte seine Stirn und verbarg seine letzte Wunde. Ich sah diese ganze Gesamtheit von Verstümmelungen, ein unermeßliches Gefühl des Mitleids bemächtigte sich meiner, ich kannte nur eine Belohnung, die des Helden würdig war, der vor mir stand, ich breitete die Arme aus und sank an sein Herz, indem ich ausrief: »O mein Gott, ist es möglich! – Teurer großer Nelson!« Ich war nahe daran, ohnmächtig zu werden, zum Glück aber stürzten Ströme von Tränen aus meinen Augen und Schluchzen erleichterte mein Herz, sonst wäre ich erstickt. Von diesem Augenblicke an gehörte ich Nelson so vollständig an, als wenn er mich bereits besessen hätte. Das war mehr als Resignation, mehr als Hingabe, mehr als Liebe, es war Verhängnis!
Der König und die Königin bestiegen nach mir den »Vanguard« und fanden mich in dem bereits geschilderten Zustande an Nelsons Brust, von seinem einzigen Arm gestützt. Sein Hut war auf das Deck gefallen und in der Ekstase seines Glückes blickte er mit rückwärtsgeneigtem Haupte gen Himmel. Endlich brachten ihn die Hurras der auf den Raaen stehenden Matrosen wieder zu sich; er wendete den Blick wieder der Erde zu und sah nun, was um ihn her vorging. Um ihn herum standen der König, die Königin, die Minister und die Höflinge, die alle gekommen waren, um dem Helden von Abukir zu huldigen, wie sie dem Siegesgotte selbst gehuldigt haben würden. Der König hielt einen prachtvollen Degen in der Hand, der reich mit Diamanten besetzt war und der einen materiellen Wert von fünftausend Pfund Sterling hatte, jedoch außerdem noch von unberechenbarem historischen Werte war. Es war dies nämlich der Degen, den Ludwig der Vierzehnte Philipp dem Fünftem bei seiner Abreise nach Spanien gegeben hatte und den dieser wieder seinem Sohne schenkte, als dieser nach Neapel ging. Als der König Philipp der Fünfte den Degen seinem Sohne Don Carlos gab, sagte er: »Dieser Degen gehört dem Eroberer des Königreichs Neapel,« und als Don Carlos ihn seinem Sohne vermachte, hatte er gesagt: »Dieser Degen gehört dem Verteidiger des Reiches, das ich dir erobert habe.« Ferdinand betrachtete jetzt Nelson als den Erretter des Königreiches und gab ihm das prachtvolle Erbstück, das von seinem Großvater und seinem Vater auf ihn gekommen war. Die Königin überreichte ihrerseits dem verstümmelten Helden das Patent eines Herzogs von Bronte. Es war dies eine feine Schmeichelei, da Bronte einer der drei Zyklopen war, die den Donner schmieden, und die Königin nannte ihn in Wirklichkeit auch den Herzog vom Donner. Mit dieser Herzogswürde war ein Einkommen von dreitausend Pfund Sterling verbunden. Außerdem teilte der König Nelson mit, daß er die Absicht habe, einen militärischen Verdienstorden zum heiligen Ferdinand zu stiften, und versprach ihm den ersten Grad dieses Ordens, der nach den Familienpatenten verteilt werden würde. Damit die vornehmen Gäste bequem an Bord steigen könnten, hatte der »Vanguard« beigelegt. Ich glaubte, daß es für Nelson die angenehmste Schmeichelei sein müßte, wenn wir ihn bäten, uns die Narben seines Schiffes, das nicht weniger verstümmelt war, als er, zu zeigen. Denn dadurch ward er genötigt, uns die Schlacht zu erzählen und demnach auch von sich zu sprechen. Natürlich begannen wir mit der Kajüte des Admirals. Kaum hatten wir dieselbe betreten, als ein kleiner Vogel, eine Art Feigenschnepfe, zum Fenster hereinflog und sich auf Nelsons Schulter setzte. Eben wollte ich, erstaunt über die Zutraulichkeit dieses neuen Gastes, Nelson fragen, als dieser einen Freudenschrei ausstieß.
»O,« sagte er, »sei mir willkommen, und heute mehr denn je, mein reizender Begleiter!« Und er nahm den kleinen Vogel in die Hand, küßte ihn und reichte ihn mir zum Kusse, worauf er ihn wieder auf seine Schulter setzte, wo er ganz ruhig sitzen blieb, ohne sich durch unsere Gegenwart stören zu lassen. Was Nelson soeben gesagt, erregte den lebhaften Wunsch in mir, etwas Näheres über das reizende kleine Tier zu erfahren, welches gekommen zu sein schien, um dem Sieger vom Nil seine Glückwünsche darzubringen. Dieselbe Neugierde bemerkte ich auch in den Augen der Königin, des Königs und in denen aller Umstehenden. »So hören Sie denn, was ich Ihnen sagen werde,« hob Nelson an, »und halten Sie es nicht für ein Weihnachtsmärchen. Dieser kleine Vogel ist mein guter Genius!« – »Inwiefern, Mylord?« fragte ich. – »Die Alten kämpften nicht, ohne die Wahrsager zu befragen, versichert man uns. Auch ich sollte nie kämpfen, ohne meinen kleinen Vogel zu befragen, denn er ist mein Prophet.« – »O erzählen Sie uns die Geschichte, Mylord!« sagte die Königin. – »Ich weiß wirklich nicht, ob es der Mühe wert ist, eine solche Kinderei Euer Majestät zu erzählen,« sagte Nelson. – »O ja, ja,« riefen wir, die Königin und ich, gleichzeitig. – »Nun, Madame, nun, Mylady, in was für einem Lande der Erde ich mich auch befinde, so kommt stets, wenn mir ein Glück bevorsteht, ein solcher Vogel – ich will nicht behaupten, daß es stets derselbe ist – und setzt sich auf meine Schulter. Wenn mir jedoch ein Unglück bevorsteht, so verschwindet er. Zum ersten Male sah ich ihn in Nordamerika und zwar in Kanada. Von vier französischen Fregatten verfolgt, wußte ich keinen anderen Ausweg, als eine bis dahin für unzugänglich gehaltene Durchfahrt zu passieren. Der Vogel setzte sich auf meine Schulter. Ich lenkte meine Brigg durch die Felsen und kam glücklich durch. Hierauf flog der Vogel fort. . . . Vor fünf Jahren kam ich von Toulon nach Neapel. Ich kreuzte den Kanal von Ischia, stand auf dem Deck und der Vogel setzte sich auf meine Schulter. Am folgenden Morgen hatte Seine Majestät der König die Gnade, mich wie einen Freund zu empfangen und Sir William nahm mich auf wie einen Sohn. Die Königin reichte mir die Hand zum Kusse, und Sie, Mylady, sagten zu mir: ›Dieses Haus ist das Ihrige,‹ indem Sie mir ein Zimmer im Gesandtschaftshotel zur Verfügung stellten. . . . Bei der Belagerung von Calvi, wo ich ein Auge verlor, und bei der Belagerung von Teneriffa, wo ich einen Arm verlor, habe ich meinen kleinen Propheten nicht gesehen. Am Morgen von Abukir aber setzte er sich wieder auf meine Schulter, und jetzt ist er abermals da. Er ist zugleich mit Ihnen in die Kajüte gekommen. So kann ich diesen Vogel denn mit Recht meinen guten Genius nennen. Wenn ich ihn am Vorabend einer Schlacht nicht wiedersehe, so werde ich mein Testament machen, denn der nächste Tag wird dann wahrscheinlich mein letzter sein. . . . Verzeihen Sie aber, daß ich Ihnen eine solche Torheit erzählt habe! Sie wissen ja, Madame, daß die Seeleute ihren Aberglauben haben; mein lieber, kleiner Vogel ist mein Aberglaube, und mehr als je werde ich von nun an daran festhalten.«
»Und niemals hat er sich auf die Schultern eines andern, als auf die Ihrigen gesetzt?« fragte ich Nelson. – »Niemals.« – »Niemals hat er sich von einer andern Hand als der Ihrigen angreifen lassen?« – »Niemals – Sie müßten es aber versuchen.« Ich streckte die Hand aus, der Vogel ließ sich fassen. Ich weiß nicht, warum ich so erfreut war, etwas mit diesem Helden gemein zu haben. Ich ließ den Vogel los und er setzte sich wieder auf Nelsons Schulter. »Ah, Madame,« sagte ich zur Königin, »versuchen Sie es doch auch einmal.« – Die Königin streckte die Hand aus, der Vogel tat jedoch einen leisen Schreckensruf, flog nach dem Fenster und verschwand. Nelson hielt meine Hand und drückte sie. Ich konnte nicht umhin, diesen Druck zu erwidern.
Dieser Zwischenfall, an den ich seitdem so oft gedacht habe, lenkte uns eine Zeitlang von dem begonnenen Besuche ab, dann aber setzten wir denselben fort. Wenn man die Kugellöcher zählte, welche sich in dem »Vanguard« befanden, so fragte man sich, wie es möglich gewesen, daß das Schiff nicht gesunken und die ganze Mannschaft vom ersten bis zum letzten Mann getötet worden war.
Es war ein Uhr. Um nach Neapel zurückzukehren, brauchte man wenigstens zwei und eine halbe Stunde, und dann mußten wir auch das Te Deum anhören. Sir William, der ein Diner bestellt hatte, welches eines Apicius würdig gewesen wäre, fürchtete für dasselbe und sagte dem Könige, daß man, wenn man noch länger auf dem »Vanguard« verweile, Gefahr liefe, entweder alles kalt oder verbrannt essen zu müssen. Der König Ferdinand war für dergleichen Bemerkungen sehr empfänglich. Er sprach daher mit der Königin und diese lud Nelson ein, mit an Bord der Hauptbarke zu kommen. Jetzt war der Admiral Caracciolo an der Reihe, die Honneurs auf der Barke zu machen. Er stellte sich unten an die Treppe des »Vanguard« und empfing zuerst den König, die Königin und mich, dann den Kronprinzen und seine Schwester, vor der man mir fast immer mit oder ohne Absicht den Vortritt ließ, dann die Minister, die Gesandten, die hohen Offiziere, kurz alle, die mit der Hauptbarke gekommen waren, und dann Nelson. Die Begrüßung der beiden Admiräle war auf beiden Seiten kurz und kalt. Überdies sprach Caracciolo auch nicht englisch, ebensowenig wie Nelson italienisch. Er sagte seinem Kollegen ein Kompliment in bezug auf die Schlacht am Nil und da Nelson nicht antworten konnte, so lächelte und grüßte er nur. Man steuerte auf Neapel zu. Caracciolo begab sich wieder auf seine Quartierbank. Die Königin ließ Nelson zwischen sich und mir Platz nehmen.
Kaum hatte man von den Kastellen aus gesehen, daß die Flottille sich vom »Vanguard« trennte und wieder den Weg nach Neapel einschlug, so fingen auch die Kanonen wieder zu donnern und die Glocken zu läuten an. In dem Augenblicke, wo Nelson den Fuß auf die Galeere setzte, hatte die Musik auf ein Zeichen das prächtige Lied: »God save the King« angestimmt, welches Ludwig der Vierzehnte zu Ehren Jakobs des Zweiten, der als Verbannter in Saint-Germain lebte, von Lully hatte komponieren lassen. Nelson, der einfache Sohn eines Pfarrers von Burnham-Thorpe, der nie an den Hof gekommen und höchstwahrscheinlich nie mit einem König, einer Königin, ja nicht einmal mit einem Fürsten gesprochen hatte, war berauscht, ja beinahe wahnsinnig. Meine Augen, die ihm das Interesse, welches ich für ihn empfand, nicht verbargen, brachten ihn vollends um die Besinnung. Diese Rückkehr nach Neapel schien eine Auferstehung der antiken Gebräuche, die zu der Zeit herrschten, als Miltiades oder Themistokles als Sieger in Athen einzogen. Noch mehr aber war dies der Fall, als man sich dem Ufer näherte, als Nelson den Molo, die Kais, die Plattformen der Türme, die Terrassen der Häuser mit Menschen bedeckt sah, als er die Beifallsrufe, die Vivats, die Hurras der Menge hörte, als die Artillerie die Salven und die Glocken ihr fröhliches Geläute verdoppelten, kurz, als ganz Neapel, diese zu allen Zeiten so geräuschvolle Stadt, die verschiedenartigen Geräusche, welche stets bei besonderen Gelegenheiten der Ausdruck der Freude oder des Zornes von fünfhunderttausend Einwohnern sind, verdrei-, vervier-, ja verfünffachte.
Noch sehr von seiner letzten Wunde angegriffen, erblaßte er mehrere Male sichtlich und schien nahe daran, ohnmächtig zu werden.
Ehe ich die Barke verließ, lud ich, auf die Bitte der Königin, den Admiral Caracciolo ein, mit an dem Feste teilzunehmen, welches seinem Kollegen, dem englischen Admiral Nelson, zu Ehren gegeben werden sollte. Mochte uns nun aber der neapolitanische Fürst für zu schlechte Gesellschaft für sich halten, oder mochte seine Entschuldigung eine wirklich begründete sein, kurz, er erwiderte mir mit großer Höflichkeit, daß er, da die Nacht stürmisch zu werden drohte, und der Hafen von nur mäßiger Sicherheit wäre, das Ankern der englischen Schiffe, die, da sie schon im Kampfe sehr gelitten, vielleicht einem Sturme nicht mehr würden widerstehen können, selbst überwachen wolle. Mochte diese Entschuldigung nun gut oder schlecht sein, ich nahm sie an; da aber seine Schwester und seine Nichte Cäcilia zu dem Ball eingeladen waren, welcher auf das Diner folgen sollte, so sagte ich Caracciolo, daß ich wenigstens hoffte, das Vergnügen der Gesellschaft der beiden Damen zu genießen. Er antwortete mir jedoch mit derselben Höflichkeit, aber auch mit derselben Kälte, daß seine Schwester schon seit drei Tagen so unpäßlich sei, daß sie das Zimmer nicht verlassen dürfe, und daß sie daher, zu ihrem großen Bedauern, meiner Einladung nicht Folge leisten könnte. Die erste Entschuldigung hatte ich ruhig und lächelnd hingenommen, bei der zweiten abschlägigen Antwort aber konnte ich mich einer ungeduldigen Bewegung nicht enthalten. Die Königin bemerkte es und näherte sich uns. »Der Fürst Caracciolo,« sagte sie, »ist ein zu fein gebildeter Edelmann, als daß er dir eine unhöfliche Antwort hätte geben können, liebe Emma, und dennoch scheint es, deinem Gesicht nach zu urteilen, als ob du dich über ihn beklagen müßtest.« Anstatt sich zu beeilen eine Antwort zu geben und sich zu rechtfertigen, ließ der Admiral mir Zeit, das Wort zu ergreifen. »Nein, Madame,« erwiderte ich, »nicht über den Admiral, sondern über mein Verhängnis muß ich mich beklagen.« – »Du weißt, liebe Emma, daß ich die Rätsel nicht liebe, daher erkläre dich!« sagte die Königin in dem Tone, der bei ihr stets den Beginn eines Sturmes andeutete. – »Gewiß, Madame, das Verhängnis will, daß wir des Vergnügens beraubt werden, Seine Exzellenz zu empfangen, da das jetzt so herrliche Wetter diese Nacht stürmisch zu werden droht. Und ein nicht minder grausames Geschick hat es gewollt, daß die Schwester des Herren Admirals noch an demselben Tage, wo sie unsere Einladung erhalten, von einer so ernsten Unpäßlichkeit befallen worden ist, daß sie das Zimmer hüten muß, wodurch die reizende Cäcilia genötigt worden ist, als gute Tochter bei ihrer Mutter zu bleiben. So kommt es denn, daß durch dieses doppelte Verhängnis die Festlichkeiten, die man dem einen Admiral zu Ehren gibt, und zwar einem Admiral, welcher die Franzosen besiegt hat, vorübergehen werden, ohne daß wir zu seiner Ehre nur eine einzige Person aus der Familie des berühmten Admirals Caracciolo bei uns sehen können, und ohne daß der Herr Admiral selbst im Namen der neapolitanischen Marine einen Toast auf die englische Marine ausbringen kann.«
Die Königin ward sehr bleich und runzelte die Stirn. »Nehmen Sie sich in acht, mein Herr Admiral!« sagte sie, »diejenigen, welche gute oder schlechte Entschuldigungen gefunden haben, um nicht den Festen beiwohnen zu müssen, welche die Gemahlin des englischen Gesandten gibt, werden auch nicht zu den Festen eingeladen werden, welche die Königin von Neapel geben wird.« – »Madame,« sagte Caracciolo, ohne sich zu rühren, »die Krankheit meiner armen Schwester ist mit solcher Heftigkeit aufgetreten, daß ich, selbst wenn diese Festlichkeiten einen Monat dauern sollten, daran zweifle, daß meine Schwester selbst in einem Monat soweit wieder hergestellt sein würde, um an diesen Festen teilnehmen zu können.« Jetzt ward der König ungeduldig, weil er nicht wußte, was der Gegenstand dieser langen Unterredung mit seinem Admiral war, und Nelson, welcher sah, daß ich rot vor Scham und die Königin bleich vor Zorn war, kam unruhig auf uns zu. Die Königin, welche Nelson jede Erklärung, die ihn hätte verwunden können, ersparen und mich jeder Demütigung, die mich in seinen Augen hätte herabsetzen können, entziehen wollte, zog mich schnell mit fort, indem sie sagte: »Komm, Emma, komm! Die Gesundheit der Schwester des Fürsten liegt uns so am Herzen, daß wir uns jeden Tag nach ihrem Befinden erkundigen lassen, bis wir wissen, daß es ihr besser geht.« – »Das ist eine Aufmerksamkeit, welche meine Schwester um so höher schätzen wird,« erwiderte der Fürst, »da sie in dem Umstand, daß sie nicht weiß, womit sie dieselbe verdient hat, eine ganz besondere Gunst Euer Majestät sehen wird.« – Der Admiral sprach diese letzten Worte mit so ehrfurchtsvoller Höflichkeit, daß die Königin, die nicht leicht das letzte Wort von einem Gegner, mochte dieser sein wer er wollte, annahm, keine Antwort darauf fand und sich entfernte, indem sie mich mit fortzog. Ich gestehe, daß ich ihr mit Tränen in den Augen und mit durchbohrtem Herzen folgte. Wie jene römischen Triumphatoren inmitten ihres Triumphes die Stimme des Sklaven hören mußten, der ihnen zurief, daß sie sterblich wären, rief auch mir inmitten meines Triumphes eine Stimme zu: »Favoritin der Königin! Gemahlin des englischen Gesandten! Mylady Hamilton! Denke an das Apollobett und das Trottoir von Haymarket!« Man wartete nur noch auf die Königin, ehe man landete. Obgleich ich mich auf ihren Arm, anstatt daß sie sich auf den meinigen stützte, was doch das Zeichen der größten Gunst war, schritt ich mit gesenktem Haupte durch die Reihen der Höflinge, die mich beneideten. Ich hatte ein Lächeln auf den Lippen und den Tod im Herzen! Niemals hatte ich gehaßt, nie gewünscht, mich an jemanden zu rächen, von diesem Augenblicke an aber fühlte ich, daß Haß und der Wunsch, mich zu rächen, wie eine doppelte Schlange sich in mein Herz schlichen.
Endlich stieg man ans Land. Die königlichen Equipagen und die Wagen der Gesandtschaft warteten am Arsenal. In den ersten Wagen stieg der Admiral Nelson mit dem König, der Königin und mir, der Kronprinz und die Kronprinzessin stiegen mit Sir William in den zweiten. In die anderen Wagen konnte sich jeder setzen, wer da wollte, was jedoch auch erst nach einigen Zeremonien und Etikettestreitigkeiten geschah. Die Kutscher hatten Befehl erhalten, nach der St. Klarakirche zu fahren, wo das Te Deum von dem Kardinal-Erzbischof von Neapel, Capece Zurlo, gesungen werden und wobei ihn der Kardinal Fabrizzio Ruffo, von dem zu sprechen ich bereits Gelegenheit gehabt habe und der, ohne daß noch sonst jemand es vermutete, sich der Epoche näherte, in der er eine so große politische Rolle spielte, unterstützen sollte. Den Befehl jedoch, nach der Klarakirche zu fahren, konnten die Herren leichter geben, als die Diener ihn befolgen, denn die Straßen waren so mit Menschen überfüllt und die Wagen so dicht von einer unglaublichen Menschenmenge umringt, daß sie vom Meer umtosten Schaluppen glichen, die von den Wogen geschüttelt werden. So unbeliebt die Königin war, so beliebt war dagegen der König. Niemals stand, wenn er ausging, eine Truppe, ein Gendarm, eine Garde trennend zwischen ihm und dem Volke. Der letzte Lazzarone konnte zu ihm, ihn berühren, mit ihm sprechen, sich nach seinem Befinden erkundigen, ihn fragen, wann er seine Fische in Mergellina verkaufen, oder seine Makkaroni im Theater San Carlo essen würde, und wie man leicht begreifen wird, benutzen diese zutraulichen Menschen diese Erlaubnis in ihrer ganzen Ausdehnung. So war es nicht selten, daß der König bei Feierlichkeiten wie die heutigen drei bis vier Lazzaroni auf dem Kutscherbock, ebensoviel auf dem Bediententritt bei den Lakaien und ebensoviel wie Pagen auf den Tritten an den Schlägen des Wagens stehen hatte.
Nelson konnte sich darüber nicht genug verwundern, und da er an die majestätische Würde der Herrscher Großbritanniens, wie an den ruhigen und kalten Enthusiasmus des Volkes in London gewöhnt war, so machten diese lärmenden Gefühlsexplosionen der Südländer ihn schwindlig. Übrigens nahmen der König und die Königin in seinen Gedanken, besonders aber in seinem Herzen jetzt nur den zweiten Platz ein. Da er der Königin und ich dem König gegenüber saß, so hatte er sich meiner rechten Hand bemächtigt und drückte dieselbe unter fieberhaften Zuckungen, welche die Unruhe seiner Seele verrieten und mir sagten, was für stürmische Gefühle das Blut nach seinem Herzen trieben. Wir brachten gewiß eine Stunde zu, ehe wir vom Kai bis in die Klarakirche gelangten. Dann dauerte das Te Deum ungefähr eine halbe, und die Rückfahrt drei Viertelstunden. Endlich erreichten wir das englische Gesandtschaftshotel und es ward hohe Zeit, denn ich war vor Ermattung, Aufregung, hauptsächlich aber vor Zorn wie zerschlagen. Das ungeheure Portal des Palais Calabrito war in einen Triumphbogen verwandelt worden, an dessen beiden Seiten sich Masten mit Bannern erhoben, deren jedes Nelsons Namen trug. Bis zur ersten Etage glich die Treppe einer Laube aus Lorbeeren und Blumen. Ein Diner von achtzig Kuverts war in der Gemäldegalerie, serviert worden. Beim Dessert spielten die hundertundzwanzig Musiker des Theaterorchesters die Melodie des Liedes: ›God save the king‹, wozu eine wundervolle Stimme die eingelegten Couplets sang.
Das letzte derselben war Nelson zu Ehren gedichtet worden und lautete folgendermaßen,
»Drum Heil Dir, starker Held,
Dich preist die ganze Welt,
Zu Frankreichs Spott,
Egyptens Wüstensand
Singt, wie das stolze Land,
Wo deine Wiege stand:
Dich segne Gott!«
Man wird begreifen, mit welchem Enthusiasmus dieser Vers aufgenommen ward. Der König, die Königin, der Kronprinz, wie alle Gäste hörten ihn stehend an, und der Ruf: »Es lebe Nelson! Es lebe der Sieger vom Nil! Es lebe der Retter Italiens!« ertönte zuerst von den Lippen der königlichen Familie und ward hierauf von allen Gästen wiederholt. Wie hätte ich von allen diesen Lobeserhebungen, diesen Huldigungen und Schmeicheleien nicht berauscht werden sollen? Nein! Ich bekenne es laut, ich konnte, da ich von der Königin dazu getrieben, ja von Sir Williams Schweigen fast dazu berechtigt ward und er nichts tat, um mich zu stützen, einen solchen Fall nicht vermeiden; keine Frau hätte an meiner Stelle widerstehen können.
Dann hat man auch gesagt, daß ich mich gleich vom ersten Tage, ja vom ersten Augenblicke an, wo ich Nelson gesehen, ihm hingegeben hätte. Dies ist eine der vielen Verleumdungen, die man in bezug auf mich verbreitet hat. Unglücklicherweise konnte auch meine Vergangenheit mich durchaus nicht gegen die verteidigen, die mir übel wollten! In Wirklichkeit aber geschah es erst nach sechs Monaten, daß ich Nelson, der fern von mir war, in einem Briefe zu wissen tat, daß ich seine Liebe erwidern könnte. Und zum Beweis dessen, was ich hier sage, führe ich den folgenden Brief Nelsons an. Er ist vom 24. Oktober 1798, also einen Monat nach seinem Einzug in Neapel, datiert und wird beweisen, daß zu dieser Zeit noch durchaus keine engeren Beziehungen zwischen uns bestanden.
»Vanguard, Malta.
»Teure Lady!
So wären wir denn nach einer langen Reise angekommen. Es ist alles, wie ich vermutet hatte. Die Minister von Neapel wissen gar nicht, in welchem Zustand die Insel sich befindet. Weder ein Haus noch eine Bastei von Malta ist im Besitz der Inselbewohner, und der Marquis von Nizza hat mir gesagt, daß es ihnen sicher an Munition, Waffen, Lebensmitteln, kurz an Beistand aller Art fehle. Er weiß nicht, ob neapolitanische Offiziere auf der Insel sind, und obgleich ich ein Verzeichnis ihrer Namen habe, so sind sie doch nicht angekommen. Was der Marquis von Nizza bestätigt hat und was ganz gewiß ist, ist der Umstand, daß die Gouverneurs von Messina und Syracus auch nicht die geringste Hilfe geschickt haben. Ich will jedoch alles wissen. Sobald der Marquis morgen früh abgereist sein wird, werde ich mich nach allem erkundigen. Er sagt mir, daß er sehr wünscht, unter meinem Kommando zu dienen. Von dem Augenblicke an, wo er einwilligt, das Schiff zu wechseln, werde ich es glauben. Wir werden übrigens sehen, wie er sich unter unsere Zucht beugen wird. Nach meiner Abreise wird Ball die Blockade leiten. Ich sage nach meiner Abreise, im Fall es am Hof des Königreiches beider Sizilien scheint, als ob meine Gegenwart zu Anfang November in Neapel nötig sei. Ich hoffe, daß dies der Fall sein wird, zugleich fühle ich, daß meine Pflicht mich nach dem Orient ruft, denn obgleich die französische Flotte in Egypten vernichtet worden ist, so bin ich doch nicht ganz sicher, daß die Armee nie wieder nach Europa zurückkehren wird. Vor allem aber ist es mein Ziel, dem Königreich beider Sizilien zu dienen und das zu tun, was Ihre sizilischen Majestäten wünschen, selbst wenn es gegen meine Ansichten wäre, sobald ich nach Neapel kommen werde und das Land Krieg führen wird. Ich hoffe bestimmt, über diesen Punkt eine Konferenz mit dem General Acton halten zu können. Ich weiß gewiß, daß Sie mir Gerechtigkeit widerfahren lassen werden, und daß die Königin überzeugt ist, mein einziger Wunsch sei, ihren Beifall zu verdienen.
Gott möge Sie und Sir William in seinen Schutz nehmen, und seien Sie versichert, daß ich stets mit der liebevollsten Hochachtung sein werde, Ihr dankbarer und treuer Freund.
Horatio Nelson.«
Ich hoffe, daß niemand in diesem Briefe ein einziges Wort finden wird, welches nicht das Wort eines Freundes, allerdings eines zärtlichen, hingebenden Freundes, aber doch nur das eines Freundes ist. Gewiß, weder ich noch die Königin täuschten sich über diese große Ergebenheit Nelsons für sie und ihren Gemahl. Wenn Nelson nach Neapel zurückkehrte, so geschah es, weil er mich sehen wollte. Wenn er nicht nach dem Orient ging, wohin seine Pflicht ihn rief, so geschah es, weil er sich nicht von mir entfernen wollte. Und seine Voraussehungen in bezug auf den Orient waren so richtig, daß er vielleicht, wenn er nicht in Neapel geblieben wäre, als der General Bonaparte sich am 22. August 1799 einschiffte, um nach Frankreich zurückzukehren, diese Rückkehr, welche die Geschicke von ganz Europa änderte, verhindert hätte. Am 22. August 1799 aber war er bei mir in Palermo und ich glaube, daß er, selbst wenn er die Gewißheit gehabt hätte, Bonaparte gefangennehmen zu können, doch keinen einzigen Tag von mir gewichen wäre.
Einige Tage nach dem königlichen Empfange Nelsons verließ Bürger Garat Neapel mit dem ganzen Personal der französischen Gesandtschaft unter dem Vorwande, soeben zum Mitglied des Rates der Fünfhundert ernannt worden zu sein. Aber zum großen Erstaunen aller verschluckte Frankreich die Beleidigung, anstatt die Gelegenheit zu ergreifen, Neapel den Krieg zu erklären, und schickte an Stelle des Bürgers Garat den Bürger Lacombe Saint-Michel. Diese erheuchelte Gleichgültigkeit gegen eine solche Beschimpfung bewies, daß Frankreich nicht imstande war, Krieg zu führen, und verdoppelte nur noch die Kühnheit der Königin. Durch Opfer aller Art war es dem Königreich Neapel gelungen, eine Armee von fünfundsechzigtausend Mann zu besitzen, während alle Berichte in der Aussage übereinstimmten, daß die Franzosen in Rom nicht mehr als zehntausend Mann hatten, und daß es diesen Zehntausend an Brot, Kleidung und Schuhwerk fehlte, daß sie seit drei Monaten keine Löhnung erhalten, daß sie als ganze Artillerie nur neun Stück Kanonen ohne Pulvervorrat, und im ganzen nur hundertachtzigtausend Stück Patronen besaßen. Der König und die Königin stimmten in ihrem Haß gegen die Franzosen überein, nur wollte der König, ehe er letztere angriff, warten, bis der Kaiser von Österreich sie angriffe, und der Kaiser wollte den Krieg nur mit den vierzigtausend Mann Russen, die ihm der Zar Paul versprochen, beginnen. Die Königin dagegen wollte die Franzosen angreifen, ohne einen Augenblick zu verlieren. Mit ihren fünfundsechzigtausend Mann war sie sicher, die römischen Staaten wieder zu erobern, und war einmal Rom zurückerobert, so würden sich, meinte sie, auch alle anderen Völkerschaften Italiens, die, wie sie glaubte, mit Ungeduld das Joch der Franzosen trugen, empören und sie von der Halbinsel jagen. Unter diesen Umständen ward ich von der Königin mit einer geheimen Botschaft an Nelson beauftragt. – Nelson war, wie die Königin, für sofortigen Beginn des Krieges. Es handelte sich darum, ihn dahin zu bringen, an Sir William oder mich einen angeblich vertraulichen Brief zu schreiben, welchen Sir William dem König mitteilen sollte. Nelson, ein braver Soldat, war ein mittelmäßiger Politiker und ein noch mittelmäßigerer Briefschreiber. Die vierzig oder fünfzig Briefe, die er mir in seinem Leben geschrieben, glänzen mehr durch ihre Freimütigkeit als durch den Stil. Nelson willigte ein, den Brief zu schreiben, aber unter der Bedingung, daß man ihm eine Abschrift gebe, und daß er derselben nur zu folgen brauche. Das war gerade, was die Königin, wenn sie es gewagt hätte, verlangt haben würde. Der Entwurf dieses Briefes wurde verfaßt von dem Generalkapitän Acton, Sir William Hamilton und der Königin. Ich übergab ihn Nelson, und den nächsten Morgen erhielt ich folgenden an mich adressierten Brief, der nichts anderes als eine Abschrift des Briefes war, den, wie ich gesagt, das Triumfeminavirat, welches Neapel regierte, verfaßt hatte.
»Neapel, den 3. Oktober 1798.
Geehrte Frau! Die Teilnahme, welche Sie und Sir William immer für die Interessen des Königreiches beider Sizilien und für die Herrscher, welche es regieren, gezeigt, hat sich mir seit fünf Jahren bewiesen, und ich kann es wirklich sagen, daß ich meinerseits bei allen Gelegenheiten, die sich geboten haben, und es sind deren viele gewesen, nie verfehlt habe, meine Liebe für das Wohl dieses Landes zu offenbaren. Auf Grund dieser Zuneigung kann ich nicht mehr ein gleichgültiger Zuschauer dessen bleiben, was sich ereignet hat und was jetzt in dem Königreiche beider Sizilien vorgeht; auch kann ich das Unglück, welches über das Königreich hereinbrechen wird, nicht mitansehen. Ohne ein Mann der Politik zu sein, sehe ich doch, daß dieses Unglück hereinbrechen wird und zwar durch die schlechteste aller Politik, durch die Politik des Abwartens. Seit meiner Ankunft in diesen Wassern habe ich erkannt, daß die Sizilianer ein biederes, ihren Herrschern treues Volk sind, und daß sie den größten Widerwillen gegen die Franzosen und deren Grundsätze haben. Seit ich in Neapel bin, beweisen mir alle Berichte, die mir zu Ohren kommen, und alle Erfahrungen, die ich mache, daß das neapolitanische Volk darnach strebt, Krieg mit den Franzosen zu beginnen, welche, wie jeder weiß, eine Armee von Banditen zusammenziehen, um diese Gegenden zu verwüsten und die Monarchie zu stürzen. Da ich diese Überzeugung habe und weiß, daß Seine sizilische Majestät ihrerseits eine Armee besitzt, die bereit ist, ins Feld zu rücken, und zwar in einem Lande, welches, wie man mir bestätigt, Verlangen trägt, sie aufzunehmen, was den Vorteil bieten würde, daß man, anstatt den Krieg daheim abzuwarten, ihn in eine entfernte Gegend verlegen könnte, so wundere ich mich, daß diese Armee noch nicht auf dem Wege nach Rom ist. Ich glaube, daß die Ankunft des Generals Mack die Regierung bestimmen wird, nicht einen der günstigsten Augenblicke zu verlieren, welche die Vorsehung ihr jemals zur Verfügung gestellt hat. Wenn sie wartet, bis das Königreich verheert sein wird, anstatt selbst in die römischen Staaten einzurücken, so braucht man nicht Prophet zu sein, um zu sagen, daß dieses Königreich zu Grunde gerichtet und die Monarchie gestürzt ist. Wenn der König bei seinem unglücklichen Zaudersystem beharrt, so rate ich Ihnen, sich bei der ersten schlimmen Nachricht mit allem, was Sie an wertvollen Dingen besitzen, zum Einschiffen bereit zu halten. Es wird dann an mir sein, für Ihre Sicherheit zu sorgen, ebenso wie für die unserer liebenswürdigen Königin und ihrer Familie. Inzwischen erlauben Sie mir, mich zu nennen Ihren ganz ergebenen und treuen Diener.
Horatio Nelson.«
Ein Satz dieses Briefes von Nelson muß für den Leser durch meine Schuld unverständlich sein. Ich habe vergessen zu sagen, daß die Königin ihren Neffen, den Kaiser von Österreich, um den General Mack gebeten hatte, damit dieser sich an die Spitze ihrer Armee stelle, und der Kaiser hatte ihr diesen Wunsch gewährt. Dieser Brief brachte auf Ferdinand die Wirkung hervor, die man erwartet hatte. Indessen hielt er gegen seine Gewohnheit an einem Punkte fest, nämlich gerade nur zu derselben Zeit ins Feld zu ziehen wie der Kaiser. Demzufolge kam man überein, daß der König seinem Neffen einen Brief schreiben sollte, in welchem er ihn, sozusagen, in die Enge triebe. Dieser Brief, ganz von seiner Hand, wurde mit dem Kurier Ferrari abgeschickt, dem ausdrücklich befohlen wurde, den Brief dem Kaiser selbst zu übergeben, und sofort die Antwort dem König Ferdinand zu überbringen. Aber ehe Ferrari abreiste, hatte er von der Königin zweitausend Dukaten erhalten, mit dem Gegenbefehl, auf seiner Rückkehr über Caserta zu kommen, und die Antwort anstatt dem König ihr zu überbringen. Ferrari erhielt andere zweitausend Dukaten, als er der Königin den Brief übergab. Sie versprach denselben nur zu lesen, und dann wieder in das Kuvert zu stecken. Das hieß einen sehr kleinen Verrat teuer bezahlt, und Ferrari zögerte auch gar nicht. Außerdem wußte er, daß es die Königin war, die unter dem Namen ihres Gemahls regierte, und das beruhigte ihn über die Gefahren, in welche er geraten mußte, im Fall der Verrat bekannt würde. Ferrari reiste ab; man berechnete die Zeit, die er brauchte, um seine Mission zu erfüllen. Wenn der Kaiser von Österreich mit seiner Antwort nicht zögerte, so war es ein Geschäft von elf oder zwölf Tagen.
Der General Mack kam am 8. Oktober in Caserta an, und wurde am Donnerstag bei dem König und der Königin zu Tisch geladen. Wir, Sir William und ich, empfingen eine offizielle Einladung für diesen Tag. Ihre Majestäten nahmen den General mit den größten Zeichen der Achtung auf, und die Königin sagte, indem sie ihn Nelson vorstellte: »Der General Mack ist zu Lande das, was mein Held Nelson zur See ist.« Das Kompliment war nicht schmeichelhaft und der Vergleich nicht richtig. Nelson hatte sich in Toulon, Calvi, Teneriffa, ohne entscheidende Vorteile zu erlangen, doch mit Ruhm bedeckt; bei Abukir hatte er nicht nur Heldenmut, sondern auch Genie bewiesen. Mack, im Gegenteile, war überall, wo er sich mit den Franzosen gemessen, von ihnen geschlagen worden. Trotzdem hatte er in Europa, man hat nie gewußt warum, den Ruf eines der größten Strategen dieser Epoche erlangt. Die gute Meinung, welche die andern von Mack hatten, war aber immer noch weit geringer, als die, welche Mack von sich selbst besaß. Ich habe nie größern Dünkel als den seinigen gesehen; er ließ keinen Augenblick die Voraussetzung zu, daß er geschlagen werden könnte, ja selbst nicht, daß die Franzosen Widerstand leisten könnten. Ich gestehe, daß ich eben infolge dieser maßlosen Überhebung gleich bei den ersten Worten, welche ich mit dem berühmten General auszutauschen die Ehre hatte, eine förmliche Antipathie gegen ihn faßte. Die Zeit verging und Ferrari galoppierte. Am zehnten Tage nach seiner Abreise schlug Sir William dem Könige eine Jagdpartie in Persano vor, und da Sir William und der König demgemäß auf drei Tage abwesend waren, so ließen wir, die Königin, der General Acton und ich, uns in Caserta nieder. Ferrari kam den nächsten Tag gegen sieben Uhr abends an. Er brachte den Brief vom Kaiser von Österreich.
Acton hatte nach einem Siegel von einem Briefe Franz des Zweiten ein Petschaft machen lassen, welches dem kaiserlichen glich. Von dieser Seite brauchte man also nicht unruhig zu sein. Man wollte das Siegellack weich machen und den Brief entsiegeln. Wenn er so lautete, wie man es wünschte, so wollte man ihn unversehrt wieder in das Kuvert tun und dasselbe wieder zusiegeln. Lautete er hingegen nicht so, daß er die Wünsche der Königin begünstigte, so wollte man etwas ersinnen. Der Kaiser zeigte seinem Onkel bestimmt an, daß er nicht eher ins Feld rücken würde, als bis Suwaroff und seine vierzigtausend Mann Russen angekommen wären, und er glaubte nicht, daß dies vor Monat April 1799 geschehen könnte. Deshalb forderte er Ferdinand auf, seine Ungeduld zu zügeln, und es wie er zu machen, nämlich bis dahin zu warten. Es war augenscheinlich, daß, wenn die Franzosen auf einmal von hundertfünfzigtausend Österreichern, vierzigtausend Russen und fünfundsechzigtausend Neapolitanern angegriffen würden, sie dann gezwungen sein würden, Italien zu räumen; und wer konnte – da Bonaparte und seine dreißigtausend Mann in Egypten eingeschlossen waren – sagen, wo der triumphierende Marsch der österreichisch-russischen Armee stillstehen würde?
Aller Wahrscheinlichkeit nach nicht eher als in Paris. Die Königin war jedoch eine zu hastige Spielerin, als daß sie gewartet hätte, bis die Zeit ihr so schöne Karten in die Hand geben würde, und so wurde der Plan, den sie und der Generalkapitän Acton entworfen, in Ausführung gebracht. Acton war der Sohn eines irländischen Arztes, und, wie ich bereits erwähnt habe, ein geschickter Chemiker. Mit einer Mischung, die er schon im voraus bereitet, nahm er die Tinte des Briefes weg, indem er nur noch die Unterschrift ließ. Dann schrieb er anstatt der Verweigerung, auszurücken, wenigstens in diesem Augenblicke, welche Weigerung der Kaiser so bestimmt ausgedrückt hatte, ein förmliches Versprechen, ins Feld zu ziehen, sobald Ferdinand die römische Grenze passiert haben würde. Dann wurde der Brief wieder zugemacht, mit dem Petschaft des Kaisers neu gesiegelt und Ferrari übergeben, der ihn nach Persano brachte und den Händen des Königs übergab, indem er ihm beteuerte, er sei der erste, der den Brief berühre, nachdem er ihn aus den erhabenen Händen des Kaisers erhalten. Der König, der in Gesellschaft von Sir William bei Tische saß, entsiegelte den Brief, las ihn und gab ihn Sir William mit sichtbarer Befriedigung. Mein Gatte war, wie man weiß, mit in dem Komplott, deshalb war er über diese günstige Antwort durchaus nicht erstaunt. Er wünschte nur dem König Ferdinand Glück dazu, indem er zu ihm sagte: »So sehen Sie, Sire, daß Se. Majestät der Kaiser derselben Meinung ist, wie Lord Nelson. Es ist kein Augenblick zu verlieren.« Und so wurde wirklich bestimmt, daß General Mack in die römischen Staaten einrücken sollte, und zwar ohne länger zu zögern, als es die Vorbereitungen zum Feldzug erforderten. Man stand jetzt in den ersten Tagen des November.
Der Krieg, in den Ferdinand gewilligt, war eine Sache, die ernster behandelt werden mußte. Man mußte den König dahin bringen, daß er sich an die Spitze seiner Armee stellte, und den Krieg persönlich mitmachte. Der König war, wie ich bereits gesagt, weit entfernt, tapfer zu sein, und wenn ich auch lange in bezug auf die Königin blind gewesen bin, so bin ich es doch hinsichtlich des Königs nie gewesen, besonders da Karoline immer Sorge trug, mich ihren Gemahl immer in seinem wahren Licht sehen zu lassen. Die Unterhandlungen dauerten lange, aber die Königin und Sir William machten bei Ferdinand geltend, daß es sich für ihn nicht nur darum handelte, die Franzosen zu bekämpfen und die Legitimität aufrecht zu erhalten, sondern auch, wenn er einmal in den römischen Staaten wäre, zu sehen, was bei der Teilung des Erbes des heil. Petrus auf seinen Anteil kommen würde. Der König willigte endlich ein. Da man nur auf diese Einwilligung gewartet, so wurde die Armee sogleich in drei Korps geteilt; zweiundzwanzigtausend Mann wurden nach San-Germano geschickt, sechzehntausend in die Abruzzen, achttausend in die Festung Gaëta, und einige Transportschiffe hielten sich bereit, unter Begleitung von Nelsons Geschwader, zehntausend Mann nach Toskana zu bringen. Diese zehntausend Mann waren bestimmt, den Franzosen den Rückzug abzuschneiden, wenn General Mack sie geschlagen haben würde. Es ist sonderbar, daß diese drei Armeekorps unter das Kommando von drei Ausländern gestellt wurden. Mack war Oberbefehlshaber, und Micheroux und Damas waren Divisionsgeneräle. Ersterer war, wie man weiß, ein Österreicher, die beiden andern waren Franzosen. Einundfünfzigtausend Mann waren bereit, in die römischen Staaten einzurücken. Im übrigen war, wie Admiral Nelson richtig beurteilt hatte, der Augenblick gut gewählt, um die Franzosen anzugreifen. Das Direktorium, welches durch den Bürger Garat von den feindlichen Absichten des Hofes von Neapel unterrichtet worden, hatte alle Mittel aufgeboten, diesem Angriffe entgegenzutreten. Es hatte soviel Mann, als es nur konnte, von der Armee der zisalpinischen Republik abgesondert, sie nach Rom geschickt und hier das Kommando dem General Championnet übertragen. Championnet hatte bis dahin nur Unterkommandos gehabt, und war daher noch wenig geschätzt und bekannt. Sein Kommando über Rom, seine Eroberung Neapels machten ihn erst berühmt.
Man versichert, daß im Augenblicke, wo er Frankreich verließ, und wo er, zur Belohnung seiner früheren Dienste, dieses neue Kommando empfing, der Direktor Barras ihm seine Hand auf die Schulter legte und sagte: »Geh' nach Italien, General, und ich gebe dir mein Wort, daß du beauftragt sein wirst, den ersten König zu entthronen, der sich den Zorn der Republik zuzieht.« Championnet reiste von Paris ab und kam in dieser Hoffnung nach Rom. In Rom aber fand er die französische Armee in dem Zustande, den ich schon beschrieben, ohne Brot, Schuhe, Kleidung und Sold. Sie besaß nur neun Kanonen und hundertachtzigtausend Stück Patronen. Mit der Verstärkung, welche die Armee aus dem zisalpinischen Italien erhalten, bestand sie aus vierzehn- bis fünfzehntausend Mann. Den 22. November schleuderte der König das berühmte Manifest, welches vom Fürsten Pignatelli Belmonte unterzeichnet und an den Chevalier Priocca, Minister des Königs von Piemont, Carl Emanuel des Zweiten, gerichtet war. Wie alle Aktenstücke, die vom König ausgingen, war auch dieses von der Königin, dem Generalkapitän Acton und Sir William verfaßt worden. Heute, wo eine Zeit von zehn Jahren verflossen, das Vorurteil verschwunden und der Haß erloschen ist, erscheint dieses Aktenstück in seinem wahren Charakter. Es ist gleichsam ein Aufruf zum Meuchelmord, und doch rief ich wie die andern diesem Manifeste Beifall zu, als es in Caserta am 20. November 1798 an meinen Augen vorüberging. Nachdem diese Brandfackel geschleudert war, hatte man weiter nichts mehr zu tun, als ins Feld zu rücken.
Die Königin hatte für ihren Gemahl eine prächtige Generalsuniform machen lassen, und wir besuchten hintereinander die Lager von Sessa und San-Germano, um den König seinen Soldaten vorzustellen. Diese militärischen Spaziergänge, das Geschrei, welches sich dabei erhob, die Ausrufe: »Es lebe der König! Tod den Franzosen!« verdrehten dem König Ferdinand vollends den Kopf und er verließ uns, indem er der Königin alle Arten kriegerischer Versprechen gab. Ich muß der Wahrheit die Ehre geben und sagen, daß die Königin trotz dieser Versprechungen wenig davon überzeugt war, und doch, wie schlecht auch ihre Meinung von ihrem Gemahl war, so war sie doch weit entfernt, die Überraschung zu ahnen, welche die Zukunft ihr aufbewahrte. Wir kehrten nach Caserta zurück, und der König rückte an der Spitze seiner Armee gegen die römische Grenze vor.
Am 24. marschierte die Armee auf drei Punkten in das päpstliche Gebiet ein. Der rechte Flügel, der sich am adriatischen Meere hinzog, überschritt den Tronto, jagte einen schwachen französischen Vortrab, der hier aufgestellt war, aus Ascoli und schlug die Richtung nach Pontedi in Fermo ein. Der mittelste Teil der Armee kam die Apenninen über Aquila herab und rückte auf Rieti vor. Der linke Flügel endlich, bei dem Mack und der König waren, überschritt den Garigliano in drei Kolonnen – bei Isola, bei Ceprano, bei Sant' Agata, und marschierte durch die pontinischen Sümpfe über Valmontone und Frascati unmittelbar gegen Rom. An demselben Tage, wo die neapolitanische Armee die Grenze der römischen Staaten erreichte, erhielt General Championnet vom Direktorium einen Befehl, der ihm dreitausend Mann nahm, um die Garnison von Korfu zu verstärken. Vielleicht hätte Championnet diesem Befehl nicht zu gehorchen gebraucht, da die dringende Notwendigkeit denselben unzweckmäßig erscheinen ließ. Er gab aber die dreitausend Mann und hatte nur noch ungefähr zwölftausend. Aber zur selben Zeit ließ er die Lärmkanone auf der Engelsburg abfeuern, in der ganzen Stadt Generalmarsch schlagen und traf schnell alle Maßregeln, um einer Gefahr zu begegnen, die sich mit der Schnelligkeit einer Lawine gegen ihn heranwälzte. Wir erhielten täglich Nachrichten vom König und diese Nachrichten hielten uns über seinen Triumphmarsch unterrichtet. In der Nacht des 30. November erhielten wir die Nachricht, daß der König den Tag vorher unter wahnsinnigem Jubel seinen Einzug in Rom gehalten. Man hatte seinen Wagen ausgespannt, und das Volk hatte ihn gewissermaßen in seinen Armen bis an den Palast Farnese getragen. Der Brief des Königs meldete uns, daß der General Championnet Rom verlassen habe, nachdem er fünfhundert Mann in der Engelsburg zurückgelassen und dem Offizier, der sie befehligte, verboten hatte, sich unter irgendeiner Bedingung zu ergeben. Gleichzeitig hatte er ihm sein Wort gegeben, noch vor zwanzig Tagen wieder in Rom zu sein. Dieses Versprechen machte dem König und besonders dem General Mack großen Spaß. Ferdinand fügte in einer Nachschrift hinzu, daß das Volk die Patrioten erwürge und ihre Häuser plündere. Er selbst habe zwei Neapolitaner, die Gebrüder Corona, erschießen lassen, von welchen der eine Minister der römischen Republik gewesen. So ging alles aufs beste. Auch die Königin befahl, daß ein Te Deum in allen Kirchen Neapels gesungen, die Kanonen als Siegeszeichen gelöst, und die Stadt illuminiert werde. Zum Lobe der Neapolitaner muß man es sagen, daß diese Befehle mit Begeisterung entgegengenommen und ausgeführt wurden. Man erinnert sich, daß eine Truppenabteilung von acht- bis zehntausend Mann unter dem Kommando des Generals Naselli auf Transportschiffen nach Livorno abgehen sollte. Am 22. November verließ wirklich diese Abteilung den Hafen von Neapel unter dem Schutze des »Vanguard«, auf welchem Nelson sich befand, des »Culloden«, des »Minotaurus«, der »Alliance«, des Kutters »Flora«, sowie des portugiesischen Geschwaders.
Kriegs- und Transportschiffe kamen am Nachmittage des 28. Novembers in Livorno an. Die englischen und neapolitanischen Minister machten sogleich ihren Besuch bei dem Admiral. General Naselli forderte die Stadt auf, sich zu ergeben, was um acht Uhr abends geschah. Diese Aufforderung hatte der General Naselli und der Vize-Admiral Nelson gemeinschaftlich ergehen lassen. Naselli nahm die Stadt in Besitz, Nelson aber blieb auf seinem Schiffe. Überdies war Nelson zu verliebt in mich, um lange entfernt von mir zu sein. Darum verließ er Livorno am 30. November und war am 5. Dezember wieder in Neapel. Am 6. morgens schrieb er dem General-Kapitän Acton einen Brief, in welchem folgender Satz stand, den der Minister sich beeilte, uns lesen zu lassen. Nelson sah die Dinge in keinem so rosigen Lichte, wie der König von Neapel.
»Hier haben Sie in einigen Worten den Zustand des Landes und die Lage der Dinge,« sagte er. »Die Armee des Königs ist in Rom; Civita-Vecchia ist genommen, aber in der Engelsburg sind noch fünfhundert Mann Franzosen zurückgeblieben. General Championnet steht an der Spitze von dreizehntausend Mann und erwartet die Neapolitaner in einer sehr festen Stellung in Civita-Castellana. General Mack rückt gegen sie mit zwanzigtausend Mann vor. Der Ausgang ist, meiner Meinung nach, zweifelhaft und wird über das Schicksal Neapels entscheiden. Wenn Mack geschlagen wird, so ist das Land in zwanzig Tagen verloren. Der Kaiser hat keinen Mann seiner Armee von der Stelle rücken lassen, und ohne des Kaisers Hilfe kann dieses Land nicht den Franzosen widerstehen. Nur ist es nicht die eigene Wahl, sondern die Notwendigkeit, die den König von Neapel gezwungen hat, aus seinem Reiche zu gehen und nicht zu warten, bis die Franzosen ihre Kräfte gesammelt und ihn binnen einer Woche aus Neapel gejagt hätten.«
Zur selben Zeit kamen aus Rom ähnliche Nachrichten; nur der König verkündigte uns das Vorrücken Macks auf Civita-Castellana, aber nicht mit bloß zwanzigtausend, sondern mit vierzigtausend Mann, und es schien uns unmöglich, daß eine solche Überlegenheit der Zahl uns nicht den Sieg sichern sollte. Überdies war der König seines Erfolges so sicher, daß seine Ruhe uns aller Besorgnis enthob. Seine Briefe waren voll von Beschreibungen von Festen, die man ihm zu Ehren veranstaltet. Wenn er durch die Straßen von Rom schritt, ging er stets auf Teppichen und unter einem Blumenregen. Am Abend herrschte in dem Apollotheater die größte Pracht. Die Depesche, die uns diese Einzelheiten brachte, war vom 6. Dezember. Wir zeigten sie Lord Nelson, indem wir ihn aufmerksam machten, daß Mack mit nicht nur zwanzigtausend, sondern sogar mit vierzigtausend Mann dem Feind entgegenrückte. Alles das überzeugte ihn aber nicht. Er hatte gleich bei dem ersten Zusammentreffen mit dem General Mack eine ziemlich schlechte Meinung von diesem gefaßt. Er verließ uns gegen fünf Uhr abends und wir, die Königin und ich, blieben mit einigen Damen, die unsere gewöhnliche Gesellschaft ausmachten, allein. Zwischen sieben und acht Uhr, als wir den Tee tranken, hörten wir das Rollen eines Wagens, der unter der Wölbung des Palastes hinfuhr, dann einen großen Lärm von Dienern, welche die Treppen hinabeilten. Die Königin wurde sehr blaß. Ich sah sie fragend an. »Ah!« sagte sie zu mir, »ich habe eine Ahnung.« – »Welche, Madame?« fragte ich sie. – »Daß es der König ist, der soeben ankam.« – »Der König? Unmöglich, Madame! Wir haben ja erst diesen Morgen einen Brief von ihm erhalten.« – Die Tür öffnete sich, ein Türsteher meldete: »Seine Exzellenz der Herzog von Ascoli!« – Der Herzog von Ascoli trat ein. Die Königin und ich stießen einen Ruf des Erstaunens aus. Er trug das Kostüm des Königs. Da er von demselben Wuchse und Alter war wie der König, und da überdies Zwielicht im Zimmer herrschte, so hielten wir ihn auf den ersten Blick wirklich für den König selbst.
Die Königin bemerkte jedoch diesen Irrtum sehr bald und ihr ehelicher Instinkt ließ sie unter dieser Verkleidung etwas Schmachvolles vermuten. Sie erhob sich und fragte in strengem Tone: »Was soll diese Maskerade bedeuten, Herzog?« – »Ach, Madame, nichts Fröhliches!« antwortete der Herzog. »Wenigstens ist sie aber ein Beweis, wie sehr ich dem König ergeben bin.« – »Dem König? Und wo ist er, der König?« – »Hier, Madame.« Die Königin sah mich an. »Und wo denn hier?« versetzte sie. – »In seinem Zimmer.« – »Ah, ah! Er wagt nicht, sich vor mir zu zeigen, wie es scheint.« – Und nach einem Augenblicke des Schweigens setzte die Königin hinzu: »Die Neapolitaner sind geschlagen worden, nicht wahr?« Der Herzog zögerte mit der Antwort. »Wohlan,« sagte die Königin, »wenn der König ein Weib ist, so bin ich ein Mann; sagen Sie alles.« – »Vollständig geschlagen, ja, Madame.« – »Braver Nelson!« sagte sie, indem sie sich zu mir wendete. »Du siehst es, sein Instinkt hat ihn nicht getäuscht. Dieser General Mack ist also, wie wir wohl ahnten, wirklich ein Dummkopf?« – »Ich kann Euer Majestät nichts weiter sagen, als daß die neapolitanischen Truppen gänzlich geschlagen worden sind.« – »Sie sind dieser Nachricht gewiß?« – »Wir, der König und ich, haben sie aus dem Munde des Generals Mack selbst.«
Die Königin nahm meine Hände und drückte sie krampfhaft. »Das Schicksal will, daß ich den Becher der Schmach bis auf den Boden leere,« murmelte sie. – »Aber, mein Herr,« fragte ich den Herzog, während die Königin ihr Taschentuch zwischen den Zähnen zerriß, »können Sie Ihrer Majestät gar keine Einzelheiten mitteilen?« – »Ich kann der Königin weiter nichts sagen, als was ich selbst weiß.« – »So sagen Sie es doch!« rief die Königin, »und machen Sie schnell, denn ich muß gestehen, daß es mich zu wissen drängt, zu welchem Zwecke Sie auf dem Rücken das Kleid und am Halse die Orden des Königs tragen.« – »Wollen Eure Majestät geduldig anhören,« sagte der Herzog von Ascoli, indem er sich verneigte, »sonst werde ich gezwungen sein, zu dem Könige zurückzukehren und ihm zu sagen, daß Sie mich nicht haben anhören wollen.« – »Sie appellieren an meine Geduld, mein Herr. So sei es denn; ich verspreche Ihnen, ruhig zu sein. Sprechen Sie!« – »Nun, Madame, wir waren gestern in der Loge Seiner Majestät im Theater Apollo, als ungefähr gegen neun Uhr abends die Tür hastig aufgerissen ward, und wir den General Mack erscheinen sahen, der ganz mit Staub bedeckt war, wie einer, der einen langen Weg zurückgelegt hat. ›Sire,‹ sagte er, ›Sie sehen einen Mann vor sich, der in Verzweiflung ist, Ihnen eine solche Kunde zu bringen. Wir sind auf allen Punkten geschlagen, voneinander getrennt, auf völligem Rückzug oder vielmehr auf vollständiger Flucht, und unsere einzige Hoffnung auf Euer Majestät Rettung besteht darin, daß Sie sogleich nach Neapel abreisen. Wenn ich dann frei von der Sorge bin, die mir Ihr teures Haupt verursacht, werde ich versuchen, die Armee wieder zu sammeln und Rache zu nehmen.‹« – »Der elende, übermütige Wicht!« murmelte die Königin. – »Sie können, Madame,« fuhr der Herzog fort, »sich die Bestürzung des Königs bei einer solchen Nachricht denken. Er sah Mack ohne zu antworten und mit verstörtem Gesicht an, dann erhob er sich plötzlich und schwankte aus der Loge hinaus. Glücklicherweise hatte man vom Zuschauerraume aus nichts gesehen, und man glaubte, der König sei in dem Zimmer neben seiner Loge. Es durfte nicht das Ansehen der Flucht haben. Die römischen Jakobiner, die sich für die Taten, die der König befohlen, rächen wollten, hatten ihn scharf im Auge und konnten, da Mack geschlagen war, eine rasche Tat versuchen. Ehe man unsere Abwesenheit bemerkt und sich die Nachricht verbreitet hatte, waren wir im Palast Farnese. Dort stieg der König mit zwölf Offizieren und einigen seiner treuesten Diener, in welche Zahl er die Gnade hatte, mich mit einzuschließen, zu Pferde. Wir ritten durch das Volkstor hinaus und schlängelten uns die Mauern entlang bis an das Tor San Giovanni. Hier angekommen ritt der König mit sieben oder acht Mann Begleitung im Galopp weiter und gegen elf Uhr abends kamen wir in Albano an. Der König erkundigte sich bei dem Postmeister, ob ein Wagen da sei. Der Postmeister hatte aber nur ein Kabriolett. Während man anspannte, nahm mich Seine Majestät beiseite und bat mich, die Kleider mit ihm zu wechseln, was ich augenblicklich tat.« – »Und wozu dies? Warum sollten Sie die Kleider mit ihm tauschen?« fragte die Königin. – »Ich weiß es nicht, Madame,« antwortete der Herzog, »da aber eine Bitte Seiner Majestät so gut wie ein Befehl ist, so gehorchte ich.« – »Ein Befehl, ein Befehl,« wiederholte die Königin, »aber zuletzt hatte dieser Befehl doch einen Zweck!«
Der Herzog verneigte sich, ohne zu antworten. »O! ich möchte es doch gerne wissen,« sagte die Königin, indem sie ungeduldig mit dem Fuße stampfte, »was der König von dieser Maskerade hoffte.« – »Sie wünschen zu wissen, was ich davon hoffte, Madame?« sagte der König, indem er eintrat und sich in einen Lehnstuhl warf, gerade als ob er von der Jagd käme. »Ich hoffte, daß, wenn wir von den Jakobinern ergriffen werden würden, sie Ascoli und nicht mich aufknüpften.« – »Und?« – fragte die Königin. – »Nun, während man ihn aufgeknüpft, hätte ich mich doch retten können!« – Die Königin hob die Hände zum Himmel und bedeckte sich dann das Gesicht damit. »O! O!« murmelte sie. – »Aber,« sagte der König, der den Ausruf der Königin nicht ordentlich verstanden, »sie hätten es wirklich gemacht, wie sie es sagten, diese Schurken von Jakobinern.« – »Und Sie hätten Ihren Freund an Ihrer Stelle hängen lassen?« rief Karoline. – »Das denke ich wohl und sogar lieber zwei- als einmal.« – »Und Sie, Herzog, Sie hätten sich wirklich an des Königs Stelle hängen lassen?« sagte die Königin, indem sie sich erhob und auf den Herzog zuging. – »Ist es nicht die Pflicht eines Untertanen, sein Leben für seinen Herrn zu opfern?« sagte der Herzog einfach. – »Ach, mein Herr,« rief die Königin, indem sie sich an ihren Gatten wendete, »Sie sind sehr glücklich, einen solchen Freund zu haben. Schätzen Sie ihn hoch. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Sie, wenn Sie ihn verlören, keinen andern fänden.« Dann sagte sie, nachdem sie sich nach mir herumkehrte: »Im übrigen habe ich mich nicht zu beklagen, denn ich bin gewiß, daß Emma, wenn es nötig sein würde, für mich täte, was der Herzog bereit war für Sie, Majestät, zu tun.« Und indem sie den Arm um meinen Hals schlang sagte sie: »Komm', Emma, komm'. Es ist schön, einen solchen Höfling, aber traurig, einen solchen König zu sehen.«
Nachdem die Königin in ihr Zimmer zurückgekehrt war, klingelte sie und befahl anspannen zu lassen. Als ich sie anblickte, um in ihren Gedanken zu lesen, sagte sie zu mir: »Du verstehst wohl, daß ich diesem Egoisten, der seinen besten Freund an seiner Statt gefangennehmen lassen will, die Sorge, über unsere Sicherheit zu wachen, nicht überlassen mag. Er wäre imstande, mit seiner Jagdflinte und seinen Hunden nach Sizilien zu fliehen, ohne sich um uns zu kümmern.« – »Wie, nach Sizilien zu fliehen? Sie glauben, Majestät, daß der König Neapel zu verlassen gedenkt?« – »Und was willst du, was er sonst tun soll? In vierzehn Tagen werden die Franzosen hier sein. Glücklicherweise bleibt uns Nelson. Wie steht es mit ihm? Du hast ihn hoffentlich nicht zur Verzweiflung getrieben.« – »Nelson wird alles tun, was wir wünschen,« antwortete ich lächelnd. – »Gut. Es ist zu spät, um ihm sagen zu lassen, heute abend noch ans Land zu steigen, aber morgen ganz früh müssen wir uns mit ihm besprechen.« – »Warum wäre es heute abend zu spät? Zwei Worte von mir werden ihn bewegen, zu jeder beliebigen Nachtstunde hierher zu kommen. Jetzt ist es acht Uhr, halb zehn können wir in Neapel sein; um zehn kann er mein Billett haben; eine halbe Stunde darauf wird er im Palaste sein.« – »So sei es denn. Du wirst ihn empfangen, du wirst ihm alles sagen. Währenddessen werde ich mit Acton sprechen. Nicht wahr, du siehst ein, daß Nelson mit Leib und Seele unser sein muß? Es steht einfach das Leben auf dem Spiele.« – »O, Majestät –« »Die Jakobiner von Paris haben mit meiner Schwester keine Umstände gemacht. Glaubst du, daß die von hier sich mehr Zwang antun werden? Überdies kann Nelson vom Lord Saint-Vincent einen Befehl erhalten, der ihn von uns entfernt. In diesem Falle aber muß er selbst einem Befehle vom Lord Saint-Vincent, ja sogar einem Befehle von der Admiralität, wenn von daher einer käme, ungehorsam sein.« – »Eintretenden Falls,« antwortete ich der Königin lachend, »werden mir Ew. Majestät sagen, was ich tun muß, damit er ungehorsam sei; ich werde es tun und er wird nicht gehorchen.« – Man hatte soeben gemeldet, daß angespannt sei. »Komm'!« sagte Karoline. – »Wollen Ew. Majestät es nicht dem Könige melden lassen?« – »Wozu?« – »Wenn er nun Se. Exzellenz den General-Kapitän zu sich ruft?« – »Acton wird erst dann kommen, nachdem er mich gesehen hat. Gehen wir hinunter.«
Wir eilten schnell hinab, ohne jemand davon zu benachrichtigen. Die Königin hüllte sich in einen Kaschemirshawl, denn es regnete in Strömen und es war kalt. Wir sprangen in den Wagen, schlossen die Fenster und der Kutscher fuhr im Galopp davon. Karoline hatte sich sorgenvoll in den Wagen zurückgeworfen. Man hätte glauben können, sie schliefe, wenn nicht von Zeit zu Zeit nervöse Schauer sie zittern gemacht hätten, und indem sie zitterte, murmelte sie entweder das Wort Geck, welches Mack, oder das Wort Feigling, welches ihrem Gemahl galt. Dann rief sie: »O Nelson, braver Nelson! Es gibt keine Hoffnung mehr als auf ihn, Emma!« Und ich drückte ihr die Hand, indem ich sagte: »Seien Sie unbesorgt, Madame, ich stehe für ihn wie für mich selbst.« Nach einer und einer halben Stunde nach der Abfahrt von Caserta waren wir in dem königlichen Palast. Noch ehe wir aus dem Wagen stiegen, fragte die Königin, ob der General-Kapitän Acton im Schlosse sei. Er war glücklicherweise da. »Saget ihm, daß ich ihn augenblicklich bei mir erwarte,« sagte Karoline. Und wir stiegen die Treppe hinauf. Alle, welche sich zeigten, um der Königin Ihre Dienste anzubieten, Männer sowohl wie Frauen, entfernte sie wieder und antwortete: »Ich danke.« – Wir traten allein bei ihr ein. Der Diener stellte einen Kandelaber auf einen Tisch und fragte nach den Befehlen der Königin. »Laßt niemanden ein als Mr. Acton, Mylord Nelson und Sir William Hamilton,« antwortete sie mit jener Klarheit des Tones und jener Kürze der Worte, die bei ihr allemal eine heftige Gemütsbewegung verrieten. Sie legte selbst Federn, Papier und Tinte auf einen Tisch. »Schreibe ihm,« sagte sie dann zu mir. Ich nahm die Feder und schrieb flüchtig diese wenigen Worte hin: »Kommen Sie! Wir erwarten Sie im Palast, die Königin und ich, in wichtiger Angelegenheit.
»Emma.«
»Was hast du ihm geschrieben?« fragte die Königin. – »Zu kommen, das ist alles.« – »Wie, alles?« – »Es ist nichts weiter nötig.« – »Emma! Emma!« sagte die Königin, »du wirst ihn entschlüpfen lassen.«
»Bin ich Ihr Lotse? Ja oder nein!« – »Sicherlich, aber –« »Dann mischen Sie sich nicht in die Führung des Schiffes, sondern lassen Sie mich handeln.« – »So handle!« – Während sie aber ihre Einwilligung gab, zuckte sie mit den Achseln, was verriet, daß sie an meiner Stelle anders gehandelt haben würde. Ich beunruhigte mich aber nicht darüber. »Nun,« sagte ich zu ihr, »durch wen werden Eure Majestät den Brief forttragen lassen?« – »Das kommt Acton zu. Durch den Kriegshafen ist man in zehn Minuten an Bord des ›Vanguard‹. In diesem Augenblick trat Acton ein: »Irgendein Unglück, nicht wahr, Madame?« sagte er, indem er sich der Königin mit einem Gesichte näherte, in welchem seine Unruhe sich ausprägte. »Ja,« sagte Karoline, »und zwar ein sehr großes Unglück. General Mack ist geschlagen worden, und der König ist vor zwei Stunden in Caserta angekommen, nachdem er Wunder von Tapferkeit vollbracht hat.« Und sie brach in ein gellendes, nervöses Gelächter aus, wie es ihr in übergroßer Aufregung eigen zu sein pflegte. Und als Acton sie mit wachsendem Erstaunen ansah, versetzte sie: »Sie sollen in einem Augenblicke alles wissen, vor allen Dingen aber lassen Sie dieses Billett Lord Nelson zukommen. Es ist notwendig, daß es den Kriegshafen ohne Hindernisse passiere.« – »Ich werde in den Binnenhafen hinuntergehen,« antwortete der General, »um selbst die Barke, die Mylord holen soll, abzuschicken und dem Offiziere meine Befehle zu erteilen.« Und der General entfernte sich. – »Er hat wenigstens das Gute, daß er gehorsam ist,« sagte die Königin, indem sie ihm mit den Augen folgte. – »Warum tun Sie ihm nicht die Ehre an, ergeben zu sagen?« – »Weil das ein Wort ist, welches nicht in dem Wörterbuche der Höflinge steht.« – »So! und der Herzog von Ascoli?« – »Dieser ist nicht der Höfling des Königs, sondern sein Freund. Wenn der König glücklich und heiter ist, so ist es Ascoli, der ihm die bittersten Wahrheiten sagt; er ist nicht wie du Schmeichlerin, die du mir deren nie sagst.« – »Ist es mein Fehler, wenn die bittersten Wahrheiten, die man Euer Majestät sagen könnte, nur Lobeserhebungen sind?«
Die Königin küßte mich auf die Stirne und fing an hin und her zu gehen. Von Zeit zu Zeit ging sie nach der Terrasse und warf einen Blick durch die Dunkelheit auf die englische Flotte, von welcher man jedes Schiff an seinen Lichtern erkannte, und jedes Mal murmelte sie: »O Nelson! unsere einzige Hoffnung steht auf dir!« Einmal sagte sie, indem sie auf mich zukam: »Begreifst du es? Zweiundfünfzigtausend, mit allem versehene, gut besoldete Neapolitaner lassen sich von zehn- oder zwölftausend Franzosen, die halb nackt, ohne Sold, ohne Brot, ohne Schuhe, ohne Pulvervorrat sind, schlagen! Jetzt sind sie mit allem versehen, außer mit Schuhen, wenn nicht etwa unsere Soldaten die ihrigen weggeworfen haben, um noch schneller fliehen zu können. O! wenn ich ein Mann wäre, wie hätte ich mich unter diese Memmen gestellt! Wie hätte ich allen Offizieren, die nur dazu gut sind, bei der Parade ihre Silberstickerei spiegeln und ihre bunten Federn im Winde flattern zu lassen, die Epauletten heruntergerissen. Es gibt Augenblicke, auf mein Ehrenwort, wo ich Lust habe, zu Pferde zu steigen, wie meine Mutter Maria Theresia, um diesen trägen König zu beschämen. Unglücklicherweise aber habe ich es nicht mit Ungarn, sondern mit Neapolitanern zu tun.« Unterdessen trat Acton wieder ein. »Hier bin ich, Madame,« sagte er. »Der Brief ist abgeschickt, und wenn Mylord nur halb so eilig ist, Euer Majestät zu dienen, wie ich es sein würde, so wird er in einer Viertelstunde hier sein. Wollen Euer Majestät mir sagen, um was es sich handelt?« Die Königin führte ihn in das Zimmer nebenan. Sie wollte mich mit Nelson allein lassen; vielleicht hatte sie auch einige jener geheimen und furchtbaren Befehle zu erteilen, die ich häufig erst kennen lernte, wenn sie schon ausgeführt waren.
Wirklich erfuhr ich auch später, daß zwischen der Königin und dem Generalkapitän von dem Kurier Ferrari die Rede gewesen, in dessen Hände man den von Sir William und Acton verfaßten Brief anstatt des von dem Kaiser von Österreich geschriebenen untergeschoben. Man fürchtete, daß Ferrari den Betrug enthülle, und Ferdinand auf diese Weise erführe, daß sein Neffe Franz, anstatt ihn zum Ausrücken aufzufordern, ihm schrieb, er werde sich vor Ankunft der Russen, also vor Monat April oder Mai, nicht von der Stelle rühren. So wurde denn in dem Augenblicke, wo ich allein war, um auf Nelson zu warten, der Untergang Ferraris beschlossen. Ich werde zur passenden Zeit und an der geeigneten Stelle den Tod dieses Unglücklichen und die schrecklichen Umstände, welche denselben begleiteten, erzählen.
Ich war kaum seit einer Viertelstunde allein, als der Kammerdiener Lord Nelson meldete, und ich diesen in dem Rahmen der Tür erscheinen sah. Er war ganz atemlos, denn er hatte die Treppe sehr schnell erstiegen, und sein unruhig aussehendes Gesicht verriet seine Unruhe. Ehe er noch den Mund geöffnet, hatte ich beide Arme um seinen Hals geschlungen, indem ich zu ihm sagte: »Teurer Nelson, unsere einzige Hoffnung sind Sie.« Er zog mich an sein Herz, dessen Pochen ich durch die Uniform fühlte, und drückte seine zitternden Lippen auf meine Augen. Als ob er fürchtete, sich auf einer Liebkosung zu ertappen, entfernte er mich wieder sanft von sich, und indem er mich mit leidenschaftlichem Ausdruck ansah, fragte er mich: »Nun, was gibt es? Sie sprechen mit einem Manne, der sein Leben für die Königin hingeben würde, und –« Er zögerte. »Und seine Ehre für Sie,« endete er den Redesatz. – »O teurer Nelson!« rief ich aus, nahm seine Hand und wollte sie küssen. Bei der Bewegung, die er machte, um sie zurückzuziehen, neigte er den Kopf; ich erhob den meinigen, unsere Lippen begegneten sich. »O!« rief Nelson, indem er einige Schritte zurücktrat; »Sie machen mich wahnsinnig!« – »Was schadet dies,« sagte ich zu ihm, »wenn ich Sie wieder heile?« Er blickte um sich, um zu sehen, ob wir allein wären. Ich verstand seine Blicke und sagte lächelnd zu ihm: »Die Königin und der Generalkapitän sind da.« Und ich zeigte auf das Nebenzimmer.
Er seufzte, kam auf mich zu, legte seinen einzigen Arm um meine Taille, und ließ mich neben sich Platz nehmen. »Sie haben mir geschrieben, daß Sie einen Dienst vor mir zu erbitten hätten,« sagte er. »Ich bin ein Egoist, weil ich Sie nicht zuerst gefragt habe, womit ich Ihnen dienen könne. Ich mache meinen Fehler wieder gut. Später werden wir von meiner Torheit sprechen.« – »Sobald Sie wollen,« sagte ich, mit einem verheißungsvollen Blick, »und wenn Sie zu lange zögern, so werde ich zuerst davon sprechen.« – »Nehmen Sie sich in acht,« sagte er, »Sie sind Parthenope . . . ich aber bin nicht Ulysses.« – Dann fuhr er mit Selbstüberwindung fort: »Wohlan, Mack ist geschlagen, nicht wahr? Die Armee ist auf der Flucht. Der König hat einen Kurier geschickt?« – »Noch mehr als das, der König ist selbst vor drei Stunden in Caserta angekommen. Alles ist verloren. In vierzehn Tagen werden die Franzosen hier sein. Die Königin beabsichtigt nach Sizilien zu fliehen und rechnet auf Sie, um sie hinzubegleiten.« – »Gehen Sie auch mit?« fragte Nelson. – »Ich verlasse die Königin nicht.« – »Und ich, ich verlasse Sie nicht.« – »Welcher Befehl auch an Sie gelange?« – »Und müßte ich meine Briefe zerreißen, ohne sie zu öffnen!« – »Nelson!« rief ich, und streckte ihm die Arme entgegen. Er warf sich an mein Herz. »Schon wieder!« sagte er, »schon wieder! Haben Sie doch Mitleid mit mir!« – »Nelson, nicht aus Mitleid sage ich Ihnen, daß ich Sie liebe; es geschieht aus Dankbarkeit . . . aus Liebe!« Ganz außer sich warf er sich mir zu Füßen, indem er mir die Hände küßte und dabei ein mattes Murmeln hören ließ, welches ebensowohl Schmerz als Freude ausdrückte. In diesem Augenblicke öffnete die Königin die Tür halb, und als sie Nelson zu meinen Füßen sah, machte sie eine Bewegung, um sich zurückzuziehen. »O! kommen Sie herein, kommen Sie herein, Madame!« sagte ich; »Nelson hat mir soeben gesagt, daß er uns gehöre, und ich habe ihm gesagt, daß ich ihm gehöre. Wollen Eure Majestät geruhen, unserm Retter die Hand zum Kusse zu reichen.«
Am nächsten Morgen war Staatsrat. Der König setzte die Lage der Dinge auseinander. Er verschwieg nichts von dem Unglück. Er hätte es eher noch größer gemacht, als es war, wenn dies möglich gewesen wäre. Der Admiral Caracciolo wurde in seiner Eigenschaft als Kommandant der Seemacht mit zu dieser Beratung zugezogen. Da man vom Meere her nichts zu fürchten hatte, weil die Engländer den Hafen bewachten, so fragte er, ob man ihm erlaube, die Seesoldaten in ein Korps von tausend bis zwölfhundert Mann zu vereinigen, sich an ihre Spitze zu stellen und gegen die Franzosen zu ziehen. Wenn er sich der Pässe in den Abruzzen bemächtigte, ehe der Hauptteil der neapolitanischen Armee dahin gelangte, so konnte er ihrer weitern Flucht ein Hindernis in den Weg legen und die Flüchtlinge mit Gewalt wieder sammeln.
Wie groß auch die Zahl der Soldaten sein mochte, die man in den verschiedenen Kämpfen gegen die Franzosen verloren, so mußte doch die neapolitanische Armee immer noch wenigstens viermal stärker sein, als die, vor welcher sie floh. Der König nahm dieses Anerbieten nicht an. Er zweifelte an der Ergebenheit Caracciolos, und argwöhnte, daß er die Truppen nur organisieren wolle, um sich dann mit ihnen den Patrioten anzuschließen.
Caracciolo ward durch diesen Verdacht, den er nicht verdiente, verletzt, und erklärte, indem er sich noch vor Schluß der Beratung zurückzog, daß er sich auf sein Schiff begebe, wo er die Befehle des Königs erwarte. Ehe er an Bord seines Schiffes zurückkehrte, ließ er sich jedoch bei der Königin melden. Bei der Königin war auch ein Kabinettsrat versammelt, nur bestand dieser aus der Königin, Nelson, Sir William und mir. Seit dem Tage vorher hatte die Königin mit dem General-Kapitän ihre Flucht und die ihrer Familie beschlossen. Sie zögerte, Caracciolo zu empfangen, Sir William aber bestimmte sie dazu. Die Königin faßte mich beim Arm, denn sie wünschte, daß ich ihrer Unterredung mit dem Admiral beiwohne, ohne Zweifel, um ihm die Beharrlichkeit einer Freundschaft zu zeigen, die durch die direkten und indirekten Ratschläge, welche man gegen diese Freundschaft geben konnte, anstatt erschüttert, nur noch mehr befestigt ward. Vergebens bat ich sie, mich doch nicht einer neuen Beschimpfung von Seiten des neapolitanischen Fürsten auszusetzen. Sie erklärte mir, daß sie es so wünsche, und daß der Admiral bei dem geringsten zweideutigen Worte festgenommen werden würde. Gleich beim ersten Zusammentreffen konnte man aber leicht sehen, daß in diesem Augenblicke nichts dergleichen von Seiten Caracciolos zu fürchten sei. Nie war der Ausdruck der Ehrfurcht auf einem edlen Antlitze stärker ausgeprägt, als der, welchen wir auf dem des Fürsten lesen konnten.
»Madame,« sagte er, indem er sich verneigte, »der König hat uns soeben das Unglück der Landtruppen mitgeteilt, glücklicherweise aber ist die treue Seemacht noch unversehrt. Ich bin nicht gerufen worden, Eurer Majestät einen Rat zu geben, und doch würde ich, wenn Eure Majestät mir die Ehre erzeigten mich zu befragen, nachdem ich, wohlverstanden, bis zum letzten Augenblick ausgehalten und alles getan, um uns zu retten, den Rat geben, Ihre festländischen Staaten zu verlassen und nach Sizilien zu fliehen.«
»Dies ist auch meine Absicht, mein Herr,« sagte die Königin.
»Dann,« versetzte Caracciolo, indem er sich zum zweiten Male verneigte, »würde ich Eure Majestät inständig bitten, der ›Minerva‹ die Ehre zu erzeigen, sie zu ihrem Transportschiff zu wählen. Die ›Minerva‹ ist das beste Schiff des ganzen neapolitanischen Geschwaders, und in Anbetracht des Zustandes, in den die Schlacht bei Abukir die englische Flotte versetzt hat, könnte sie sogar in Schnelligkeit und Sicherheit mit dem Schiffe Lord Nelsons wetteifern. Wir sind jetzt in den schlechtesten Tagen für die Schiffahrt, ich kenne unsere Meere, und ich möchte fast sagen unsere Stürme. Niemand als ich könnte besser für das Wohl Eurer Majestät und Ihrer erhabenen Familie bürgen. In einigen Tagen kann die Fregatte so eingerichtet werden, daß Eure Majestät darin einen würdigen Aufenthalt findet.«
Die Königin verneigte sich zum Zeichen des Dankes.
»Es ist unnötig zu sagen,« fuhr Caracciolo fort, »daß, wenn, wie es scheint, Lady Hamilton und Sir William es für gut erachten, Eurer Majestät zu folgen, es mir eine große Ehre sein würde, sie an meinem Bord zu empfangen. Es würde dies sogar die größte sein, die mir zu Teil werden könnte, wenn ich nicht zu gleicher Zeit die hätte, Eure Majestät zu empfangen.«
Das alles wurde in einem so würdigen, edlen und ehrfurchtsvollen Tone gesagt, daß die Königin nicht widerstehen konnte. Sie hielt dem Admiral die Hand entgegen.
»Mein Herr,« sagte sie zu ihm, »an dem Tage, wo ich Sie brauche, werde ich Ihr Anerbieten nicht vergessen, und bis dahin danke ich Ihnen, es mir gemacht zu haben, in meinem und Lady Hamiltons Namen. Haben Sie mir noch etwas zu sagen, oder wünschen Sie etwas?« – »Ich habe Eurer Majestät zu sagen, daß ich Sie bitte, mich als Ihren treuesten Diener anzusehen, und daß ich Ihnen meine ehrfurchtsvolle Huldigung zu Füßen zu legen wünsche.« Und indem der Admiral von neuem die Königin und mich grüßte, ging er rückwärts bis an die Tür, indem er mit erhabenem Zartgefühl die Würde seiner eigenen Person mit der Verehrung, die er der Majestät der Königin zollte, vereinbarte. Die Königin folgte ihm mit den Augen. »Dieser Beweis von Treue und Ehrfurcht rührt mich noch mehr um deinet- als um meinetwillen,« sagt sie zu mir; »aber es würde mir ebenso lieb gewesen sein, wenn der Admiral mir ihn gar nicht gegeben hätte.«
Wir gingen wieder in das Zimmer zurück, wo wir Sir William und Lord Nelson gelassen hatten. Nelson schien ärgerlich zu sein, und da die Königin gar nicht von der Unterredung mit Caracciolo sprach und Nelson sie nicht fragen durfte, sagte er: »Madame, ich hoffe, Euer Majestät werden nicht vergessen, daß Sie sich zuerst an mich gewendet, und daß ich mich zuerst Ihnen zur Verfügung gestellt.« – »Seien Sie unbesorgt, lieber Admiral,« antwortete die Königin. – »Dann habe ich also Ihr Wort, Majestät,« sagte Nelson, »daß kein anderes Schiff, als das, welches ich kommandiere, die Ehre haben wird, Eure Majestät nach Sizilien zu bringen?« – »Sie haben es,« sagte die Königin, »aber dieses Wort bindet nur mich, Sir William und Mylady Hamilton. Was die Absichten des Königs sind, weiß ich nicht, und gedenke auch nicht, sie zu beeinflussen.« Nelson verneigte sich. »Eure Majestät wird mir also erlauben, demzufolge zu handeln?« – »Handeln Sie, und wir sind überzeugt, daß alles, was Sie tun werden, zu unserem Besten sein wird.«
»Ich bitte die Königin um Erlaubnis, zwei oder drei Briefe zu schreiben, von denen sie die Güte haben wird, Kenntnis zu nehmen,« sagte Lord Nelson. Ich machte auf einem Seitentische Feder, Tinte und Papier zurecht, und gab Mylord dann ein Zeichen, daß alles bereit sei. Nelson setzte sich an den Tisch, gab mir zu verstehen, daß ich die Zeilen, so wie sie aus seiner Feder flossen, lesen könnte, und schrieb folgende zwei Briefe:
»Ganz geheim.
Neapel, den 10. Dezember 1798.
Mein lieber Truebridge!
Die Dinge sind hier in einem sehr kritischen Zustande, und ich wünsche, daß Sie ohne Verzug zu mir stoßen, indem Sie die ›Terpsichore‹ in Livorno zurücklassen, um den Großherzog zurückzubringen. Diese Maßregel ist unumgänglich notwendig, und ich schicke Ihnen wahrscheinlich bald den Kommandanten Campbell, um diesen Dienst zu verrichten. Der König ist wieder zurück und alles geht sehr schlecht. Um Gottes willen, beeilen Sie sich! Nähern Sie sich Neapel mit der größten Vorsicht. Ich werde wahrscheinlich in Messina sein; erkundigen Sie sich aber auf alle Fälle, wenn Sie an den liparischen Inseln vorüberkommen, damit Sie wissen, ob wir in Palermo sind. Ermahnen Sie Gages, so heimlich wie möglich zu Werke zu gehen. Er möge an Wyndham schreiben und ihm die notwendigen Mitteilungen über die Lage, in der wir uns befinden, machen, damit er seinerseits mit der größten Verschwiegenheit handle. Alle vereinigen ihre Grüße mit den Ihres treuen Freundes
Horatio Nelson.«
Der zweite Brief war an Kapitän Ball gerichtet mit derselben Empfehlung: »Ganz geheim.
»Ganz geheim.
Mein lieber Ball!
Ich wünsche, daß Sie mir sogleich den ›Goliath‹ schicken und daß Sie Foley Befehl geben, außerhalb des Leuchtturmes vor Messina zu kreuzen, bis er weitere Nachrichten erhält. Es ist sehr möglich, daß er mich dort sieht, mich und andere. Die Lage dieses Landes ist höchst traurig, fast alle sind hier Verräter oder Memmen. Gott segne Sie! Halten Sie dies alles geheim, und sagen Sie Foley bloß, er solle sich Neapel nur mit der größten Vorsicht nähern. Ich habe nichts aus England erhalten. Ich bin hier mit der ›Alkmene‹ und den Portugiesen.
Das ganze Haus sagt Ihnen mit Ihrem Freunde tausend Grüße.
»Horatio Nelson.«
»Der Kutter ›Flora‹ ist verlorengegangen, und ich kann Ihnen nichts schicken. Können Sie den ›Incendiary‹ absenden? Nur aber keine neapolitanischen Schiffe! Sie sind alle Verräter in der Marine; in Summa: überall herrscht Treulosigkeit.«
Man sieht aus den Zeilen, die ich unterstrichen habe, den Haß der englischen Marine gegen die neapolitanische scharf hervortreten und die ersten Blitze von Nelsons Eifersucht gegen Caracciolo aufzucken, einer Eifersucht, die für letzteren so verderblich war. Nelson übergab mir diese beiden Briefe, die ich Sir William gab, damit er der Königin die Stellen, die ihr dunkel scheinen könnten, erkläre. Nelson schrieb gewöhnlich mit einer lakonischen Kürze, die ihn in seiner eigenen Sprache zuweilen unverständlich für seine Landsleute machte, umsomehr aber für die Ausländer. Während die Königin mit Sir Williams Hilfe die beiden Briefe, die ich soeben angeführt habe, las, saß Nelson in Gedanken versunken, indem er seine Feder zwischen den Fingern rollte und zu zögern schien, ob er noch einen dritten schreiben sollte.
Endlich entschloß er sich.
An Lord Spencer.
Neapel, den 10. Dezember 1798.
Mein lieber Lord!
Erlauben Sie, daß ich in zwei Worten Sie in Kenntnis setze von dem, was soeben vorgefallen.
Die neapolitanische Armee ist von den Franzosen gänzlich geschlagen und die Flüchtlinge werden von den Siegern bald nach Neapel zurückgeworfen werden. In diesen traurigen Umständen hat mir die Königin mein Ehrenwort abgenommen, sie nicht eher zu verlassen, als bis glücklichere Tage wiederkommen. Der König ist vergangene Nacht angelangt. Er war der Bote seines eigenen Unglücks. Er scheint so dicht verfolgt worden zu sein, daß er gezwungen gewesen ist, mit einem seiner Kammerherren die Kleider zu wechseln. Sie sehen, daß, da er zu einem solchen Rettungsmittel getrieben worden ist, die Gefahr wirklich vorhanden gewesen sein muß. Ich hoffe daher, daß die Admiralität nichts Unangemessenes darin sehen wird, daß ich bei der Königin bleibe, der ich, wie ich bereits gesagt, mein Wort gegeben habe. Helfen Sie mir durch Ihren hohen Einfluß es halten, sollte ich es selbst törichterweise gegeben haben. Sobald als wir vollständigere Nachrichten erhalten, werde ich sie Ihnen zukommen lassen.
Mit allen Gefühlen der Hochachtung zeichne ich als Ihr treuer Diener
H. Nelson.«
Diese drei Briefe boten allen Ereignissen die Spitze. Die Königin dankte Nelson dafür, und man wartete, nachdem diese ersten Maßregeln getroffen waren, mit mehr Ruhe. Der Kabinettsrat des Königs hatte keinen Entschluß gefaßt, die Sache wäre für ihn auch schwierig gewesen, denn man wußte, beim Lichte besehen, weiter nichts, als was der König selbst wußte, das heißt, daß die neapolitanische Armee geschlagen worden und auf der Flucht war. Indessen setzte man eine Proklamation auf, deren zweideutige Ausdrücke die Wahrheit der Tatsachen schlecht bemäntelten, und die sogleich an allen Straßenecken angeschlagen ward. Nur dumpfe Gerüchte von dem Ereignisse waren bis nach Neapel gedrungen, die bestimmte Nachricht von dem Unglück äußerte daher gleichsam die Wirkung einer platzenden Bombe. Was der General Mack gesagt, war vollkommen wahr. Es gab keine neapolitanische Armee mehr. Nicht als ob die Verluste, die sie auf dem Schlachtfelde erlitten, so groß gewesen wären, denn sie hatte kaum tausend Mann verloren. Da sie aber aus vollständig ungleichartigen Elementen zusammengesetzt war, so hatte sie sich beim ersten Angriff aufgelöst und war verschwunden wie Rauch. So ward ein auf törichte Weise gereizter Feind, ein Feind, den man gottlos, grausam, Entheiliger der Religion, Verfolger seiner Priester usw. nannte, durch nichts gehindert, in das Königreich einzufallen und bis nach Neapel vorzudringen.
Der König wußte dies so gut, daß er, indem er darauf verzichtete, sich mit irdischen Waffen zu verteidigen, seine Sache in Gottes Hände legte, Gebete in den Kirchen anbefahl, um den Zorn des Himmels zu besänftigen, und die wegen ihrer Beredsamkeit berühmtesten Priester und Mönche aufforderte, die Kanzeln und selbst die Ecksteine zu besteigen, um durch alle nur möglichen Mittel das Volk zu bewegen, die Hauptstadt zu verteidigen.
Man begreift die Wirkung, welche die königliche Proklamation und die Predigten der Priester und Mönche auf die Bevölkerung der Dörfer und der Stadt hervorbrachten. Als ich die Gefangennehmungen der Jakobiner und die Enthauptungen von Emanuel de Deo, Gagliani, Vitagliano erzählte, sagte ich, wie die Stimmung der mittleren und aufgeklärten Klasse von Neapel war. Die Klasse der Lazzaroni, das heißt die zahlreichste, vielleicht hunderttausend Seelen, war aber für den König und hielt die Franzosen für Gottlose und für mit dem Kirchenbanne Belegte und Ketzer. Die Proklamation des Königs war nichts anderes als ein Aufruf zur Straßenräuberei. Nun ist aber, sozusagen, die Straßenräuberei in den Abruzzen und in der Terra di Lavoro eine Nationalsache. Jeder nimmt die Flinte, das Beil oder Messer und macht sich auf, ohne ein anderes Ziel vor Augen als Zerstörung, mit keinem anderen Trieb als nur Plünderung. So unterstützt er seinen Anführer, ohne ihm zu gehorchen; er folgt seinem Beispiel, aber nicht seinen Befehlen. Massen waren vor den Franzosen geflohen, nur vereinzelte Scharen marschierten gegen sie; eine Armee war verschwunden.
Was die Vorgänge in der Stadt betrifft, so war hier die furchtbarste Verwirrung zu sehen. Eine ganze Klasse der Gesellschaft, der Mezzoceto, die, welche sich Patrioten nannten und die man Jakobiner hieß, hielten sich zu Haus eingeschlossen, denn sie fürchteten sich der Wut des Volkes auszusetzen, die durch den Anblick eines langen Beinkleides oder eines à la Titus frisierten Kopfes bis aufs höchste gesteigert werden konnte. Ungeheure Zusammenrottungen bildeten sich auf allen Plätzen, auf dem Largo Castello, auf dem Largo de la Trinità, auf dem Largo delle Pigne, auf dem Mercatello, auf dem Altmarkt, kurz überall, wo man Gerüste gebaut und wo von diesen Gerüsten herab mit einem Kruzifix in der Hand ein Mönch predigte. Die Lazzaroni betrachteten sich als die Häupter dieser Versammlungen, stellten sich an die Spitze derselben und liefen durch die Toledostraße, die Chiaja und die Santa Lucia, indem sie riefen: »Es lebe der König, Tod den Jakobinern! Tod den Franzosen!« Vor ihnen schlossen sich alle Türen, alle Läden, alle Fenster. Als der Abend kam, zündete man, da man im Dezember stand und das Wetter regnerisch und kalt war, große Feuer an und verbrachte die Nacht in ihrer Nähe, indem man trank, sang und heulte.
Die Königin sah oft zu den Fenstern hinaus und konnte nicht umhin, über den Sturm zu erschrecken, den sie zu entfesseln beigetragen hatte, ohne zu wissen, ob unter diesen Windstößen nicht auch der Thron untersinken würde. Indessen faßte der König bei dem Anblicke des allgemeinen Aufstandes, bei den Nachrichten, die aus der Provinz kamen, wieder einigen Mut. Er ließ den schwachen Willen merken, den Widerstand zu organisieren und die Franzosen zu erwarten. Die Bauern fuhren fort Wunder des Fanatismus, und die Offiziere Wunder der Feigheit zu vollbringen. Tchudy, ein alter Oberst aus der Schweiz, der in Gaëta kommandierte, hatte die Tore dieser Festung geöffnet, obgleich dieselbe für uneinnehmbar galt. Civitella del Tronto, eine Festung, die auf einem unzugänglichen Berge lag, wurde von einem Spanier, dessen Name ich nicht mehr weiß, verteidigt. Nach zehn Stunden Belagerung ergab er sich mit seiner ganzen Garnison als Kriegsgefangener. Der Gouverneur des Forts von Pescara wartete gar nicht einmal, bis die Belagerung begann, sondern ergab sich bei den ersten feindseligen Kundgebungen. Dafür aber sengten, würgten und metzelten die Bauern alles nieder, was ihnen unter die Hände kam. Sie hatten sich der Stadt Teramo bemächtigt, die sie den Franzosen wieder abgenommen. Eine Masse Freiwillige waren aus der Terra di Lavoro ausmarschiert und zogen den Garigliano entlang, indem sie die Brücken abbrachen, sich auf der Landstraße in den Hinterhalt legten und Boten, einzelne Leute, ja sogar kleine Abteilungen von Soldaten ermordeten.
Auf der andern Seite, und wenn auch Gaëta, Civita del Tronto und Pescara sich ergeben hatten, so war Capua standhaft, und Macdonald erlitt hier einen schweren Verlust. Duhesme war vor demselben Capua mit zwei noch blutenden Wunden angekommen, dem General Maurice Mathieu war eine Kugel durch den Arm gegangen; der Oberst von Arnaud war gefangen genommen worden, der General Boisregard war getötet und Championnet kam keuchend aus der Terra di Lavoro heraus – und nannte die noch unbekannten Namen Fra Diavolo und Mammone, welche später eine so traurige Berühmtheit erlangen sollten. Die Täuschung verschwand. Wenn die Franzosen auch immer unbesiegbar waren, so waren sie doch wenigstens nicht mehr unverwundbar. Auch sagte man, daß die Franzosen sich bei Capua nicht in der Hoffnung, dasselbe einzunehmen, vereinigten, sondern um sich einen ehrenhaften Rückzug zu bereiten. Alle diese Nachrichten gaben den Neapolitanern das Vertrauen wieder, Ferdinand war so geliebt, daß er die Mißliebigkeit Actons und der Königin beim Volke nicht bloß aufwog, sondern auch vergessen machte. Jene eilige Flucht, die dem König die Achtung aller Leute von Charakter geraubt, hatte nur dazu beigetragen, ihn den Lazzaroni noch werter zu machen. Einer sagte dem andern wiederholt, daß Ferdinand, von seiner Armee verraten, gekommen sei, sich in ihre Mitte zu flüchten. Übrigens sagten sich die vernünftigen Freunde des Königtums – und wenn es deren auch nur wenige gab, so konnte man doch in Neapel noch eine ziemliche Zahl zusammenbringen – daß noch vierzigtausend Mann in den Händen Macks und Damas' seien, daß Nascelli acht- bis zehntausend aus Toscana zuführen könne, daß die bewaffneten Banden, die beim Aufrufe des Königs entstanden waren und die im Lande umherschweiften, wenigstens fünfzehntausend Mann betragen würden. Alle diese vereinigten Kräfte bildeten eine Totalsumme von sechzig- bis fünfundsechzigtausend Mann, gestützt auf eine Stadt von fünfhunderttausend Einwohnern, und auf die dreifache Flotte der Engländer, Portugiesen und Neapolitaner.
So war es augenscheinlich, daß in diesem Ozean von Menschen zehn- bis zwölftausend Franzosen verschlungen werden und verschwinden mußten. Dies alles aber beruhigte Karolinen nicht. Sie fühlte bei dem Widerwillen, den sie gegen die Neapolitaner empfand, daß diese sie haßten. Acton hatte ebenso wie sie das Gefühl dieses Hasses. Auf der andern Seite hatte sich die Furcht der Staatsinquisitoren vom ersten Augenblicke an bemächtigt. Castelcicala, Vanni, Guidobaldi wußten sich von geheimer Rache umgeben und verstärkten, indem sie um die Wette zitterten, die Fluchtpartei. Nelson, der in Sizilien für alles bürgte, haftete in Neapel für nichts. Aber wenn der König in Neapel blieb, so durfte niemand wagen, ihn zu verlassen. Deshalb mußte man den König dazu bestimmen, indem man ihn durch irgend ein furchtbares Schauspiel erschreckte, und sozusagen aus Neapel hinausjagte. Wenn in dem Ereignis, welches ich erzählen will, ein Verbrechen lag – worüber ich weiter nicht entscheiden will – so war dieses Verbrechen von der Königin und Acton beschlossen und ausgeführt.
Ich habe bereits ein Wort von der Verlegenheit gesagt, die Ferrari verursachte, weil er dem König eine falsche Depesche überbrachte. Wenn der König nun in einem solchen Augenblicke auf irgend eine Weise erfuhr, daß er getäuscht worden war, so konnte sein Zorn ein furchtbarer werden. Nun aber war am Abend des 19. Dezember eine Depesche aus Wien gekommen, und die Königin, die stets auf der Lauer lag, hatte dieselbe aufgefangen. Diese Depesche hätte dem König, wenn sie bis zu diesem gekommen wäre, alles offenbart. Der Kaiser schrieb nämlich seinem Neffen, daß er, indem er vor der Zeit gehandelt, die Sache Europas verraten habe, und daß er verdiene, seinem Schicksale überlassen zu werden. Von diesem Augenblicke an war über Ferrari, der bis jetzt bloß gerichtet war, der Stab gebrochen und sein Tod bestimmt, den König zu schrecken. Ich wiederhole es, in dieser ganzen Sache spreche ich nur vom Hörensagen, und wenn ich mir geschworen hätte alles der strengsten Wahrheit gemäß zu gestehen, so würde ich diese Tat mit Stillschweigen übergehen, weil ich die Richtigkeit hier nicht so bestätigen kann, wie bei Sachen, bei denen ich selbst beteiligt gewesen bin. Ich glaube von einem gewissen Pasquale de Simone gesprochen zu haben, der im Solde der Königin stand und den man deshalb den Sbirren oder Häscher der Königin nannte. Er erhielt, sagte man, fünftausend Dukaten mit dem Befehle, einen Teil davon unter das Volk, besonders unter die Hafenarbeiter und Seeleute, zu verteilen. Es handelte sich darum, sich eines Mannes zu entledigen, den Pasquale de Simone dem Zorne des Volkes dadurch bezeichnen würde, daß er ihn einen Jakobiner nannte. Am 20. Dezember, gegen zehn Uhr abends, kam Ferrari aus dem Palais, um ein Billett des General-Kapitäns an Lord Nelson zu besorgen. Pasquale de Simone wartete auf ihn in der Nähe der Straße del Piliero, d. h. an der Ecke des Kai, dem Hafendamme gegenüber. Durch ein Zeichen gab er den Seeleuten zu verstehen, daß dies der Mann sei, von dem die Rede war. Die Seeleute antworteten durch ein anderes Zeichen, daß sie ihn verstanden hätten. Ferrari sprang ohne irgendwelches Mißtrauen vom Kai in ein Boot und befahl zweien der Seeleute, ihn an Bord von Nelsons Schiff zu bringen. Die Ruderer verlangten im voraus bezahlt zu werden.
Ferrari gab ihnen vier Carlins. Es war dies gut bezahlt. Die Seeleute forderten einen Piaster. »Nehmt euch in acht, was ihr tut,« sagte Ferrari; »ich bin der Kurier des Königs.« – »Du?« antwortete einer der Seeleute, ermutigt durch ein Zeichen von Pasquale de Simone. »Wir kennen dich, du bist ein Jakobiner.«
Kaum war das Wort gesprochen, so blitzten auch schon zwanzig Messer und der unglückliche Ferrari fiel, von Stichen durchbohrt. Den Tag vorher hatte eine große Demonstration stattgefunden, die den König in seinem Entschlusse, in Neapel zu bleiben, nicht wenig bestärkt hatte. Eine ungeheure Menge Volkes hatte sich auf dem Schloßplatze versammelt, indem sie rief: »Tod den Jakobinern!« Zugleich hatte man nach ihren Namen gefragt, um sie alle niederzumetzeln, und zu verstehen gegeben, daß, wenn erst die inneren Feinde vernichtet seien, es leicht sein würde, auch die äußeren Feinde zu vertilgen. Bei dem wütenden Geschrei, welches die Menge erhob, hatte sich der König auf dem Balkon gezeigt, dem Volke durch Gebärden und Worte gedankt und den Fürsten Pignatelli unter die Menge geschickt, mit dem Auftrage, mit ihren Anführern zu sprechen und ihnen zu sagen, daß die Abreise des Königs, die man vor der Zeit gemeldet, noch lange nicht bestimmt sei, und daß aller Wahrscheinlichkeit nach der König, wenn er sicher sein könnte, durch das Volk unterstützt zu werden, bleiben würde.
Und das Volk hatte gerufen:
»Für Gott und den König sind wir bereit, uns vom ersten bis zum letzten umbringen zu lassen!«
Das war die Demonstration, welche die Königin und die ganze Fluchtpartei so sehr erschreckt hatte. Den nächsten Tag, zu derselben Stunde, hörte der König denselben dumpfen Lärm, der mit Heulen und Geschrei vermischt war, wie es der Pöbel aller Länder und besonders der Pöbel Neapels hören läßt. Der König glaubte, es wäre eine harmlose oder wenigstens nur den Worten nach feindselige Demonstration, und begab sich wie gewöhnlich auf seinen Balkon. Die Menge kam dieses Mal von der Seite des Theaters San Carlo herauf und rollte etwas Unförmliches mit sich fort, was der König vergebens zu erkennen bemüht war. Man hörte nur das Geschrei:
»Der Jakobiner! Tod dem Jakobiner!«
Der König fing an zu begreifen, daß dieser unförmliche, blutende, durch den Kot geschleifte Gegenstand sehr wohl der Körper eines Menschen sein könne. Der Körper dieses Menschen, wenn es wirklich ein Körper war, konnte aber nur der eines Feindes sein, und der König war so ziemlich derselben Meinung wie König Carl der Neunte, welcher, indem er den Leichnam des Admirals Coligny betrachtete, sagte: »Die Leiche eines Feindes riecht immer gut!« Somit empfing er die Menge mit seinem gewohnten Lächeln. Als aber die Menge, um dieses Lächeln auf angemessene Weise zu beantworten, den Leichnam aufrichtete, erkannte der König nach einem Augenblicke des Zögerns Ferrari, stieß einen Schrei des Entsetzens aus, wankte zurück, und fiel, die Augen mit den Händen bedeckend, in einen Lehnstuhl. Diesen Augenblick hatte die Königin eben abgewartet. Sie trat ein, nahm den König beim Arm und führte ihn fast mit Gewalt an das Fenster.
»Sehen Sie,« sagte sie, »mit unseren Dienern fängt man an; mit uns wird man aufhören. Das ist das Schicksal, was uns, Ihnen, mir und unsern Kindern, vorbehalten ist!«
»Geben Sie Befehl, und reisen wir ab!« rief Ferdinand, indem er sein Fenster zuwarf, und sich in den Hintergrund seiner Zimmer zurückzog. Die Partie war gewonnen.
Sowie dieser Entschluß gefaßt war, schrieb die Königin an Nelson, der mit gewohnter Eile herbeikam. Sie meldete ihm ihre Abreise, nur der Tag war noch nicht bestimmt. Wenn ich sage der Tag, so sollte ich eigentlich sagen: die Nacht, denn man kam überein, daß die königliche Familie Neapel verlassen sollte, ohne jemandem vorher von dieser Flucht etwas mitzuteilen. Die Königin wendete sich an Nelson und nicht an Caracciolo. Sie tat dies aus zwei Gründen. Der erste war vielleicht die Antipathie, die ihr der neapolitanische Fürst einflößte, obgleich sie nicht umhin konnte, dem Edelmute seines Charakters Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; der zweite und wahrscheinlich hauptsächlichste aber war, daß Karoline einen Neapolitaner nicht die Reichtümer sehen lassen wollte, welche sie mit fortnahm, aus Furcht, daß das Gerücht davon sich in der Stadt verbreiten möchte. Da das Fortschaffen der wertvollsten Gegenstände noch denselben Abend geschehen sollte, so schickte Nelson sogleich folgenden Befehl an den Kapitän Hope, Kommandanten der »Alkmene«: »Drei Barken und der kleine Kutter der ›Alkmene‹, nur mit Säbeln bewaffnet, hat sich punkt halb acht Uhr an der ›Viktoria‹ einzufinden. Eine einzige Barke wird an den Kai anlegen. Die Barken sollen sich vor sieben Uhr am Bord der ›Alkmene‹ vereinigen, unter dem Befehle des Kommandanten Hope. Die Enterhaken in den Schaluppen. Alle anderen Schaluppen des ›Vanguard‹ und der ›Alkmene‹ werden mit großen Messern bewaffnet und die kleinen Boote mit ihren Caronnaden sollen sich an Bord des ›Vanguard‹ unter dem Kommando des Kapitän Hardy vereinigen, der sich punkt halb neun davon entfernen wird, um auf der Hälfte des Weges nach Molo-Siglio in See zu stechen. Jede Schaluppe ist mit vier bis sechs Soldaten zu bemannen. Im Fall man Hilfe brauchte, gebe man Feuersignale. H. Nelson.«
Das Rendezvous hatte man sich an der »Viktoria« gegeben, weil der Kai der »Viktoria« gerade dem Palaste der englischen Gesandtschaft gegenüber lag, und weil ich, ohne bemerkt zu werden, hierher die kostbarsten Kleinodien der Königin bringen und bringen lassen konnte. Diese Kostbarkeiten sollten mir im Laufe des Tages in zwei oder drei Kisten verpackt zugeschickt werden. Da man aber auch alle Kunstgegenstände, wie Statuen und Gemälde, die man zusammenbringen konnte, mitnehmen wollte, so mußte man einen andern Weg ausfindig machen. Eine alte Tradition des Schlosses sagte, daß unter dem Schlosse ein Gang existiere, der mit dem Meere in Verbündung stünde. Es handelte sich nun darum, diesen Gang zu entdecken. Dieselbe Tradition sagte, daß dieser unterirdische Gang seit der Zeit der spanischen Herrschaft nicht wieder geöffnet worden wäre. Die Königin ließ den ältesten der Diener des Schlosses kommen. Es war dies ein Mann von vierundachtzig Jahren. Er war folglich 1714 geboren und 21 Jahre alt gewesen, als Karl der Dritte zum König von Neapel ernannt worden war. Er war ehemals Schlosser des Palastes gewesen, und war jetzt pensioniert. Sein 58 Jahre alter Sohn war aber sein Nachfolger und nahm denselben Posten im Schlosse ein. Der Greis sammelte seine Erinnerungen und versprach diesen Gang wieder aufzufinden mit Hilfe seines Sohnes, für den er wie für sich selbst bürgte. Soviel wie er sich erinnern konnte, war dieser Gang eine Klafter breit und acht bis neun Fuß hoch. Die Statuen und Gemälde konnten folglich auf diesem Wege fortgeschafft werden. Der Greis erhielt Befehl, sich an die Wiederaufsuchung des unterirdischen Ganges zu machen und die Königin zu benachrichtigen, sobald er ihn gefunden haben würde. Eine halbe Stunde später kam er wieder herauf. Er hatte die innere Tür erkannt; sein Sohn erwartete die Befehle der Königin, um diese Tür zu öffnen, denn was aus dem Schlüssel geworden sei, wußte man natürlich nicht. Die Königin wollte niemandem die Ausforschung des Ganges anvertrauen. Ihre Gegenwart hätte der Operation eine zu große Wichtigkeit verliehen, und ich übernahm daher diese Aufgabe. Man nahm Fackeln und ich folgte dem Greise hinunter. Das Souterrain stand in Verbindung mit den Kellern des Schlosses, nur war die Tür verborgen hinter einer Reihe leerer Tonnen, die in dem Augenblicke, wo man sie berührt, in Staub zerfallen waren, da sie vielleicht schon seit Dreivierteljahrhundert hier lagen. Ich befahl dem Schlosser, die Gittertür zu öffnen, was nicht ohne gewisse Schwierigkeit geschehen konnte, weil der Rost das Schloß und die Angeln verdorben hatte. Indessen es gab endlich nach.
In dem Augenblicke, wo wir in diesen dunklen, von Stickluft angefüllten Gang eindringen wollten, fehlte mir der Mut. Es schien mir, als ob ich auf diesem klebrigen Boden allen Arten kriechender Tiere begegnen müßte. Dennoch ging ich mit dem jüngsten der beiden Männer hinein. Der Greis blieb zurück, um die Tür zu bewachen.
Das Souterrain machte Biegungen, die dessen Länge verdoppelten; die Luft darin war feucht, und eiskalte Wassertropfen fielen von der gewölbten Decke.
Ich bemerkte, daß ich mich dem entgegengesetzten Ende näherte, an dem Aufflattern von drei oder vier Fledermäusen, die ich in ihrer Ruhe aufscheuchte, und die wieder hundert andere erweckten. Des Tages flüchteten sie sich in diesen dunklen Gang und des Abends flogen sie zwischen den Stäben des Gittertores, welches nach dem Kriegshafen führte, heraus.
Ungeachtet des Schreckens, welchen mir dieses unheimliche Aufflattern einflößte, schritt ich weiter, und bald erblickte ich das Tageslicht.
Wie man gesagt, ging die entgegengesetzte Öffnung auf das Meer, und der zwölf bis höchstens fünfzehn Fuß breite Kai erlaubte alles, was man wünschte, leicht an Bord der Schaluppen zu schaffen, die am Landungsplatz anlegten. So konnte man noch an demselben Abende mit dem Fortschaffen anfangen, indem man die Kisten in die Keller hinabtrug. Ich ging wieder hinauf, um der Königin diese gute Nachricht zu bringen. Sie erklärte, daß sie an meiner Stelle vor Furcht gestorben sein würde, da sie den größten Abscheu vor Fledermäusen hege. Und wirklich war diese Furcht der Königin vor diesen Tieren der Grund, daß die königliche Familie für ihre Flucht nicht den neuen Weg benutzte, dessen, wenn auch nicht Christoph Columbus, doch wenigstens Vasco de Gama ich war. Der ganze Tag wurde verwendet, um Kisten zu machen, in welche man alles packte, was man sich an Gold bei der Bank, bei dem Leihhaus und bei anderen öffentlichen Anstalten verschaffen konnte.
Übrigens waren seit Donnerstag den 19. die Segelmeister beauftragt, die Kajüten auf dem »Vanguard« für den König, die Königin und die königliche Familie herzurichten. Die Maler waren in den Kajüten der Offiziere unter dem Hinterteil des Schiffes tätig, weil dieser Raum bestimmt war, der Salon der königlichen Familie zu werden. In der Nacht vom Donnerstag zum Freitag wurden die ersten Kisten an Bord geschafft. Der Graf von Thurn war es, der diesen ganzen Transport zu besorgen hatte, da man dazu, wie gesagt, keinen Neapolitaner verwenden wollte. Der Freitag verging mit derselben Arbeit, die man so viel wie möglich nach außen hin geheim hielt; denn die Zusammenrottungen fanden immer noch statt und der Palaisplatz füllte sich alle Augenblicke mit Lazzaroni, welche riefen: »Es lebe der König! Tod den Jakobinern! Tod den Franzosen!« Die Abreise wurde für die Nacht vom 21. zum 22. festgesetzt. Der König wollte sich nicht an einem Freitage einschiffen; aber die Königin bestand darauf, denn sie fürchtete, er möchte seinen Entschluß ändern, spottete über seinen Aberglauben und setzte es durch, daß man sich noch an demselben Abend einschiffte. Am 20. hatte der Admiral Caracciolo Befehl empfangen, sich bereit zu halten, den »Vanguard« zu begleiten, und man hatte ihn glauben lassen, daß die Königin, die königliche Familie, Sir William Hamilton und ich uns an Bord des »Vanguard« einschiffen würden, daß der König aber die Reise an Bord der »Minerva« machen werde, was alle widerstreitenden Ansprüche miteinander versöhnt und aus dem neapolitanischen Admiral keinen Feind gemacht haben würde. Am 21. gegen Mittag wurde Nelson benachrichtigt, daß die Abreise am Abend stattfinden werde, und er erteilte demgemäß dem Grafen Thurn seine Befehle.
Er schrieb unter andern zwei Briefe, an den Marquis von Nizza und an den Kapitän Hope. Der Zweck dieser Briefe war, die Schiffe der neapolitanischen Flotte verbrennen zu lassen, weil daraus feindliche Schiffe werden konnten, wenn sie in die Hände der Franzosen, oder Schiffe der Rebellen, wenn sie in die der Patrioten fielen.
Man begreift wohl, welche Unruhe während dieses ganzen unglücklichen Freitags in dem Palast herrschte. Die Königin, welche die Abreise gewollt und beschleunigt hatte, weinte vor Wut und war nahe daran, Gegenbefehl zu erteilen. Der Fürst Pignatelli ward zum Generalvikar des Königreiches ernannt. Man hatte einen Brief von Mack erhalten, welcher meldete, daß er nach Neapel kommen wolle, um die Stadt in Verteidigungszustand zu setzen. Man ließ für ihn ein Diplom als Generalleutnant des Königreichs zurück. Der Fürst Pignatelli fragte, wie weit sich seine Vollmacht erstrecke. »Bis zum Verbrennen Neapels!« antwortete die Königin. »Sie haben das Recht über Leben und Tod bei dem Mezzoceto und dem Adel; hier ist nur das Volk gut.«
Um sechs Uhr abends versammelte sich die ganze königliche Familie in den Zimmern der Königin. Außerdem waren noch Sir William, ich, der österreichische Gesandte und seine Familie da. Der König hatte den Wunsch geäußert, den Kardinal Ruffo mitzunehmen, die Königin aber, die den Prälaten verabscheute, hatte sich dem widersetzt. Demzufolge hatte sich der Kardinal auf der »Minerva« eingeschifft. So hatte der Admiral Caracciolo nun durch Seine Eminenz erfahren, daß er der Ehre, den König zu führen, beraubt sei. Sein Stolz als Fürst und sein Patriotismus als Neapolitaner hatten durch diese Nachricht eine doppelte Wunde erhalten. Er wollte dem König augenblicklich seine Abdankung zuschicken, aber Ruffo bewog ihn, seine Pflicht bis zuletzt zu erfüllen, und seine Entlassung nicht eher einzureichen, als nach der Ankunft in Palermo. Die Kunde von der Abreise des Königs hatte sich, wie gut auch das Geheimnis bewahrt worden war, in der Stadt verbreitet. Man muß Neapel kennen, um eine Idee von dem Tumult zu haben, der während des Tages in der Umgegend des Palastes herrschte. In Neapel gleichen die Äußerungen der Liebe so sehr den Ausbrüchen des Hasses, daß man hätte glauben können, das ganze Volk, welches fürchtete, seinen König zu verlieren, habe sich in der Absicht, ihn zu erwürgen, hier versammelt. Um halb elf Uhr legte der Graf von Thurn mit den Schaluppen an dem Fuß der Treppe an, die unter dem Namen der Treppe des Caraco bekannt ist. Dann stieg er hinauf, um die Tür der oberen Treppe zu öffnen, die in die königlichen Gemächer ging. Als er aber die Tür dieser Zimmer öffnen wollte, zerbrach er den Schlüssel in dem Schloß, so daß man gezwungen war, die Tür aufzusprengen.
Der König stellte sich hierauf an die Spitze der Kolonne, indem er eine Wachskerze in der Hand hielt. Als er aber auf die Hälfte der Treppe gekommen war, hörte er Geräusch von dem sogenannten Riesenhügel her, und da er fürchtete gesehen zu werden, so blies er die Wachskerze aus. Wir befanden uns nun in furchtbarer Finsternis, inmitten welcher wir gezwungen waren, uns weiterzutasten. So erreichte man den Molo Siglio, aber das Meer ging so hoch, daß man nicht wagte, sich der Gefahr auszusetzen und aus dem Hafen auszulaufen. Wir warteten daher in den Barken, indem wir uns in unsere Mäntel und Shawls hüllten, und da man vergessen hatte, den kleinen Prinzessinnen ihre Abendmahlzeit zu geben, so verlangten diese zu essen, und wollten vor Hunger umkommen. Ein Matrose hatte Sardellen, die sie ohne Brot aßen, worauf sie schlechtes, verfaultes Wasser dazu tranken. Endlich, als das Meer sich beruhigt hatte, steuerten wir auf den »Vanguard« los und stiegen kurz vor Mitternacht an Bord. Ungeachtet der Anordnungen, die Lord Nelson getroffen, fühlte sich der König und die königliche Familie auf dem »Vanguard« sehr eingeschränkt. Zehn Personen hatten die Kajüte des Admirals und die der Offiziere eingenommen, ohne Sir William und mich, den österreichischen Gesandten und seine Gattin mitzurechnen. Diese zehn Personen waren der König, die Königin, der Kronprinz, seine Gemahlin, die kleine Prinzessin, von der sie vor kurzem erst entbunden, der junge Prinz Leopold, Prinz Albert und die Prinzessinnen Marie Christine, Marie Amalie und Marie Antonie. Einen Augenblick hatte der König, da er sich so beschränkt sah, Lust, dem Admiral Caracciolo das Versprechen, welches man ihm gegeben, zu halten und sich auf dessen Schiff zu begeben. Die Königin jedoch gab durchaus nicht zu, daß der König sich von seiner Familie trenne.
Der Tag brach mit frischem, aber unglücklicherweise widrigem Winde an. Man hörte von dem »Vanguard« aus die Aufregung in der Stadt wie das Knurren eines riesigen Bären. Und wirklich hatte das Volk gehört, daß Ferdinand, trotz seines Versprechens, es verlassen, und Plakate, die an allen Straßenecken, auf allen Plätzen, an allen Kreuzwegen angeschlagen waren, meldeten, daß Fürst Franz Pignatelli zum Generalvikar mit unumschränkter Vollmacht ernannt worden; daß Mack General-Kapitän der geschlagenen Armee sei, und daß der Minister Simonetti aus dem Finanzdepartement geschieden sei, um dem Bankier Zurlo Platz zu machen. Alle diese Ernennungen waren auf Befehl des Königs erfolgt, vom vorigen Tage datiert und von seiner eigenen Hand geschrieben. Man erzählte die Antwort, welche die Königin dem Fürsten Pignatelli gegeben, als man ihn gefragt, bis wie weit sich seine Vollmacht erstrecke: »Bis zum Verbrennen Neapels.« – Die Kais waren von Menschen angefüllt, aber das Meer war zu wild, als daß eine Barke sich hätte der Gefahr aussetzen mögen. Man sah Gruppen, die sicherlich Deputationen waren, aber diese Gruppen verschwanden eine nach der andern, nachdem sie einen Augenblick am Ufer des Meeres verweilt, denn kein Schiffer wollte sich dazu verstehen, sie bis an das Admiralsschiff, von dessen Mast die Flagge des Königs wehte, zu bringen. Während der Nacht wurde der Wind schwächer, blieb aber immer noch widrig. Bei Tagesanbruch überschwemmte die Menge die Kais wieder. Sie begrüßte die englische Flotte mit lautem Geschrei, da sie ohne Zweifel hoffte, der König würde seinen Entschluß ändern, und wirklich sahen wir, als das Meer wieder ruhig wurde, die Deputationen, die wir den Tag vorher vergebens auf dem Kai verweilen gesehen, nicht nur wieder erscheinen, sondern auch sich einschiffen und sich dem »Vanguard« nähern. Es war eine dreifache Deputation, nämlich: eine von der Geistlichkeit, mit dem Erzbischof Capece Zurlo an der Spitze, eine andere von den Baronen des Königreichs und eine dritte von dem Magistrat und Gemeinderat. Sie kamen alle, um den König anzuflehen, nicht abzureisen, und verbürgten sich mit ihrer Ehre dafür, ihn bis aufs äußerste zu verteidigen. Der König aber wollte niemanden empfangen, ausgenommen den Kardinal und Erzbischof von Neapel. Er ließ die Barken die Runde um den »Vanguard« machen, und die, welche sich darin befanden, vergebens die Hände zum Himmel erheben. Der Erzbischof Capece Zurlo bot alles mögliche auf, um Se. Majestät zurückzuhalten, der König aber war unbeugsam. »Monsignore,« sagte er, »das Land hat mich verraten, ich werde sehen, ob das Meer mir treu sein wird.« Der Erzbischof verließ den »Vanguard«, den Tod im Herzen und indem er erklärte, daß er nicht voraussagen könne, was Neapel nun, da es sich selbst überlassen sei, tun werde. »O!« murmelte die Königin, »wenn Sie nicht wissen, was Neapel machen wird, so weiß ich wohl, was ich ihm antun werde, wenn ich jemals wieder den Fuß hineinsetze.«
Gegen fünf Uhr sprang der Wind um, man machte sich segelfertig und lichtete den Anker um sieben Uhr. Dann brach man auf, von der Fregatte »Minerva« und zehn bis zwölf Handels- oder Transportschiffen begleitet. Aber kaum waren wir an Capri vorüber, so wurden wir von einem heftigen Sturm erfaßt. Es war, als ob das Meer, ebenso untreu wie das Land, den König auch verraten wollte. Der ganze Montag ging in Kämpfen gegen den Sturm hin. Die Nacht war furchtbar; die drei Bramstangen und der Bugspriet zerbrachen. Zwanzigmal dachten wir, das Schiff würde auseinandergehen, so schrecklich war das Krachen. Man wird sich schwerlich eine Idee von dem Zustande machen, in dem sich die königliche Familie befand. Der vom Schrecken niedergeschmetterte König befahl sich allen Heiligen und besonders dem heiligen Franziskus von Paula, dem er ganz besonders zu vertrauen schien und dem er, wenn er ihn rettete, eine ebenso schöne Kirche wie die Peterskirche zu Rom versprach. Von seiner Familie sprach er dabei gar nicht; ohne Zweifel aber war diese mit darunter verstanden. Die kleinen Prinzessinnen waren vor Hunger und Seekrankheit dem Tode nahe; der Kronprinz schien ebenso niedergeschlagen zu sein wie sein Vater; die Prinzessin Clementine lächelte, ihre Tochter in den Armen haltend, melancholisch den Himmel an. Die Königin war düster und in Gedanken versunken. Von Zeit zu Zeit kam Nelson, der auf dem Verdeck blieb, um über die Sicherheit seiner erlauchten Passagiere zu wachen, herab, um uns ein Wort der Ermutigung zu sagen, welches ich nur mit einer Bewegung der Hand oder mit einem Blick beantwortete, und da es hauptsächlich dieser Blick, dieses Zeichen mit der Hand war, was er sich holen wollte, so stieg er dann zufrieden wieder hinauf. Gegen Morgen hellte sich der Himmel ein wenig auf. Nelson sagte uns, er glaube, es werde nun zwei Stunden Ruhe sein, und wenn wir einen Augenblick auf das Verdeck steigen wollten, so würden wir uns wohlfühlen. Man würde übrigens diesen Augenblick zugleich benützen, um die Kajüten etwas in Ordnung zu bringen. Der König, der den größten Teil der Nacht auf den Knien im Gebet verbracht, atmete wieder auf und ging uns mit gutem Beispiel voran, indem er den einzigen Arm Nelsons ergriff, und mit diesem auf das Verdeck stieg. Die Königin folgte ihm. Als sie sich allein und wankend der Treppe näherte, sprang ich auf Sie zu, um sie zu stützen. Nelson kam wieder mit dem Kapitän Hardy herunter, um der Kronprinzessin und den jungen Prinzessinnen den Arm zu geben. Was den Kronprinzen betrifft, so war dieser erschöpfter und niedergeschlagener als irgendeiner von uns. Der jüngste der Söhne der Königin blieb, unfähig sich zu bewegen, in seiner Hängematte liegen.
Das Verdeck des »Vanguard« bot ein Schauspiel von Verwirrung dar, die nicht weniger groß war, als die unserer Kajüte. Die Matrosen benutzten den Augenblick Ruhe, den ihnen der Sturm gewährte, um die zerbrochenen Stangen durch neue zu ersetzen, und machten sich auf den Wiederbeginn des Sturmes gefaßt. Der König, der sich auf die Schanze des Schiffes gestützt hatte, blickte mit neidischen Augen auf die Fregatte des Admirals Caracciolo, die zu unserer Linken hinsegelte und ein bezaubertes Schiff zu sein schien. Nichts von seinem Tauwerke, nichts von seinem Tafelwerke war beschädigt, und es schien gänzlich verschont zu bleiben von den ungeheuren Wellenschlägen, in deren Folge wir mit einer Bewegung dahinrollten, die der eines Pferdes glich, welches sein Reiter galoppieren läßt. »Sehen Sie dort, Madame!« sagte der König zu Karoline. Und er zeigte ihr die »Minerva«. »Nun?« fragte ihn die Königin. – »Nun, Sie sind schuld, daß ich auf diesem Schiff und nicht auf jenem bin.« – »Es sich sehr glücklich,« antwortete die Königin, »daß der Admiral nicht italienisch versteht.« – »Und warum?« – »Weil es meiner Meinung nach schon genug ist, daß er einen feigen König führt, ohne daß Sie ihm noch beweisen, daß er es mit einem undankbaren König zu tun hat.« Und sie drehte ihm den Rücken zu. »Nennen Sie mich so undankbar, wie Sie wollen,« sagte der König, ohne das erste Prädikat zu rügen; »deswegen ist es nicht weniger wahr, daß ich lieber auf der Fregatte Caracciolos als auf dem ›Vanguard‹ sein möchte.«
Man hatte mir soeben gesagt, daß der kleine Prinz, der in seiner Hängematte liegen geblieben, nach mir verlange. Ich beeilte mich, hinunter zu gehen. Es war ein Kind von sechs Jahren, was man den Prinzen Albert nannte. Er wurde von der Königin nicht sonderlich geliebt, denn wahre Zuneigung besaß sie bloß für ihren zweiten, neun Jahre alten Sohn Leopold. Die Folge davon war, daß der arme kleine Albert, der diese Vernachlässigung instinktartig fühlte, sich an mich angeschlossen hatte, mich seine »kleine Mama« nannte und allemal in meine Arme eilte, wenn er einer Strafe entgehen oder eine Gnade erlangen wollte.
Das arme Kind befand sich etwas wohler und bat mich, ihn auf das Verdeck zu führen. Trotz der Bewegung des Schiffes nahm ich ihn auf meine Arme und trug ihn hinauf.
Während der Stunde, die soeben verflossen war, hatte sich der Himmel von neuem bedeckt und der Wind war nach Südwest umgesprungen, so daß der »Vanguard« genötigt war, dicht bei dem Winde zu segeln. Was die »Minerva« betraf, so war es, als ob ihr alles gleichgültig wäre und selbst der widrige Wind ihr Flügel liehe.
Übrigens war es nicht schwer, zu sehen, daß ein neuer Sturm herankam. Dunkle, feuchte, grauweiße Wollen sanken schnell herab und schienen auf den Mastspitzen des »Vanguard« zu ruhen. Starke Stöße einer lauwarmen, entnervenden Luft gingen an uns, einen faden Geschmack zurücklassend, vorüber. Es war dies der lybische Wind, der, welcher den Matrosen des mittelländischen Meeres am meisten zuwider ist. Nelson teilte uns mit, daß die Ruhe, die uns der Sturm vergönnt, zu Ende sei, und daß, wenn wir wieder in unsere Kajüten hinabgehen wollten, er in unserer Abwesenheit dem Sturme die Spitze bieten wolle. Ich warf einen letzten Blick auf die neapolitanische Fregatte, und was für ein Vorurteil ich auch zu Nelsons Gunsten hatte, so war ich doch nicht weniger gezwungen die Vorzüglichkeit ihres Segelns vor dem unsrigen anzuerkennen.
Wir steuerten mit nur wenigen, kurzgerefften Segeln, während die »Minerva« mit vollen Segeln den Sturm herauszufordern schien. Da ihr Vorderteil spitzer war, so teilte sie die Wogen besser, rollte folglich weniger als der »Vanguard« und rechtfertigte den selbstsüchtigen Wunsch des Königs. Zehn Minuten nach dem Rate, den uns Nelson gegeben, waren wir wieder in unsern Kajüten, und der Sturm stürzte sich wieder auf uns herab. So verbrachten wir den Dienstag und den Mittwoch. Der Donnerstag wurde durch ein schreckliches Unglück gekennzeichnet. Gegen vier Uhr nachmittags ward der junge Prinz Albert, mein Liebling, von Krämpfen befallen, die sich immer mehr steigerten. Der Schiffsarzt kam herunter, aber alle seine Hilfe war vergebens. Ich hielt das Kind in meinen Armen an meine Brust gedrückt, und ich fühlte, wie alle seine Glieder sich unter den Schmerzen der Krankheit krümmten. Einige Male wollte ihn die Königin nehmen, aber er klammerte sich an mich und wollte mich nicht verlassen. Der Sturm heulte schrecklicher als je. Die Wogen bedeckten das Verdeck, das Schiff zitterte von den Masten an bis in den Raum, aber ich gestehe, daß ich weiter nichts hörte, als das Wehklagen des armen Kindes, daß ich weiter nichts fühlte, als den Schauer dieses sich im Todeskampfe windenden kleinen Körpers. Endlich gegen sieben Uhr abends stieß er einen herzzerreißenden Schrei aus, erstarrte in meinen Armen, machte eine Anstrengung, um mich zu umarmen, und ein Seufzer hob seine Brust – es war der letzte. »Madame! Madame!« rief ich fast wahnsinnig »der Prinz ist tot!« Die Königin kam zu uns, sah ihren Sohn an, berührte ihn und begnügte sich zu sagen: »Gehe, armes Kind! Du gehst uns so kurze Zeit voraus, daß es nicht nötig ist, dich zu beweinen.« Dann fügte sie, indem sie die Hand mit einer Gebärde ausstreckte, die sie mehr der Medea als der Niobe ähnlich machte, hinzu: »Aber, wenn wir davonkommen, dann sei ruhig, du sollst gerächt werden!« Es war als ob der Sturm nur auf dieses Sühneopfer gewartet hätte, um sich zu beruhigen. Kaum hatte nämlich das königliche Kind den letzten Seufzer ausgehaucht, so legte sich der Wind und der Himmel hellte sich auf.
Ich glaube, diese Besserung in der Atmosphäre mußte erst eintreten, ehe die königliche Familie wirklich bemerkte, daß sie soeben eines ihrer Glieder verloren. Die Prinzessin Marie Clementine schien am meisten ergriffen zu sein. Sie erhob allerdings kein Geschrei, sie ließ kein Zeichen des Schmerzes sehen, aber bei dem Ausrufe, der meinem Munde entschlüpfte: »Der Prinz ist tot!« drückte sie ihre Tochter an ihr Herz und große Tränen rollten über ihre Wangen.
Ich legte den kleinen Prinzen in meine eigene Kajüte, und blieb die Nacht über an seinem Bette sitzen.
Um zwei Uhr morgens hörte ich ein lautes klirrendes Geräusch. Man warf den Anker aus. Wir waren angelangt. Einen Augenblick darauf hörte jede Bewegung des Schiffes auf. Wir hatten fünf Tage auf der schrecklichen Überfahrt zugebracht, denn es war jetzt Freitag, den 26. Dezember. Um fünf Uhr waren alle bereit ans Land zu steigen; aber ich erklärte, daß ich bei dem kleinen Prinzen bleiben würde, bis er zur Erde bestattet wäre.
Der König, die Königin, die Brüder und die Schwestern des Toten verließen sich, ohne mir sonderlich zu widersprechen, in dieser Beziehung auf mich. Man versprach im Laufe des Tages die Leiche abholen zu lassen, um sie in der Kapelle des königlichen Palastes auf dem Paradebette aufzustellen, und Nelson machte sich anheischig, von dem Schiffszimmermann Sarg und Bahre fertigen zu lassen. Die königliche Familie, Acton, Sir William Hamilton und die Minister Castelcicala, Belmonte und Fortinguerra stiegen in die Schaluppen und ließen sich nach der Marina rudern, wo ihre Landung von der auf den Raaen stehenden Mannschaft des »Vanguard« mit lautem Hurra begrüßt ward. Salutschüsse wurden nicht abgefeuert, weil man sich innerhalb des Hafendammes befand. Nelson blieb an Bord. An der Leiche des armen Kindes vertrat ich gewissermaßen die Stelle der Mutter, die mir eine Liebe schwur, welche sie auch niemals verleugnet hat. Um zwei Uhr nachmittags ward die kleine Leiche auf ihre Bahre gelegt, und ein Bote kam, um uns zu melden, daß der Leichenwagen auf dem Kai wartete. Die Matrosen ließen die Leiche in die Admiralsjolle hinab. Nelson und ich nahmen, wie eigentlich der Vater und die Mutter hätten tun sollen, zu beiden Seiten des Sarges Platz und man ruderte nach dem Kai. Der Sarg ward auf den Leichenwagen gehoben; eine Hofequipage stand für uns bereit. Wir stiegen hinein und fuhren langsam hinter der Leiche her. So kamen wir fast durch ganz Palermo, welches durch zwei Hauptstraßen, die Via de Toledo und die Via Maqueda, kreuzweise durchschnitten wird, und gelangten an den königlichen Palast. Die Leiche ward in der byzantinischen Kapelle beigesetzt, wo sie drei Tage bleiben sollte, und nun erst verlangte ich, daß man mich in die Zimmer der Königin führe.
Nelson ließ sich mittlerweile zum König bringen. Er fand denselben sehr beschäftigt, aber nicht mit der Niederlage der Armee oder mit den Fortschritten der Revolution, und ebensowenig mit Berechnung der Zeit, wo die Franzosen wahrscheinlich in Neapel sein wurden, sondern mit zwei andern, weit wichtigeren Fragen. Die erste war: Gab es in der Ficuzza einen guten Wildstand? und die zweite: Wer waren wohl am Abend dieses Tages die Mitspieler, welche die Ehre hatten, mit dem Könige eine Partie Reversi zu machen? – Es waren nun beinahe zwei Monate vergangen, seitdem der König nicht auf der Jagd gewesen, und über acht Tage, daß er keine Partie Reversi gemacht. Allerdings hatte er seine gewöhnlichen Spieler, den Herzog von Ascoli, den Fürsten von Castelcicala und den Fürsten von Belmonte, mit bei sich, aber er liebte auch dann und wann einmal andere Gesichter zu sehen. Ruffo spielte nicht, und übrigens hatte die Königin auch eine solche Antipathie gegen ihn gefaßt, daß der König darauf verzichtet hatte, ihm in dem engern Familienkreise Zutritt zu gestatten. Wenn er über Politik mit ihm zu sprechen und ihn über irgendeine Regierungsmaßregel zu Rate zu ziehen hatte, so schrieb er ein Billett und ließ ihn zu sich kommen. Nun aber gab es gerade in Palermo einen Mann, der ein großer Spieler und auch ein großer Jäger war und dem König Ferdinand sofort die beiden Dinge bieten konnte, welche er suchte, nämlich ein prachtvolles Jagdrevier auf seinem Landgute Illica und einen unermüdlichen Mitspieler am Boston- oder Reversitische.
Dieser Mann war der Präsident Cardillo. Der König war kein sonderlicher Freund der adeligen Beamten, die bedrängten Umstände aber, in welchen er sich für den Augenblick befand, bewogen ihn, diese Antipathie einmal zu überwinden. Er ließ sich demzufolge den Präsidenten Cardillo präsentieren, der ihm seine Wälder, seine Fasane, seine Rehe, seine Wildschweine und seine Hunde sofort zur Verfügung stellte. Der über dieses Anerbieten nicht wenig erfreute König nahm sofort eine Jagd für den nächstfolgenden Tag an und lud den Präsidenten für denselben Abend zu einer Spielpartie ein. Im Laufe des Tages jedoch teilte man dem König mit, daß der Präsident der schlechteste Spieler in ganz Sizilien sei. Der König lachte.
»Mein Himmel,« rief er, »und ich habe bis jetzt immer geglaubt, ich selbst sei der schlechteste Spieler in meinem ganzen Königreich! Ich habe also einen Mann gefunden, der mir in jeder Beziehung die Spitze bieten wird.«
Man kann sich leicht denken, daß man dem Präsidenten Cardillo eine Menge Ratschläge gab. Alle diese Ratschläge ließen sich ihrem Hauptinhalte nach in die Worte zusammenfassen: »Vergessen Sie nicht, daß es der König ist, mit welchem Sie die Ehre haben zu spielen, und mäßigen Sie sich.« Der Präsident gab die schönsten Versprechungen von der Welt und setzte am ersten Abend durch seine Mäßigung die sämtlichen Anwesenden, welche man von seiner Reizbarkeit unterrichtet, förmlich in Erstaunen.
Ein einziges Wort entschlüpfte ihm, welches ihm sofort die Geneigtheit des Königs gewann. Der König, dem man Zornesausbrüche des Präsidenten versprochen, hatte sich darauf gefaßt gemacht, und da er vergebens darauf wartete, so glaubte er sich gewissermaßen getäuscht und um einen Genuß betrogen. Er trieb deshalb den armen Cardillo so in die Enge, daß er selbst nicht recht acht auf das Spiel gab und einen groben Fehler machte. »Himmel Element,« rief der König, »ich bin wirklich ein großer Esel! Ich hätte mein Aß zugeben können und habe es nicht getan.«
»Na,« entgegnete der Präsident, dem sein Bemühen, sich in den Schranken der Mäßigung zu erhalten, ebenfalls die Aufmerksamkeit auf das Spiel geraubt hatte, »ich bin ein noch größerer Esel als Euer Majestät, denn ich hätte den Buben ausspielen können und habe ihn in der Hand behalten.« Der König brach in ein lautes Gelächter aus. Die Antwort des Präsidenten erinnerte ihn an die Freimütigkeit seiner guten Lazzaroni. Der Präsident Cardillo sagte ihm von diesem Augenblick an ganz vortrefflich zu und die Jagden in Illica erwarben ihm seine Gunst vollends im höchsten Grade. Da das Rerversi ein Spiel war, welches seines Ernstes wegen für den frivolen Teil des Hofes, dem ich angehörte, nicht viel Verlockendes hatte, so errichtete man für uns eine Pharobank. Ich hatte das Spiel stets leidenschaftlich geliebt, und da ich jetzt allen meinen Gelüsten ungebundener folgen konnte als je, so gab ich mich ganz dieser Leidenschaft hin.
Nelson spielte niemals, sondern stand, mit seinem einzigen Arme auf meine Stuhllehne gestützt, hinter mir und flüsterte mir leise Beteuerungen seiner Liebe zu, wodurch das Spiel für mich einen doppelten Reiz erhielt. Ach, heute, wo ich oft mit Schmerzen auf das Goldstück warte, welches für unsern wöchentlichen Lebensunterhalt notwendig ist, gedenke ich nicht ohne Gewissensbisse der Zeit, wo ich das Gold mit vollen Händen auf den Spieltisch warf. In bezug auf den Mann, welcher bei diesen Gelegenheiten die Bank hielt – es war dies der Herzog von S. – muß ich meinen Bekenntnissen, die ich vollständig zu machen versprochen, eine kleine Einzelheit einschalten.
Der Herzog von S. war eine Art Casanova, stammte aber aus einer sehr vornehmen und ausgezeichneten Familie Siziliens. Auf dem Kontinent war er sehr bekannt wegen seiner Reisen, wegen seines Tuns und Treibens in den Hauptstädten und durch seine Duelle, welche ihren Grund fast alle in seinem außerordentlichen Glück am Spieltisch gehabt hatten. In dem vorliegenden Falle ist jedoch hiervon nicht die Rede. Ob der Herzog von S. als Bankier seine zweiundfünfzig Karten immer redlich und gewissenhaft handhabte, weiß ich nicht, wohl aber weiß ich, daß er jeden Tag sich mit einer neuen Nadel in seinem Hemd oder einem neuen Diamant an seinem Finger zeigte. Ich war Weib und dieser Diamant verlockte mich. Ich verlangte denselben genauer anzusehen, ich steckte ihn an meinen Finger oder an meinen Hals, ich bat den Herzog, mir ihn abzulassen. Er bot ihn mir mit der Gewißheit, daß ich ihn zurückweisen, daß aber mein Wunsch entweder von der Königin oder von Sir William oder von Nelson erfüllt werden würde. In der Tat war ich auch sicher, den von mir am Abend gewünschten Gegenstand am nächstfolgenden Morgen auf meiner Toilette zu finden. Wer hatte mir ihn geschenkt? Darnach fragte ich nicht einmal. Was kam bei diesem verschwenderischen Leben, wo man sich förmlich in Gold wälzte, und sich sehr wenig darum kümmerte, woher es kam oder wohin es ging, auf zwei- oder dreihundert Louisdor mehr oder weniger an? Und dennoch kam, wie ich später wohl einsah, jedes dieser Goldstücke vom Volke und es klebte dessen Schweiß, wo nicht dessen Blut daran. Auf alle Fälle weiß ich gewiß, daß der Herzog von S. dadurch, daß er sich seines Juwelenvorrats Stück für Stück zu meinen Gunsten entäußerte, keine schlechten Geschäfte machte.
So verging der Monat Januar. Die Nachrichten, welche man von Neapel erhielt, lauteten sehr niederschlagend. Anfangs war zwischen dem Fürsten Pignatelli, als Generalvikar, und den Franzosen ein Waffenstillstand abgeschlossen worden. Diesen Waffenstillstand hatten die Lazzaroni verletzt; die Franzosen waren deshalb gegen Neapel vorgerückt und nach einem dreitägigen hartnäckigen Kampfe in die Stadt eingezogen. Der Generalvikar hatte die Flucht ergriffen und war nun ebenfalls in Palermo angelangt. Endlich am 22. Januar war die parthenopäische Republik proklamiert worden. Der heilige Januarius hatte sein Wunder verrichtet. Man wollte behaupten, daß Championnet ihm ein wenig dabei geholfen, und der Vesuv hatte, indem er einen kleinen Ausbruch dazugesellt, wie die französischen Soldaten meinten, selbst die rote Mütze aufgesetzt. Der König Ferdinand hatte von längern Zeiten her einen Groll gegen den heiligen Januarius, der, nachdem er sich geweigert, seine Wunder für ihn zu tun, es für die Franzosen verrichtet hatte. Allerdings hatte Championnet, wie man behauptete, um ihn dazu zu bestimmen, Mittel in Anwendung gebracht, welche geradezu unwiderstehlich waren. Ferdinand entsetzte daher den heiligen Januarius seines Grades als Generalleutnant, welchen der General Mack vierzehn Tage lang in seinem Namen bekleidet, und beraubte ihn der mit diesem Posten verbundenen Einkünfte.
Dies war aber noch nicht alles. Die Jakobiner arbeiteten durch ihre zahlreichen Verbindungen in der Provinz an der Demokratisierung der Abruzzen, der Terra di Lavoro und Calabriens. Wenn es gelang, Calabrien zu demokratisieren, so brauchte die Revolution nur die Meerenge zu überschreiten, um festen Fuß in Sizilien zu fassen. Nun aber zählte Sizilien seinerseits ebenfalls eine ziemliche Menge Jakobiner, welche in der Hoffnung lebten, daß bei der ersten Entfernung des englischen Geschwaders Palermo seine Revolution ebenso machen würde wie Neapel. An demselben Tage, wo in Neapel die Republik proklamiert worden, das heißt am 22. Januar 1799, hatte der König in Palermo einen großen Staatsrat versammelt, um irgendein Mittel ausfindig zu machen, wodurch man der mit Riesenschritten näherrückenden Revolution Einhalt tun könnte. Seit zwei Stunden diskutierte man, ohne sich über etwas verständigen zu können, als ein Türsteher eintrat und meldete, daß der Kardinal um die Erlaubnis bäte, an der Beratung teilnehmen zu dürfen. Der Kardinal kam ganz einfach, um dem König das Anerbieten zu machen, sich an die Spitze der kalabresischen Reaktionäre zu stellen, und mit diesen gegen Neapel zu marschieren. Seit seiner Landung in Sizilien in eine Zelle des Klosters Grancia eingeschlossen, hatte er lange über seinen Plan nachgedacht, und er wünschte sehnlichst, sich dafür zu rächen, daß man ihm einen militärischen Posten verweigert, und zu beweisen, daß er mehr Scharfblick und Mut besäße, als alle jene Generale, welche mit dem König die Flucht ergriffen hatten und sich jetzt bloß um die Ehre stritten, ihn auf die Jagd zu begleiten oder eine Partie Reversi mit ihm zu machen.
Ein solcher Vorschlag verdiente in Erwägung gezogen zu werden, obschon er im ersten Augenblicke alle Gemüter in große Unruhe versetzte. Ruffo aber, welcher mit allen Mitgliedern seiner Familie in lebhaftem Briefwechsel stand, und fünf oder sechs Boten nach Calabrien abgefertigt hatte, bewies klar, daß diese Provinz nur auf ihn wartete, um sich sofort zu erheben. Der König gab daher noch in dieser Sitzung seine Zustimmung zu dem Projekt des Kardinals, und in der sehr richtigen Voraussetzung, daß mit der Ausführung desselben keine Zeit zu verlieren sei, versprach er, daß der Kardinal binnen drei Tagen sein Bestallungsdekret als Generalvikar ausgefertigt erhalten sollte. Ruffo bat, da der Staatsrat einmal versammelt sei, dieses Dokument sofort abzufassen; der König erklärte jedoch, daß er dies selbst besorgen werde.
Wenn Ferdinand so sprach, so wußte man, was es bedeutete. Die Sache war seinem geheimen Kabinett, das heißt der Königin, dem General Acton und Sir William Hamilton vorbehalten. Erfüllt von Stolz und Freude, kehrte der König in seine Gemächer zurück. Sein Freund, der Kardinal, den die Königin so verachtete, dieser Mann der Kirche, den man nicht einmal würdig erachtete, ihm den Posten eines Bureauchefs im Kriegs- oder Marineministerium anzuvertrauen, hatte etwas vorgeschlagen, was eigentlich Sache des Kronprinzen war, und wovon dieser gleichwohl nicht die mindeste Idee hatte. Er ließ die Königin, Sir William, Lord Nelson und den General Acton zusammenrufen und teilte ihnen Ruffos Vorschlug mit. Alle waren der Meinung, daß man diesen Vorschlag annehmen müsse. Nur die Königin sprach weder Zustimmung noch Mißbilligung aus, sondern begnügte sich zu schweigen. Man kam überein, Ruffo den nächstfolgenden Morgen in den Palast zu rufen und in seiner Gegenwart und seinen eigenen Ratschlägen gemäß, die Urkunde aufzusetzen, durch welche ihm der Titel eines Generalvikars verliehen werden sollte. Noch denselben Abend ließ der Admiral Francesco Caracciolo um die Gunst bitten, von dem König empfangen zu werden. Ferdinand, welcher fühlte, daß er gegen Caracciolo unrecht gehandelt und welchem demzufolge die Gegenwart des Admirals unerträglich gewesen wäre, ließ antworten, daß er mit einer sehr dringenden Angelegenheit beschäftigt sei, und deshalb den Admiral bitten ließe, ihm, wenn er etwas wünsche, es schriftlich mitzuteilen.
Caracciolo ließ eine Petition zurück, worin er um seine Enthebung von dem Posten eines Admirals der neapolitanischen Marine und um die Erlaubnis bat, nach Neapel zurückkehren zu dürfen. Der König, welcher im Gefühle seines Unrechts doppelt empfindlich war, benutzte die Gelegenheit, um sich des Admirals zu entledigen, und schrieb an den Rand des Entlassungsgesuchs: »Si accordi, ma sappia il cavaliere Carracciolo, che Napoli è in potere del nemico.«
(Wird bewilligt, der Kavalier Caracciolo muß aber wissen, daß Neapel in der Gewalt des Feindes ist.)
Caracciolo achtete weiter nicht auf die Ausdrücke, in welchen der Abschied bewilligt war. Er sah darin nur die Erlaubnis, Palermo zu verlassen, und schiffte mit einem Herzen von Wermut und Galle sich schon am nächstfolgenden Morgen ein. Im Augenblicke seiner Abreise war der engere Staatsrat im Palast versammelt und Ruffo empfing aus den Händen des Königs, außer einem Manifest an die Calabresen, die Urkunden, durch welche er zum Generalleutnant ernannt ward und Vollmacht erhielt, im Namen des Königs zu handeln. Dem Kardinal war mitgeteilt worden, daß man ihm, obschon der König fünfundsechzig bis siebzig Millionen von Neapel mit fortgenommen, an Geld nicht mehr geben könne als eine Summe von dreitausend Dukaten oder zwölftausend Franks, womit er alle Unkosten der Restauration bestreiten sollte. Er selbst sollte, sobald er einmal in Calabrien wäre, ein Mittel ausfindig machen, um freiwillige oder erzwungene Kontributionen zu erheben, oder sich auf sonst beliebige Weise zu helfen.
Ehe er jedoch noch Abschied vom König genommen, glaubte man eine Goldmine gefunden zu haben. Der Fürst Luzzi meldete nämlich dem Prälaten im Namen des Königs, daß der Marquis Don Francesco Taccone, Oberschatzmeister des Königreiches Neapel, in Messina angekommen sei und über fünfhunderttausend Dukaten, das heißt über zwei Millionen Franks, mitgebracht habe, die er in Neapel gegen Banknoten umgewechselt habe. Da nun dieses Geld der allgemeinen Kasse des Königreiches gehörte, so war der König damit einverstanden, daß es dem Kardinal zur Bestreitung der Kosten seiner Expedition überlassen werde. Beeilen wir uns zu sagen – und niemand, der da weiß, wie leicht in Neapel das Geld denen, die es angreifen, an den Händen kleben bleibt, wird sich darüber wundern – daß weder Ruffo, noch der König, noch sonst eine lebende Seele von diesen zwei Millionen jemals etwas zu sehen bekamen. Der Kardinal verlor keine Zeit. Am 26. Januar reiste er nach Messina ab, und nachdem er hier vergebens seine fünfmalhunderttausend Dukaten einzukassieren gesucht, ging er weiter nach Calabrien, wo er am 8. Februar 1799 am Strande von Cotrona landete. Gleich darauf ließ er auf dem Balkon des Landhauses seines Bruders, des Herzogs von Rocca Bella, die königliche Fahne aufpflanzen, welche auf der einen Seite das Wappen der beiden Sizilien und auf der andern das Kreuz mit der Umschrift: »In hoc signo vinces!« trug.
Nach Verlauf von einigen Tagen erfuhren wir, daß ungefähr tausend Mann sich mit ihm vereinigt hatten und daß er mit diesen weiter nach Monteleone gezogen war. Diese Nachrichten machten die Königin wieder gesund und warfen auf die Gruft des armen kleinen Prinzen ein zweites Leichentuch, nämlich das der Vergessenheit. Ich habe bereits gesagt, wie unsere Abende vergingen. Der König fuhr fort den Präsidenten Cardillo auszuschelten, der Präsident Cardillo Zornesausbrüche in den Bart zu murmeln, der Herzog von S. die Bank zu halten und seine Ringe und Nadeln funkeln zu lassen, ich ihm meinen Wunsch nach ihrem Besitz zu erkennen zu geben, und Sir William und Nelson mir sie zu kaufen.
Die Königin, welche nicht spielte, saß mit den jungen Prinzessinnen in einer Ecke und stickte an einer für die Calabresen bestimmten Fahne, welche sie, sobald sie fertig wäre, dem Kardinal zu schicken gedachte. Unsere Tage standen, besonders als die ersten milden Lufthauche und die ersten Sonnenblicke des Frühlings kamen, unsern Abenden in nichts nach. Das Ende des Monats Februar und der Anfang des Monats März sind in Palermo prachtvoll. Zwei- oder dreimal wöchentlich veranstaltete man Lustfahrten im Hafen, man frühstückte an Bord des einen Schiffes und dinierte an Bord des andern. Die Königin nahm an diesen Lustpartien nur selten Teil. Seit der Niederlage der neapolitanischen Armee, seit der seltsamen Rückkehr ihres Gemahls, seit der notgedrungenen Flucht aus Neapel war sie düster und mehr als jemals in ihrem Haß verschlossen, aus welchem sie nur erwachte, um in milde Wutausbrüche zu verfallen, die ihre Umgebung in Furcht und Schrecken setzten, und während welcher ich allein bis zu ihr dringen durfte. Wenn daher eine jener soeben erwähnten Festlichkeiten und Lustbarkeiten stattfand, war ich die eigentliche Königin derselben.
In der Tat fuhren bei diesen Wasserpromenaden, an welchen fünfzig bis sechzig schöngeschmückte Barken mit Damen und Herren vom Hofe teilnahmen, Nelson und ich stets in einer Gondel mit zwölf Ruderern voran, während der König selbst deren nur acht hatte. Allerdings schlug er, sobald wir ins Meer hinaus waren, seine eigene Richtung ein und begann anstatt auf unsere Musiker oder unsere Sänger zu horchen, Jagd auf Möwen, Taucherenten und andere Vögel zu machen. Was uns betraf, so legten wir nach einer ersten Meerfahrt an Bord entweder des »Culloden« oder des »Minotaurus« an. Nach Beendigung des Frühstücks stiegen wir beim Klang der Instrumente oder unter harmonischem Gesang wieder in unsere Gondel und zuweilen gefiel ich, indem ich die Augen schloß und mich in die Zeit des Altertums versetzte, mir darin, zu glauben, meine Seele bewohne diese Welt nicht zum ersten Male und ich sei früher Kleopatra gewesen, ebenso wie Nelson schon einmal als Antonius gelebt. Ich rief mir dann einige der schönen Verse Shakespeares in die Erinnerung zurück, und sprach dieselben, während der Hauch des Lenzes die Düfte der Orangenhaine zu uns herübertrug. Färbten dann die letzten Strahlen der Sonne den Gipfel des Berges Pellegrino, so fuhren wir wieder zurück nach dem »Vanguard«, den man mittlerweile prachtvoll illuminiert. Eine lange Tafel nahm fast das ganze Deck ein, und die Geschütze waren durch mit Silbergeschirr, Blumen und feines Gebäck bedeckte Büfetts unsichtbar gemacht.
Man setzte sich zu Tisch, ich mich dem König gegenüber, als ob ich die Königin wäre, zwischen Nelson und den Kapitän Truebridge oder dem Kommandanten Thomas Louis. Das Mahl dauerte einen Teil der Nacht hindurch, und bei jedem Toast, den wir ausbrachten, donnerten die Geschütze der unteren Batterien, während die des Forts antworteten. Nelson war oft zerstreut und in Gedanken versunken. Ich fühlte bei mir selbst, daß sein Gewissen ihm Vorwürfe über seine Untätigkeit machte und ihn mahnte, wo anders zu sein. In diesen Augenblicken stand er, unter dem Vorwand, einen Befehl zu erteilen, vom Tische auf und spazierte dann längere Zeit einsam auf dem Quarterdeck hin und her.
Eines Tages folgte ich ihm dorthin, näherte mich ihm von hinten, ohne daß er mich sah, und hörte ihn murmeln:
»Elender Tor, der ich bin! In der Tat, mein Schiff hat eher das Aussehen eines Pastetenbäckerladens als eines Schiffes vom blauen Geschwader.« Ich schlang meinen Arm um seinen Hals und führte ihn, während er darüber, daß ich ihn gehört, vor Scham und Verzweiflung ganz außer sich war, auf seinen Platz zurück. Der Karneval nahte heran, und da die Nachrichten vom Kardinal Ruffo immer befriedigender lauteten, so gab man bei Hofe einige Maskenbälle. Nelson, welcher sich augenscheinlich zu betäuben suchte, kam bei dieser Gelegenheit auf den Einfall, verkleidet mit mir auf den Straßen herumzulaufen. Zwei- oder dreimal begingen wir diese Torheit, ein Vorfall aber, welcher leicht ernste Folgen hätte haben können, benahm uns für die Zukunft die Lust dazu.
Eines Nachts, als wir uns auch so verkleidet in Palermo umhertrieben, führte Nelson, der, wie die Engländer meistens zu tun pflegen, nach dem Diner viel getrunken, mich in ein übelberüchtigtes Haus, welches von den Offizieren des Geschwaders besucht ward. Keiner derselben erkannte uns mit Bestimmtheit. Ein Hochbootsmann aber und ein Seekadett, welche trinkend in einem Winkel saßen, schöpften Verdacht, und als wir, Nelson und ich, wieder fortgingen, schlichen sie uns nach und sahen uns in das Gesandtschaftshotel hineingehen. Beinahe in demselben Augenblicke kam der König heraus, und da er zwei lustige Käuze sah, die in der besten Laune zu sein schienen, so wollte er wissen, was sie hier machten. Der Hochbootsmann radebrechte ein wenig italienisch, und machte dem König großen Spaß, indem er ihm das ganze Abenteuer erzählte. Ferdinand versprach ihm, sich seiner zu erinnern, und fragte ihn, was ihm wohl am angenehmsten sein würde. Der Hochbootsmann antwortete lachend, sein Ehrgeiz habe seit seiner Geburt darin bestanden, Ritter zu werden.
»Wohlan,« sagte der König, »du sollst einer werden! Wie heißest du und zu welchem Schiff gehörst du?«
Der Hochbootsmann antwortete, er hieße John Baring, und gehöre zur Mannschaft des »Vanguard«. Zugleich erinnerte er den König an einige kleine Dienste, die er so glücklich gewesen, ihm während der Überfahrt von Neapel nach Palermo zu leisten.
»In der Tat,« sagte der König, »jetzt entsinne ich mich dessen.«
»Nun, das freut mich!« hob der Hochbootsmann wieder an. »Ich glaubte schon, Ew. Majestät hätten es vergessen.«
»Warum glaubtest du das?« fragte Ferdinand.
»Weil,« antwortete der durch die Freundlichkeit des Königs ermutigte Hochbootsmann, »weil weder ich noch meine Kameraden jemals so glücklich gewesen sind, auf Ew. Majestät Gesundheit für Geld mit einem andern Bildnis zu trinken als dem unsers allergnädigsten Königs, Georgs des Dritten.« Der König biß sich in die Lippe.
»Wohlan,« sagte er, »morgen sollst du für Geld mit meinem Bildnis auf meine Gesundheit trinken, und deine Kameraden sollen, indem sie auf die deinige trinken, dich Ritter nennen.« Da der König sehr schwatzhaft war, so ging er sofort zu der Königin und erzählte ihr die ganze Geschichte – daß ich mit Nelson verkleidet ausgegangen, daß ich in einem Hause gewesen, welches er mit einem noch etwas stärkeren Prädikat als »übelberüchtigt« bezeichnete, und daß er endlich einem englischen Hochbootsmann begegnet sei, der ihm soviel Spaß gemacht, daß er versprochen, ihn zum Ritter des St. Georgsordens zu ernennen.
Noch denselben Abend schrieb er einen Befehl, daß der Finanzminister Fürst Luzzi schon den nächsten Morgen dreizehnhundert Unzen Gold als Gratifikation für die Mannschaft des »Vanguard« an Bord dieses Schiffes schicken solle. Der Fürst Luzzi sollte von dieser Bestimmung den Admiral Nelson in Kenntnis setzen und ihm gleichzeitig melden, daß der König den Hochbootsmann John Baring zur Belohnung der Dienste, die er ihm auf der Überfahrt geleistet, zum Ritter des St. Georgsorden ernannt habe. Zum Unglück für den armen Hochbootsmann hatte der König wie ich schon gesagt, alles der Königin erzählt und die Königin hatte es wiederum mir mitgeteilt, und mir dabei zugleich den Rat gegeben, mich künftig besser in acht zu nehmen, denn man hätte mich erkannt und sei mir nachgeschlichen. Sobald als ich Nelson sah, teilte ich ihm meinerseits mit, was vorgefallen war. In seiner ersten Aufwallung von Zorn sprach er ganz einfach davon, John Baring aufknüpfen zu lassen. Ob er dazu das Recht hatte, weiß ich nicht; auf seinem Schiffe aber betrachtete er sich als unumschränkten Monarchen, und hätte sicherlich getan, wie er gesagt. Ich drang aber so sehr mit Bitten in ihn, daß er sich begnügte, den indiskreten Hochbootsmann fortzujagen. Es tat mir sehr leid, nicht die vollständige Begnadigung desselben auswirken zu können. Mittlerweilen gestalteten sich die Dinge in Calabrien immer besser. Man hatte, wie ich bereits erwähnt, Nachricht von dem Einzuge des Kardinals in Monteleone und dann in Catangaro und in Cotrona erhalten, welche letztere Stadt die sanfedistischen Truppen geplündert und niedergebrannt hatten. Die Nachrichten, welche uns aus Neapel zugingen, lauteten für die königliche Sache nicht weniger günstig.
Championnet war wegen des Widerstandes, den er den Forderungen des Direktoriums entgegenzusetzen versucht, in Ungnade gefallen und Macdonald an seiner statt zum Obergeneral ernannt worden. Kaum hatte letzterer diesen Posten übernommen, als die Niederlagen der französischen Armee in Oberitalien ihn zwangen, ihn wieder aufzugeben. Suwaroff und seine fünfzigtausend Mann Russen waren angelangt, und der Kaiser von Österreich hatte sich endlich entschlossen, ins Feld zu rücken. Die Franzosen waren ihrer in Egypten eingeschlossenen besten Soldaten und mit denselben zugleich ihres besten Generals beraubt, bei Magnano geschlagen worden, und hatten die Minciolinie verloren, während Suwaroff, der zum Oberbefehlshaber der österreichisch-russischen Armee ernannt worden, in Verona eingezogen war und sich Brescias bemächtigt hatte. Macdonald hatte, nachdem er Befehl empfangen, seine Streitmacht mit der im vollen Rückzuge begriffenen französischen Armee zu vereinigen, Neapel am 3. Mai verlassen, während er in dem Kastell San Elmo eine Garnison von nur fünfhundert Mann zurückgelassen.
Die Nachricht von der Räumung Neapels kam am 9. Mai nach Palermo. In dem Augenblicke aber, wo wir uns der Freude hingaben, welche diese Räumung uns machte, traf eine andere Neuigkeit ein, welche zu der vorher empfangenen das Gegengewicht bildete. Am 12. Mai erfuhren wir durch die Brigg »Die Hoffnung«, daß die französische Flotte von Brest unsere Blockade getäuscht und den Hafen verlassen hatte. Man hatte sie bei Oporto gesehen, in der Richtung von der Meerenge von Gibraltar, und wahrscheinlich in der Absicht, sich mit der spanischen Flotte zu vereinigen und einen Schlag gegen Minorca oder Sizilien zu versuchen. Demzufolge war es notwendig, die englische Flotte zu verstärken, und der Admiral erteilte sofort Befehl, die englischen Schiffe, welche sich in der Bai von Neapel befanden, zurückzurufen. Nelson hoffte aber immer noch, daß er nicht nötig haben werde, sich von Palermo zu entfernen. Er war wirklich krank vor Unruhe und bei dem bloßen Gedanken, sich wenn auch nur auf einige Tage von mir entfernen zu müssen, weinte er wie ein Kind. Sechs Tage lang, das heißt vom 13. bis 17. Mai, war er unschlüssig, was er tun solle, obschon er recht wohl fühlte, daß sein Platz auf dem hohen Meere und nicht im Hafen von Palermo sei. Alle von ihm herbeigerufenen Schiffe trafen nach und nach mit ihren Kapitänen bei ihm ein. Endlich, am 18., riß er sich mit gewaltiger Anstrengung und mit mehr Schmerz von mir los, als es Antonius, mit welchem ich ihn oft verglich, gekostet, Kleopatra zu verlassen, um sich mit Oktavia zu vermählen. Ich glaube, wenn Nelson einmal, ein einziges Mal in seinem an Gefahren so reichen Leben den Tod fürchtete, so geschah es in diesem Augenblicke, so teuer war ihm das Leben geworden, seitdem ich ihn liebte.
Ein Vorwand hielt ihn noch zurück. Es herrschte fast gänzliche Windstille; in der Nacht vom 18. zum 19. aber erhob sich eine Brise und entschied den Aufbruch der Flotte. Nelson begab sich an Bord des »Vanguard«. Sir William und ich geleiteten ihn bis in den Hafen. Hier angelangt, sprang er in sein Boot, welches ihn seit zwei Stunden erwartete, gab Befehl nach dem Admiralschiff zu rudern, ließ den Kopf in die Hände sinken und schaute nicht wieder nach uns zurück. Was uns betraf, so verließen wir die Marina erst, als wir ihn mitten unter den Fahrzeugen, welche den Hafen füllten, aus den Augen verloren hatten. Kaum aber hatte der »Vanguard« eine Meile zurückgelegt, als der Wind sich wieder legte. Nelson benutzte diesen Umstand, um mir den folgenden Brief zu schreiben, den er mir mit dem Leutnant Swinay schickte.
»Meine teure Lady Hamilton!
Wenn ich Ihnen sage, wie traurig und düster mir der »Vanguard« erscheint, so sage ich Ihnen damit, daß ich, nachdem ich mich in der Gesellschaft der liebenswürdigsten Menschen befunden, mich plötzlich in eine dunkle Zelle eingesperrt finde. Jetzt bin ich wahrhaftig der große Mann, denn ich habe kein befreundetes Wesen bei mir und wünsche von ganzem Herzen wieder ein kleiner Mann zu werden. Sie und der gute Sir William, Sie haben allen Orten, wo Sie nicht sind, für mich den Zauber geraubt, den dieselben vielleicht früher für mich hatten. Meine Liebe zu Ihnen erstreckt sich auf alles, was Sie berührt, und Sie können sich keinen Begriff von dem machen, was ich empfinde, wenn ich Sie alle in meiner Erinnerung zusammenfasse.
Vergessen Sie nicht Ihren treuen
Nelson.«
Der Aufbruch der englischen Flotte versetzte den Hof von Palermo in große Unruhe. Die Königin besonders, welche wußte, wie wenig man auf ihren Gemahl rechnen konnte und die auch dem Genie Actons nicht recht traute, war in Verzweiflung. Dennoch beschloß man, sich, soviel man konnte, in Verteidigungszustand für den Fall zu setzen, daß die Franzosen eine Landung in Sizilien zu bewirken versuchen sollten.
Die Tage des 25., 26., 27. und 28. Mai vergingen unter fortwährenden Befürchtungen. Am 29. ward Lärm gemacht. Man sah von Marsala herkommend die Flotte, welche man anfänglich für die vereinigte französisch-spanische hielt. Es dauerte jedoch nicht lange, so überzeugte man sich, daß es Nelson war, welcher mit seinem Geschwader zurückkehrte. Man beeilte sich, anspannen zu lassen, und die Königin, Sir William und ich stiegen in den Wagen und nahmen die Richtung nach der Marina. Nelson seinerseits verlor ebenso keinen Augenblick und kaum war der »Vanguard« vor Anker gegangen, so stieg der Admiral in seine Jolle und kam ans Land.
An der Art und Weise, auf welche die Königin ihm entgegeneilte und ihm die Hände drückte, konnte ich wahrnehmen, daß die Furcht ein nicht weniger starkes Gefühl ist, als die Liebe. Nelson stieg in unsern Wagen und fuhr mit uns nach dem Palaste. Während der acht oder zehn Tage, wo er gekreuzt, hatte er nicht ein einziges Segel von der französischen Flotte zu erspähen vermocht. Nach seiner Ansicht hatte sie die Richtung nach Toulon genommen, ohne Zweifel, um dort Verstärkungen an sich zu ziehen. Er legte viel Gewicht auf seine Rückkehr, welche, wie er sagte, den Zweck hatte, die Königin zu beruhigen. Seine einzige Hand aber gab mir, indem sie die meine drückte, deutlich zu verstehen, daß er bloß um meinetwillen zurückgekommen war. Er erkundigte sich, ob wir Nachrichten von Neapel erhalten hätten. Wir wußten nichts Bestimmtes. Er dagegen hatte erfahren, daß Ruffo seinen siegreichen Marsch durch Calabrien weiter fortsetzte. Die Neapolitaner hatten mittels einer Flottille von kleinen Fahrzeugen, welche von Caracciolo, der in den Dienst der Republik getreten war, geführt wurden, die Abwesenheit Nelsons und des Kerns der Flotte zu benutzen versucht, um die Inseln wieder zu nehmen. Nach einem erbitterten Kampfe gegen das von dem Kapitän Foot kommandierte »Seahorse« und die früher von Caracciolo, gegenwärtig von dem Grafen Thurn kommandierte Fregatte »Minerva« aber war die republikanische Flottille zurückgeschlagen worden.
Am 6. Juni ward Lord Nelsons Geschwader durch die Ankunft des »Donnerers«, eines Schiffes von achtzig Kanonen, welches bestimmt war, anstatt des »Vanguard« das Admiralschiff zu werden, verstärkt. Bald darauf, folgten der »Leviathan«, mit der Flagge des Vizeadmirals Duckworth, ferner der »Majestic« und der »Northumberland«, welche von der Flotte des Lord St. Vincent detachiert worden waren. Der 8. Juni war ein Festtag. Nelson verpflanzte seine Flagge vom »Vanguard« auf den »Donnerer«, und nahm zugleich auf letzteres Schiff den Kapitän Hardy, fünf Leutnants, den Kaplan und viele Matrosen und Seekadetten mit. Noch denselben Tag ward beschlossen, daß Nelson wieder in See stechen und eine Expedition gegen Neapel versuchen sollte. Der Kronprinz, welcher sich schämte, noch nichts zur Wiedereroberung seines Erbteils getan zu haben, entschloß sich endlich mit Nelson zu gehen, welcher erklärte, daß er, wenn der König ihm Instruktionen geben wollte, mit dem ersten günstigen Wind auslaufen würde.
Der König, die Königin und Sir William brachten die Nacht damit zu, daß sie diese Instruktionen aufsetzten. Dieselben gaben Nelson unbeschränkte Vollmacht. Dabei aber empfahl ihm Karoline mündlich, mit den Rebellen nicht zu unterhandeln, und beauftragte mich, ihm eine Stelle aus einem Briefe zu übersetzen, den sie in bezug auf diesen Punkt an den Kardinal Ruffo schrieb, und worin es hieß:
»Ich wünsche sehnlich, zu erfahren, daß Sie Neapel genommen haben und daß Unterhandlungen mit dem Kastell San-Elmo und seinem französischen Kommandanten angeknüpft worden sind. Dabei aber bitte ich Sie dringend: keine Unterhandlungen mit strafbaren Vasallen, welchen der König in seiner Milde verzeihen oder ihre Strafe wenigstens mindern wird! Niemals und unter keinem Vorwand darf mit rebellischen Untertanen kapituliert oder unterhandelt werden, welche in die Enge getrieben sind, und die, wenn sie auch das Böse tun wollten, es doch nicht mehr könnten, weil sie jetzt in der Falle sitzen wie gefangene Ratten. Wenn es für das Wohl des Staates notwendig ist, so bin ich einverstanden, daß man ihnen verzeihe, mit solchen Elenden aber unterhandeln, das darf niemals geschehen!
»Ganz besonders gibt es unter ihnen einen, den wir um keinen Preis nach Frankreich entschlüpfen lassen dürfen. Es ist dies der unwürdige Caracciolo, dieser dreifache Undankbare, welcher alle Winkel der Küsten von Neapel und Sizilien kennt, und der, wenn er unserer Gerechtigkeit entränne, uns allen große Unannehmlichkeiten bereiten und die persönliche Sicherheit des Königs gefährden könnte.«
Solche Instruktionen ließen für Nelson nur eine Alternative übrig. Entweder mußte er dieselben pünktlich ausführen, oder sich gar nicht damit befassen, denn sie hatten nicht bloß den Zweck, Neapel wieder zu erobern, sondern auch den, das Königtum zu rächen. Nelson zögerte, wie ich hier nicht verschweigen darf, und Donnerstag, am 12. Juni, war er noch unentschieden.
Karoline griff wieder zu dem gewöhnlichen Mittel, wodurch sie auf ihn einzuwirken verstand, und diktierte mir folgenden Brief an ihn:
»Ich habe soeben den Abend bei der Königin verbracht. Sie ist in förmlicher Verzweiflung und sagt, daß, obschon das Volk von Neapel der Mehrzahl nach für seinen rechtmäßigen Herrscher sei, die Dinge doch nicht wieder in den Zustand der Ruhe und Botmäßigkeit zurückgeführt werden können, wenn er nicht mit seiner Flotte vor Neapel erschiene. Deshalb werden Sie, mein lieber Lord, von ihr flehentlich und inständig gebeten, ja beschworen, sich ohne Zeitverlust nach Neapel zu begeben. Um des Himmels willen erwägen Sie, bedenken Sie, handeln Sie! Wir werden Sie begleiten, wenn Sie es wünschen. Sir William ist krank, ich bin krank. Dies wird uns wieder gesund machen.
Stets und immerdar aufrichtig die Ihrige
Emma Hamilton.«
Nelson konnte mir nie etwas abschlagen. Mein Brief bestimmte ihn und in der Nacht ließ er mir antworten, daß den nächstfolgenden Tag der Kronprinz zu ihm an Bord kommen könne. In der Tat begab dieser sich auch am 13. an Bord des »Donnerers«. Wir begleiteten ihn alle, der König, die Königin, mehrere Personen von der königlichen Familie, Sir William Hamilton und ich. Sofort ward die königliche Flagge aufgehißt und in demselben Augenblicke eine Salve von einundzwanzig Kanonenschüssen gegeben. Mittags verließen wir den »Donnerer«, indem wir den Prinzen und sein Gefolge an Bord zurückließen. Sofort, nachdem wir uns entfernt, ging Nelson unter Segel. Am nächstfolgenden Tage, Freitags vier Uhr morgens, stießen die Schiffe »Powerful« und »Bellerophon« zu ihm.
Dieselben meldeten ihm im Auftrage des Lord Keith, daß die zweiundzwanzig Segel starke französische Flotte an der Küste von Italien signalisiert worden sei. Nelson, der nur sechzehn Schiffe zweiten Ranges und sehr wenig Mannschaften hatte, hielt es nicht für rätlich, den Kronprinzen den Gefahren eines Kampfes auszusetzen, welcher seine Verantwortlichkeit verdoppelte. Er schlug daher sofort wieder den Rückweg nach Palermo ein und landete an demselben Tage acht Uhr morgens den Prinzen mit seinem ganzen Gepäck und Gefolge.
Dann stach er wieder in See und steuerte auf Maritimo zu, in der Hoffnung, mit dem »Alexander« und dem »Goliath« zusammenzutreffen, deren Kapitäne infolge der Befehle, welche sie vor acht Tagen erhalten, sich zur Blockade von Malta begeben sollen. Am 18. Juni war er vor Maritimo und glaubte immer noch, es mit der französischen Flotte zu tun zu haben, denn dem Kapitän Foot, der ihm das Heranrücken der Russen und des Kardinals, sowie die wahrscheinliche Einnahme von Neapel meldete, befahl er, wenn Neapel genommen wäre, mit dem »Seahorse« und dem »Perseus« vor Maritimo zu ihm zu kommen und zur Bewachung der Inseln und der Bai von Neapel bloß die neapolitanischen Schiffe mit dem »Bulldog« und dem »St. Leon« zurückzulassen, Übrigens, fügte er hinzu, wenn der Kapitän Foot es für gefährlich hielte, Neapel zu verlassen, so stünde ihm vollkommen frei, nach seinem Gutdünken zu handeln.
Noch an demselben Tag, das heißt am 18. Mai, fanden der »Alexander« und der »Goliath« sich endlich ein.
Am drittnächsten Tage kam eine Depesche von Lord Keith, welcher Lord Nelson aufforderte, nach Palermo zurückzukehren, hier die Befehle des Königs in Empfang zu nehmen und das Geschwader in die Bucht von Neapel zu führen, wohin seiner Vermutung zufolge die französische Flotte den Weg genommen. Während dieser letzteren Tage war zwischen der Königin und mir verabredet worden, daß, um Nelsons Eifer nicht erkalten zu lassen, nicht der Kronprinz, sondern ich und Sir William an Bord des »Donnerers« gehen sollten.
Gegen neun Uhr morgens signalisierte man die Rückkunft der Flotte. Mittags lief sie in die Bucht von Palermo ein, ging aber nicht vor Anker. Nelson stieg in dem Augenblicke ans Land, wo wir, die Königin, Sir William und ich, auf der Marina anlangten. Wir nahmen ihn mit in unsern Wagen und führten ihn nach dem Palast, wo er mit dem König eine Unterredung hatte, welche volle drei Stunden dauerte. Als Mylord wieder aus dem Kabinett des Königs heraustrat, fand er uns, meinen Gatten und mich, zur Abreise bereit. Er ließ sich vor der Königin auf ein Knie nieder und schwur ihr, daß ihr Wille buchstäblich vollzogen werden solle. Seine Freude, mich mit an Bord zu haben, eine Freude, welcher er vor Sir William keine Worte leihen konnte, verwandelte sich dem Anscheine nach in Enthusiasmus für die Sache der Königin. Ein Blick von ihm sagte mir, daß er vor mir knie, und daß es meine Hand sei, welche er küßte. Wir nahmen Abschied von der Königin. Sie hielt mich lange an ihr Herz geschlossen und ihr letztes Wort war das des unglücklichen Königs Carl des Ersten. »Denke daran!« Als wir an Bord des »Donnerers« kamen, erfuhr Mylord aus einem Briefe von Sir Allan Gardener, der mit sechzehn Segeln im mittelländischen Meere kreuzte, daß die französische Flotte, von Lord Keith verfolgt, in dem Golf von Spezzia gesehen worden. Nelson befahl, frisches Wasser einzunehmen, dann gingen wir alle drei an Bord des »Serapis«, welcher von dem Kapitän Duncan kommandiert ward. In derselben Nacht, nachdem alle Vorkehrungen getroffen, kehrten wir auf den »Donnerer« zurück; der Anker ward gelichtet und wir stachen in See.
Der nächstfolgende Tag verging, ohne daß wir auch nur ein einziges Segel gewahrten. Das Wetter war schön, der Wind gut, wir passierten die Inseln und Montags am 24., bei Tagesanbruch, begegneten wir einer neapolitanischen Sloop, welche uns bat, ihr Wasser zu geben. Eine Stunde später sahen wir eine Brigg auf uns zukommen, in welcher Nelson die englische Brigg »Mutine« erkannte. Er ließ signalisieren, daß er mit ihr zu sprechen wünsche. Die Schaluppe der Brigg ward ausgesetzt, kam auf uns zu und der Kapitän Hoste stieg an Bord des »Donnerers«. Der Kapitän Hoste war Überbringer eines Vertrages, welcher zwischen dem Kardinal Ruffo, dem General der türkischen Truppen, dem Kapitän Foot vom »Seahorse«, den Franzosen im Kastell San Elmo und dem Rebellen im Castello Nuovo und dem Castello d'Uovo abgeschlossen worden. Als Nelson hörte, daß mit den Rebellen ein Vertrag geschlossen worden, was doch den Befehlen der sizilianischen Majestäten geradezu entgegen war, ward er bleich vor Zorn. Er sendete sofort ein kleines Fahrzeug mit dem Vertrag nach Palermo und schrieb dem König, er kehre sich nicht an diesen Traktat, sondern betrachte denselben als einen Akt des Verrats, der nicht aufrecht erhalten werden dürfe. Nachdem er aus dem Munde des Kapitäns Hoste alle weiteren Einzelheiten vernommen, welche dieser ihm über dieses Ereignis liefern konnte, befahl er ihm, sich auf sein Schiff zurückzubegeben und mit ihm nach Neapel zu kommen. Man machte sich wieder auf den Weg.
Da der Wind gut war, so kam man bald in Sicht von Capri und steuerte mit vollen Segeln weiter nach Neapel. Nelson war mit Sir William in seine Kajüte hinuntergegangen und ließ ihn auf französisch, einer Sprache, welche der Kardinal Ruffo sehr gut verstand, den folgenden Brief an denselben schreiben.
»An Bord des ›Donnerer‹, 25. Juni 1799.
Eminenz!
Mylord Nelson bittet mich, Euer Eminenz zu melden, daß er von dem Kapitän Foot, dem Kommandanten der Fregatte ›The Seahorse‹, die Abschrift der Kapitulation erhalten, welche Ew. Eminenz angemessen gefunden, mit dem Kommandanten des Castells San Elmo, des Castello Nuovo und des Castello d'Uovo abzuschließen, daß er diese Kapitulation vollständig mißbilligt und daß er fest entschlossen ist, mit der respektablen Streitmacht, welche er die Ehre hat zu kommandieren, nicht neutral zu bleiben. Mylord hat die Kapitäne Truebridge und Wall, Kommandanten der Kriegsschiffe ›Culloden‹ und ›Alexander‹, zu Euer Eminenz abgesendet. Diese Kapitäne sind von seinen Absichten vollständig unterrichtet, und werden die Ehre haben, dieselben Ew. Eminenz auseinanderzusetzen. Mylord hofft, daß Ew. Eminenz ganz seiner Meinung sein werden und daß er morgen mit Tagesanbruch in Übereinstimmung mit Ihnen verfahren können wird.
Ich habe die Ehre zu sein
W. Hamilton.«
Während Sir Hamilton diesen Brief schrieb, hatte das Schiff einen ziemlichen Weg zurückgelegt, so daß man jetzt nur noch zwei bis drei Meilen von der Bai entfernt war. Die Folge hiervon war, daß, als Nelson wieder auf das Verdeck heraufkam, er etwas sah, was er vorher wegen der Entfernung nicht hatte sehen können, nämlich die auf den von den Franzosen und den Rebellen besetzten Castellen und auf dem englischen Kriegsschiff »The Seahorse« wehenden Parlamentärfahnen. Dieser Anblick steigerte seinen Zorn bis zur Wut. Er rief sofort den »Culloden« und den »Alexander« heran, ließ die Kapitäne Truebridge und Ball an Bord kommen, übergab ihnen Sir Williams Brief und befahl ihnen, in ein Boot zu steigen, und sich nach der Magdalenenbrücke rudern zu lassen, um die Depesche dem Kardinal Ruffo zuzustellen. Von zwölf kräftigen Ruderern in Bewegung gesetzt, erreichte das Boot das Land sehr bald, und die beiden Offiziere fanden, daß der Kardinal Ruffo sie bereits erwartete. Mit Hilfe eines Fernrohrs war er allen Bewegungen des »Donnerers« gefolgt und hatte das Boot von dem Schiff abstoßen und nach dem Lande rudern sehen.
Die Offiziere entledigten sich des ihnen erteilten Auftrags. Ruffo nahm Kenntnis von der Depesche und glaubte, Nelson mißbillige die Kapitulation bloß aus dem Grunde, weil Neapel angegriffen worden, ohne daß man, wie verabredet worden, die Ankunft des englischen Geschwaders abgewartet, wo dann der Kronprinz bei diesem Angriff den Oberbefehl führen sollte. Er glaubte nun, ein persönlicher Besuch an Bord des »Donnerers«, wobei er dem Admiral die dringenden Beweggründe, welche ihn zum Angriff auf Neapel getrieben, auseinandersetzen wollte, würde alles wieder ins Gleiche bringen. Er stieg daher in das Boot der Kapitäne Truebridge und Ball und ließ sich nach dem »Donnerer« rudern, wo seine Ankunft mit dreizehn Kanonenschüssen begrüßt ward. Nelson erwartete ihn oben an der Treppe mit Sir William, welcher, da er französisch ebenso gut sprach als italienisch, Ruffo empfing, die Honneurs des Schiffes machte und ihn in die Kajüte führte, in welcher ich zurückgeblieben war. Als der Kardinal mich erblickte, machte er eine Bewegung. Er wußte, daß die Königin ihn nicht liebte, und daß ich alle Gefühle der Königin, Antipathien ebenso wie Sympathien, teilte.
Ich grüßte kalt. Man tauschte die hergebrachten Komplimente aus, und der Kardinal begann in vortrefflichem Französisch die Ereignisse des 13. und 14. Juni zu erzählen, durch welche die Kapitulation herbeigeführt worden. Nelson sagte, er könne in dem Traktat nur einen Waffenstillstand sehen. Ruffo besprach jedoch sämtliche Artikel einen nach dem andern und bewies, daß es sich hier nicht um eine einstweilige Einstellung der Feindseligkeiten, sondern um einen wirklichen Vertrag handle, der weder durch die Ankunft der französischen, noch durch die Ankunft der englischen Flotte gebrochen werden könne. Dies beruhte alles auf so vollkommener Wahrheit, daß beim ersten Anblick die Patrioten – dies war der Name, welchen der Kardinal den Rebellen gab – weil sie die englische Flotte für die französisch-spanische angesehen, sich gefragt hatten, ob die Ankunft dieses Beistandes etwas an der Kapitulation ändere, und daß sie beinahe einstimmig ihre Entscheidung dahin abgegeben, die Unterschriften blieben gültig und der Vertrag müsse aufrecht erhalten werden. Sir William übersetzte, sowie Ruffo sprach, dessen Worte dem englischen Admiral, welcher ungeduldig zuhörte, und als er vernahm, daß eine loyal geschlossene Kapitulation auch loyal ausgeführt werden müsse, auf englisch ausrief: »Aber, Sir, Monarchen unterhandeln nicht mit ihren Untertanen!«
»Allerdings, Mylord,« antwortete der Kardinal, »allerdings ist es besser für sie, wenn sie nicht kapitulieren; von dem Augenblicke an aber, wo sie es getan, sind sie an die Verträge gebunden.«
Dann wendete er sich zu meinem Gemahl und fragte: »Ist das nicht auch Ihre Meinung, Sir?« Sir William verneinte, indem er erklärte, er teile vielmehr Nelsons Ansicht, und der Kardinal sah, daß die Sache ernster stand, als er anfangs geglaubt. Er erhob sich nun und sagte, da die Russen und die Türken auch mit bei dem Vertrag beteiligt wären, so könnte er den vom Lord Nelson erhobenen Einwand nicht allein beantworten. Mit diesen Worten nahm er Abschied und ließ sich wieder ans Land bringen. Als er wieder in sein Quartier zurückgekehrt war, ließ er, wie wir später erfuhren, den Minister Micheroux, den Kommandanten Baillie und den Kapitän Foot zu sich rufen. Letzteren hatte Nelson jedoch Sorge getragen zu entfernen, indem er ihn nach Procida geschickt. Der von dem Kardinal zusammengerufene Kriegsrat entschied nicht bloß, daß man die Kapitulation aufrecht erhalten, sondern auch, daß man, wenn Nelson dabei bliebe, sie nicht anzuerkennen, alle Mittel versuchen würde, um die Rebellen zu retten. Der Abend, die Nacht und der Morgen des 26. Juni vergingen mit fortwährenden Hin- und Herfahrten vom Hauptquartier nach dem »Donnerer« und von dem »Donnerer« nach dem Hauptquartier, ohne daß die Frage einen Schritt weiter vorrückte, weil jeder fest bei seinem Willen beharrte. Am Morgen des 27. Juni erließ Nelson folgende an die Jakobiner im Castello Nuovo und im Castello d'Uovo gerichtete Erklärung: »Der Kontreadmiral Lord Nelson, Kommandant der britischen Flotte in der Bai von Neapel, benachrichtigt die in dem Castello Nuovo und in dem Castello d'Uovo eingeschlossenen rebellischen Untertanen Sr. sizilischen Majestät, daß er ihnen ebensowenig erlaubt, diese Plätze zu verlassen, als sich einzuschiffen. Sie müssen sich vielmehr einfach ihrem Könige auf Gnade und Ungnade ergeben.«
Um diese Erklärung zu proklamieren, näherte sich ein Boot dem Castello d'Uovo, worauf sie dann laut vorgelesen ward. Der Kommandant des Castells stieg jedoch auf die Mauer und rief dem Herold zu: »Fort, schnell fort, oder ich lasse auf Euch schießen! Es besteht ein Vertrag und dieser Vertrag muß gehalten werden.«
Auf die Meldung dieses Aufrufes, welchen Nelson an die Republikaner erlassen, glaubte der Kardinal Ruffo nun seinerseits eine entschlossene Haltung annehmen zu müssen.
Demzufolge schrieb er folgendes Billett an den Admiral:
»Wenn Lord Nelson die Kapitulation der Castelle von Neapel, an welcher unter den andern Kontrahenten auch ein englischer, Großbritannien repräsentierender Offizier teilgenommen, nicht anerkennen will, so wälzt der Kardinal die ganze Verantwortlichkeit dafür ihm zu und wird sich genötigt sehen, den Feind wieder in den Stand zu setzen, in welchem er sich vor Unterzeichnung des Traktats befand. Das heißt, die Truppen des Kardinals werden die Positionen, welche sie jetzt einnehmen, aufgeben, und sich in ein verschanztes Lager zurückziehen, um die Engländer den Kampf gegen die Republikaner mit ihrer eigenen Streitmacht aufnehmen zu lassen.« Nachdem Nelson dieses Billett, welches die Frage in ein so klares Licht stellte, gelesen, zog er sich mit Sir William in seine Kajüte zurück, aus welcher er dann mit der folgenden Note in der Hand wieder heraustrat. Der Bote des Kardinals empfing gleichzeitig das englische Original und die von Sir William gefertigte Übersetzung:
»Da der Kontreadmiral Lord Nelson,« so lautete die Note, »am 24. Juni in der Bai von Neapel angelangt ist und einen mit den Rebellen abgeschlossenen Traktat unterzeichnet vorgefunden hat, so ist seine Meinung die, daß dieser Traktat nicht ohne Zustimmung Sr. sizilischen Majestät in Ausführung gebracht werden kann.«
Der Kardinal antwortete hierauf, daß, wenn den nächstfolgenden Tag die Patrioten oder die Rebellen, wie es Nelson beliebe sie zu nennen, von ihm nicht ermächtigt würden, sich einzuschiffen, er die ausgesprochene Drohung ins Werk setzen und sich mit seiner ganzen Armee zurückziehen würde. Diese Drohung war eine sehr ernste, denn Ruffo, der sich durch Nelsons Weigerung sehr verletzt fühlte, war ganz der Mann, sie auszuführen, und Nelson, dem es an Landungstruppen fehlte, wäre dann genötigt gewesen, Neapel zu bombardieren.
Demzufolge antwortete Sir William:
»Eminenz!
Mylord Nelson ersucht mich, Euer Eminenz zu versichern, daß er entschlossen ist, nichts zu tun, was den von Euer Eminenz den Kastellen von Neapel bewilligten Waffenstillstand unterbrechen könnte. Ich habe die Ehre zu sein usw. usw.
W. Hamilton.«
Diese Antwort ward dem Kardinal durch die Kapitäne Truebridge und Ball überbracht, welche ihm auch den Protest des Admirals überreicht. Da Sir William Hamiltons Antwort nichts eigentlich Positives enthielt, so befragte der Kardinal die beiden Offiziere, welche den Brief dahin erklärten, daß der Admiral sich der Einschiffung der Republikaner nicht widersetzen würde. Der Kardinal fragte sie hierauf, ob sie ermächtigt seien, ihm das, was sie soeben gesagt, schriftlich zu geben, nämlich daß Nelson verspräche, sich der Einschiffung der Republikaner nicht zu widersetzen. Die beiden Offiziere berieten sich miteinander und antworteten nach einigen Minuten, daß sie kein Hindernis sähen, den Wunsch des Kardinals zu erfüllen.
Truebridge nahm zugleich ein Blatt Papier, und schrieb mit seiner Hand darauf:
»Die Kapitäne Truebridge und Ball sind autorisiert, im Namen Mylord Nelsons Sr. Eminenz zu erklären, daß Mylord sich der Einschiffung der Rebellen von der Mannschaft, welche die Garnison der Castelle Nuovo und d'Uovo ausmacht, nicht widersetzen wird.«
Dann überreichten sie diese Erklärung dem Kardinal.
»Nun, meine Herren,« sagte dieser, »haben Sie die Güte dieses Papier auch mit Ihren Namen zu unterzeichnen.« – »Ich bitte um Verzeihung, Eminenz,« antwortete Truebridge, »wir haben wohl Vollmacht für die militärischen Angelegenheiten, aber nicht für die diplomatischen. Da jedoch diese Note, obschon nicht unterzeichnet, von unserer Hand geschrieben ist, so bitten wir Sie, ihr Glauben beizumessen.« Ruffo bestand weiter nicht auf seinem Verlangen, sei es nun, daß es ihm selbst lieb war, sich auf diese Weise aus der Affäre zu ziehen, sei es, daß er die beiden Offiziere zu verletzen fürchtete. Truebridge und Ball kehrten an Bord des Admiralschiffes zurück, erzählten, was sie getan, und Nelson sowohl als Sir William erklärten sich damit einverstanden.
Da Lord Nelson in bezug auf den Admiral Caracciolo ganz besondere Befehle von dem König und der Königin empfangen und er sich verbindlich gemacht, ihn tot oder lebendig in seine Gewalt zu bekommen, so hatte er sich in der Stadt erkundigen lassen, und auf diese Weise erfahren, daß Caracciolo sich in der Nacht vom 23. zum 24. geflüchtet und nun jedenfalls die Grenze bereits passiert habe. Diese Nachricht versetzte Nelson in die größte Wut, welche sich durch Flüche und Verwünschungen, deren Heftigkeit selbst durch meine Gegenwart nicht gemäßigt wurde, Luft machten. Gegen halb zwölf Uhr nachts hörten wir plötzlich jenen Ruf, den die Schildwache ausstößt, wenn sie, nachdem Retraite geschlagen, ein Boot sich dem Schiff nähern sieht. Nelson setzte, gerade als ob er die Wichtigkeit der Nachricht, welche dieses Boot brachte, erraten hätte, die Tasse Tee, welche er zum Munde führte, auf den Tisch und ging bis an die Schwelle der Kajüte. Hier stieß er auf den wachthabenden Offizier.
»Ein Bauer wünscht mit Ihnen allein zu sprechen. Mylord,« sagte der Offizier. – »Ein Bauer? Was will er von mir?« – »Aus seinem Kauderwelsch habe ich zu entnehmen geglaubt, daß es sich um Caracciolo handelt.« – »Um Caracciolo? Zum Teufel, lassen Sie den Bauer herunterkommen, Sir.« – Der Bauer war niemand anders als ein Pächter von Francesco Caracciolo, bei welchem der unglückliche Admiral Zuflucht gesucht. Er kam, um seinen Herrn zu verkaufen, wollte aber gut bezahlt sein. Man versprach ihm viertausend Dukati und gab ihm tausend auf Abschlag. Er forderte die größte Geheimhaltung, besonders dem Kardinal gegenüber, der, wie er behauptete, Caracciolo zur Flucht behilflich gewesen. Man kam überein, daß der Kardinal von dem, was in dieser Beziehung geschehe, nicht das mindeste erfahren solle. Der Bauer verlangte vier Mann, um ihm auf seiner Expedition Beistand zu leisten. Hier aber begann die Verlegenheit. Nelson hätte ihm wohl vier englische Matrosen mitgegeben, diese aber würden, wie gut sie sich auch verkleidet hätten, Verdacht erregt haben, weil sie nicht die Sprache des Landes redeten. Nelson fragte den Verräter, ob er nicht selbst vier Männer habe, auf die er rechnen könne. Er antwortete Ja, denn für Geld könne man alles haben, was man wolle, aber man werde wenigstens fünfzig Dukati per Mann zahlen müssen. Es waren sonach zweihundert Dukati mehr zu riskieren. Nelson bewilligte die zweihundert Dukati. Der Pächter gab dafür seinen Namen und seine Adresse. Er hieß Luigi Martino und wohnte im Dorfe Calvezzano. Es ward verabredet, daß den nächstfolgenden Tag abends ein englisches Boot am Granatello warten und der Admiral, sobald man ihn einmal festgenommen, in dieses Boot gebracht und sofort an Bord des »Donnerers« geführt werden sollte. Dies war eine große Neuigkeit und man wagte nicht recht, sich zu schmeicheln, daß sie in Wahrheit begründet sei. Auch erwähnte Sir William sie in dem Briefe, den er am 27. früh an den General Acton schrieb, nur beiläufig.
Ich teile diesen Brief hier mit, denn er gibt eine genaue Idee von dem Zustande, in welchem Neapel sich in diesen Tagen befand. »Euer Exzellenz werden aus meinem letzten Briefe ersehen haben, daß der Kardinal und Lord Nelson keineswegs einer und derselben Meinung waren. Deshalb haben wir nach reiflicher Überlegung beschlossen, von einer kleinen Kriegslist Gebrauch zu machen, und Lord Nelson ermächtigte mich demgemäß gestern, dem Kardinal zu schreiben, daß er sich der Einschiffung der Rebellen nicht widersetzen würde und daß er bereit wäre, ihm mit der unter seinem Kommando stehenden Flotte allen Beistand zu leisten. Dies äußerte die beste Wirkung. Neapel war erst ganz außer sich bei dem Gedanken, daß Lord Nelson den Waffenstillstand brechen wollte. Heute dagegen ist alles wieder beruhigt und der gute Kardinal hat ein Te Deum singen lassen, um dem lieben Gott für die Rettung seiner teuren Patrioten zu danken. Er hat mit Ball und Truebridge verabredet, daß die Rebellen in den beiden Kastellen diesen Abend eingeschifft werden sollen, während fünfhundert englische Matrosen ans Land gehen und dann die Besatzung der beiden Kastelle bilden, auf welchen, Gott sei Dank, die Fahnen Seiner sizilischen Majestät wehen.
Wir befanden uns in Mylord Nelsons Boot, als die Matrosen in dem Sanitätshafen ausgeschifft wurden. Die Freude des Volkes war laut und stürmisch. Die neapolitanischen und englischen Farben wehten an allen Fenstern, und als wir wieder Besitz von den Kastellen nahmen, erstrahlte Neapel wie von einem einzigen unermeßlichem Freudenfeuer. Ich habe mit einem Worte begründete Hoffnung, daß Lord Nelsons Ankunft hier zum Nutzen des Ruhmes und der Interessen der sizilischen Majestäten sein wird. Es war notwendig, daß ich mich zwischen Mylord Nelson und den Kardinal stellte, sonst wäre schon vom ersten Tage an alles verloren gewesen. Der Baum des Abscheues, den man vor den Palast gepflanzt, ist umgehauen, und die rote Mütze vom Kopfe des Riesen herabgerissen. Der Kapitän Truebridge leitet die Ausschiffung und die Rebellen, die sich an Bord der Felucken befinden, dürfen ohne einen Befehl von Lord Nelson nicht von der Stelle, denn man hat wohl gesagt, Lord Nelson werde sich ihrer Einschiffung nicht widersetzen, aber man hat nicht gesagt, was man, nachdem sie sich eingeschifft, mit ihnen machen würde. W. Hamilton.«
Am Abend des 27. begaben sich, wie Sir William gesagt hatte, in der Tat alle Rebellen auf die Feluken, in dem Glauben, daß sie nun die Fahrt nach Toulon antreten würden; aber in ihrer festen Zuversicht sahen sie sich bitterlich enttäuscht; denn kaum waren sie an Bord, so wurden die Feluken in den Schutzbereich englischer Schiffe geführt, die sie in wenigen Sekunden in Grund und Boden schießen konnten. Am 29. wurde ich bei Tagesanbruch durch einen großen Lärm im Schiffe erweckt. Ich warf einen Morgenrock über und ging auf Deck. Aller Augen waren auf eine Barke gerichtet, die fast noch eine Meile entfernt war, in der man aber schon neben einem an Händen und Füßen gefesselten Mann jenen Bauer sehen konnte, der uns am Abend des vorletzten Tages aufgesucht und das Angebot gemacht hatte, Caracciolo zu verraten. Er hatte sein Versprechen gehalten, brachte seinen Herrn und wollte sich sein Geld holen. Nelson und Sir William schienen außer sich vor Freude. Ich sah alles gewissermaßen nur mit den Augen meines Freundes und meines Geliebten an und muß gestehen, ich hielt nach allem, was ich von ihm hatte erzählen hören, den Admiral für einen Verräter und schweren Verbrecher, so daß ich mich mit ihnen über seine Gefangennahme freute. Und doch krampfte sich mir das Herz zusammen beim Anblick dieses Mannes, der jedesmal, wenn ich ihn mit der Königin hatte sprechen hören, die Sprache eines tapferen Kriegers und eines Ehrenmannes geführt hatte. Ich ließ Nelson und Sir William sich ihres Triumphes freuen, und in der Meinung, daß es sich für eine Frau nicht gezieme, daran teilzunehmen, stieg ich in mein Zimmer hinab, dessen Tür ich verschloß. Ich wußte, wie Nelson seinem Kollegen gesinnt war; ich hatte den Brief gelesen, den mein Mann am vorigen Tage an Acton geschrieben: ich konnte daher nicht an dem Schicksal zweifeln, das dem Gefangenen vorbehalten war.
Ein Brief Sir Williams an General Acton besagt, in welchem Zustande Caracciolo an Bord des »Foudroyant« gebracht wurde; ich führe hier die betreffende Stelle an, die sich auf den neapolitanischen Admiral bezieht: »Wir sahen Caracciolo vor uns; blaß, mit langem Barte, halb tot, die Augen senkend, wurde er an Bord des Schiffes gebracht, wo er nun mit dem Sohne Cassanos, Don Giulio, dem Priester Pacifico und andern schändlichen Verrätern zusammentraf. Ich vermute, man wird die Schuldigsten ohne weiteres aburteilen. Vor allem ist es vorteilhaft, daß wir diese Haupträdelsführer gerade zu der Zeit in unserer Gewalt haben, wo Sant-Elmo angegriffen werden soll. Wir können für jede Kugel, die die Franzosen auf uns abfeuern, einen Kopf fallen lassen.« Ich führe dieses Bruchstück eines Briefes aus zwei Gründen an: erstens, weil es Einzelheiten über den Transport des unglücklichen neapolitanischen Admirals an Bord des englischen Schiffes enthält; zweitens, weil es beweist, bis zu welchem Grade die sanftesten, wohlwollendsten Gemüter von dem grausamen Feuer des Bürgerkriegs erhitzt waren. Sir William, ein Mann des Kabinetts, ein kultivierter, menschenfreundlicher Geist, ein dem Kult der Antike gewidmeter Gelehrter, der das Schöne ebenso innig verehrte wie ein griechischer Bildhauer, mußte von einer seltsamen Störung der Ideen ergriffen sein, um einen solchen Brief zu schreiben. Das Unglück derer, welche in diesen heißen Tagen der Revolution unter dem glühenden Hauche des Parteigeistes eine Rolle spielen, liegt darin, daß sie von Menschen beurteilt werden, die in gewöhnlichen Zeiten, in gemäßigten Epochen leben. Jener verhängnisvolle Tag des 29. Juni 1799 hat einen Blutflecken auf unsern drei Namen zurückgelassen und dennoch – davon bin ich überzeugt – glaubten Nelson und Sir William eine Pflicht zu erfüllen, und ich, von Natur schwach und die Verbrechen mit den Augen der Königin betrachtend, ich tat, wie ich eingestehe, zur Rettung des unglücklichen Admirals nicht das, was unter anderen Umständen mein Herz mir befohlen haben würde zu tun.
Man verzeihe mir diese Abschweifung, Caracciolos Tod, welchen alle meine Bitten und alle Gewalt, die ich über Nelson besaß, wahrscheinlich nicht hätten verhindern können, ist gleichwohl die blutende Wunde meines Lebens geblieben. Bis zu diesem Tage verachtete mich die Welt vielleicht mit Unrecht, von diesem Tage an aber hat sie mich gehaßt, und zwar mit Recht. Ich werde nichtsdestoweniger fortfahren, alle Einzelheiten jenes furchtbaren Tages zu erzählen, wie sehr mir auch diese Erzählung das Herz zerreißen mag. Sobald als Caracciolo den Fuß auf das Deck des »Donnerer« gesetzt, ward Befehl gegeben, seinen Prozeß zu beginnen. Nelson entwickelte bei dieser ganzen furchtbaren Angelegenheit eine fieberhafte Hast, die sich kaum durch die Geringschätzung erklären läßt, womit Leute, welche jeden Augenblick ihr Leben aufs Spiel setzen, auch das Leben anderer betrachten. Man hat von Eifersucht gesprochen und behauptet, Nelson habe in Caracciolo einen Nebenbuhler seines Ruhmes gesehen. Diese Anklage ist eine völlig ungereimte. Selbst in der französischen Marine hatte Nelson seinerzeit nicht seinesgleichen. Die Schlacht bei Abukir hatte ihn über alle Seehelden des achtzehnten Jahrhunderts gestellt, denn noch nie seit Erfindung des Pulvers hatte ein Mann einen solchen Sieg davongetragen, wie der bei Abukir war.
Was aber war Caracciolo neben dem Sieger von Toulon, von Calvi, von Teneriffa, von Abukir? Als Seemann sehr wenig. Oder war Nelson eifersüchtig auf den Vorzug der Geburt, welchen Caracciolo vor ihm voraus hatte? Auch dies ist nicht wahrscheinlich. Wie alle aus mittlerem Stande stammenden zu einer hohen Stellung gelangten Männer der Intelligenz war Nelson vielmehr stolz darauf, nicht von vornehmer Geburt zu sein. Anstatt durch seine Ahnen und durch seinen Vater geadelt worden zu sein, hatte er vielmehr diese geadelt. Ich werde, glaube ich, zu einer gerechteren Würdigung Nelsons gelangen, wenn ich ihn nach mir selbst beurteile. Nelson war, wie ich, ein Kind aus dem Volke. Er arbeitete sich durch seinen Mut empor, ebenso wie ich durch meine Schönheit, und plötzlich nach der Schlacht bei Abukir befand er sich, ebenso wie ich nach meiner Vermählung mit Sir William, in Berührung mit den Großen der Erde.
Die Wirkung war auf das Weib dieselbe wie auf den Helden, obschon beide auf verschiedenen Wegen zu ihrem Ziel gelangt waren. Erstaunt über seinen Triumph, geblendet durch sein neues Glück, berauscht von den Lobreden und Geschenken, die er von allen Königen empfing, und von den Liebkosungen und Schmeicheleien, womit besonders der König Ferdinand und die Königin Karoline ihn überhäuften, sah Nelson bald keine andern Rechte mehr als die der Monarchen und bekannte sich mit Begeisterung zu der Sache der Könige gegen die Völker. Jeder, der diese Rechte in Frage zu stellen wagte, war in seinen Augen ein Rebell; jeder, der es unternahm, sie zu bekämpfen, verdiente nach seiner Ansicht den Tod. Er glaubte gleich dem Erzengel Michael aus der Hand Gottes das flammende Schwert empfangen zu haben, und ebenso wie der Erzengel Michael schlug er mit diesem flammenden Schwert auf Satan und die empörten Engel los. Bei der entsetzlichen Hinrichtung Caracciolos, so wie bei der nicht weniger entsetzlichen der Republikaner von Neapel zögert er keinen Augenblick, und nachdem die Hinrichtung vorüber ist, empfindet er nicht bloß keine Reue, sondern wundert sich sogar, daß man ihm ein solches Gefühl zutrauen könne. Der König und die Königin haben ihm befohlen, sich Caracciolos tot oder lebendig zu bemächtigen, und wenn er ihn lebend in seine Gewalt bekommt, ohne Schonung gegen ihn zu verfahren. Dies genügt ihm. Infolge dieses Auftrages ist ihm die Vollmacht des Richters und im Notfall auch die des Henkers verliehen. Jetzt fragte man, wie man sich leicht denken kann, mich über diese Angelegenheit Caracciolos nicht um Rat. Ich habe gesagt, daß ich, um dem unglücklichen Admiral nicht in den Weg zu kommen, mich in meine Kajüte eingeschlossen hatte. Nelson und Sir William ließen mich darin. Sie wußten nur zu gut, daß, wenn ich sähe, wenn ich hörte, mein Frauenherz schwach werden würde, und da sie dann mit meinem Mitleid zu kämpfen hätten, wie dies später der Fall war, als ich die Königin um Cirillos Begnadigung bat, und die Königin ihren Gemahl auf den Knien, obschon vergeblich, anflehte, ihr diese Begnadigung zu gewähren. Ich blieb daher in meiner Kajüte, hörte aber später folgendes erzählen:
An Bord angelangt, ward Caracciolo sofort seiner Fesseln entledigt und unter die Aufsicht gemeiner Schildwachen gestellt, welche instruiert waren, ihn nicht aus dem Auge zu lassen.
Gegen Mittag trat der Kriegsrat zusammen. Derselbe bestand aus fünf Offizieren der neapolitanischen Marine. Die Namen dieser Offiziere habe ich niemals erfahren. Der Graf von Thurn führte den Vorsitz. Das Verhör dauerte eine Stunde. Caracciolo antwortete in würdiger, edler Weise, aber ohne juristischen Beistand und ohne daß man ihm Zeit ließ, eine ausführliche Verteidigung vorzubereiten, die übrigens schwer gewesen sein möchte, da er ja öffentlich und bei hellem, lichtem Tage gegen seinen König gekämpft. Seine Strafbarkeit ward deshalb einstimmig anerkannt und das Protokoll Nelson vorgelegt, welcher mit derselben Unerschütterlichkeit wie am Morgen folgenden Befehl niederschrieb:
»An den Kapitän Grafen von Thurn.
In Erwägung, daß der aus Offizieren im Dienste Seiner sizilischen Majestät zusammengesetzte Kriegsrat sich versammelt hat, um Francesco Caracciolo wegen des ihm zur Last gelegten Verbrechens der Rebellion gegen seinen Monarchen zu richten, und in Erwägung, daß der genannte Kriegsrat, nachdem er das Verbrechen des Hochverrats erkannt, über Caracciolo das Todesurteil ausgesprochen – werden Sie hiermit beauftragt, das erwähnte Todesurteil gegen den genannten Caracciolo in der Weise zu vollstrecken, daß Sie ihn an der großen Raa der Fregatte »Minerva«, welche Seiner sizilischen Majestät gehört, aber unter unsern Befehlen steht, aufknüpfen lassen. Dieses Urteil wird heute um fünf Uhr vollzogen und die Leiche des Hingerichteten bis Sonnenuntergang hängen bleiben, wo dann der Strang durchschnitten und der Körper ins Meer geworfen werden wird.
An Bord des »Donnerers«, Neapel, 29. Juni 1799.
Horace Nelson.«
Daß er zum Tode verurteilt werden würde, dies hatte Caracciolo wohl erwartet, dennoch aber glaubte er, man werde aus Rücksicht auf seine Eigenschaft als Fürst ihn entweder erschießen oder enthaupten. Als er das Urteil verlesen hörte, welches ihn zum Tode durch den Strang verdammte, geriet er in furchtbare Aufregung und bat einen Offizier, zu Nelson zu gehen und diesen um die Gunst zu bitten, ihn erschießen, aber nicht hängen zu lassen. Nelson fertigte den Offizier mit harten Worten ab, indem er sagte, Caracciolo sei durch ein aus Offizieren seines Landes zusammengesetztes Kriegsgericht verurteilt und er könne daher sich nicht weiter einmischen. Auf Caracciolos wiederholtes inständiges Bitten wagte der Offizier zum zweiten Male vor Nelson zu erscheinen und ich hörte, wie letzterer ihm in rauhem Tone zurief: »Bekümmern Sie sich um sich selbst, Sir, aber nicht um Dinge, die Sie nichts angehen.«
Der Offizier kehrte auf das Deck zurück. Man sagte mir später, Caracciolo habe nun meinen Namen genannt und den Offizier gebeten, zu mir zu gehen und mich zu bitten, es auszuwirken, daß er enthauptet oder erschossen, anstatt gehängt werde. Ohne Zweifel aber wagte der Offizier, nach dem harten Verweis, den er von Nelson erhalten, nicht, mich aufzusuchen. Er antwortete dem unglücklichen Verurteilten, er habe vergebens zu mir zu gelangen gesucht. Was mich betrifft, so kann ich vor Gott beschwören, daß niemand mit mir zugunsten Caracciolos gesprochen, weder daß ihm das Leben geschenkt werden, noch daß eine Änderung in bezug auf seine Todesstrafe eintreten möge.
Um drei Uhr verließ Caracciolo, der Verurteilte, ohne daß ich etwas davon wußte, den »Donnerer«, um auf die »Minerva« gebracht und dort hingerichtet zu werden. Einen Augenblick später kam Sir William zu mir und meldete mir bloß, daß Caracciolo verurteilt und daß er nicht mehr an Bord sei. Ich benutzte diesen Umstand, um aufs Deck zu gehen, denn ich hatte seit sieben Uhr morgens keine frische Luft geschöpft. Die Witterung war trübe und traurig, obschon es der 29. Juni war. Das Schauspiel, welches man vor Augen hatte, stimmte mit dieser Witterung überein – die mit Gefangenen beladenen Feluken und der »Donnerer«, welcher selbst einer Anzahl derselben zum Gefängnis diente, gewährten einen niederschlagenden Anblick. Es schien unter allen diesen Unglücklichen eine große Aufregung zu herrschen, und erst jetzt erfuhr ich durch den Chevalier Micheroux, der an Bord kam, daß, nachdem man den Patrioten erlaubt, sich einzuschiffen, nachdem man frische Besatzung in die Kastelle gelegt, nachdem man mit einem Worte die Vorteile der Kapitulation benutzt, Lord Nelson die armen Getäuschten als Gefangene zurückhielt.
Ich habe gesagt, daß ich dies alles durch den Chevalier Micheroux erfuhr, und es geschah dies auf folgende Weise: Der Chevalier Micheroux, der Kardinal Ruffo und der Kommandant Baillie hatten alle drei von seiten der Gefangenen folgende Reklamation erhalten: »Der ganze Teil der Garnison der Kastelle, welcher sich an Bord der Feluken befindet, um nach Toulon zu segeln, befindet sich in der größten Bestürzung. Er erwartete zuversichtlich die Ausführung der Kapitulation, obschon seit der übereilten Räumung der Kastelle nicht alle Artikel genau beobachtet worden sind. Seit zwei Tagen ist das Wetter günstig, der Wind gut und dennoch bleiben wir hier liegen und sehen keine Anstalten zur Abreise treffen. Noch mehr, gestern abend um sieben Uhr sahen wir mit dem größten Schmerz die Generale Manthonnet, Massa und Basset, den Präsidenten der Exekutivkommission Ercole d'Agnese, den Präsidenten der Legislativkommission, Domenico Cirillo, Emanuele Borga, Piatti und noch mehrere andere aus unserer Mitte hinwegführen. Man hat sie sämtlich auf das Schiff des englischen Kommandanten gebracht, wo sie die ganze Nacht zurückgehalten worden und von wo sie noch nicht wieder zurückgekehrt sind. Die gesamte Garnison erwartet von Ihrer Rechtschaffenheit die Aufklärung dieser Tatsache und die Ausführung der Kapitulation.
Reede von Neapel, 29. Juni 1799.
Albanese.«
Nelson nahm das Papier, las es in aller Ruhe und sagte, indem er dem Chevalier Micheroux einen Körper zeigte, den man mit Hilfe eines Flaschenzuges emporzog und welcher zappelnd am Ende eines Strickes an der großen Raa der »Minerva« hängen blieb: »Dies dort ist meine Antwort an die Rebellen. Sie können sie diesen ebenso überbringen, wie dem Kardinal Ruffo.«
Micheroux betrachtete mit Erstaunen dieses Schauspiel, welches er nicht zu begreifen schien. »Aber,« fragte er, »wer ist jener Mann und was tut man ihm?« – »Jener Mann,« hob Nelson wieder an, »ist der Verräter Caracciolo und er wird auf meinen Befehl gehängt. So wird es jedem Rebellen ergehen, der die Waffen gegen seinen König getragen.« – Ich stieß einen Schrei aus. Auch ich hatte alles gesehen, ohne zu ahnen, was ich sah. Der Chevalier Micheroux stieg, bestürzt über die Antwort des Admirals, in das Boot hinab, welches ihn hergebracht, bedeckte sich das Gesicht mit den Händen und ließ sich wieder zurück ans Land rudern. Noch denselben Tag sendete der Kardinal Ruffo, weil er weder Caracciolo retten, noch die Ausführung des Traktates erlangen gekonnt hatte, seine Entlassung nach Palermo ein.
Nachdem der König am 2. Juli in Palermo Briefe von Nelson und Sir William erhalten, welche ihm die Hinrichtung Caracciolos meldeten und ihn dringend baten, so schnell als möglich zur Stelle zu kommen, beschloß er, nach Neapel oder vielmehr in die Bai von Neapel zu gehen und reiste am 3. Juli ab, nicht auf dem »Seahorse«, welches ihm Nelson geschickt, sondern auf der neapolitanischen Fregatte »die Sirene«.
Ohne Zweifel fürchtete er, die Marine, welche sich schon durch den Vorzug, den er Nelson vor Caracciolo eingeräumt, verletzt fühlte und später durch den Prozeß und den Tod des Admirals in nicht geringe Bestürzung versetzt worden war, sich vollständig zu entfremden. So stürmisch und mißlich die erste Überfahrt gewesen, so ruhig und ausgezeichnet schön war die zweite. Ein an Nelson abgesendetes leichtes Fahrzeug war am 6. Juli angelangt und hatte ihm gemeldet, daß der König unterwegs sei und wahrscheinlich am 7. oder 8. anlangen würde. Nelson beschloß die Belagerung des Kastells San Elmo energisch zu betreiben, damit der König bei seiner Ankunft seine Fahnen auf allen Festungen wehen sähe.
Das Kastell San Elmo war nicht schwer zu nehmen, besonders in Anbetracht der Gesinnungen seines Kommandanten, des Oberst Mejean. Noch an demselben Tage, wo die Vorbereitungen zum Angriff begannen, hatte Mejean, in der Meinung, der Kardinal sei immer noch der Verbündete der Engländer, oder vielmehr der die Operationen leitende General, ihm einen Boten geschickt, um ihm sagen zu lassen, die französische Garnison sei bereit zu kapitulieren, unter der Bedingung, daß man ihr eine Million schenke. Dieses Anerbieten war von der Drohung begleitet, Neapel zu bombardieren, wenn die Million nicht binnen achtundvierzig Stunden ankäme. Der Kardinal ließ dem Oberst antworten, daß der Krieg unter ehrlichen Leuten mit Eisen, aber nicht mit Gold geführt werde; daß in allen zivilisierten Ländern die Kriegsgesetze untersagten, auf die Häuser zu schießen, welche innerhalb eines Umkreises lägen, von welchem kein Angriff ausginge; daß die Batterien, welche gegen San Elmo spielen würden, wahrscheinlich auf der entgegengesetzten Seite der Stadt aufgepflanzt wären und daß er folglich sein Feuer nicht gegen die Stadt, sondern gegen diese Batterien selbst zu richten habe. Er fügte hinzu, wenn eine einzige Bombe von dem Schlosse auf einen Punkt geworfen würde, von welchem aus kein Angriff erfolgt sei, der Oberst Mejean mit seinem eigenen Kopfe für das Unheil zu haften habe, welches daraus entstehen könnte. Am 1. Juli stieg Truebridge mit fünfzehnhundert Mann Engländern ans Land, verstärkte sich durch fünfhundert Mann Russen und begann sofort die Belagerungsarbeiten. In der Nacht vom 8. zum 9. langte der König in Procida an. Er war von dem General Acton und dem Fürsten von Castelcicala begleitet. Den 9. blieb er den ganzen Tag in Procida, ohne Zweifel, um sich zu überzeugen, daß der Richter Speciale hier seiner Pflicht gut nachkomme. Endlich am 10. kam er an Bord des »Donnerers«, wo seine Ankunft mit einunddreißig Kanonenschüssen begrüßt ward. Die Nachricht, daß der König in Procida sei, hatte sich schon in Neapel verbreitet, und die auf dem »Donnerer« abgefeuerten Salven und die auf dem großen Mast aufgehißte königliche Flagge verkündeten seine Anwesenheit an Bord des Admiralschiffes. Sofort drängte sich die ganze Bevölkerung nach Santa Lucia, nach dem Molo und nach Marinella, und eine ungeheure Menge mit Bannern geschmückter und mit Musikanten besetzter Boote verließ den Hafen und steuerte nach dem englischen Geschwader, um den König willkommen zu heißen. Kaum war Ferdinand auf dem Admiralschiffe angelangt, so verlangte er ein Fernrohr, stieg auf die Schanze und richtete das Glas auf San Elmo. In demselben Augenblicke wollte der Zufall, daß eine russische Kugel den Stock der französischen Fahne zerschlug und diese herabwarf.
Der König, der wie immer sehr abergläubisch war, rief: »Eine gute Vorbedeutung, lieber Nelson! Eine gute Vorbedeutung.«
Und in der Tat, gerade als ob der Oberst Mejean sich mit Truebridge verabredet hätte, dem König eine Überraschung zu bereiten, war die Fahne, welche auf die dreifarbige folgte, die weiße, auch die »Parlamentärfahne« genannt. Diese Fahne, welche nur auf die Ankunft des Königs gewartet zu haben schien, um sich zu entfalten, brachte eine gewaltige Wirkung hervor. Das Volk erhob ein lautes Beifallsgeschrei und die Kanonen der ganzen Flotte antworteten den Kanonen des »Donnerers«. Sobald als der Kardinal Ruffo durch diese Salven erfahren, daß der König auf der Reede war, schiffte er sich ein und begab sich an Bord von Nelsons Schiff, wo er seit dem Tage des Bruches des Vertrages nicht wieder gewesen. Als die Gefangenen auf den Feluken, die nun endlich eingesehen, daß sie in ihm einen Verteidiger hatten, ihn vorbeifahren sahen, faßten sie wieder einige Hoffnung, denn sie glaubten, er werde für sie sprechen. Und in der Tat hatte der Kardinal den König nicht sobald begrüßt, so brachte er die Frage wegen der Verträge zur Sprache, und erklärte laut, daß der Bruch derselben ein öffentlicher Skandal sein würde, welcher an allen Höfen von Europa gerechte Entrüstung hervorrufen müßte. Der König antwortete, ehe er sich hierüber ausspräche, wolle er erst Nelson und Sir William hören.
Er ließ beide demgemäß rufen, und nun erneuerte sich die frühere Diskussion. Sir William verfocht den diplomatischen Grundsatz, daß Monarchen nicht mit ihren rebellischen Untertanen unterhandeln könnten, und erklärte, daß aus diesem Grunde die Verträge zerrissen werden müßten.
Nelson bewies unversöhnlichen Haß gegen die französischen Revolutionäre und sagte, man müsse das Übel mit der Wurzel ausrotten, um neues Unglück zu verhindern. Was den Kardinal betraf, so blieb er fest bei seinem Prinzip stehen, daß, da die Kapitulation geschlossen worden, dieselbe auch gehalten werden müsse. Alle seine Vorstellungen vermochten jedoch nichts gegen die Beweisgründe Nelsons und Sir Williams, die überdies mit den geheimen Gedanken des Königs übereinstimmten. Die Gefangenen wurden nicht freigegeben, und als sie den Kardinal mit gesenktem Haupte und gerunzelter Stirn wieder zurückfahren sahen, begriffen sie, daß für sie alles aus sei. Als Ruffo wieder in sein Hauptquartier zurückkam, sendete er zum zweiten Male seine Entlassung ein. Noch denselben Tag wurden die Gefangenen, die sich an Bord des »Donnerers« und der Feluke befanden, wieder ans Land gesetzt und zwei und zwei aneinandergekettet in die Gefängnisse der Vikaria gebracht. Als dieses Schloß keinen Gefangenen mehr aufzunehmen vermochte – ein Brief des Königs spricht von achttausend! – ward ein Teil derselben nach den in Kerker umgewandelten »Granili« gebracht.
Bei diesem Anblicke schlossen die Lazzaroni mit Recht, daß ihnen nun freie Hand gegeben sei, und da ich zu Anfang dieser Bekenntnisse versprochen habe, alles zu sagen, so gestehe ich, daß die Tage des 8. und 9. Juli Zeugen von Greueltaten waren, die man uns wie etwas ganz Gewöhnliches und Natürliches berichtete. Nelson und Sir William Hamilton waren damit einverstanden, und der König selbst lächelte darüber. Besonders erzählte man von den Bluttaten eines Priesters namens Rinaldi, welcher stolz auf das, was er an diesen beiden Tagen getan, an den König eine Petition richtete, in welcher er um das Kommando der Stadt Capua bat und zur Unterstützung seiner Bitte sich darauf berief, daß er einen Arm von einem an langsamem Feuer gebratenen Jakobiner verzehrt, daß er zwei andern Jakobinern die Leiber aufgeschlitzt, und fünf oder sechs Jakobinerkinder in Stücke gehauen habe. Der König bewilligte ihm eine Gratifikation an Geld und außerdem eine ehrende Auszeichnung, ich weiß nicht mehr welche. Was mich betraf, so war es mir, als träumte ich, und als lastete ein blutiger Alp auf mir. Ich glich jenen Frauen des Mittelalters, welche, nachdem sie sich in einem Walde verirrt, um Mitternacht in einen Hexensabbat hineingeraten. Zur Beteiligung an dem ruchlosen Tanze aufgefordert, weigern sie sich anfangs mit Grauen und Entsetzen, dann aber mit Gewalt in die höllische Runde hineingezogen, berauschen sie sich allmählich an dem Anblick der Fackeln, an dem tobenden Gesang, an der Berührung der fieberhaft brennenden Hände und erwachen am nächstfolgenden Morgen wie zerschlagen, besudelt durch die teuflische Orgie, die sie vergebens in das Bereich der Träume verweisen möchten, und deren furchtbare Wirklichkeit ihnen bis zur Stunde des Todes vorschweben wird.
Sobald das Kastell San Elmo übergeben, und der König folglich wieder Herr von Neapel war, ward die von dem Kardinal ernannte Junta aufgelöst, weil sie als zu gelind erkannt worden. Nur die zwei strengsten Mitglieder derselben wurden beibehalten. Diese beiden Mitglieder waren Antonio della Rocca und Angelo di Fiore.
Die an Bord des »Donnerers« ernannte neue Junta ward beauftragt, die verschiedenen Kategorien der Rebellen zu richten, welche der König Sorge getragen, selbst zu bezeichnen. Die Liste war lang, so lang, daß man, es ist entsetzlich es zu sagen, glaubte, der Henker, welcher zehn Dukati für jede Hinrichtung bekam, werde zu rasch reich werden, wenn er noch fernerhin auf diese Weise honoriert würde. Aus diesem Grunde ließ der Fiscalprokurator, Baron Don Giuseppe Guidobaldi, ihn kommen, und zwang ihn, hundert Dukati monatlich anstatt zehn Dukati für jede einzelne Hinrichtung anzunehmen. Es bleibt mir nun noch etwas Furchtbares, Unglaubliches, beinahe Übernatürliches zu erzählen übrig, etwas, woran die Erinnerung heute noch, das heißt nach Verlauf von vierzehn Jahren, mich schaudern macht.
Der König befand sich seit einer Woche an Bord des »Donnerers«, denn er hatte nicht ein einzigesmal den Fuß ans Land setzen wollen und niemanden empfangen als die Vollstrecker seiner Rache, als eines Morgens ein Fischer, welcher die Nacht in dem Golf zugebracht, in die Nähe des Admiralschiffes kam und während er seine Fische verkaufte sagte, er habe den Admiral Caracciolo vom Boden des Meeres auftauchen und dicht unter dem Wasserspiegel hin auf Neapel zuschwimmen sehen. Die Offiziere erzählten dies Nelson, welcher den Fischer selbst befragen wollte. Dieser erzählte die Sache zum zweiten Male ganz so, wie er sie bereits zum ersten Male erzählt, und schwur bei der Madonna, daß alles reine Wahrheit sei. Die Seeleute besitzen, wie stark sie an Geist auch sein mögen, immer einen gewissen Aberglauben, und obschon Nelson von dem, was der Fischer erzählte, kein Wort glaubte, so wollte er doch sehen, wodurch diese Mitteilung veranlaßt worden sein könnte. Der Tag war schön und er schlug dem König vor, eine Spazierfahrt in den Golf zu machen. Der König, der an Bord des »Donnerers« nicht viel Zerstreuung hatte, nahm das Anerbieten an und Nelson lenkte sein Schiff nach dem von dem Fischer bezeichneten Punkte. Kaum aber hatte er eine halbe Meile zurückgelegt, als die auf dem Vorderteile stehenden Offiziere einen Körper sahen, der, indem er plötzlich bis an den Gürtel aus dem Wasser auftauchte, ihnen entgegenzukommen schien.
Sie riefen sofort den Kapitän Hardy, der trotz des Seegrases, welches diesen Körper bedeckte, und trotz der Zeit, die seit seiner Versenkung verflossen war, sofort Caracciolos Leiche erkannte. Wir, der König, Nelson, Sir William Hamilton und ich, standen auf dem Hinterteile des Schiffes. Der Kapitän Hardy sagte Nelson ein Wort ins Ohr und letzterer begab sich nach dem Bug und erkannte Caracciolo ebenfalls. Er befahl sofort beizulegen. Es galt nun diese eigentümliche Neuigkeit dem König mitzuteilen. Sir William übernahm diese Aufgabe. Der König konnte es nicht glauben. Nichtsdestoweniger erblaßte er sichtbar und begab sich nach dem Vorderteil des Schiffes. Ich wollte aufstehen wie die andern, aber vergebens. Meine Füße weigerten sich, mich zu tragen. Ich ließ den Kopf in die Hände sinken und schloß die Augen, um nichts zu sehen, selbst nicht durch die Finger hindurch. Beim Anblick der seltsamen Erscheinung prallte Ferdinand drei Schritte zurück. »Was soll das heißen?« fragte er meinen Gemahl.
»Sire,« antwortete dieser, »es ist Caracciolo, welcher, nachdem er neunzehn Tage unter dem Wasser gelegen, heute wieder auftaucht, um Ew. Majestät um Verzeihung für das Verbrechen zu bitten, welches er an Ihnen begangen.«
Der Schiffskaplan, der ebenfalls zugegen war, wagte jedoch die Worte zu äußern: »Vielleicht bittet er auch um ein christliches Begräbnis.«
»Man gebe es ihm,« rief der König, indem er fort in Nelsons Kajüte stürzte. Nelson gab demzufolge Befehl, daß man die Leiche aus dem Wasser zöge, in ein Boot legte und nach der kleinen Kirche Santa Lucia brächte, zu welcher Parochie der Hingerichtete bei Lebzeiten gehört hatte. Als man sich anschickte, diesen Befehl auszuführen, zog ich mich ebenfalls in meine Kajüte zurück. Es war schon genug, daß ich den unglücklichen Caracciolo an der großen Raa der »Minerva« hängen gesehen, ohne mich nach den neunzehn Tagen, welche er unter dem Wasser zugebracht, wieder seiner Leiche gegenüber zu sehen.
Welchen Abscheu aber ein solcher Anblick mir auch einflößte, so konnte ich doch, indem ich die Flucht ergriff, nicht umhin, einen Blick nach dem scheußlichen Kadaver zu werfen, und ich sah wieder jenes verworrene Haar und jenen struppigen Bart, womit Caracciolo mir erschienen war, als man ihn an Bord des »Donnerers« gebracht. Nur war das Gesicht jetzt grün und es kam mir vor, als hätte es keine Augen. Ohne Zweifel waren dieselben von den Fischen ausgenagt worden. Ich begriff das Entsetzen, welches dieser Anblick dem König Ferdinand notwendig eingeflößt. Er hatte diesen Tod befohlen und selbst ich, die ich bloß schuldig war, nichts gegen die Vollstreckung desselben getan zu haben, glaubte darüber den Verstand verlieren zu müssen. Später erfuhr ich von Sir William, welcher allen Einzelheiten des Vorganges mit seiner gewöhnlichen Kaltblütigkeit gefolgt war, daß die Leiche an den Füßen noch die beiden Kanonenkugeln hatte, welche dazu gedient, sie auf den Meeresboden hinabzuziehen. Man band sie los und ein Teil des Fleisches von den Beinen ging mit dem Riemen los, vermittels dessen die Kugeln befestigt waren.
Man wog letztere und der Kapitän Hardy konstatierte, daß der Körper trotz des enormen Gewichts von zweihundertundfünfzig Pfund wieder auf die Oberfläche des Wassers gekommen war. Caracciolo ward in der kleinen Kirche Santa Lucia bestattet. Als der »Donnerer« wieder in den Hafen zurückgekehrt war und ich noch schaudernd von dem, was ich gesehen, wieder auf das Deck hinaufkam, erfuhr ich, daß ein Matrose, der in der Trunkenheit seinen Vorgesetzten geschlagen, soeben zum Tode verurteilt worden war. Mein Herz war zur Milde gestimmt. Es war mir, als ob, wenn ich einem Menschen auch wenn er strafbar wäre, das Leben rettete, dies die Last mindern würde, welche auf meiner Brust lag. Ich glaubte dadurch vor Gott das Verbrechen zu sühnen, daß ich nicht einen andern Menschen vor diesem Schicksale bewahrt. Ich erkundigte mich nach dem Namen des verurteilten Matrosen. Man erwiderte mir, er hieße Thomas Campbell. Der Name fiel mir auf. Ganz gewiß gehörte derselbe meinen Jugenderinnerungen an. Ich ließ diese Erinnerungen an meinem geistigen Auge vorübergehen und besann mich, daß, als ich Kinderwärterin in Hawarden war, eines Tags, als ich die mir anvertrauten Kinder spazieren führte, die Pension der Mistreß Tolman, welcher ich auch eine Zeitlang angehört, an mir vorübergekommen war, und daß, während meine früheren Mitschülerinnen mich wegen meines damaligen Standes verspottet, eine einzige auf mich zugekommen war und mich umarmt hatte. Dieses junge Mädchen hatte Fanny Campbell geheißen. Ich weiß nicht, weshalb ich, als ich diesen Namen hörte, der doch in England ein sehr gewöhnlicher ist, auf den Gedanken kam, daß der Verurteilte ein Verwandter des jungen Mädchens sein müsse, welches mir einen Beweis von Freundschaft gegeben, während die andern mir nur ihre Verachtung zu erkennen gaben. Ich rief den Kapitän Hardy, welcher von allen Offizieren der war, mit welchem ich am meisten verkehrte, weil er von allen der beste Freund Nelsons war. Ich bat ihn, mir etwas Näheres über den unglücklichen Thomas Campbell mitzuteilen und mir ganz besonders zu sagen, aus welcher Provinz er stamme. Hardy wußte nichts Näheres über den Verurteilten, er ließ jedoch das Protokoll der Verurteilung holen, und ich ersah daraus, daß der Matrose aus der kleinen Stadt Hawarden gebürtig war. Ich zweifelte nun nicht mehr, daß er der Bruder der armen Fanny Campbell sei, und bat Hardy, mich zu dem Gefangenen zu führen, ohne jedoch jemanden davon etwas zu sagen.
Hardy weigerte sich einige Augenblicke lang, aber ich drang so sehr in ihn, daß er endlich nachgab. Er führte mich sodann die Treppen und die Matrosenleitern hinab, bis in den untersten Raum, wo der arme Teufel in Ketten lag. Man kann sich denken, wie er erstaunte, als er mich erblickte. Alle Matrosen kannten mich und ebenso war auch sicherlich allen mein vertrautes Verhältnis zu Nelson bekannt. Mein Erscheinen war daher für diesen Unglücklichen das, was ein in die ewige Nacht der Verdammten fallender Sonnenstrahl ist oder vielmehr sein würde. Anfangs schien er in seiner Betäubung meine Fragen nicht zu begreifen und zögerte mit der Antwort. Ich fragte ihn, ob er wirklich aus Hawarden sei. Er antwortete ja. Ich fragte weiter, ob er eine Schwester habe und seine Antwort war abermals bejahend. Ich sagte ihm nun, daß ich seine Schwester gekannt. Er schüttelte den Kopf. »Ich versichere Euch aber, daß ich sie gekannt,« hob ich wieder an. – »Wie?« entgegnete er, »eine vornehme Dame wie Sie hätte ein armes Mädchen wie die Tochter des Marinesergeanten John Campbell gekannt?« – »Ich habe sie so gut gekannt, daß ich jetzt noch ihren Namen weiß. Sie hieß Fanny,« sagte ich. – Er stutzte. – »Das ist allerdings wahr,« sagte er.
Dann sammelte er sich und fuhr fort: »Da Sie meine Schwester gekannt haben und da Ihr Besuch beweist, daß Sie an einem armen Verurteilten einiges Interesse nehmen, so werde ich eine Bitte an Sie richten.« – »Ja, tut das, mein Freund.« – »Meine Schwester hat den Pfarrer eines kleinen Dorfes geheiratet, welches zwischen Hawarden und Northorp liegt.« – »Heißt der Ort vielleicht Youlaw?« – »Ganz recht!« rief Thomas; »wie können Sie das wissen?« – »Nun, das kann Euch gleich sein. Ihr sehet, daß ich es weiß.« – »Wohlan, Madame, vergessen Sie mich nicht und wenn ich tot sein werde, so schreiben Sie an meine Schwester – ich selbst kann nicht schreiben – schreiben Sie meiner Schwester, ich sei tot, aber sagen Sie ihr nicht, daß ich gehängt worden bin. Bitten Sie sie, für mich zu beten, und da sie ein frommes Mädchen ist, so wird sie nicht verfehlen, es zu tun.«
»Ist dies alles, was Ihr wünscht, mein Freund?« fragte ich. – »Ach, mein Gott, ja, Madame. Ich bin mit Recht zum Tode verurteilt. Ich habe mich gegen meinen Vorgesetzten vergangen. Dennoch aber war dies nicht allein meine Schuld –«
»Wessen Schuld war es denn aber, wenn es nicht die Eurige war?« – »Der verteufelte Wein des Vesuvs war daran schuld. Ich hatte ihn getrunken, als ob ich Bier tränke, ohne zu bedenken, daß er im Feuer gewachsen war. Meine Gedanken hatten sich verwirrt, ich erkannte meinen Vorgesetzten nicht, meine Augen sahen nicht mehr, und auf diese Weise beging ich das Verbrechen. – Ich hoffe aber, daß der gute Gott einen Blick auf das Logbuch werfen und sehen wird, daß ich in den zehn Jahren, welche ich auf der königlichen Flotte diene, nicht mehr als drei Bestrafungen erlitten habe. Freilich wird die dritte eine sehr nachdrückliche sein, und jede fernere unmöglich machen.«
»Mein lieber Hardy,« sagte ich, indem ich mich nach dem Flaggenkapitän herumdrehte, »ich weiß nun alles, was ich wissen wollte. Lassen wir diesen armen jungen Mann mit seinen Gewissensbissen wieder allein.« Dann setzte ich leise hinzu: »Die hoffentlich seine ganze Strafe sein werden.« Hardy sah mich an und schüttelte den Kopf. Ich ging wieder aufs Deck hinauf und suchte Nelson.
»Mein lieber Horatio,« sagte ich zu ihm, »ich muß Ihnen eine Geschichte erzählen. Als meine Mutter als Magd auf einem Pachthofe diente, erhielt sie durch ein kleines Vermächtnis, welches ihr ein früherer Dienstherr hinterlassen, die Mittel, mich in eine Pension für junge Mädchen zu bringen, wo ich in einem Jahre lesen, schreiben, ein wenig musizieren und zeichnen lernte. Nach Verlauf dieses Jahres blieb aber plötzlich das Geld aus, ich mußte die Pension verlassen, und als Kinderwärterin in die Dienste eines wackeren Mannes, eines gewissen Mr. Hawarden, treten. Eines Tages, als ich mit meinen kleinen Pflegebefohlenen auf einer Wiese spazieren ging, kamen die jungen Mädchen, meine ehemaligen Mitschülerinnen, welche ich oft durch meine Leistungen in den Schatten gestellt, über dieselbe Wiese und da sie beinahe alle von vornehmer Familie waren, so verspotteten sie mich wegen meiner damaligen bescheidenen Stellung und wegen meiner armseligen Kleidung, welche die einer dienenden Person war.«
»Arme liebe Emma!« sagte Nelson, indem er mir die Hand drückte.
»Eine einzige trat aus der Reihe ihrer Gefährtinnen, kam auf mich zu, und als sie sah, daß ich weinte, trocknete sie mir die Tränen mit ihrem Taschentuch, umarmte mich und sagte zu mir: ›O Emma, ich bin nicht wie diese boshaften Geschöpfe! Ich liebe dich immer noch.‹ – Und ihre Tränen mit den meinigen mischend, umarmte sie mich zum zweitenmal und kehrte dann zu ihren Genossinnen zurück, von welchen sie mit spöttischem Gelächter empfangen ward.« – »Das war ein gutes Mädchen,« sagte Nelson, »und ich möchte ihren Namen und ihren Wohnsitz wissen, um ihr, wenn sie noch nicht verheiratet ist, eine Aussteuer zu geben.« – »Sie zählt jetzt vierunddreissig Jahre und sie ist verheiratet und glücklich.« – »Ah so! Nun dann um so besser.« – »Sie hat aber einen Bruder, der sich in einer schlimmen Lage befindet; darf ich diesen Bruder verlassen oder muß ich aus Dankbarkeit gegen seine Schwester nicht vielmehr versuchen, ihn der schlimmen Lage, worin er sich befindet, zu entreißen?« – »Meine liebe Emma,« sagte Nelson, »wenn Sie nach der Handlungsweise der Schwester diesen Bruder verlassen wollten, so würden Sie sich einer Undankbarkeit schuldig machen und ich glaube nicht, daß Sie diesem häßlichen Laster huldigen.« – »Werden Sie mir dann bei meinem Bemühen, mich meiner Schuld gegen Fanny zu entledigen, hilfreiche Hand leisten?« – »Ja, wenns in meiner Macht steht.« –
»Und Sie geben mir Ihr Wort darauf?« –
»So wahr ich Nelson heiße.« –
»Wohlan, mein lieber Horatio,« sagte ich, indem ich meinen Arm um seinen Hals schlang und meine Lippen auf die Narbe seiner Stirn drückte, »dieses wackere Mädchen, in bezug auf welches Sie mir Dankbarkeit predigen, heißt Fanny Campbell und ihr Bruder, Thomas Campbell, ist es, der heute wegen Beleidigung eines Vorgesetzten durch das Kriegsgericht zum Tode verurteilt worden ist.«
»Na,« sagte Nelson, indem er die Stirn runzelte, »die Sache ist ernster, als ich glaubte, liebe Emma.« – »Dann weisen Sie mich also wohl ab?« – »Nein, das sage ich nicht; ich suche bloß ein Mittel, um die Sache ins Gleiche zu bringen.« – »Wie? ins Gleiche zu bringen? Dies scheint mir sehr schwierig zu sein. Sie können den armen Teufel doch nicht gleichzeitig hängen und auch nicht hängen!« – »Nein, das allerdings nicht, wohl aber kann ich ihn bis zum letzten Augenblick glauben lassen, daß er gehängt werde und im letzten Augenblick werden Sie erscheinen und ihn retten. Erfolgte nicht auf diese Weise, wie uns neulich Sir William erzählte, die Entwicklung in den antiken Tragödien? Ein Gott oder eine Göttin erschien und der Schuldige war gerettet. Wir befinden uns hier auf dem Boden des klassischen Altertums; nehmen mir uns ein Beispiel an demselben.«
Es widerstrebte mir einigermaßen, die Rolle anzunehmen, welche Nelson mir in dieser Komödie zuteilte, durch welche die Angst eines Unglücklichen um fünfzehn bis achtzehn Stunden verlängert ward. Nelson wollte aber von nichts anderem hören und man mußte die Gnade entweder annehmen, so wie er dieselbe darbot, oder ganz darauf verzichten. Am nächstfolgenden Tage geschah die Sache so, wie Mylord gewollt hatte. Schon am frühen Morgen wurden die Matrosen und Marinesoldaten auf dem Deck zusammengerufen, der Schuldige ward vorgeführt, die Trommeln wirbelten, der Strang war bereits über die Segelstange geworfen und die Schlinge dem Verurteilten um den Hals gelegt, als, der getroffenen Verabredung gemäß, ich erschien und um die Begnadigung bat, welche mir gewährt ward. Der arme Teufel, welcher noch Kraft besessen, so lange es sich darum gehandelt, zu sterben, verlor dieselbe plötzlich, als er leben sollte, und ward ohnmächtig. Man brachte ihn wieder zur Besinnung, indem man ihm einen Eimer Seewasser ins Gesicht schüttete, dann führte man ihn wieder in den Raum hinab, wo er noch acht Tage in Ketten gelegt ward. Als diese Zeit vorüber war, kam er, um sich bei mir zu bedanken, und trat seinen Dienst wieder an.
»Nun,« fragte ich ihn, »wirst du wieder vom Weine des Vesuv trinken?« – »O, weder Wein noch Bier, Mylady!« antwortete er. »Ich habe den Schwur getan, während der ganzen noch übrigen Zeit meines Lebens bloß Wasser zu trinken.«
Später hörte ich, daß bis zum Jahre 1807, das heißt bis zum Bombardement von Kopenhagen, wo er das Leben verlor, Thomas Campbell treulich Wort gehalten hatte.
Der König hatte in Neapel alles getan, was er dort hatte tun wollen. Er hatte seine Junta eingesetzt und dieselbe bei der Arbeit gesehen. Vom 6. Juli bis zum 3. August war kein Tag vergangen, an welchem nicht wenigstens ein Verurteilter gehängt worden wäre. Demzufolge gab er Nelson den Wunsch zu erkennen, nach Palermo zurückzukehren. Nelson ging am 6. August unter Segel und am 8. waren wir wieder in der Hauptstadt von Sizilien angelangt. Ich fand die Königin gegen mich noch immer so gut und so liebreich, wie sie immer gewesen war. Sie war es, welche mir mitteilte, daß sie im Laufe von weniger als acht Tagen zwei Entlassungsgesuche vom Kardinal Ruffo erhalten und daß sie jedesmal durch die positive Weigerung, sie anzunehmen, geantwortet, weil sie, setzte sie hinzu, der Popularität dieses Mannes noch auf einige Zeit bedürfte.
Einige Zeit nach unserer Ankunft in Palermo verständigte sich der König mit Sir William Hamilton über die Geschenke, welche er denen zu machen gedachte, die im letzten Feldzuge eine tätige Rolle gespielt hatten. Nelson war schon überhäuft und man konnte ihm nichts mehr geben. Sämtliche unter seinen Befehlen dienende Kapitäne erhielten jeder eine mit Diamanten besetzte Tabatiere. Die, welche Truebridge bekam, war überdies noch mit dem Bildnisse des Königs geschmückt, und dieser schenkte ihm außerdem einen sehr schönen Ring mit einem Diamanten, der einen Wert von wenigstens zweitausend Dukaten hatte. Mittlerweile nahte Nelsons einundvierzigster Geburtstag heran und an diesem, daß heißt am 20. September, schrieb ihm die Königin Karoline eigenhändig folgendes Billett, welches sie nicht mit Karoline, sondern mit Charlotte unterzeichnete, wie sie bei allen nichtpolitischen Gelegenheiten zu tun pflegte.
»Palermo, am 20. September 1799.
Mein würdiger, achtungswerter Lord Nelson! Empfangen Sie meine aufrichtigen Glückwünsche zu Ihrem Geburtstage. Wieviel Grund haben wir, Ihnen ewig dankbar und ergeben zu sein. Ihnen verdanken wir alles und glauben Sie, daß die Erinnerung daran unserm Herzen unauslöschlich eingegraben ist, denn ich bin nur der Dolmetscher des Königs und meiner teuren Kinder, die mit mir vereint Sie ihrer tiefen Dankbarkeit und der innigen frommen Wünsche versichern, welche sie für Ihr vollkommenes Glück und Ihre lange Erhaltung zum Himmel emporsenden. Empfangen Sie daher die Glückwünsche einer Familie oder vielmehr einer ganzen Nation, welche die ganze Verbindlichkeit fühlt, die sie Ihnen schuldig ist, und glauben Sie, daß ich lebenslänglich sein werde Ihre stets wohlgewogene
Charlotte.«
Dieser Monat September, währenddessen Nelson sein einundvierzigstes Lebensjahr zurücklegte und währenddessen auch ein Mann, an den niemand dachte, weil man ihn für immer in Egypten gefangen glaubte, nach Frankreich unter Segel ging, sah in Palermo seltsame Szenen vor sich gehen. Die türkische Flotte lag nebst der englischen im Hafen von Palermo; obschon aber Engländer und Türken für eine und dieselbe Sache fochten, so lag doch in der Art und Weise, auf welche die Offiziere und die Soldaten der beiden Nationen von den Sizilianern behandelt wurden, ein großer Unterschied. Die englischen Soldaten und Offiziere waren Ketzer, die türkischen Soldaten und Offiziere aber waren etwas noch weit Schlimmeres, denn sie waren Ungläubige. Die englischen Offiziere wurden in der Gesellschaft empfangen und von den sizilischen Damen nicht allzuschlecht behandelt. Die Soldaten ihrerseits hatten Bekanntschaften in der Stadt angeknüpft und schienen mit der Aufnahme, die sie hier fanden, sehr zufrieden zu sein. Gegen die Anhänger des Propheten jedoch war der Widerwille der Sizilianer und besonders der Sizilianerinnen so groß, daß selbst eine lumpenbedeckte Bettlerin sich keinen Türken hätte zu nahe kommen lassen, auch wenn er sie mit Gold überschüttet und zur Königin gemacht hätte. Die Folge hiervon war, daß die Muselmänner, entschlossen, die Gunstbezeigungen, die man ihnen nicht gutwillig gewähren wollte, sich mit Gewalt zu verschaffen, alle Frauen anfielen, welchen sie an abgelegenen oder auch sogar an öffentlichen Orten begegneten, ihnen, wenn sie allein waren, Gewalt anzutun und sie, wenn es in der Nähe des Hafens, auf dem Kai oder in der Nachbarschaft des Meeres war, mit auf ihre Schiffe zu schleppen suchten. Eines Nachmittags ergriffen auf der Marina, das heißt mitten auf der Promenade und während die Equipagen Korso machten, zwei Türken, gerade als ob sie von Tunis oder Algier kämen und in einem feindlichen Lande ans Ufer stiegen, eine Frau und schleppten sie trotz ihres Geschreies nach einem Boote, wo ihre Kameraden sie erwarteten. Zum Glück kamen auf das Geschrei des Schlachtopfers mehrere Matrosen herbeigeeilt. Einer der beiden Türken blieb von einem Messerstich durchbohrt auf dem Strande liegen, der andere hatte noch Zeit, das Boot zu erreichen und entrann. Die Sache kam so weit, daß die Frauen nicht bloß in den Straßen und auf den Promenaden überfallen wurden, sondern es hatte ein Frauenzimmer sogar in einem offenen Kaufladen, wenn sie allein war, oder nicht genügenden Schutz hatte, alles zu fürchten. Es entspannen sich demzufolge fortwährende blutige Kämpfe, wobei die Türken von ihren Pistolen und die Sizilianer von ihren Dolchen und Messern Gebrauch machten. Wenn andererseits ein Matrose, ein Soldat oder ein Offizier von der türkischen Flotte sich an einen abgelegenen Ort wagte, so fand man ihn den nächstfolgenden Tag unfehlbar tot oder mit Stichwunden bedeckt. Der Haß, den diese wilden Tiere einflößten, war so groß, daß, wenn man in Gegenwart eines Sizilianers von einem Türken sprach, man sicher sein konnte, daß der Sizilianer die Farbe wechselte und knirschend und fluchend die Hand an den Dolch legte.
Der nachstehend erzählte Vorfall machte im königlichen Palast großen Lärm. Unsern Soireen wohnten in der Regel zwei junge Leute von zweiundzwanzig und vierundzwanzig Jahren, beide sehr elegant und sehr schön, bei. Der eine war der Fürst von Sciarra, der andere der Chevalier Palmieri de Micciche.
Eines Tages nun, sei es nun, daß die Türken den Fürsten von Sciarra für ein als Mann verkleidetes Frauenzimmer gehalten, oder sei es, daß sie sich an einen so geringfügigen Umstand wie das Geschlecht weiter nicht kehrten, warfen sich sechs oder acht Türken über den jungen Fürsten her und versuchten ihn fortzuschleppen. Zum Glück kam Micciche seinem Freunde mit einem Stockdegen zu Hilfe geeilt, dennoch aber wären wahrscheinlich beide, der eine seinem schönen Aussehen, der andere seinem freundschaftlichen Eifer zum Opfer gefallen, wenn nicht fünf oder sechs Männer aus dem Volke ihnen gegen ihre Angreifer Beistand geleistet hätten. Zwei Sizilianer wurden bei diesem Handgemenge verwundet und ein Türke getötet. Man erwartete jeden Augenblick den Beginn einer neuen sizilianischen Vesper, aber nicht gegen die Franzosen, sondern gegen die Muselmänner. Am 8. September gegen ein Uhr nachmittags traten zwei Türken auf der Straße von Montreale plötzlich in den Laden eines Schuhmachers, und während der eine die Frau fortschleppte und ihr ein Tuch in den Mund drehte, um sie am Schreien zu hindern, bedrohte der andere mit seinem Säbel die Gesellen. Diese kehrten sich jedoch nicht an diese Drohung, sondern schwangen ihre Messer, stürzten sich auf die Räuber und riefen: »Nieder mit den Muselmännern! Nieder mit den Türken! Nieder mit den Ungläubigen!«
Auf diesen Ruf, der sich wie ein Lauffeuer nach den Vorstädten und aus den Vorstädten nach der Stadt fortpflanzte, erhob sich ganz Palermo mit lautem Wutgeschrei und jeder machte, die erste Waffe, die ihm in die Hände fiel, ergreifend, auf die Muselmänner Jagd wie auf wilde Tiere. Die Türken sahen diesmal wohl, daß es sich nicht um einen vereinzelten Kampf, sondern um eine allgemeine Erhebung handelte. Die Tore verschlossen sich vor den Flüchtlingen, welche vergebens um ein Asyl baten, und von den Balkons herab warf man ihnen Tische, Stühle, Blumentöpfe usw. auf die Köpfe. Es trat ein Augenblick ein, wo man von einem Ende der Stadt bis zum andern nichts hörte als Flinten- und Pistolenschüsse, Flüche, Verwünschungen, Schmerz- und Wutgeheul und Todesröcheln.
Das Blut strömte in den Straßen, alle Glocken läuteten Sturm. Binnen zwei Stunden war die Sache beendet.
Die zwei- oder dreihundert Türken, welche sich in diesem Augenblicke in der Stadt befanden, bedeckten den Boden. Kaum fünfzig retteten sich – die einen, indem sie in das Meer sprangen, die anderen, indem sie sich in ihre Boote warfen und durch rasches Rudern das Weite zu gewinnen suchten. Der türkische Admiral befand sich auf seinem Schiff. Als er erfuhr, was vorging, richtete er seine Kanonen auf die Stadt. Nelson jedoch, der von der Situation unterrichtet war, und schon seit langer Zeit gehört hatte, welche Klagen man fortwährend über die Türken erhob, ließ sein Geschwader Schlachtordnung formieren und meldete dann seinem Kollegen, daß er ihn bei dem ersten Kanonenschuß, den er gegen die Stadt abfeuerte, in den Grund bohren würde. Diese Mitteilung war für den türkischen Admiral genügend und er kehrte auf seinen Ankerplatz zurück.
Ich habe schon einigemal von einem Mann gesprochen, welcher, während dieser Zeit, und ohne daß jemand etwas davon ahnte, Egypten verließ, zwischen Malta und dem Kap Bon hindurch und nach Frankreich steuerte, wo seine Rückkehr dem Stande der Dinge in ganz Europa ein anderes Ansehen geben sollte. Dieser Mann war Bonaparte. Man weiß, wie er, nachdem er durch die beiden Siege am Berge Tabor und bei Abukir die Pforte für den Augenblick in den Zustand der Ohnmacht versetzt, sich heimlich auf den »Muiron« eingeschifft, und daß es ihm gelungen war, die Wachsamkeit der englischen Kreuzer zu täuschen. Am 8. Oktober kam er in Fréjus, am 16. in Paris an und vollführte endlich am 9. November den Staatsstreich, der unter dem Namen des 18. Brumaire bekannt ist. Die Nachricht von diesen außerordentlichen Tatsachen versetzte, wie man sich leicht denken kann, den Hof von Palermo in die größte Aufregung. Es dauerte jedoch nicht lange, so traten andere Ereignisse zutage, welche uns persönlich angingen, und uns nötigten, unsere Blicke von den öffentlichen Angelegenheiten auf unsere Persönlichkeit zu lenken. Die Wendung, welche die Dinge in Frankreich nahmen, und die Notwendigkeit, die Blockade von Malta zu beschleunigen, hatten Nelson genötigt, uns zu verlassen, um an den westlichen Küsten Italiens und in dem Meerbusen von Lyon zu kreuzen. Während dieses Kreuzens erhielt er plötzlich die Nachricht, daß Lord Keith mit dem Oberkommando der britischen Seemacht im mittelländischen Meere bekleidet worden, einem Kommando, welches Nelson seit zwei Jahren geführt hatte. Gleichzeitig ward uns gemeldet, daß Sir Arthur Paget zum englischen Gesandten bei der Regierung der beiden Sizilien ernannt worden sei, und folglich Sir William Hamilton ersetzen werde. Hierin lag nicht bloß eine Mißbilligung alles dessen, was Lord Nelson und Sir William getan, sondern auch ein höchst rücksichtsloser Beweis von Ungnade. Ich kann sagen, daß dieser unerwartete Schlag für den Hof der beiden Sizilien ebenso empfindlich war wie für uns selbst. Nelson fühlte sich grausam verletzt, nicht bloß in seiner Eigenliebe, sondern auch in seiner Liebe zu mir. Was Sir William betraf, so war er ganz einfach wütend und man hätte meinen sollen, es läge ihm noch mehr als mir daran, sich nicht von Nelson zu trennen. Am 3. Februar 1800 schrieb Mylord Nelson uns oder vielmehr mir: »Meine teure Lady Hamilton! Da ich jetzt einen Oberkommandanten habe, so kann ich nicht eher wieder zu Ihnen kommen, als bis ich diesen begrüßt. Die Zeiten haben sich geändert. Ich erkläre Ihnen aber, daß ich, wenn er nicht geraden Weges hierherkommt, ihn nicht erwarte. Übrigens schicke ich den Kapitän Allen mit dem Auftrage, sich zu erkundigen, wie Sie sich befinden. Antworten Sie mir mit ein paar Zeilen. Mein Herz ist erfüllt von Unruhe und Sorge für Sie. Gott segne Sie, meine teure Lady, und seien Sie versichert, daß ich niemals aufhören werde, zu sein Ihr Ihnen zu Dank verpflichteter, treu ergebener
Nelson.«
Ich beeilte mich, Nelson zu antworten. Ich wußte, wieviel er litt und wie sehr einige freundliche Worte von mir sein armes, gebrochenes Herz trösten würden. Der Admiral Keith fand sich sehr bald bei seinem berühmten Kollegen ein, damit dieser nicht allein nach Palermo käme. Beide reisten daher zusammen ab, der Admiral Keith auf der »Königin Charlotte« und Nelson auf dem »Donnerer«. Am 6. Februar kamen sie an, und Nelson kam eiligst herbei, um sich mit uns zu besprechen. Es ward verabredet, daß, wenn Sir William und ich den Hof von Neapel verließen, Nelson seine Entlassung einreichen oder wenigstens einen längeren Urlaub verlangen sollte. Am 9. morgens stattete der König dem Lord Keith einen Besuch an Bord der »Königin Charlotte« ab, und am nächstfolgenden Morgen machte er in gleicher Weise einen Besuch auf dem »Donnerer«. Am Morgen des 18. begegnete man einer kleinen französischen Flottille, die von dem Kontreadmiral Perrée kommandiert ward, der sich auf dem »Généreux«, einem Schiffe von vierundsiebzig Kanonen, befand. Er kam von Toulon und führte einen Truppentransport nach Malta. Nelson griff die Flottille sofort an und nach einem furchtbaren Kampfe, in welchem Admiral Perrée eine tödliche Wunde empfing, ward sein Schiff genommen. Der französische Admiral starb am nächstfolgenden Tage, dem 19. Noch denselben Tag schrieb der Divisionsmajor Poulain an Nelson, um ihn zu bitten, dem Kommandanten der französischen Seemacht im mittelländischen Meere die letzten Ehren zu erweisen, indem er zugleich an jene Brüderschaft des Mutes appellierte, welche den lebenden Feind bekämpft, ihn aber, wenn er tot ist, auch zu ehren weiß. Ich freue mich, sagen zu können, daß diese Ansprache Gehör fand. Einige Tage später, das heißt am 24. Februar, erhielt Nelson von Lord Keith Befehl, sich zur Blockade von Malta zu verfügen, »um jeden Dienst von öffentlicher Wichtigkeit zu leisten«, im Grunde genommen aber vielmehr, wie man sogleich sehen wird, um ihn von mir zu entfernen. Dieser Befehl war von speziellen Instruktionen in bezug auf das begleitet, was er für den Fall zu tun haben würde, daß Lavalette sich ergäbe. Der Admiral fügte hinzu – und hier trat die Absicht, uns zu trennen, deutlich zutage – daß Nelson, da Palermo zu weit entfernt sei, aufgefordert würde, Syrakus, Messina oder Augusta als künftigen Sammelplatz zu wählen. Dieser Befehl steigerte Nelsons Erbitterung aufs höchste. Der Lohn für sein verlorenes Auge, für seinen abgerissenen Arm, für seine gespaltene Stirn, der Lohn für Abukir, für neun verbrannte und in den Grund gebohrte feindliche Schiffe war eine kleinliche Schikane, welche sein innerstes Privatleben berührte und ihn im tiefsten Herzen verwundete. Er antwortete daher noch denselben Tag: »Mylord! Mein Gesundheitszustand ist von der Art, daß es mir unmöglich ist, hier zu bleiben. Wenn ich bleibe, so bin ich tot. Ich bitte Sie deshalb, meinen Wunsch zu erfüllen, meine Freunde in Palermo auf einige Wochen besuchen zu dürfen. Das Kommando hier werde ich dem Kommodore Truebridge überlassen. Nur die unbedingte Notwendigkeit veranlaßt mich, Ihnen diesen Brief zu schreiben. Ich bin mit der größten Ehrerbietung usw.
Nelson.«
Dieser Brief hinderte nicht, daß Nelson nicht wider seinen Willen bei der Blockade von Malta zurückgehalten ward. Endlich aber, am 10. März, ging er, ohne die Übergabe von Lavalette oder die Erlaubnis des Admirals Lord Keith abzuwarten, unter Segel nach Palermo und langte hier in dem Augenblicke an, wo seltsamerweise die Vermählung des siebenundsechzigjährigen Generals Acton mit seiner vierzehnjährigen Nichte gefeiert ward. Beeilen wir uns zu sagen, daß dem General aus dieser Ehe drei Kinder geboren wurden. Ich glaube schon zu verstehen gegeben zu haben, daß bereits seit langer Zeit zwischen ihm und der Königin kein vertrautes Verhältnis mehr bestand. Wenn ich sagen sollte, zu welcher Zeit dieses vertraute Verhältnis sein Ende erreichte, so würde ich dasselbe bis zum Tode des Fürsten Caramanico zurückführen.
Nelsons Freude, als er uns wiedersah, war groß. Ich muß sagen, daß er, abgesehen von der Sehnsucht, sich uns wieder zu nähern, wirklich sehr krank war. Ein neues Mißgeschick, welches mich traf und welches er als einen Schimpf betrachtete, steigerte seinen Groll gegen den englischen Hof auf das höchste. Seit der Einnahme der Insel Malta durch die Franzosen war der Malteserorden fast als erloschen zu betrachten. Kaiser Paul der Erste von Rußland aber, welcher nach dem Rufe eines ritterlichen Monarchen trachtete, hatte sich zum Großmeister dieses Ordens erklärt und teilte neue Patente aus. Auf Nelsons Wunsch schickte er ein Großkreuz mit einer Ehrenkomturei dem Kapitän Ball, und indem Sir Charles Whitworth, der englische Gesandte in Petersburg, Mylord diese Nachricht mitteilte, meldete er ihm zugleich, daß ich zur Kleinkreuzdame des Ordens ernannt worden. Sir William sendete Sir Charles Whitworths Brief und das Ordenspatent an die Regierungskanzlei in London und bat für mich um die Erlaubnis, dieses Kreuz tragen zu dürfen. Die Kanzlei würdigte dieses Gesuch nicht einmal einer Antwort. Nelson schrieb seinerseits, stieß aber auf dasselbe Stillschweigen. Nun war Nelsons Entschluß gefaßt. Er beschloß, wenn auch nicht seinen Abschied, doch einen Urlaub zu verlangen, den er mit uns in London verleben wollte. Da übrigens in der Zwischenzeit Sir Arthur Paget, Sir William Hamiltons Nachfolger, angelangt war und Sir William, ohne ihm im mindesten Rechenschaft von der Situation zu geben, ihm das Gesandtschaftshotel mit den Archiven überlassen hatte, so beschlossen wir, Palermo zu verlassen, uns auf den »Donnerer« zu begeben und zwei Monate in Neapel zu verweilen. Nach Ablauf dieser zwei Monate wollten wir nach Palermo zurückkehren, die Königin abholen und dieselbe bis nach Wien begleiten, wohin sie zu reisen gedachte. Wenn sie dann von dort nach Neapel zurückkehrte, wollten wir unsere Reise nach London weiter fortsetzen. Demzufolge nahmen wir in den ersten Tagen des April von der königlichen Familie einstweilen Abschied und segelten mit dem »Donnerer« ab. Wir sollten eher wieder kommen, als wir ursprünglich beabsichtigt hatten. Ich habe gesagt, daß die Rückkehr Bonapartes nach Frankreich dem Stande der Dinge in Europa eine andere Wendung geben sollte, und in der Tat war in Frankreich diese Wendung bereits eingetreten. Sobald das Direktorium gestürzt und Bonaparte zum ersten Konsul ernannt war, wendete er seine Augen nach dem von Suwaroff und Melas wieder eroberten Italien. Nur Melas war in Italien geblieben. Suwaroff war, nachdem er durch Massena bei Zürich geschlagen worden, nach Petersburg gegangen, um Paul dem Ersten Rechenschaft wegen dieser Niederlage zu geben. Gegen das Ende des Monats Mai erfuhr man, daß Bonaparte mit einer Armee von vierzigtausend Mann über die Alpen gegangen war. Die Königin glaubte, es sei nun der geeignete Augenblick da, um ihrem Neffen einen Besuch zu machen. Bonapartes Glück konnte ihn von den Ufern des Nil nach den Ufern des Po begleiten und wer konnte in diesem Falle den Umsturz erraten, den ein von den Franzosen erfochtener Sieg in Italien herbeiführen würde? Nelson sollte sich mit dem »Donnerer« der Königin zur Verfügung stellen. Ihre Abreise war auf den 8. Juni festgesetzt, verzögerte sich jedoch noch um zwei Tage.
Endlich am 10. Juni schifften wir, die Königin, die drei Prinzessinnen, der Prinz Leopold, Sir William und ich, uns auf dem »Donnerer« ein, der in Begleitung der »Prinzessin Charlotte«, des »Alexander« und des neapolitanischen Postschiffes nach Livorno segelte. Die Fahrt ging trefflich von statten und mit einer guten Brise langten wir am 14. Juni, das heißt an demselben Tage, wo Bonaparte die Schlacht bei Marengo gewann, in Livorno an. Wir blieben bis zum 16., ohne ans Land gehen zu können, denn der Wind war frisch geworden und das Meer ging sehr hoch. Erst am 16., um neun Uhr morgens, konnten wir in Lord Nelsons Boot steigen und an der Treppe der Finocchetti anlegen. Die Ankunft der Königin hatte eine unzählige Menschenmenge herbeigelockt. In dem Augenblicke, wo sie ans Land stieg, ward sie von dem General Baron von Fenzel, von dem Gouverneur von Livorno und endlich von dem Herzog von Strozzi begrüßt, welchen letzteren der Großherzog beauftragt hatte, die Königin überallhin zu begleiten, wohin sie sich zu begeben wünschte, während der Chevalier Sergardi, Oberadministrator der Krongüter, während ihres Aufenthaltes in Toskana alle Kosten bestreiten sollte. Wir stiegen in die für uns bereitstehenden Equipagen und begaben uns alle in die Kathedrale, wo man zum Dank für die glücklich zurückgelegte Reise der Königin ein Te Deum sang. Als wir in den Palast zurückkehrten, fanden wir die Herzogin von Atri, welche ausdrücklich von Florenz gekommen war, um die Königin zu empfangen, und am Abende gingen wir ins Theater, wo wir mit wahnsinnigem Beifallsjubel begrüßt wurden. Man wußte noch nicht, daß unter den Mauern von Alessandria eine Schlacht geliefert worden war.
Die erste Sorge der Königin, als sie ans Land stieg, war, daß sie sich erkundigte, ob Nachrichten von der Armee von Italien eingegangen seien. Sie tat dies aus zwei Gründen: erstens wegen des Einflusses, den ein Sieg oder eine Niederlage Bonapartes auf die Geschicke des Königreiches beider Sizilien haben konnte, und zweitens wegen der Sicherheit ihrer Reise nach Wien. Unglücklicherweise wußten alle, an welche sie sich zu diesem Zwecke wendete, nicht mehr als sie selbst. Sie schickte deshalb einen der Herren, welche gekommen waren, um ihre Aufwartung zu machen, den Baron von Rosenheim, zu den österreichischen Generalen und ließ ihn von zwei Kurieren begleiten, die er zurückschicken sollte, sowie er Nachrichten von der Armee erhielte. Am 17. abends kam Herr von Sommariva von Florenz. Von ihm erfuhr man, daß Bonaparte die französische Armee in eigener Person kommandierte, was man bis jetzt noch nicht ganz bestimmt gewußt; daß die Franzosen sehr stark seien und Kavallerie hätten, und daß die beiden Armeen zwischen Alessandria und Tortona auf dem Punkte stünden, handgemein zu werden. Auf alle Fälle war, wie Herr von Sommariva hinzufügte, die Königin in Livorno vollkommen sicher. Dennoch war leicht zu sehen, daß der Mann, der uns auf diese Weise zu beruhigen suchte, selbst sehr wenig beruhigt war. In der Nacht reiste er wieder nach Florenz zurück. Am folgenden Tage verbreitete sich das Gerücht, die Franzosen seien vollständig geschlagen. Das, was man wünscht, glaubt man gern, und die Königin teilte uns daher allen diese gute Nachricht mit. In der Nacht vom 18. zum 19. empfing Nelson jedoch einen von Lord Keith abgesendeten englischen Offizier mit einem Briefe, welcher zunächst meldete, es sei zwischen der französischen und der österreichischen Armee ein Waffenstillstand abgeschlossen und dabei stipuliert wurden, daß die Österreicher sämtliche feste Plätze des Gebietes von Genua räumen und den Franzosen übergeben sollten. Dieser erste Teil des Briefes des englischen Kommandanten stimmte nicht mit dem überein, was man uns am Abend vorher von einer angeblichen Niederlage der Franzosen erzählt; der Rest der Depesche aber war für uns noch weit beunruhigender. Lord Keith befahl nämlich im weitern Verlaufe seines Schreibens Nelson, sofort alle Schiffe, die er unter seinem Befehl hätte, zusammenzurufen und sich mit denselben in den Golf von Spezzia zu begeben, um aus sämtlichen Forts, besonders aus dem Fort Santa Maria, sämtliche Geschütze hinwegzuführen, oder sie wenigstens für die Franzosen unbrauchbar zu machen.
Diese Nachrichten machten uns nicht wenig bestürzt. Augenscheinlich konnte eine solche Übereinkunft nur infolge einer Schlacht unterzeichnet worden sein und in dieser Schlacht waren die Österreicher ohne Zweifel geschlagen worden. Der Nelson erteilte Befehl, alles zu verlassen, um sich nach Spezzia zu begeben, war für uns ganz besonders betrübend. Die Königin sah in Nelson mit Recht ihre einzige Stütze und hielt sich ohne ihn für verloren. Er ließ uns jedoch nicht lange in dieser Unruhe. Er erklärte, daß er die Königin in der Lage, in welcher sie sich befände, auf keinen Fall verlassen würde, und schickte demzufolge, um zugleich Lord Keiths Befehle auszuführen, den »Alexander« und die »Dorothea« nach Spezzia, während er selbst mit dem »Donnerer«, mit dem »Vasco de Gama«, einem portugiesischen Schiff, und mit den sizilianischen Fregatten und Korvetten, die sich im Hafen von Livorno befanden, hier zurückblieb. Dieser Entschluß beschwichtigte einen Augenblick lang unsere Besorgnis in bezug auf die Sicherheit der Königin. Es dauerte jedoch nicht lange, so kam der Baron von Rosenheim zurück, welcher, wie man sich erinnert, ausgesendet worden war, um zu rekognoszieren. Er erzählte, er habe in Genua mit dem österreichischen General Hohenzollern gesprochen, und dieser habe ihm einen Vertrag zu lesen gegeben, der zwischen dem General Melas und dem General Berthier geschlossen worden. In diesem Vertrag sei ein Waffenstillstand zwischen den beiden Armeen vereinbart, welche die Feindseligkeiten nicht vor Ablauf von zehn Tagen wieder aufnehmen sollten. Mittlerweile sollten die Österreicher sämtliche feste Plätze, welche sie inne hätten, nämlich Genua, Savona, Coni, Alessandria, Tortona, Mondovi, die Zitadelle von Mailand, die von Turin und das Fort Urbino den Franzosen überlassen, und nur Mantua, Ferrara, Peschiera, Verona und Ancona behalten. Die Ursache, welche man für diesen verzweifelten Waffenstillstand anführte, war eine Schlacht, welche am 14. bei Marengo zwischen der Formida und der Scrivia stattgefunden, und in welcher Melas, nachdem er anfangs im Vorteil gewesen, zuletzt vollständig geschlagen worden. Man kann sich denken, wie groß die Verzweiflung der ganzen königlichen Familie bei einer solchen Nachricht war. Die Königin bekam einen Nervenzufall, der eine vollständige Erschöpfung zur Folge hatte, die mit sich bis zum Delirium steigernden Fieberanwandlungen abwechselte. Noch schlimmer aber ward die Sache, als Nelson, der ebenso verzweifelt war wie wir, Sir William – denn an mich getraute er sich ebensowenig, als an die Königin – den folgenden Brief brachte, den er soeben von Lord Keith erhalten: »Genua, am 21. Juni 1800. Soeben habe ich einen Mann gesprochen, welcher Bonaparte verlassen. Dieser Bonaparte sagt öffentlich, daß er, ehe er Frieden schließe, erst noch eine anderweite Macht in Italien unterwerfen müsse. Lassen Sie die Königin daher nach Wien abreisen, und zwar so schnell, als sie kann. Wenn die französische Flotte einen Tag vor der unseren in Sizilien anlangt, so ist Sizilien verloren, denn dieses ist nicht imstande, sich auch nur einen Tag zu halten. Keith.«
Der Brief war so dringend, daß man trotz des Gesundheitszustandes, in welchem die Königin sich befand, beschloß, ihn ihr mitzuteilen. Man berief daher in ihrem Zimmer eine Art Kabinettsrat, damit jeder seine Meinung über den Entschluß ausspreche, den er in einem solchen Augenblicke für den besten hielt. Karoline, die angesichts der drohenden Gefahr sich sofort wieder stark und kräftig fühlte, wollte noch denselben Augenblick abreisen, wie Lord Keith es ihr riet. Sir William und Nelson waren aber dagegen der Meinung, sie müsse in Livorno bleiben, wo sie die Schiffe des englischen Geschwaders stets zu ihrer Verfügung hätte, und nicht eher abreisen, als bis sie einen Kurier von Wien erhalten, der ihr meldete, wie die Dinge am Hofe ihres Neffen stünden. Da der Fürst von Castelcicala dieser Meinung beitrat, so ging dieselbe durch, und man beschloß zu bleiben. Gegen das Ende des Monats Juni entschied sich die Königin, die sich mittlerweile vollständig von ihrem Unwohlsein erholt, dennoch ihre Reise nach Deutschland weiter fortzusetzen. Nelson hatte Lord Keith gemeldet, daß er entschlossen sei, nach England zurückzukehren, und Lord Keith hatte ihm eines der Schiffe der Flotte zur Verfügung gestellt. Ebenso aber, wie ich über Wien reisen wollte, um die Königin nicht zu verlassen, hatte Nelson sich vorgenommen, denselben Weg einzuschlagen, um nicht mich zu verlassen. Karoline schrieb demzufolge an den Kommandanten von Ancona, um ihn zu fragen, ob in dem dortigen Hafen nicht ein Schiff läge, welches sie nach Fiume und von da nach Venedig bringen könnte. Während wir uns zur Abreise rüsteten, erhielt die Königin einen Brief von der Kaiserin, ihrer Nichte. Die Kaiserin bat ihre Tante, sich durch keinen Grund, weder durch einen guten noch einen schlechten, von ihrer Reise nach Wien abhalten zu lassen. Sie sagte, sie glaube, diese Reise sei für ihre Interessen nicht bloß nützlich, sondern auch notwendig, und sie forderte dann die Königin auf, einen Kurier nach Mailand an den General Melas zu schicken, damit dieser ihr den Weg bezeichne, den sie einzuschlagen hätte. Es folgten dann noch lange Klagelieder über das, was in Italien geschehen, zugleich aber gestand die Kaiserin, daß nach der Katastrophe bei Marengo Melas nichts anders gekonnt habe, als den Waffenstillstand unterzeichnen. Übrigens hoffe sie von einer Wiederaufnahme der Feindseligkeiten nichts Gutes, sondern sei, so viel auf sie ankomme, für einen guten, dauernden Frieden. Mittlerweile erfuhren wir, daß eine Abteilung von dreihundertsechsundzwanzig Mann Franzosen mit Artillerie in Lucca eingerückt sei, und diese Nachricht bestimmte die Königin, sofort abzureisen und Ancona auf dem Landwege zu gewinnen. Da sie die drei jungen Prinzessinnen und den kleinen Prinzen mit hatte und folglich, wenn sie sich nicht von einem oder dem andern ihrer Kinder trennen wollte, niemanden weiter in ihrem Wagen zulassen konnte, so kam man überein, daß sie zuerst abreisen und wir ihr dann folgen sollten. Überdies lag ihr so viel daran, sich so schnell wie möglich von den Franzosen zu entfernen, daß sie, ohne die andern Wagen abzuwarten und auf die bloße Versicherung hin, daß die Straße frei sei, nach Florenz aufbrach.
Lord Nelson, Sir William und ich reisten am nächstfolgenden Tage, das heißt am 11. Juli, ab. Diese Reise sollte, abgesehen von der Gefahr, womit sie verknüpft war, nicht ohne große Strapazen zurückgelegt werden. Wir hatten schlechte Wege und einen schlechten Wagen anstatt eines im Monat Juli fast immer gehorsamen Meeres und guter, mit allen Bequemlichkeiten des Lebens ausgestatteten Kajüten. Nachdem wir auf diese anstrengende Weise gegen hundert Lieues zurückgelegt, wurden wir auf elenden dalmatinischen Fischerbooten nach Triest weiter transportiert. Lord Nelson hatte sich auch bis auf den letzten Augenblick gegen diese Art zu reisen erklärt. Als echter Seemann fand er es bequemer, die Spitze von Kalabrien zu umsegeln und an Bord des »Alexander«, das heißt als König in das adriatische Meer hineinzusegeln. Was mich betrifft, so gestehe ich, daß ich der Reise zu Lande, wie ermüdend sie auch war, den Vorzug gab. Sir William war so krank, daß er erklärte, er sei beinahe überzeugt, er werde nicht lebendig nach Ancona kommen, dennoch aber werde er, der Königin treu, alles, selbst sein Leben, aufs Spiel setzen, um ihr zu folgen. Demgemäß reisten wir ab. Wir brauchten sechsundzwanzig Stunden, um von Livorno nach Florenz zu gelangen, weil die Nähe der Franzosen uns zwang, eine Menge Umwege zu machen. In Kastell San Giovanni warf unser Wagen um. Sir William trug eine leichte Kontusion am Knie davon, mir ward die eine Schulter ausgerenkt. Ein Dorfarzt richtete sie mir wieder ein, wobei er mich die gräßlichsten Schmerzen ausstehen ließ, während ein Stellmacher das gebrochene Rad des Wagens reparierte. Diese Reparatur war jedoch keine sehr dauerhafte, denn in Arezzo brach das Rad abermals. Da die Franzosen immer näher rückten und nicht weniger als zwei Tage dazu gehört hätten, um den Wagen in völlig guten Zustand zu setzen, so beschlossen wir, Lord Nelson, Sir William und ich, einen andern und zwar den ersten besten zu nehmen, den wir bekommen könnten. Unsere Dienstleute, die als Personen ohne Bedeutung den Franzosen ohne Gefahr in die Hände fallen konnten, wurden zurückgelassen und es ward verabredet, daß sie mit dem reparierten Wagen nachkommen sollten. Wir fuhren daher fort, die gräßlichen Straßen weiterzufahren und an Bevölkerungen vorüber zu kommen, deren Armut und Elend aller Beschreibung spottete.
Bei der Ankunft in Ancona fand die Königin eine österreichische Fregatte, die »Bellona«, bereit, sie und die Personen ihres Gefolges aufzunehmen. Da die Königin das Land sobald als möglich zu verlassen wünschte, so begab sie sich noch denselben Tag an Bord des Schiffes. Sobald sie aber einmal hier war, wußte sie nicht recht, ob sie auch hier bleiben sollte, und als wir drei Tage nach ihr anlangten, war ihre Unschlüssigkeit noch nicht zu Ende. Sie hatte, wie sie uns sagte, Lust, die Gastfreundschaft des aus drei Fregatten und einer Brigg bestehenden russischen Geschwaders in Anspruch zu nehmen. Nelson, der zu der österreichischen Marine wenig Vertrauen hatte, ermutigte sie in dieser Absicht. Da andererseits die österreichische Fregatte, um die königliche Familie und die Personen, welche sie begleiteten, in gebührender Weise aufzunehmen, sich genötigt gesehen hatte, die Zahl ihrer Kanonen auf vierundzwanzig zu reduzieren und da die Franzosen Herren der Küsten von Dalmatien waren, so hätten sie auch in der Tat die »Bellona« mit einer Anzahl Fischerboote entern und nehmen können. Unglücklicherweise aber war die Fregatte, auf welcher sich der Kommandant des russischen Geschwaders befand, auf die Ehre, welche die Königin ihm erzeigte, keineswegs vorbereitet und er konnte der königlichen Familie nur sein eigenes Zimmer überlassen, so daß wir uns genötigt sahen, uns auf einer andern Fregatte einzuschiffen. Sir William war so krank, daß alle Ärzte ihn aufgegeben hatten, und daß selbst der hoffnungsvollste von ihnen erklärte, er werde vielleicht bis Triest, nimmermehr aber bis Wien kommen. Gegen alles Erwarten aber fühlte Sir William sich bei der Ankunft in Triest nach einer guten Überfahrt ein wenig besser, und der übrige Teil dieser Reise ward unter günstigen Umständen zurückgelegt. In Wien ward ich infolge der lebhaften Freundschaft, welche die Königin für mich an den Tag legte, von ihrer Tochter und der ganzen kaiserlichen Familie aufs huldvollste empfangen. Sir Williams Genesung, welche sechs Wochen dauerte, hielt uns in der Hauptstadt von Österreich länger zurück, als wir außerdem geblieben sein würden. Das Vergnügen, welches ich hier fand, ward jedoch dadurch ebensowenig beeinträchtigt, als durch die Feste, die man mir gab, denn Sir William bestand darauf, daß ich mit Lord Nelson in Gesellschaft ginge, gerade so, als ob er selbst gesund gewesen wäre und uns begleitet hätte. Es war in der Tat Zeit, daß Marie Karoline nach Wien kam, um ihre Interessen zu vertreten, denn in ihrer Abwesenheit hatte niemand daran gedacht. Dies bestimmte die Königin, einen großen Entschluß zu fassen. Als sie sah, daß der Kaiser Franz nichts für sie stipuliert, als sie sah, daß die Engländer wohl Sizilien verteidigten, dessen Häfen sie benutzen konnten, aber Neapel aufgaben, weil ihnen dieses nichts nützen konnte, beschloß sie, nach Petersburg zu gehen und den Kaiser Paul um Unterstützung zu bitten. Dieser Schritt hatte den Erfolg, welchen die Königin davon gehofft. Paul der Erste war infolge der Veränderlichkeit seines seltsamen Charakters für den Augenblick mit Bonaparte im besten Einvernehmen und es war augenscheinlich, daß letzterer, auf eine so mächtige Freundschaft eifersüchtig, alles tun würde, was der Kaiser von ihm verlangte. Paul der Erste schrieb dem ersten Konsul einen sehr eindringlichen Brief, forderte aber von Karoline, wenn es ihm gelänge, einen Friedenstraktat zwischen Frankreich und Neapel zur Unterzeichnung zu bringen, den Schwur, daß dieser Vertrag streng beobachtet werden würde. Der General Lawascheff, Oberjägermeister des Kaisers Paul, ward mit dem Briefe desselben an den ersten Konsul gesendet, so daß am 6. Februar 1801 ein Waffenstillstand, auf den bald ein definitiver Friedensvertrag folgte, in Foligno zwischen dem Chevalier Micheroux und dem General Murat abgeschlossen ward. Einer der Artikel dieses Vertrags enthielt die Bestimmung, daß die wegen politischer Vergehen verbannten, eingekerkerten oder zur Flucht genötigten Untertanen des Königs von Neapel frei und ungehindert in ihr Vaterland zurückkehren und den Genuß ihres Eigentums wieder erlangen sollten. Zum Unglücke war dies für viele derselben schon zu spät! Die Tribunale waren tätig gewesen und das ganze Jahr 1799 und der Anfang des Jahres 1800 hatten furchtbare Hinrichtungen gesehen, unter andern die des unglücklichen Domenico Cyrillo, welcher, wie man sich erinnert, sich geweigert, die Königin infolge ihres Besuchs, den sie mit mir in der Vikaria gemacht, in Behandlung zu nehmen, und den wir nicht vor dem Zorne Ferdinands retten konnten, obschon die Königin auf meinen Antrieb ihn fußfällig um die Begnadigung des Unglücklichen bat.
Unser Aufenthalt in Wien war, wie ich schon gesagt, ein ununterbrochenes Fest. Der Fürst und die Fürstin Esterházy, welche während ihres Verweilens in Neapel im Hotel der englischen Gesandtschaft auf die zuvorkommendste Weise aufgenommen worden, wollten sich ganz besonders für diese Gastfreundschaft abfinden. Wir wurden demzufolge eingeladen, eine Woche in dem Palaste des Fürsten in Eisenstadt zuzubringen. Hier sahen wir etwas sehr Seltsames, wodurch man uns wahrscheinlich eine Ehre zu erweisen beabsichtigte. Während der ganzen Zeit, die wir in diesem Schlosse zubrachten, gab es hier nämlich eine Wachmannschaft von hundert Grenadieren, von welchen der kleinste seine sechs Fuß maß. So wie sie in ihrem Dienste aufeinanderfolgten, setzten die, welche die Wache bezogen, sich an eine reichlich und gut besetzte Tafel, bis eine zweite Abteilung von fünfundzwanzig Mann sie ablöste. In der Kapelle des Schlosses ward für uns ein großes Konzert unter der Direktion des ehrwürdigen, damals neunundsechzig Jahre alten Haydn aufgeführt. Man hatte dazu sein berühmtes Oratorium: »Die Schöpfung« gewählt. Nach ihrer Rückkehr von Petersburg bat die Königin von Neapel mich inständig, wie man eine Freundin bittet, deren Nähe man für unentbehrlich hält, mit ihr nach Italien zurückzukehren. Alles war ruhig, der König war wieder in Neapel eingezogen, der Frieden war hergestellt und sie versprach mir die Rückkehr der schönen Tage, welche auf meine erste Ankunft und die bezaubernde Morgenröte unserer Freundschaft gefolgt waren. Dann hätte ich aber Nelson verlassen müssen und es wäre, während er um meinetwillen alles verloren, die schwärzeste Undankbarkeit von mir gewesen, wenn ich so schnell hätte vergessen wollen, daß er eine Karriere wie die seinige seiner Liebe zu mir geopfert. Ich blieb daher unerbittlich. Die Königin, welche sah, daß ich fest entschlossen war, weiter zu reisen, bat mich hierauf, zum Angedenken an ihre königliche Wohlgewogenheit eine lebenslängliche Rente oder Pension von tausend Pfund Sterling jährlich anzunehmen. Bei dem ersten Worte aber, welches ich darüber zu Sir William sprach, antwortete er: »Wir sind selbst reich genug und übrigens würde eine solche Freigebigkeit den Argwohn der englischen Regierung erwecken.« Die Stunde der Abreise schlug. Die Trennung war schmerzlich und tränenreich, die drei jungen Prinzessinnen fielen mir eine nach der andern um den Hals und wollten mich nicht loslassen. Wir verbrachten die letzte Nacht alle bei einander, gedachten der guten und der bösen Tage und versprachen uns, sie niemals zu vergessen. Endlich verließen wir uns, nachdem die Königin mir noch das Versprechen abgenommen, zu ihr zurückzukehren, wenn ich von Unglück ereilt werden sollte. Sir William war leidend, abgespannt und durch die letzten Ereignisse niedergebeugt. Die Königin gab mir zu verstehen, daß, wenn ich einmal Witwe und Nelson zur See wäre, ich mich sehr einsam fühlen würde. Sie rechnete auf diese Eventualität und hoffte, daß ich dann mich bewogen sehen würde, mein Versprechen zu halten. Das, was mich gebieterisch nach England zurückrief, war ganz besonders der Zustand, in welchem ich mich befand. Ich fühlte mich Mutter. Sir William kannte mein vertrautes Verhältnis zu Nelson recht wohl, da aber unsere ehelichen Beziehungen beinahe immer nur die eines Bruders und einer Schwester gewesen, so hatte er niemals auch nur die mindeste Eifersucht gezeigt. Mein Zartgefühl bewog mich jedoch, meinen Zustand vor den Augen der ganzen Welt zu verbergen und in Zurückgezogenheit und Einsamkeit meine Niederkunft abzuwarten. Ich war Sir William Hamilton dankbar dafür, daß er die Augen zumachte, und ich durfte daher nicht gestatten, daß die Böswilligkeit sie ihm öffnete.
Wir reisten zunächst nach Prag, wohin der Erzherzog Karl uns eingeladen hatte. Nachdem wir hier einen glänzenden Empfang gefunden, setzten wir unsere Reise nach Dresden und dann nach Hamburg weiter fort. In dieser letzteren Stadt begegnete uns ein Abenteuer, welches erzählt zu werden verdient, und wir machten eine nicht weniger merkwürdige Begegnung. Kaum waren mir nämlich in dem Hotel abgestiegen, als man uns meldete, daß ein Mann von etwa sechzig Jahren und etwas gemeinem Äußern mich durchaus zu sprechen verlange. Ich ließ ihn fragen, was er wolle. Er ließ antworten, er werde dies nur mir selbst sagen. Durch diese Hartnäckigkeit besiegt, befahl ich, ihn eintreten zu lassen. Nun sah ich einen kleinen alten Mann von sechzig bis siebzig Jahren, welcher ein wenig verlegen und in schlechtem Englisch stotternd, den Hut in der Hand haltend, mir erzählte, er habe in seinem Keller Rheinwein vom Jahre 1626. Es war dies etwas noch ganz anderes als der Wein, von welchem Horaz spricht, und der bloß von dem Konsulat des Opimius datierte, denn der Wein meines kleinen alten Mannes war hundertundfünfundsiebzig Jahre alt, und befand sich seit einem halben Jahrhundert im Besitz seiner Familie. Dieser Wein, sagte er, sei immer für eine außerordentliche Gelegenheit aufgespart worden, und diese Gelegenheit böte sich jetzt schöner dar, als er jemals zu hoffen gewagt. Der wackere Mann, welcher fünfzig Jahre lang so geizig mit diesem Wein gewesen, bat mich, Lord Nelson zu bereden, von ihm fünfzig Flaschen von diesem Wein anzunehmen, der auf diese Weise die Ehre haben würde, sich mit seinem edlen Blut zu mischen und das Herz eines Helden schlagen zu machen. Während wir noch so sprachen, trat Nelson selbst ein und wollte, nachdem er den Zweck des Besuchs des kleinen alten Mannes erfahren, das Geschenk anfangs zurückweisen; auf die inständige Bitte des Gebers aber nahm er endlich zehn Flaschen, unter der Bedingung, daß der Geber den nächstfolgenden Tag bei ihm speise. Auf diese Weise war die Sache abgemacht, nur schickte Nelsons Gast zwölf Flaschen anstatt zehn von seinem Wein. Nelson erklärte hierauf, man werde sechs von diesen zwölf Flaschen sofort trinken, und die sechs anderen reservieren, so daß er eine nach jedem der Siege trinken könnte, welche er noch zu erringen erwartete, und die sich hoffentlich noch auf wenigstens ein halbes Dutzend belaufen würden. In der Tat trank er nach seiner Rückkehr von Kopenhagen bei einem großen Diner eine von diesen sechs Flaschen, indem er zugleich einen feierlichen Toast auf den Mann ausbrachte, der sie ihm geschenkt. Nach der Schlacht bei Trafalgar aber blieben leider, obschon der Sieg glänzend war, die fünf letzten Flaschen unberührt, denn der Sieger war mitten in seinem Siege gefallen.
Die zweite Erinnerung, die mir von meinem Verweilen in Hamburg zurückgeblieben, ist der Besuch, den wir von Dumouriez empfingen. Nelson stellte mir ebenso wie Sir William den berühmten Sieger von Valmy und Jemmapes vor, welcher aller Wahrscheinlichkeit nach Frankreich von einer Invasion rettete und später – man weiß unter welchen Umständen – mit dem jungen Herzog von Orleans, der eine von den jungen Prinzessinnen heiraten sollte, von welchen ich soeben in Wien Abschied genommen, zu den Österreichern überging. Ich war sehr neugierig, eine Berühmtheit, von welcher ich so oft sprechen gehört, in der Nähe zu sehen. Dumouriez war ein Mann von sechs- bis achtundsechzig Jahren, von mittlerem Wuchs, noch flink, so daß er höchstens fünfzig bis fünfundfünfzig Jahre zu zählen schien. Seine Gesichtsbildung war lebhaft und geistreich, sein Blick klar und feurig, und sein Gesicht hatte jene dunkle Färbung, welche die verschiedenen Atmosphären, in welchen ein Soldat sich bewegt, seiner Haut mitteilen. Ein Säbelhieb hatte auf seiner Stirne eine Narbe zurückgelassen. Er war Kriegsminister Ludwigs des Sechzehnten gewesen und unter seinem Ministerium hatte Frankreich den Krieg an Österreich erklärt. Er lebte jetzt in der Verbannung und betrachtete das, was in Frankreich vorging, mit dem Auge des Philosophen. Ich muß sagen, daß sein Blick, der, wenn auch nicht etwas vom Adler, doch wenigstens etwas vom Falken hatte, ziemlich deutlich in der Zukunft las. Von dem General Bonaparte sprach er mit der lebhaftesten Bewunderung und prophezeite ihm ein immer höher steigendes Glück, dessen Grenze sich nicht absehen ließe. Wir unsererseits erzählten ihm eine Menge Einzelheiten über den Hof von Neapel, über den von Palermo und über den von Wien, und hatten ihm einen der angenehmsten Tage unserer Reise zu verdanken. Wir blieben bloß drei Tage in Hamburg, das heißt nur so lange, als Sir William bedurfte, um ein wenig auszuruhen. Dann schifften wir uns ein und langten am 6. November in Yarmouth an. Es war dies das erstemal, daß Nelson, seit der Schlacht am Nil, wieder den Boden Englands berührte. Er ward mit enthusiastischer Bewunderung empfangen.
In dem Augenblicke, wo er ans Land stieg, kamen, weil das Gerücht von seiner Ankunft sich schon in der Stadt verbreitet, die Einwohner in Masse herbeigeeilt und riefe«: »Es lebe Nelson! Nelson hoch! hoch!« Man spannte die Pferde von seinem Wagen und zog ihn unter wahnsinnigem Beifallsjubel bis in das Hotel, wo er abstieg. Die in der Stadt garnisonierende Infanterie defilierte unter seinen Fenstern vorüber und die Regimentsmusik brachte ihm ein Morgenständchen. Der Mayor und der Gemeinderat holten ihn dann ab und führten ihn in die Kirche, wo ein Dankgottesdienst abgehalten ward. Als wir die Stadt verließen, geleitete uns ein Reiterkorps nicht bloß bis an die Tore, sondern eskortierte uns auch eine Strecke des Weges. Sämtliche im Hafen liegende Schiffe hatten geflaggt wie zum Geburtstag des Königs, der Königin oder des Kronprinzen. In London war der Beifall und Jubel ein noch weit größerer. Nelson empfing hier den Triumph von Abukir, von Neapel und von Malta auf einmal. Bei der Nachricht von seiner Ankunft zogen alle Schiffe in der Themse ihre Flaggen und Wimpel auf und sämtliche Korporationen votierten ihm Ehrenwaffen und Adressen. Das englische Volk, dieser geborene Feind Frankreichs, stürzte dem Vernichter der französischen Flotte begeistert entgegen. Nelsons Ruhm war in dem Munde der Seeleute eine Art Nationalsage geworden. Jeder Engländer glaubte, abgesehen von dem Stolz, den er empfand, der Landsmann eines der berühmtesten Seehelden, die jemals existierten, zu sein, er habe ihm den Ruhm seines Hauses, die Ehre seines Weibes, den ruhigen Besitz seines Eigentums und den Frieden seines Vaterlands zu verdanken. Am 8. November langte Nelson in London an und stieg in St. Jamesstreet im Hotel Nerot ab.
Ich entsinne mich, daß es Sonnabend war. Hier erwartete mich ein furchtbarer Schlag. Schon seit langer Zeit hatte ich mich gefragt, was Nelson wohl tun würde, wenn er nach London käme, und sich zwischen mir und seiner Gattin befände, deren tadelloser Wandel einstimmig gerühmt ward. Ich hatte diese Frage im Gespräch mit ihm niemals berührt. Ich näherte mich nur zitternd, und mit der sehr natürlichen Ungerechtigkeit, welche eine falsche Stellung einflößt, fühlte ich, daß ich Lady Nelson verabscheute und daß ich bei der gegenwärtigen Gelegenheit unversöhnlich gegen sie sein würde. Man denke sich die Gefühle, welche mich bewegten, als ich beim Eintritt in das für Nelson bestimmte Zimmer seinen ehrwürdigen Vater, einen mehr als achtzigjährigen Greis, der ihn erwartete, in Begleitung einer Frau erblickte, in welcher ich, ohne sie jemals schon gesehen zu haben, sofort Lady Nelson erkannte. Das Herz schnürte sich mir auf eine Weise zusammen, daß ich beinahe rücklings niedergesunken wäre. Nelson drehte sich nach mir herum. Er sah mich bleich und mit zusammengekniffenen Lippen dastehen, und er ward ebenso grausam als ich. Er ging stracks auf seinen Vater zu, umarmte denselben mit vieler Wärme, begrüßte dann aber seine Gattin ganz kalt, als ob sie eine ihm völlig fremde Person wäre. Sie ward ihrerseits sehr bleich, warf mir einen Blick zu, der mich erbitterte, denn ich glaubte in diesem Blick mehr Mitleid als Zorn zu erkennen, und dann stützte sie sich auf den Arm des Greises, als ob sie mit ihrem Schmerz sich unter dessen Silberhaar flüchten wollte. Ich verließ das Zimmer und begab mich in das, welches augenblicklich für uns bestimmt war. Nelson kam mir sofort nach, warf sich mir zu Füßen und schwur mir, daß seine Gattin für ihn nie etwas anderes sein solle, als eine Schwester. Er sah, daß dieses Versprechen nicht genügte, um mich zu beruhigen, und dann – Gott verzeihe ihm, der den Schwur tat, und mir, die ich ihn denselben tun ließ – und dann tat er den Schwur, sie niemals oder nur in meiner Gegenwart wiederzusehen.
Der nächstfolgende Tag war Sonntag. Der Lordmayor, welcher Nelson ein Fest bereiten wollte, mußte dasselbe auf den Montag verschieben, weil die strenge englische Sonntagsfeier keine weltliche Beschäftigung gestattet. Am Montag begab Nelson demgemäß sich in die City; bei Ludgate Hill spannte ihm das Volk die Pferde vom Wagen und zog ihn mit wahnsinnigem Hurrageschrei an Guildhall vorüber. Als er Cheapside passierte, ward er von dem Beifallsjubel der Frauen begrüßt, die an allen Fenstern standen und ihre Tücher schwenkten. Nachdem die gebräuchlichen Toaste ausgebracht worden, ward Nelson ersucht, den ihm votierten Ehrendegen in Empfang zu nehmen. Er trat unter einen zu seinem Empfange errichteten Triumphbogen, wo ihn der Schatzmeister der City erwartete, der eine Anrede an ihn hielt, auf welche Nelson antwortete: »Sir, mit freudigem Stolze und inniger Dankbarkeit empfange ich von dieser ehrenwerten Korporation dieses Zeugnis ihrer Zufriedenheit mit meiner Handlungsweise, und mit diesem Degen« – hier hob er denselben empor – »hoffe ich noch den vollständigen Sieg über unseren eingefleischten unversöhnlichen Feind zu erfechten, einen Sieg, ohne welchen unser Vaterland niemals einen dauernden und ehrenvollen Frieden erwarten kann.« Man sieht es, Nelson hatte sich schon durch seine eigenen Worte verbindlich gemacht, wieder aus der Ruhe herauszutreten, die er sich bei seiner Rückkehr nach England versprochen.
Noch am Tage seiner Ankunft, das heißt am 8. November, war Mylord Nelson auf die Admiralität gegangen, um Lord Spencer, seinem Freund, einen Besuch abzustatten, und hatte ihm den Wunsch zu erkennen gegeben, den Abschied zu nehmen, indem er den Beweggrund geltend machte, den man in einem solchen Falle gewöhnlich anführt, nämlich schwächliche Gesundheit. Lord Spencer hatte sich, indem er ihn so sprechen hörte, begnügt zu lächeln und ihm eine zweite Gesundheit und ein zweites Abukir gewünscht. Am 1. Januar fand eine Promotion statt, und Nelson erfuhr, daß er zum Vizeadmiral des blauen Geschwaders ernannt worden, was gleichzeitig eine Belohnung und ein Avancement war. Noch denselben Tag verpflanzte er, mit dem Meer und dem gefahrvollen Leben, welches einmal sein Beruf war, ausgesöhnt, seine Flagge auf den »St. Joseph«, der im Hafen von Plymouth lag. Mittlerweile fühlte ich, daß der Tag meiner Entbindung immer schneller herannahte. Es war nicht wahrscheinlich, daß der Monat Februar vergehen würde, ohne daß ich das Kind zur Welt brächte, welches ich der Welt so sorgfältig und ich muß sagen mit soviel Schmerzen zu verbergen suchte. Genötigt, am Hofe von Wien, bei dem Erzherzog Carl in Hamburg immer in großer Toilette und enggeschnürt zu erscheinen, hatte ich während meiner Schwangerschaft öftere Anfälle von Krämpfen gehabt, welche Sir William sehr beunruhigten, obschon er nichts ahnte, denn Nelson zeigte mir eines Tages einen Brief von ihm, in welchem er mir schrieb: »Emma hat Magenschmerzen und Krämpfe. Ich glaube, sie sollte ein Brechmittel nehmen.« In London angelangt, mußte ich nicht weniger auf meiner Hut sein als in Wien, in Dresden und in Hamburg, denn hier war Nelsons ganze Familie, sein Vater, sein Bruder, sogar seine Frau zugegen. Ich bestimmte deshalb Sir William, daß wir das Hotel Nerot verließen und unsere Wohnung in dem Hause seines Neffen Lord Greenville nahmen, welches am äußersten Ende von Piccadilly stand und die Aussicht auf den Green-Park gewährte. Trotz des Wunsches, den er hegte, in dem Augenblicke, wo mein Zustand ihm lebhafte Befürchtungen einflößte, in meiner Nähe zu bleiben, sah Nelson sich genötigt, am 13. Januar nach Plymouth abzureisen. Hier langte er am 17. an und begab sich sofort an Bord des »St. Joseph«. Am 19. schrieb er mir: »Ich habe mich bis heute wahrhaft unglücklich gefühlt, teure Lady Hamilton, keinen Brief von Ihnen zu erhalten, und ich fürchte sehr, daß ich auch sobald noch keinen bekommen werde. Welch' ein Narr war ich, zu glauben, daß es jemanden gäbe, welcher tätiger wäre als ich. Heute habe ich Befehl erhalten, mich unter das Kommando des Lord St. Vincent zu stellen. Da aber der Befehl zum Auslaufen noch nicht eingetroffen ist, so werden wir wahrscheinlich erst Freitag nacht oder Sonnabend früh nach Forbais unter Segel gehen. Mein Auge ist wirklich sehr krank. Ich habe es dem Arzt der Flotte gezeigt. Er hat mir verboten, eine Feder in die Hand zu nehmen und dennoch bin ich genötigt, heute noch an Lord Spencer, St. Vincent und Davison zu schreiben. Seien Sie aber unbesorgt, Sie sind die einzige Frau, an die ich schreibe. Der Arzt hat mir auch gesagt, ich solle nur die unschuldigsten Speisen genießen und weder Wein noch Porter anrühren. Dann soll ich auch in einem dunklen Gemach bleiben und einen grünen Schirm über den Augen tragen. Würden Sie, meine teure Freundin, mir wohl einen oder zwei solche fertigen? Ich will von niemandem einen als nur von Ihnen. Ohne Zweifel ist es das viele Schreiben, welche mir diese Augenkrankheit zugezogen hatte. Ich mache sehr viel Aufhebens von meinen Leiden, unglücklicherweise aber habe ich, fern von Ihnen, vollauf Zeit, dabei zu verweilen. Ich bin wie immer Ihr treu ergebener
H. Nelson.«
Drei Wochen später erhielt ich wieder einen Brief. Dieser lautete: »Meine teure Lady. – Mr. Davison bittet um das Vergnügen, Ihnen meine Antwort auf Ihren liebenswürdigen Brief zuzustellen, und ich bin überzeugt, daß er sich diesem Auftrage pünktlich unterziehen wird. Ich bin nicht in der besten Laune und wenn nicht unser Vaterland alle meine Dienste und meine ganze Intelligenz beanspruchte, so sollte mich nichts abhalten, selbst der Überbringer meines Briefes zu sein. Ich weiß aber, liebe Freundin, daß Sie eine echte und loyale Engländerin sind und daß Sie jeden hassen würden, der nicht den König, die Gesetze und alles verteidigte, was uns teuer ist. Ihr Geschlecht ist es, was uns zu Helden macht, und wenn wir auf dem Felde der Ehre fallen, so leben wir in dem Herzen der Frauen fort, die uns geliebt haben. Und Sie, meine teure, geehrte Freundin, Sie sind, glauben Sie es mir, die erste und beste Ihres Geschlechts. Ich habe diese Reise um die Welt gemacht, und in keinem Winkel der Welt habe ich Ihres Gleichen, noch sonst jemanden gefunden, der mit Ihnen verglichen werden könnte. Sie wissen den Mut, die Ehre und die Tugend zu schätzen, und Sie fragen niemals darnach, ob Sie diese Eigenschaften bei einem Prinzen, bei einem Herzog, bei einem Lord oder bei einem Bauer finden.
H. Nelson.«
Solche Briefe, von einem Manne geschrieben, mit welchem ganz England sich beschäftigte, den die Könige ihre Stütze nannten, und dem man überall, wo er sich zeigte, königliche Ehren erwies, raubten mir vor Stolz fast den Verstand. Man hat geglaubt, ich sei es gewesen, welche eine Macht auf Nelson ausgeübt, es war aber vielmehr er, welcher volle Gewalt über mich besaß. Er hätte mir das Unmöglichste befehlen können, ich würde es versucht haben, das Verbrecherischeste und ich hätte es vollbracht. Ich wäre weniger stolz darauf gewesen, von einem König geliebt zu werden, als ich auf Nelsons Liebe war. Deshalb freute ich mich sogar der Schmerzen, welche meine Schwangerschaft mir verursachte, denn waren dieselben mir nicht durch ihn verursacht? War das Kind, welches ich unter meinem Herzen trug, nicht das seine? Oft hatten wir miteinander davon gesprochen. Von seiner Frau hatte er niemals Kinder gehabt und versprach daher, dieses anzubeten. Wir hatten schon im voraus die abenteuerlichsten Pläne entworfen, mochte es nun ein Knabe oder ein Mädchen sein. Ich hoffte immer noch, daß Nelson nach London zurückkommen könnte, als plötzlich die nordische Koalition beschlossen ward. Die Regierung beschloß nun, eine mächtige Flotte unter dem Befehl des Admiral Parker mit Nelson als Vizekommandanten in die Ostsee zu schicken. Demgemäß erhielt Nelson am 17. Februar 1801 von der Admiralität folgenden Befehl zugefertigt: »Lord Nelson wird sich unter das Kommando von Sir Hyde Parker, Admiral von der blauen Flagge und Oberkommandant des königlichen Geschwaders, stellen, um zu besonderen Diensten verwendet zu werden.« Infolge dieses Befehles begab er sich am 18. desselben Monats auf den »St. George« und ging nach Spithead ab, wo er seine Instruktionen erwarten sollte.
Während dieser Zeit war mein Stündlein gekommen. Am 15. Februar ward ich von Wehen ergriffen, gerade in dem Augenblicke, wo Sir William Hamilton ein acht Stunden von London liegendes, sehr schönes Landhaus, welches Merton Place hieß und mir sehr gefiel, in Augenschein zu nehmen gegangen war. Ich befand mich daher in dieser Stunde, wo ich des Alleinseins am nötigsten bedurfte, auch wirklich allein. Zum Glück befand sich in unserem Hause eine Frau, welche, da sie selbst mehrere Kinder gehabt, in dergleichen Dingen sehr erfahren war, und in dringenden Fällen schon mehr als einmal als Hebamme und Arzt fungiert hatte. Ich ließ sie rufen und nach einem drei- oder vierstündigen Kampfe brachte ich ein kleines, so schwaches Mädchen zur Welt, daß man anfangs glaubte, es habe bloß das Licht der Welt erblickt, um zu sterben. Der Grund hiervon lag in den Vorsichtsmaßregeln, welche ich in Anwendung zu bringen genötigt gewesen, und namentlich an dem Schnürleibe, den ich nicht aufgehört zu tragen. Die Frau verschloß sich mit dem Kinde in das abgelegenste Zimmer des Hauses, wo die arme Kleine drei oder vier Tage lang mit dem Saugfläschchen genährt wurde, so gut es gehen wollte, denn sie war noch nicht kräftig genug, um zu der Amme getragen zu werden, die ich im voraus gedungen und welche in Little Ditchfield-Street wohnte. Noch denselben Tag schrieb ich an Nelson. Da ich aber fürchtete, daß er nach Empfang meines Briefes sogleich herbeigeeilt käme und durch den überaus schwächlichen Zustand des Kindes erschreckt würde, so bat ich ihn, seine Reise um sechs oder acht Tage aufzuschieben, unter dem Vorwand, weil ich nicht wünschte, daß er unsere liebe Horatia ohne mich sähe. Am nächstfolgenden Tage kam Sir William von seinem Ausfluge zurück. Er war durchaus nicht überrascht, mich im Bett zu finden. Man sagte ihm, ich hätte einen Anfall gehabt und dabei viel Galle ausgebrochen. Er glaubte es und schrieb Nelson: »Emma ist sehr krank gewesen! Es geht jetzt wieder besser mit ihr, aber dennoch glaube ich, daß sie trotz der Galle, die sie vomiert, noch purgieren muß.« Nach Verlauf von vier Tagen konnte ich, dank meiner bewundernswürdigen Konstitution, das Bett verlassen, und am achten Tage fühlte ich mich stark genug, um auszugehen.
Ich ging zu der Frau, welche meine kleine Horatia in Pflege genommen. Letztere war ein wenig munterer, aber immer noch ungemein schwächlich. Man kann sich einen Begriff davon machen, wenn ich sage, daß ich sie, um sie ungesehen aus dem Hause zu schaffen, in meinen Muff steckte, worin sie bequem Platz hatte. Die Amme war eine Frau von der untern Bürgerklasse und hieß Mistreß Thompson. Sie war hübsch, frisch und kerngesund. Nelson hatte sie, ohne zu sagen, für wen sie bestimmt war, durch seinen Arzt ausfindig machen lassen. Dieser Frau sagte ich, daß die Belohnung, die sie empfangen sollte, nach ihrer Verschwiegenheit und Treue bemessen würde. Mittlerweile ließ ich ihr für den ersten Monat fünf Guineen zurück. Am nächstfolgenden Tage kam plötzlich Nelson an. Er hatte wegen dringender Angelegenheiten einen Urlaub von drei Tagen verlangt und war, sobald dieser Urlaub ihm bewilligt worden, mit Postpferden abgereist. Er nahm sich nicht einmal Zeit zu frühstücken, obschon er ganz nüchtern ankam, so große Eile hatte er, die Kleine zu sehen. Er schützte einen Wohltätigkeitsbesuch vor, bei welchem er, wie er sagte, meiner Gegenwart bedürfte. Wir stiegen in den Wagen und fuhren nach Little Ditchfield-Street. Hier machte es mich wahrhaft glücklich, die Freude dieses Mannes zu sehen, welcher mein Leben geworden war. Er lachte, er weinte, er nahm das Kind in seinen einen Arm, ließ es hüpfen und tanzen, wollte es durchaus zum Lachen bringen, behauptete, es habe auch wirklich gelacht, nannte es sein Kind, sein einziges Kind, und befahl der Wärterin es ihm den nächstfolgenden Tag in Sir Williams Hotel zu bringen, indem er ihr zugleich die Lektion einstudierte, welche sie bei dieser Gelegenheit hersagen sollte. In der Tat fand sich auch am andern Morgen die Amme mit dem Kinde in dem Hotel ein. Die erste Person, welche sie sah, war Sir William, der sie anhielt und fragte, wer sie wäre. Sie antwortete, sie hieße Mistreß Thompson, sie habe einen Bruder, der auf Lord Nelsons Schiffe diene und der Lord habe sich dazu verstanden, Pathe dieses kleinen Mädchens zu sein, welches sie auf dem Arm trüge und welches sie ihm brächte, um es ihm zu zeigen. Sir William zweifelte keinen Augenblick an der Wahrheit dieser Geschichte. Er nahm seinerseits das Kind auf den Arm, wünschte ihm alles mögliche Glück, und gab es dann seiner Amme zurück.
Nelson blieb anderthalb Tage bei uns, dann mußte er uns wieder verlassen. Diese zweite Trennung war noch schmerzlicher als die erste. Konnten wir hoffen, uns jemals wiederzusehen? Hatte dieses Kind, welches der Himmel uns gegeben, nicht den Schatz der himmlischen Güte für uns erschöpft? Wir waren übereingekommen, einander so zu schreiben, daß unsere Briefe ohne Gefahr in fremde Hände geraten könnten, das heißt so, daß der Inhalt nur für uns verständlich war. Diese geheimen Briefe machten jedoch die sozusagen offiziellen, welche ich von ihm erhielt, nicht weniger häufig. So verließ er zum Beispiel am 2. März auf dem »St. Georg« den Hafen von Portsmouth und am 3. schrieb er mir: »Meine teure Emma. – Mein Vorgesetzter hat mir die Ehre erzeigt, mich in die vorderste Schlachtlinie zu stellen und ich werde daher der Erste im Kampfe sein. Ich würde Ihnen noch mehr darüber sagen, wenn ich nicht fürchtete, Sie zu beunruhigen, denn ich kenne Ihre große Zärtlichkeit für mich. Der ›St. Georg‹ wird einen neuen Strahl des Ruhmes dem Rufe Englands beifügen, wenn Nelson am Leben bleibt, und wenn die allmächtige Vorsehung, die mich unaufhörlich in der Gefahr beschützt und in den Tagen der Schlacht mein Haupt gedeckt, mir beisteht und mich bis dahin aufrecht hält. Bewahren Sie mir stets Ihre Erinnerung, Sie und der vortreffliche Sir William. Mein letzter Gedanke gehört Ihnen beiden, die Sie mich lieben und achten. Ich beurteile Ihr Herz nach dem meinigen. Möge der große Gott des Weltalls Sie beschützen und segnen. Dies ist die innige Bitte Ihres treuen Freundes
Nelson.«
Man erlaube mir nun, eine Probe von unserer geheimen Korrespondenz zu geben. Man wird daraus ersehen, mit welcher Inbrunst dieser große Mann mich liebte. Je tiefer diese Liebe war, desto mehr glaube ich meine Entschuldigung darin zu finden. Er schrieb mir von den Dünen vor Boulogne durch Vermittelung eines sichern Freundes. »Fürchten Sie kein Weib in der ganzen Welt, teure Emma, denn jedes andere Weib ist mir gleichgültig. Ich kenne nur ein Wesen, welches Ihnen vielleicht einmal ähnlich werden kann. Ich bin überzeugt, daß Sie nie etwas tun werden, was die Liebe erkalten lassen kann, welche ich für Sie hege, und was mich betrifft, so würde ich lieber unter den grausamsten Qualen sterben, als Ihnen nur den mindesten Kummer zufügen. Küssen Sie unsere teure Horatia zehntausendmal von mir. Gestern kam das Gespräch auf das Impfen der Schutzpocken. Ein Herr behauptete, sein Kind, welches geimpft worden, sei mit einem an den wirklichen Blattern erkrankten Kinde in Berührung gekommen, ohne von dieser Krankheit angesteckt zu werden. Wenn sich dies wirklich so verhält, so ist dies der Triumph des Impfens. Das Kind hat zwei Tage lang ein wenig Fieber und nur eine kleine Entzündung am Arm gehabt, anstatt mit Pusteln bedeckt zu sein, wie das an den wirklichen Blattern erkrankte. Übrigens aber tun Sie, was Sie für gut finden.«
Ich sprach über diesen Brief so wie über das medizinische Wunder, welches er verkündete, mit dem Doktor Rowlay. Zum Unglück aber war dieser ein erbitterter Gegner Jenners. Er erklärte sich entschieden dagegen, daß Horatia mit Kuhpocken geimpft würde, und da er gerade in diesem Augenblicke ein taugliches Subjekt hatte, so impfte er der armen Kleinen die wirklichen Blattern. Dennoch gelang die Operation ausgezeichnet gut und drei Wochen später war Horatia wieder vollkommen hergestellt. Ich mietete bei dieser Gelegenheit in Stone-Street ein möbliertes Haus für Mistreß Thompson, und alles ging seinen besten Gang. Hier habe ich ein Geständnis zu tun, und was es mich auch kosten möge, so werde ich es um der Vollständigkeit meiner Memoiren willen niederschreiben. Ohne Zweifel um jenen unverantwortlichen Haß zu befriedigen, den ich gegen seine Frau hegte, von welcher er doch körperlich völlig getrennt lebte, wollte Nelson, daß diese Trennung sich auch auf materielle und unempfindliche Gegenstände erstrecke. Eines Tages schrieb er mir: ich solle Lady Nelson alle Toiletten und andere Gegenstände zurückschicken, die ihr vielleicht gehört hätten, und die mit unter die seinigen geraten wären. Ich hätte mich weigern und lieber eine Frau von Nelsons Familie, eine Schwägerin, mit dieser grausamen Mission beauftragen sollen. Ich fand aber im Gegenteil darin jenes herbe Vergnügen der Eifersucht, welche sich rächt, und Lady Nelson empfing alle Gegenstände, welche ihr gehört hatten, mit dem Blatt Papier, auf welches ich bloß die Worte geschrieben: »Auf Befehl und im Namen Lord Nelsons.« Ich hoffe, daß der barmherzige Gott mir in Hinblick auf meine Reue den Schmerz verzeihen wird, den ich jener unglücklichen Frau auf diese Weise zufügte.
Sir William hatte sich auf jenem Ausfluge, wo er Merton Place in Augenschein nahm, mit dem Besitzer dieses Landhauses nicht verständigen können. Mit den zunehmenden Jahren war er immer geiziger geworden und hatte um bloß zwei- oder dreihundert Pfund Sterling willen von dem Ankauf dieses Hauses Abstand genommen. Als Nelson nach London kam, hatte ich ihm von dieser beabsichtigten Akquisition gesagt und ihm die Lage von Merton Place und die bequeme Einrichtung der Wohngebäude gerühmt. Er erinnerte sich jetzt meines Wunsches und als er erfuhr, daß Sir William das Grundstück nicht gekauft, schrieb er ihm und erteilte ihm Auftrag, es um den verlangten Preis für ihn zu akquirieren. Er sagte, da er von jeher die Absicht gehabt, mit Freunden auf dem Lande zu leben, so kaufe er Merton Place, um es zu einem Asyl für uns alle drei zu machen, wo wir, fern vom Geräusch der Stadt und den Intrigen der Politik, unsere letzten Tage in Ruhe verleben könnten. Sir William begab sich demgemäß zu dem Notar und kaufte Merton Place in Nelsons Namen für den Preis, den er selbst zu zahlen sich geweigert. Da ich mir wohl dachte, daß Nelson dieses Grundbesitztum nur kaufe, um es mir zu schenken, so erhob ich einige Bedenken dagegen, indem ich sagte, daß eine Lokalität, die mir gefiele, vielleicht für ihn keinen Reiz habe. Er beeilte sich jedoch mir zu antworten: »Machen Sie sich über diesen Punkt keine Sorge. Ich bin überzeugt, daß Merton Place mir gefallen wird, und habe von Ihrem Geschmack und Ihrem Urteil eine so gute Meinung, daß ich den einen wie das andere für untrüglich halte.«
Man kennt jenen furchtbaren Feldzug Englands gegen Dänemark, an welchem Nelson berufen ward, teilzunehmen. Mit dem Bombardement von Kopenhagen beauftragt, wagte Nelson sich so weit heran, daß der Admiral Parker, welcher fürchtete, daß die englischen Schiffe auf den Grund geraten und dann nicht mehr imstande sein möchten, zu manövrieren, durch Signale den Befehl zum Rückzuge gab. Durch den Kapitän Hardy von den Signalen, welche sein Vorgesetzter ihm gab, in Kenntnis gesetzt, hielt Nelson das Fernrohr an sein ausgeschlagenes Auge. »Ich sehe nichts,« sagte er. Und er setzte den Kampf fort. Der schlechte Gesundheitszustand Nelsons und besonders sein Wunsch, mich und seine teure Horatia, auf welche ich hätte eifersüchtig sein mögen, wenn eine Mutter dies auf ihr Kind sein könnte, wiederzusehen, bewogen ihn, als er den Feldzug für beinahe beendet ansah, um die Erlaubnis zur Rückkehr nach London nachzusuchen. Da er diese Gunst unter der Form eines Urlaubs erbat, so gewährte die Admiralität sie ihm, denn sie wußte ja, wo sie ihn beim ersten Kanonenschuß, welcher abgefeuert werden würde, zu finden hätte. Man hoffte jedoch, daß dieser Kanonenschuß nicht so bald fallen würde. Das Ministerium Pitt, das heißt das Ministerium des Krieges, war gestürzt und das Ministerium Addington, das heißt das Ministerium des Friedens, ans Ruder gelangt. Nelson legte demzufolge sein Kommando in der Ostsee nieder, ging am 18. Juni an Bord der Brigg »Kitte«, die von dem Kapitän Dogby befehligt ward, und langte am 1. Juli in Yarmouth an. Er trat mitten unter uns, als wir ihn am wenigsten erwarteten, denn sein Schiff hatte die Fahrt von der Kiöge-Bai bis Yarmouth in nicht ganz zehn Tagen zurückgelegt.
Meine Freude war groß. Zum Glück konnten wir unter dem Schleier einer vertrauten Freundschaft einander selbst in Sir Williams Gegenwart einen Teil der Dinge sagen, von welchen uns das Herz überwallte. Übrigens kam eine Viertelstunde nach Nelsons Ankunft der Fürst von Castelcicala des Königreichs beider Sizilien, um Sir William Depeschen mitzuteilen. Letzterer begab sich demzufolge in den Salon und ließ uns allein. Nelsons erstes Wort galt Horatia. Seine Fragen folgten mit solcher Schnelligkeit aufeinander, daß es mir Mühe kostete, dieselben zu beantworten. Ich ging in den Salon und sagte Sir William leise, Lord Nelson wünschte seine Pate zu sehen, und bäte mich, ihn zu der Pflegemutter derselben zu begleiten. Mein Gemahl drückte mir die Hand, schüttelte den Kopf und sagte: »Er ist wirklich ein sehr aufmerksamer und zärtlicher Pate! Gehe nur mit, mein Kind!« Ich ließ die beiden Diplomaten sich über die Staatsangelegenheiten besprechen, in welche ich, Gott sei Dank, mich nicht mehr mischte, und wir stiegen in den Wagen, um uns nach Stone-Street zu begeben. Unterwegs fragte ich Nelson, ob er wieder einmal den Vogel gesehen. »Was für einen Vogel?« fragte er. – »Den Vogel von Abukir, den, welcher sich Ihnen an dem Tage, wo ich Ihnen einen Besuch auf dem »Vanguard« abstattete, auf die Schulter setzte.« – »Ha!« rief Nelson freudig, »den habe ich am Morgen des Bombardements von Kopenhagen wiedergesehen. Ich zweifle nun nicht mehr, daß dieser Vogel mein guter Genius ist.«
Als er seine kleine Horatia wieder sah, schien er noch glücklicher zu sein als das erste Mal. Sie war während der verflossenen vier Monate sehr gewachsen und auch viel kräftiger geworden, so daß man sich kein reizenderes kleines Wesen denken konnte. Ganz außer sich vor Freude kam Nelson nach Piccadilly zurück und sprach während des ganzen Diners fast von weiter nichts, als von seiner kleinen Pate. Das neue Ministerium hatte Unterhandlungen mit Frankreich angeknüpft, wollte aber nur unter der Bedingung Frieden schließen, daß es Malta behalten dürfte und Trinidad abgetreten erhielte. Bonaparte widersetzte sich diesen beiden Ansprüchen sehr energisch und verkündete im »Moniteur«, daß er eine Flottille bei Boulogne zusammenziehen würde, um eine Landung an den Küsten der britischen Inseln zu versuchen. In der Tat verließen auch mehrere Abteilungen Kanonenboote die Häfen von Calvados, der Seine, der Somme, der Schelde und begaben sich nach Boulogne. England wollte nicht zurückbleiben und zog bedeutende Streitkräfte zusammen, um dieses Landungsprojekt zu vereiteln. Nelson erhielt das Kommando des Geschwaders, welches bestimmt war, diese kriegerischen Vorbereitungen Frankreichs zu überwachen. Dies führte abermalige Trennung herbei, diesmal aber hatten wir die Hoffnung, daß die Trennung kurz sein würde. Das Auslaufen der Flotte war mehr eine Demonstration als eine Wiederaufnahme von Feindseligkeiten. Nelson erhielt den Befehl von der Admiralität am 25. Juli 1801 und am 27. hißte er seine Flagge auf dem Schiffe: »Die Eintracht« im Hafen von Sheerneß auf.
Diese Kreuzfahrt dauerte ungefähr drei Monate, wo dann der Friede unterzeichnet ward. Es war die höchste Zeit, denn Nelson war wirklich krank. Am 17. Oktober schrieb er mir: »Teuerste Freundin! – Obschon mein Unwohlsein kein gefährliches ist, so widersteht es gleichwohl allen Heilmitteln, welche mir verschrieben worden, und ich muß gestehen, daß es mich sehr herabgestimmt hat. Wie es scheint, ist mir eine hartnäckige Erkältung in den Leib getreten. Ich wollte, die Herren der Admiralität litten an demselben Übel wie ich; da sie aber, wenigstens für mich, kein Gefühl haben, so ist dies ein zweckloser Wunsch. Ich habe eine sehr schlechte Nacht zugebracht; Ihr lieber Brief aber und der Sir Williams haben mir sehr wohl getan. Es ist mein fester Entschluß, mich nach meiner Ankunft in London nicht belästigen und beunruhigen zu lassen. Ich verlange nichts weiter, als mich mit Ihnen, meinen guten Freunden, aufs Land zurückziehen zu können.« Obschon dieser Brief in die Kategorie der offiziellen gehörte, so ward ich doch dadurch beunruhigt. Die ungleiche Handschrift schien zu verraten, daß der Schreiber dieses Briefes von Fieberfrost geschüttelt ward. Am 23. Oktober kam Nelson in Merton Place an. Ich hatte Sir William gebeten, zu erlauben, daß Mistreß Thomson und ihre kleine Horatia ihre Wohnung in einem der Nebengebäude nähmen. Sir William, welcher Nelsons Liebe zu der Kleinen kannte, hatte sofort seine Einwilligung dazu gegeben, und übrigens gehörte das Haus ja auch nicht ihm, sondern Nelson. Es war dies ein guter Gedanke von mir gewesen, denn kaum hatte Nelson uns umarmt, als er sich nach seiner kleinen Pate erkundigte. Man mußte ihn sofort zu Horatias angeblicher Mutter führen, die wirkliche Mutter aber war auch da und es entging ihr kein Wort, keine Miene, keine Gebärde. Diese Freude Nelsons war mein Triumph. Am 29. desselben Monats nahm Nelson seinen Sitz im Oberhause ein. Er hatte diese Zeremonie, die er für sehr langweilig hielt, so lange als möglich hinausgeschoben. Als Vicomte ward er von dem Vicomte Sidney eingeführt.
Wir verbrachten den Winter in sehr angenehmer Weise, indem wir ihn zwischen Merton Place, wo Nelson sich der Einsamkeit freute, und den Bällen, Soireen und Festen von Piccadilly teilten. Sir William empfing oft Besuche und da Nelson bei uns wohnte, so hatten wir auch immer jemanden von seiner Familie als Gast. Ich muß hier gleich bemerken, daß diese Gäste, welche nach Nelsons Tode nicht wieder kamen und sogar aufhörten mit mir zu sprechen, mir, so lange er lebte, die eifrigsten Aufmerksamkeiten erwiesen. Gegen den Sommer 1803 machten wir – Lord Nelson, sein Bruder, Sir William und ich – eine Reise nach Wales. In Blenheim ward jedoch meine Eigenliebe auf sehr empfindliche Weise durch die Verachtung verletzt, welche die dieses Schloß bewohnende vornehme Familie gegen mich an den Tag legte. Nelson zeigte sich ebenfalls durch diesen Mangel an Höflichkeit gegen mich sehr empfindlich berührt. Er wies die Erfrischungen, welche man uns anbot, zurück und ich meinerseits sagte, so daß man mich hören mußte: »Wenn ich Königin gewesen wäre, so hätte ich Nelson nach der Schlacht bei Abukir ein Fürstentum geschenkt, würde aber Sorge für ein so schönes getragen haben, daß Blenheim nicht würdig gewesen wäre, als Gemüsegarten dazu zu gehören.« Übrigens trug ich bei allen Festen, welche meinem Helden durch die städtischen Korporationen und öffentlichen Versammlungen gegeben wurden, fortwährend durch mein Talent als Tragödin und Sängerin zur Erhöhung des Glanzes dieser Festlichkeiten bei, und nicht bloß die öffentliche Stimme, sondern auch die Zeitungen der Provinz bestätigten die Erfolge, die ich auf diese Weise errang. In den ersten Tagen des Septembers kamen wir nach Merton Place zurück, wo wir so ziemlich den ganzen Winter blieben.
Ich habe schon gesagt, daß Sir William bereits seit längerer Zeit leidend war. Gegen den Monat März 1803 ward sein Unwohlsein immer ernster und endlich ward er in allem Ernste krank. Wir brachten ihn sofort nach London, wo ihm alle mögliche Pflege und Fürsorge gewidmet ward. Gegen seine zweiundsiebzig Jahre vermochte jedoch die Wissenschaft nichts auszurichten. Er ward immer schwächer und am 6. April lagen Nelson und ich vor seinem Bett auf den Knien, um seinen letzten Seufzer zu empfangen. Er starb als rechtschaffener Mann, der sich keinen Vorwurf zu machen hat, und wenige Minuten vor seinem Tode sagte er mit mattem, aber ruhig heiterem Tone zu Nelson, indem er ihm die Hand drückte: »Wackerer, heldenmütiger Nelson, unsere Freundschaft ist, obschon alt, doch stets ungetrübt geblieben und ich bin, indem ich sterbe, stolz auf den Freund, den Gott mir gegeben. Ich hoffe, daß mit Ihrer Hilfe meine Emma bei den Ministern Gerechtigkeit finden wird, denn sie wissen besser als ich, wie groß die Dienste sind, die Sie geleistet, und sie werden sich alles dessen entsinnen, was Sie für unser Land getan. Beschützen Sie mein teures Weib und möge Gott seinerseits Sie schützen, Sie segnen und Ihnen immer den Sieg verleihen.« Dann wendete er sich nach mir herum und sagte: »Meine unvergleichliche Emma, du hast mich niemals beleidigt, weder in Gedanken noch in Worten, noch in Werken. Laß mich dir daher von ganzer Seele für die Beweise von Liebe und Zuneigung danken, die ich während der zehn Jahre unserer glücklichen Vereinigung von dir empfangen.« Dann mit einer letzten Anstrengung fügte er unsere beiden Hände zusammen, stieß einen Seufzer aus und starb. Ich beweinte ihn, und zwar aus aufrichtigem Herzen. Ich verdankte ihm die hohe Stellung, die ich am Hofe eingenommen, und die Rolle, die ich dort gespielt. Vielleicht wäre es für mein ewiges Seelenheil besser gewesen, wenn ich in Armut und Dunkelheit geblieben wäre. Diese Betrachtung aber, welche ich heute anstelle, war damals meinen Gedanken noch fremd.
Sir William zweifelte nicht, daß ich nach seinem Tode, infolge von Nelsons einflußreicher Vermittlung, seine Pension von fünfzehnhundert Pfund Sterling jährlich auch noch ferner ausgezahlt erhalten würde. Er wußte, daß Nelson für mich Merton Place gekauft, welches ziemlich fünfhundert Pfund eintrug. Er glaubte daher mich reich zu verlassen, wenn er mir außerdem noch siebenhundertundfünfzig Pfund jährliche Rente vermachte, und in der Tat hatte ich, alles dies zusammengenommen, ein Jahreseinkommen von ziemlich siebzigtausend Franks. Der Hoffnung auf eine Pension vom Ministerium mußte ich jedoch sehr bald entsagen. Welche Schritte auch von mir und von Nelson getan wurden, so erwies man uns doch nie die Ehre einer Antwort. Nelson war nicht der Mann, der mich lange einen Schimpf ertragen ließ. Er verkaufte Merton Place zum Schein an mich und sicherte mir eine Rente von zwölfhundert Pfund, so daß ich mit dem Ertrage von Merton Place und Sir Williams Vermächtnis ein jährliches Einkommen von sechzigtausend Franks hatte. Durch ein Kodizill zu seinem Testament, welches er eine Woche vor seinem Tode errichtet, vermachte Sir William seinem Freunde Nelson ein schönes, auf Email gemaltes Miniaturporträt von mir. Ich schenkte ihm dazu eine goldene Kette, und er trug dieselbe fortwährend an seinem Halse und das Bildnis auf seinem Herzen. Ein Umstand, der mich aber sehr in Erstaunen setzte und betrübte, war das Benehmen des Lord Greenville, des Neffen Sir Williams. Dieser Mann, der mich früher so sehr geliebt, welcher, als er mich verlor, den Verstand zu verlieren geglaubt, erklärte sich jetzt zu einem meiner erbittertsten Verfolger und kaum war nach dem Tode seines Onkels ein Monat verflossen, so zwang er mich, das Haus zu verlassen, welches ihm gehörte. Nelson, der nun sah, daß ich keine Wohnung in London mehr hatte, mietete für sich eine Wohnung, die von der meinigen vollständig getrennt war. Es war dies ein großes Opfer, welches er der Sorge für meinen Ruf und die Achtung der Welt brachte, aber er hatte nicht den Mut, diese Trennung auch auf unser Landhaus zu erstrecken. Ich mietete meinerseits ein Haus in Clergy-Street. Unglücklicherweise verlor ich einige Wochen nach diesem neuen Umzuge die Stütze und Nähe meines edlen Freundes, der zum Kommando der Flotte im mittelländischen Meere berufen ward. Es war dies gleichzeitig eine große Ehre und ein großer Schmerz für mich. Seit den letzten achtzehn Monaten hatten wir einander nicht verlassen. Ich hatte mich an jenes vertrauliche Leben gewöhnt, welches nun unterbrochen werden sollte, und zwar um eines Krieges willen, welcher heftiger zu entbrennen drohte als je. Es war, als ob die lange Friedenshoffnung, welche nun erloschen war, Frankreich und England noch mehr gegen einander angestachelt hätte. Nelsons Verzweiflung war um so größer, als ich jetzt zum zweiten Male Aussicht hatte, Mutter zu werden. Ehe wir einander verließen, schwuren wir uns, daß nichts jemals den Bund unserer Herzen zerreißen solle, und er gab mir einen Ring, durch welchen ich den ersetzte, welchen ich von Sir William hatte. In den letzten Tagen des Juni empfing ich folgenden Brief von ihm:
»Meine teure Emma. – Ich habe Ihnen schon von mehreren Orten geschrieben, aber bloß, um Ihnen zu sagen: ›Ich bin hier, ich bin da,‹ denn ich hatte nicht Zeit, etwas Weiteres hinzuzufügen. Unglücklicherweise glaube ich nicht, daß ich Ihnen auf anderem als dem Seewege eine Sendung machen kann, und diese Sendungen, welche nur mittels der kleinen Schiffe geschehen können, welche der Admiral mir gegeben, können folglich keine häufigen sein. Unsere Fahrt von Gibraltar nach Malta hat ungeheuer lange gedauert, nämlich nicht weniger als elf Tage. Erst am 26. langten wir vor Capri an, wo ich Befehl gab, daß die Fregatte, welche Mr. Elliot nach Neapel gebracht, wieder zu mir stoßen solle. Ich schicke Ihnen Abschriften von den Briefen des Königs und der Königin. Es tut mir außerordentlich leid, daß die letzteren nicht ein einziges Wort für Sie enthalten. Freilich sind es ausschließlich politische Briefe. Als ich an die Königin schrieb, sagte ich: Lady Hamilton habe ich am 18. Mai verlassen. Sie hängt an Ew. Majestät noch mit so großer Liebe, daß ich überzeugt bin, sie würde ihr Leben opfern, um das Ihrige zu retten. Ew. Majestät haben nie eine aufrichtigere und redlichere Freundin gehabt, als Ihre liebe Emma. Ganz gewiß werden Sie mit lebhaftem Bedauern erfahren, daß Sir William sie in seinem Testament nicht so bedacht hat, wie sein großes Vermögen ihm wohl erlaubt hätte. Er hat fast seinen ganzen Reichtum unter seine Verwandten verteilt, Lady Hamilton wird aber deswegen seinem Andenken nicht weniger Ehre machen. Ich hoffe, meine teure Emma, daß die Königin direkt an Sie geschrieben hat. Wäre sie so undankbar, Sie zu vergessen, so würde ich Gott bitten, sie auch zu vergessen. Aber nicht wahr, Sie glauben, daß sie unfähig ist, Sie je aus ihrem Herzen zu verbannen? Der Augenblick ist da, wo sie Ihnen einen Beweis ihrer Zuneigung geben kann. Zeigen Sie die Abschriften von den Briefen des Königs und der Königin nur unseren vertrautesten Freunden. Der König ist niedergeschlagen und verweilt fast immer im Belvedere. Unser neuer Gesandter, Mr. Elliot, hat seit dem 17., dem Tage seiner Ankunft, weder Ihn noch die Königin gesehen. Dennoch soll er am 22. vorgestellt werden. Ich bin überzeugt, daß dieser elende Korse mit dem Plane umgeht, das Königreich Neapel zu erobern. Ich habe deshalb auch dem General Acton geraten, die königliche Familie nicht länger der Gefahr auszusetzen, gefangen genommen zu werden. Ich muß mich, wie Sie sich leicht denken können, nun beeilen, zu der vor Toulon liegenden Flotte zu stoßen . . .«
»Juli 1803.
Ich steuere gegen Toulon, um die Franzosen zu zermalmen. Wir haben sieben Linienschiffe, fünf Fregatten und sechs Korvetten. In einer Woche werden wir noch drei oder vier Schiffe zu unserer Verfügung haben. Sie können sich denken, teure Emma, wie glücklich ich jedesmal bin, wo ich einen Ihrer guten langen Briefe erhalte. Ich danke Gott, daß Sie nicht Mangel zu leiden brauchen. Übrigens dürfen Sie überzeugt sein, daß, so lange ich noch sechs Pence in der Tasche habe, fünf davon Ihnen gehören. Unglücklicherweise wissen Sie aus Erfahrung, daß man im Geldpunkte nicht auf seine Freunde rechnen darf, und ich hoffe, Ihr gesunder Menschenverstand wird diese Lehre zu benutzen wissen. Ich hoffe immer noch, daß das Ministerium etwas für Sie tun wird. Wäre dies jedoch auch nicht der Fall, so können wir dann ja von Brot und Käse leben. Die Unabhängigkeit ist ein Segen und eine Wohltat. Obschon es mir bis jetzt noch nicht möglich gewesen ist, eine gute Prise zu machen, so müßte es doch nicht gut gehen, wenn ich in diesem Feldzuge nicht soviel erbeutete, daß ich alle meine Schulden bezahlen könnte, und sind diese bezahlt, so ist das schon kein kleiner Trost. In bezug auf die Rente von meinem Herzogtum Bronte habe ich noch nicht mit Acton gesprochen; wenn ich aber sehe, daß Neapel in den Händen des Königs Ferdinand bleibt, so werde ich die Frage stellen. Offen gestanden, hoffe ich von dieser Seite nicht viel. Nach allem, was ich sagen höre, ist der König von Neapel in solcher Verzweiflung, daß er gerne zu Gunsten seines Sohnes resignieren möchte, um sich nach Sizilien zurückzuziehen. Sie wissen wohl, daß Sir William immer meinte, König Ferdinand werde noch einmal auf diese Weise enden.«
Ich führe die Briefe Nelsons an, um erst dann wieder auf mich zurückzukommen und meine Erzählung weiter fortzusetzen, denn ich glaube, es ist interessanter, den Mann, der einen so großen Einfluß auf die Ereignisse in Italien hatte, an den Orten zu sehen, wo diese Ereignisse stattfanden, anstatt mich zu beobachten, während ich die ersten Schritte der auf dem Rasenplatz von Merton Place hin- und herstolpernden kleinen Horatia leite. Ich oder vielmehr Nelson fährt daher fort:
»An Bord der ›Victory‹, vor Toulon, am 1. August 1803.
»Meine teure Emma! – Ihr Brief vom 31. Mai ist mir durch die ›Phöbe‹ vor erst zwei Tagen zugegangen. Es wird Ihnen nicht schwer werden, die Gemütsbewegung zu begreifen, welche der Anblick und das Lesen dieses Briefes mir verursacht hat. Ich billige Ihre Pläne und die Wahl Ihrer Gesellschaft für nächsten Winter und Frühling. Ich hoffe reich genug zu sein, um in unserem lieben Merton Place alle nötigen Verschönerungen vornehmen zu lassen. Es wird dies zu Ihrer Zerstreuung dienen, und ich bin überzeugt, daß ich alles, bis herab zu Ihren Stachelbeeranpflanzungen, zu bewundern haben werde. Ich befinde mich jetzt an Bord der ›Victory‹, wo ich alles in Ordnung bringen lasse. Hardy ist gegenwärtig beschäftigt, in meiner Kajüte Ihr Porträt und das Horatias, welche die einzigen Zierden dieses Gemachs sind, anzunageln. Ich werde Sie dann alle Tage betrachten, und jeden Tag neue Reize darin finden können. Etwas anderes bedarf ich nicht. Was den Krieg betrifft, so erwarten Sie keine großen Neuigkeiten von uns. Wir sehen nichts. Ich fürchte aber noch immer sehr, daß Neapel und selbst Sizilien in die Hände der Franzosen fallen. Mittlerweile habe ich meine Ratschläge in so ausgedehnter und präziser Weise erteilt, daß, wenn dieser Fall eintritt, man die Schuld nicht auf mich wird schieben können. Die Königin von Neapel hat, wie ich aus dem Siegel schließe, einen Brief an Castelcicala gesendet. Auch mir hat sie einen geschrieben, worin sie mir ihren Dank für die Fürsorge ausspricht, welche ich für das Wohl des Königreiches trage. Der König lebt noch immer sehr zurückgezogen. Er hat sich geweigert, den französischen General Gouvion Saint-Cyr zu empfangen, welcher nach Neapel gekommen ist, um die Kriegskontribution zu regulieren. Ich glaube, der König verließe gern Neapel und zöge sich nach Sizilien zurück, wenn die Franzosen es ihm erlaubten. Grüßen Sie in Merton Place alle freundlichst von mir. Ihr treuer
Nelson.«
»The Victory, vor Toulon, 26. August 1803. Meine teure Emma! Wenn ich Ihnen sage, daß ich den ganzen Tag und die ganze Nacht an Sie denke, so ist damit die Liebe, welche ich für Sie empfinde, immer noch viel zu schwach ausgedrückt. Obschon durch gebieterische Umstände von Ihnen entfernt, bleibe ich doch, glauben Sie dies fest, stets der Ihrige. Der Ruf unseres Vaterlandes ist eine Pflicht, welcher ich mich fügen mußte, und hätte ich demselben nicht entsprochen, so würden Sie in Ihren Augenblicken kalter Überlegung sich meiner geschämt haben, weil Sie nicht mehr hätten sagen können: Dies ist der Mann, welcher England gerettet hat! Dies ist der Mann, welcher stets der erste ist, wenn es in den Kampf geht, und der letzte, der aus demselben zurückkehrt. Alle Ehren aber, die ich erlange, spiegeln sich auch in Ihnen, denn wenn die Welt von mir spricht, so wird sie sagen: ›Welche Opfer hat er für das Wohl seines Vaterlandes gebracht, da er um desselben willen sogar das reizendste und gebildetste Weib der Welt verlassen!‹ Wenn Sie mich ebenso sehr lieben wie ich Sie, so müssen Sie mich verstehen. Mein Herz ist bei Ihnen, bewahren Sie es, meine Geliebte; wenn es Gott gefällt, so werde ich als Sieger zurückkehren, oder wenigstens einen makellosen Namen hinterlassen. Ich habe dies alles nicht aus Ehrgeiz oder aus Habgier getan. Weder Habgier noch Ehrgeiz hätten mich fern von allem halten können, was mein Herz liebt. Nein, ich habe mich dem Ruhme Englands gewidmet, weil es der Wille Gottes war. In dieser und jener Welt, in Zeit und Ewigkeit stets der Ihre.
Nelson.«
Dank der Familie Nelson, welche, so lange der Admiral lebte, im höchsten Grade freundschaftlich gegen mich war, sah ich mich, als er fort war, nicht ganz vereinsamt. Seine Nichte zog mit in unser Haus und ward meine Schülerin. Sie studierte mit mir Französisch, Italienisch, Zeichnen und Musik und ich kann sagen, daß ich nach Verlauf von sechs Monaten aus einer kleinen Bäuerin, die sie war, eine junge Weltdame gemacht hatte. Es war dies von meiner Seite ein Akt der Herablassung, von seiten der Familie Nelsons aber ein Beweis von Achtung für mich. Der Doktor Nelson, Bruder des Admirals und Vater des jungen Mädchens, dessen Erziehung ich übernommen, war zum Kanonikus an der Kathedrale von Canterbury ernannt worden, und da ihm viel daran lag, sich mir zu jener Zeit aufmerksam zu beweisen, so sollte ich einen Teil des Sommers bei ihm zubringen. Ich nahm Mistreß Bellington, eine frühere dramatische Künstlerin, mit, welche sehr schön gewesen und viel Talent besaß. Die Einwohner von Canterbury waren nicht wenig erstaunt zu sehen, wer die beiden Gäste des ehrwürdigen Kanonikus waren, und nahmen großes Ärgernis daran, als Mistreß Bellington und ich uns erboten, an einem Festtage in der Kathedrale ein geistliches Duett vorzutragen. Unser Erbieten ward kurz zurückgewiesen, ja noch mehr, die ehrsamen Bürger der ehemaligen Hauptstadt des Königreichs Kent verfehlten niemals, auf ihre Visitkarten die Worte zu schreiben: »Für Doktor Nelson, aber nicht für Lady Hamilton.« Nicht lange nach Nelsons Abreise gebar ich eine zweite Tochter, die in Merton Place zur Welt kam und der ich den Namen Emma gab. Die arme Kleine weilte nur kurze Zeit in dieser Welt, denn sie starb schon im nächstfolgenden Jahre an Krämpfen. Zu jener Zeit war, wie ich schon gesagt habe, die ganze Familie Nelson höchst aufmerksam gegen mich und für seine arme Gattin standen die Dinge natürlich um so schlimmer. Nelson hatte nämlich allen seinen Verwandten rund heraus erklärt, daß er nur mit denen in gutem Einvernehmen bleiben würde, welche sich gut gegen mich betrügen. In der Tat hatte auch Nelson seit Sir Williams Tode die Existenz der armen Mistreß Nisbet – so nannte er seine Frau stets – ganz vergessen und mich als seine einzige und wirkliche Gattin betrachtet und behandelt. Aus den von mir mitgeteilten Briefen hat man ersehen, daß seine Liebe zu mir, anstatt sich zu vermindern, nur noch feuriger geworden war. Als ich aber, seiner langen Abwesenheit müde und ärgerlich über die verächtliche Begegnung jener lächerlichen Spießbürger ihm schrieb, daß ich zu ihm kommen würde, um mit ihm auf seinem Schiffe zu wohnen und alle Gefahren mit ihm zu teilen, antwortete er mir mit einer Festigkeit, die ich nicht erwartet: »Sie wissen, liebe Emma, daß ich mich zur See immer unwohl befinde. Bedenken Sie daher, was eine Kreuzfahrt vor Toulon ist, wo wir selbst im Sommer wenigstens einmal wöchentlich starken Wind und zwei Tage hochgehende See haben. Ich will nicht, daß Sie und Horatia auch krank werden. Die arme Kleine, wie wäre es möglich, sie an Bord eines Schiffes zu haben! Übrigens habe ich selbst den Befehl gegeben, daß kein Weib, wer es auch sei, an Bord der ›Victory‹ kommen dürfe, und nun sollte ich der erste sein, der diesen Befehl überträte? Davor bewahre mich Gott!«
Ich darf hierbei nicht unerwähnt lassen, daß infolge meines unglücklichen Hanges zur Verschwendung die Einkünfte von Merton Place, das Vermächtnis von Sir William und das Jahrgeld, welches Nelson mir ausgesetzt, obschon dies alles zusammen beinahe sechzigtausend Franks ausmachte, nicht zureichte. Ich drang daher fortwährend in Nelson, bei Addington die Fortzahlung der Pension, welche Sir William bezogen, nachzusuchen; Nelson aber, welcher von den Mitteln, die ich brauchte, keinen Begriff hatte und sich nicht denken konnte, daß ich mit meinem Einkommen nicht ausreichte, antwortete mir: »Wenn Mr. Addington Ihnen die Pension bewilligt, so wird es gut sein; aber geben Sie sich keine Mühe, um sie zu erlangen. Besitzen Sie nicht Merton Place ohne Hypothek und ohne jemandem etwas schuldig zu sein? Liebe Emma, für meine Horatia ist schon gesorgt, und ich hoffe, daß Sie früher oder später meine rechtmäßige Gemahlin werden, dann gebe ich für die ganze übrige Welt keinen Pfifferling.« Zuweilen machte er mir auch zärtliche Vorstellungen über die Notwendigkeit der Sparsamkeit. Man erkannte in ihm den Mann, der, nachdem er lange Armut erduldet, immer fürchtete, daß es ihm wieder einmal an Geld fehlen könne. Ganz besonders verlangte er, daß ich soviel als möglich in Merton wohnte, wo ich natürlich weniger Ausgaben hatte als in London. Wäre Nelson bei mir gewesen, so wäre es mir natürlich nicht eingefallen, etwas anderes zu tun, als blindlings seinen Ratschlägen zu folgen. In seiner Abwesenheit aber bemächtigte sich meiner allmählich die Langweile dieses unbeschäftigten Lebens, welches ich führte, nachdem ich mich vorher in einem so tätigen bewegt, und da es mir unmöglich war, immer an einem Orte zu bleiben, so ging ich von Merton Place nach London, wo Feste, Gesellschaften und das Spiel mich viel Geld kosteten. Ich war gewohnt, einen Teil des Sommers in den Seebädern zuzubringen, und hier besonders waren meine Ausgaben wahrhaft enorm. Dieser Aufwand beunruhigte Nelson; ich sagte ihm aber, die Seebäder seien mir von den Ärzten empfohlen, und er konnte darauf weiter nichts sagen als: »Gehen Sie ins Bad,« wenn ich noch nicht dort war; oder: »Bleiben Sie!« wenn ich schon dort war. Wie beiläufig aber, oder in einer einem zärtlichen Briefe angehängten Nachschrift sagte er: »Es ist notwendig, meine liebe Emma, mit der größten Sparsamkeit zu Werke zu gehen. Die Verschönerungen unseres lieben Merton Place können nur mit Hilfe unserer Ersparnisse in Angriff genommen werden, und unser liebes Merton vor allem.« Und dann setzte er, leider vergebens, hinzu: »Ihr gutes Herz wird mir ganz gewiß recht geben, denn Sie begreifen, daß infolge des Krieges alles sehr teuer ist, daß wir Freunde haben, die unser bedürfen, und die wir unterstützen müssen, und ich bin überzeugt, Sie werden mehr Vergnügen daran finden, diese Pflicht zu erfüllen, als einen Haufen Schmarotzer zu mästen, die keine Freundschaft für uns empfinden.«
Jedesmal, wo ich einen dieser Briefe erhielt, gelobte ich mir feierlich, mich zu bessern. Es dauerte jedoch nicht lange, so stürzte ich mich wieder in neue Ausgaben, welche noch törichter und zweckloser waren als die früheren. Endlich sah Nelson ein, daß meine Unklugheit Horatias Zukunft gefährden könne und daß es notwendig sei, ihr ein unabhängiges Vermögen zu sichern, damit sie nicht später an den Folgen meiner Verschwendung zu leiden habe. Er schrieb mir aus diesem Anlaß im März 1804: »Nach meiner Rückkehr werde ich viertausend Pfund für Horatia deponieren, denn es ist nicht meine Absicht, daß sie mittellos dastehe, wenn wir sie allein und ohne Freunde in dieser Welt zurücklassen.« – Ich besaß ein mächtiges Mittel, um Nelson zu bewegen, sich in alle meine Wünsche zu fügen. Dasselbe bestand darin, daß ich ihn glauben machte, es bewürbe sich irgendein vornehmer Herr um meine Hand. Ganz besonders lenkte ich in dieser Beziehung seine Aufmerksamkeit auf den alten Herzog von Queensbury, der mir auf allen Tritten und Schritten folgte und mir den Hof mit einem Eifer machte, als ob er erst fünfundzwanzig Jahre zählte.
Man hat schon gesehen, daß Nelson, als er einen Brief von der Königin von Neapel erhielt, Anstoß daran genommen hatte, daß sie kein Wort von mir gesagt. Gegen das Ende seiner Fahrten im mittelländischen Meere, und als er sah, welches hartnäckige Schweigen Marie Karoline in bezug auf mich beobachtete, war er genötigt, etwas zuzugeben, was ich meinerseits schon lange geahnt, nämlich daß meine erhabene Freundin, trotz ihrer Beteuerungen ewiger Dankbarkeit an meiner Treue gegen sie und an die Dienste, welche ich ihr geleistet, mir nur ein sehr mäßiges Andenken bewahrt hatte. Er beschloß nun offen mit der Sprache gegen sie herauszugehen, sie von meiner pekuniären Stellung zu unterrichten, und ihr vorstellig zu machen, daß ich bei meinem Hang zur Verschwendung ihres Beistandes und ihrer Unterstützung bedürfe. Die Königin antwortete dann aber allemal sehr kalt oder ausweichend, oder indem sie sich mit der Verwirrung entschuldigte, in welcher sich ihre eigenen Finanzen befänden. Nelson teilte mir, höchst entrüstet darüber, seine Bemerkungen über die Handlungsweise und den Charakter der Königin mit, und ich, da ich nun keine Rücksicht mehr gegen diese treulose Freundin zu nehmen hatte, rächte mich dadurch, daß ich die ziemlich skandalöse Geschichte ihrer Liebschaften erzählte, ohne zu bedenken, daß ich, wenn ich sie gleichzeitig mit Sappho und Messalina verglich, auch auf mich selbst einen Teil der Schande lud, womit ich sie bedecken wollte. Zu jener Zeit bekam ich auch einen peinlichen, höchst ärgerlichen Streit mit Lord Greenville wegen Sir Williams Testament. Lord Greenville hoffte, daß ich mich scheuen würde, ein öffentliches Ärgernis zu geben; als er aber sah, daß ich bereit war, es auf einen Prozeß ankommen zu lassen, schlug er ein Arrangement vor, welches Nelson mich anzunehmen zwang, obschon es zu meinem Nachteil war. Ich verlor von dieser Seite drei- bis viertausend Franks Renten und dabei blieb es. Nelson war mittlerweile nicht mehr auf der Kreuzfahrt vor Toulon, sondern in der Verfolgung der französischen Flotte begriffen, welche ihm zwischen den Händen durchgeschlüpft war. Sie hatte unter den Befehlen des Admirals von Villeneuve Toulon verlassen, um bei Ausführung eines von Napoleon entworfenen weitreichenden Planes mitzuwirken, denn aus Bonaparte war Napoleon, und aus dem ersten Konsul der Kaiser geworden. Dieser Plan, der nur durch von dem Willen der Menschen unabhängige Umstände vereitelt ward, war folgender: Napoleon hatte sein Projekt, eine Landung in England zu versuchen, keineswegs aufgegeben, sondern beschlossen, sämtliche französische Flotten aus den Häfen, wo sie von britischen Kreuzern beobachtet wurden, herauszuziehen, sie dann nach Ostindien zu schicken, auf diese Weise die Engländer nach den Antillen zu locken und dann plötzlich mit einer Streitmacht, welche jedem englischen Geschwader, auf das man stoßen könnte, überlegen wäre, in die europäischen Meere zurückzukehren. Der allgemeine Sammelplatz der Franzosen war die Insel Martinique.
Am 11. Januar hatte der General Missiessy mitten in einem furchtbaren Sturm Rochefort verlassen, die Durchfahrt passiert und auf diese Weise die hohe See erreicht, ohne von den Engländern bemerkt zu werden. Sein Geschwader bestand aus fünf Linienschiffen und vier Fregatten. Der Admiral Villeneuve sollte beim ersten günstigen Wind auslaufen, Nelson zu täuschen versuchen, oder, wenn er ihn nicht täuschte, ihm wenigstens entschlüpfen, die Meerenge von Gibraltar passieren, Cadix anlaufen, hier sich mit dem spanischen Admiral Gravina vereinigen, nach Martinique segeln, wohin ihm Missiessy schon vorausgegangen wäre und hier den Admiral Gantheaume erwarten. Dieser sollte seinerseits bei dem ersten Äquinoktialwinde, welcher die Engländer zwingen würde, sich von den Küsten zu entfernen, mit den einundzwanzig Schiffen, welche er unter seinen Befehlen hatte, Brest verlassen, im Vorüberfahren an den Farörinseln eine anderweite französisch-spanische Flotte unter den Befehlen des Admirals Gourdon mitnehmen und nach dem allgemeinen Sammelplatze steuern. Die Vereinigung von fünf Admirälen und sechs Flotten hätte ungefähr fünfzig bis sechzig Schiffe gegeben, eine ungeheure Seemacht, deren Konzentration noch zu keiner Zeit und auf keinem Meere gesehen worden wäre. Nun hatte, wie ich bereits gesagt, der Admiral Villeneuve in der Nacht vom 30. zum 31. März, den Nordwestwind benützend, ebenso wie der Admiral Missiessy den Sturm benutzt hatte, mit elf Linienschiffen und sechs Fregatten den Hafen von Toulon verlassen. Durch ein Ragusisches Schiff von Nelsons Position unterrichtet, war er nach Carthagena gesteuert und hatte am 9. April die Meerenge passiert. Noch denselben Abend kam er in Sicht von Cadix und vereinigte sich mit dem Admiral Gravina. Gegen zwei Uhr morgens setzten die beiden vereinigten Geschwader ihren Weg weiter fort und am 11. waren sie, nachdem sie der Wachsamkeit des englischen Kreuzers entronnen, auf der hohen See. Nelson hatte alle diese Einzelheiten erst am 16. April erfahren. Gleich darauf hatten sich Westwinde erhoben, die ihn bis zum 30. im Mittelmeere zurückgehalten, und erst am 11. Mai, das heißt gerade einen Monat später als Villeneuve, war er seinerseits in die offene See gelangt. Drei Monate lang erschöpfte er sich in vergeblichen Hin- und Herfahrten und man kann sich denken, bis zu welchem Grade seine Wut gestiegen war. Endlich am 14. August kam er, nachdem er von seinen Schiffen diejenigen, die noch die hohe See halten konnten, in Cornwallis zurückgelassen, mit den andern, welche notwendiger Ausbesserungen bedurften, nach Portsmouth zurück, wo er am 18. desselben Monats vor Anker gegangen war. Ich befand mich damals mit Mistreß Bellington und Horatia in Southend. Sobald ich Nelsons Ankunft erfuhr, beeilte ich mich, nach Merton zurückzukehren, um ihn zu empfangen. Alle seine Freunde kamen ebenso herbeigeeilt, wie die meinigen.
Nun war jeder Tag ein Fest. Das Haus ward nicht leer und die Tafel zählte nie weniger als zwanzig bis fünfundzwanzig Kuverts. Ich führte bei diesen Festen und Diners den Vorsitz und wir, Nelson sowohl als ich, dachten gar nicht mehr daran, über unser vertrautes Verhältnis einen Schleier zu werfen. Im Gegenteile, jedes von uns war stolz darauf und Mylord stellte mir die Gäste vor, als ob ich wirklich Lady Nelson gewesen wäre. Schon am Tage nach seiner Ankunft fügte er in Gemäßheit der in seinen Briefen ausgesprochenen Absichten seinem Testament folgendes Kodizill zu Horatias Gunsten bei: »Ich vermache an Miß Horatia Nelson-Thompson, die am 13. Mai d. J. in dem Kirchspiel St. Marylebone durch den Pfarrer Benjamin Lawrence unter der Assistenz des Küsters John Willock getauft worden, und die ich als meine Adoptivtochter anerkenne, die Summe von viertausend Pfund Sterling, sechs Monate nach meinem Ableben oder, wenn es möglich ist, noch eher zahlbar, und ich ernenne meine teure Freundin Emma, verwitwete Lady Hamilton, zur alleinigen Vormünderin der genannten Horatia Nelson-Thompson. Bis diese das achtzehnte Lebensjahr zurückgelegt hat, sollen die Zinsen der viertausend Pfund Sterling für die Erziehung und den Unterhalt meiner Adoptivtochter an Lady Hamilton gezahlt werden. Ich wünsche, daß nur diese Horatias Erzieherin sei, denn ich bin überzeugt, daß sie ihr die Grundsätze der Tugend und Religion einflößen und ihr alle Eigenschaften, welche sie selbst in so hohem Grade besitzt, mitteilen wird, so daß sie einmal die würdige Gattin meines lieben Neffen Horatio Nelson werden kann, dem ich sie zur Frau bestimme, wenn er ihrer würdig ist, und wenn er nach Lady Hamiltons Ansicht verdient, einen solchen Juwel zu besitzen.« Diesmal rechnete Nelson wirklich darauf, nicht wieder zur See gehen zu müssen. Der Triumphe müde, mit Ruhm gesättigt, mit Ehren überladen und am Körper verstümmelt, trachtete er nach weiter nichts, als nach Einsamkeit und Ruhe. In dieser Hoffnung war er beschäftigt, alle Kostbarkeiten, die er in London besaß, nach Merton schaffen zu lassen. Ich glaubte mich auf diese Weise der Zukunft sicherer als je, als ein plötzlicher Donnerschlag mich aus diesem süßen Traume aufschreckte. Am 2. September, also kaum zwölf Tage nach Nelsons Rückkehr, ward gegen fünf Uhr morgens an unserer Tür gepocht. Nelson, welcher sogleich eine Botschaft von der Admiralität ahnte, sprang aus dem Bett und ging dem frühen Gast entgegen. Es war der Kapitän Henry Blackwood, der in der Tat im Auftrage der Admiralität kam und die Nachricht brachte, daß die vereinigten Flotten von Frankreich und Spanien, welche Nelson so lange vergeblich gesucht, in den Hafen von Cadix eingelaufen seien. Als Nelson den Kapitän erkannte, rief er: »Ich wette, Blackwood, daß Sie mir Kunde von den vereinigten Flotten bringen, und daß man mich beauftragt dieselben zu vernichten.« Es war dies allerdings die Meldung, welche Blackwood brachte, ebenso wie die Vernichtung, welche man von Nelson erwartete.
Alle seine schönen Pläne waren nun mit einem Male zerronnen. Er sah nun nichts weiter, als jenen kleinen Winkel Land oder vielmehr See, wo sich die vereinigten Flotten befanden. Freudestrahlend sagte er mit jenem Vertrauen, welches ihm seine früheren Siege einflößten, mehrmals hintereinander zu Blackwood: »Seien Sie überzeugt, lieber Freund, daß ich Villeneuve eine Lektion geben werde, die er sobald nicht vergißt.« Seine Absicht war anfangs gewesen, nach London zu gehen und alle für diese Expedition notwendigen Anstalten zu treffen, ohne mir von dem ihm erteilten neuen Auftrage etwas zu sagen. Da ich aber fast gleichzeitig mit ihm aufgestanden war und nach seiner Unterredung mit Blackwood recht wohl bemerkte, daß ihm etwas im Kopfe herumging, so führte ich ihn in einen Teil des Gartens, welchen er allen übrigen vorzog und seine Quartierbank nannte. »Was fehlt Ihnen, mein Freund?« fragte ich. »Sie werden von etwas beunruhigt, was Sie mir nicht sagen wollen.« Er zwang sich zu lächeln. »Ach,« antwortete er, »ich bin der glücklichste Mensch von der Welt. Was könnte ich auch in der Tat weiter wünschen? Reich in deiner Liebe, umgeben von meiner Familie, in der Tat, ich würde nicht sechs Pence darum geben, daß der König mein Onkel wäre.« Ich unterbrach ihn. »Ich kenne Sie, Nelson,« sagte ich, »und Sie würden vergebens versuchen, mich zu täuschen. Sie wissen jetzt, wo Sie die vereinigten Flotten zu suchen haben; Sie betrachten dieselben im voraus als Ihre Beute, und Sie wären der unglücklichste aller Menschen, wenn ein anderer als Sie diese Flotten vernichtete.« Nelson sah mich an, wie um mich zu befragen. »Wohlan, mein Freund,« hob ich wieder an, »vernichten Sie diese Flotten! Beenden Sie das, was Sie so gut begonnen. Diese Vernichtung wird der Lohn der zweijährigen Mühen sein, welche Sie soeben überstanden.« Nelson sah mich immer noch an; obschon er aber schwieg, so gewann doch sein Gesicht einen unaussprechlichen Ausdruck von Dankbarkeit. Ich fuhr fort: »Wie groß für mich auch der Schmerz Ihrer Abwesenheit sein möge, so bieten Sie doch, wie Sie immer getan, Ihre Dienste dem Vaterlande und gehen Sie sofort nach Cadix. Diese Dienste werden mit Dankbarkeit angenommen werden und Ihr Herz wird darin seine Ruhe wiederfinden. Sie werden einen letzten glänzenden Sieg erfechten und zurückkehren, glücklich, hier Ruhe im Verein mit Ehre und Würde zu finden.«
Nelson sah mich noch einige Sekunden lang schweigend an, dann rief er, während ihm die Tränen in die Augen traten: »Wackere Emma! Gute Emma! Ja, du hast in meinem Herzen gelesen, ja, du bist in meine Gedanken eingedrungen. Wenn es auf der Welt keine Emma mehr gäbe, so würde es auch keinen Nelson mehr geben. Du hast mich zu dem gemacht, was ich bin. Noch heute gehe ich nach London.« In der Tat reisten wir zwei Stunden später mit seinen Schwestern nach London ab. Nelson ließ uns in seinem Hause in Clergystreet und begab sich auf die Admiralität. Der durch den Telegraphen herbeigerufene »Victory« erschien noch denselben Abend in der Themse, und schon am nächstfolgenden Morgen traf man alle Anstalten zum Aufbruch. Dennoch blieben wir noch zehn Tage beisammen, obschon Nelson die fünf letzten fast ausschließlich auf der Admiralität zubrachte. Am 11. machten wir unserem lieben Merton Place einen letzten Besuch. Wie sehr ich mich auch zu bezwingen suchte, so konnte ich doch, sobald ich mich einen Augenblick allein sah, nicht umhin zu weinen. Den ganzen Tag des 12. blieben wir miteinander allein in Merton und übernachteten auch hier. Eine Stunde vor Tagesanbruch erhob sich Nelson, ging in das Zimmer seiner Tochter, neigte sich über ihr Bett und betete lautlos, aber mit großer Inbrunst und Tränen vergießend.
Er war sehr religiös.
Um sieben Uhr Morgens nahm er Abschied von mir. Ich geleitete ihn bis an seinen Wagen und er drückte mich lange und innig an sein Herz. Meine Tränen flossen unaufhaltsam, dennoch versuchte ich dabei zu lächeln, indem ich sagte: »Schlagen Sie sich nicht eher, als bis Sie den kleinen Vogel wieder gesehen haben.« Dies waren die letzten Worte, die ich an ihn richtete. Der Wagen rollte davon. Als er um die Ecke bog, winkte Nelson mir noch einmal zu. Ich sah ihn nicht wieder. Am nächstfolgenden Tage, sechs Uhr morgens, langte er in Portsmouth an und am 15. September stach er in See. Das Wetter war aber so ungünstig, daß der »Victory«, wie eilig er es auch hatte, zwei ganze Tage in Sicht der britischen Küste blieb. Diese Verzögerung gestattete Nelson, mir, ehe es weiter ging, noch zwei Billetts zuzusenden, welche die lebhafteste Zärtlichkeit für seine Tochter und mich atmeten, aus welchen aber schon einige bange Ahnungen hervorzublicken begannen. Endlich, nachdem der Wind günstig geworden, konnte Nelson den Kanal verlassen, und am 20. September, um sechs Uhr nachmittags, stieß er mit vollen Segeln zu der Flotte von Cadix, welche aus dreiundzwanzig Reserveschiffen unter dem Kommando des Vizeadmirals Collingwood bestand. Gerade an diesem Tage vollendete Nelson sein sechsundvierzigstes Lebensjahr. Am ersten Oktober gab er mir durch folgenden Brief Nachricht von seiner Vereinigung mit dem Admiral Collingwood und von einem nervösen Anfall, an welchem er gelitten. Diese Anfälle, mit welchen er behaftet war, hatten große Ähnlichkeit mit epileptischen Anwandlungen, so heftig waren sie. ›Victory‹, am 1. Oktober 1805. Meine innigstgeliebte Emma! – Es ist ein großer Trost für mich, die Feder zur Hand zu nehmen, und Dir eine Zeile zu schreiben, denn ich habe heute morgen einen meiner schmerzhaften Krampfanfälle gehabt, der mich vollständig entnervt hat. Ich glaube, einer dieser Anfälle wird früher oder später mein Tod sein. Indessen jetzt ist es vollständig vorüber und es ist mir von meinem Unwohlsein nichts zurückgeblieben, als sehr große Schwäche. Ich hatte gestern sieben Stunden lang geschrieben, und diese Anstrengung hat wahrscheinlich den Anfall herbeigeführt. Ziemlich spät abends am 20. September erreichte ich die Flotte, konnte aber erst am nächstfolgenden Morgen mit ihr verkehren. Ich glaube, meine Ankunft ist nicht bloß dem Kommandanten, sondern auch der ganzen Mannschaft willkommen. Als ich den Offizieren meinen Schlachtplan vorlegte, erschien ihnen derselbe wie eine Offenbarung, bei der sie ihre Begeisterung kaum zu mäßigen vermochten. Einige brachen geradezu in Tränen aus. Die Sache war neu und originell und dennoch einfach. Wenn man diesen Plan auf die französische Flotte in Anwendung bringen kann, so ist der Sieg sicher. »Sie sind von Freunden umgeben, welche volles Vertrauen zu Ihnen haben,« riefen mir alle diese Offiziere zu. Es ist möglich, daß auch ein Judas unter ihnen steckt, die Mehrzahl aber ist sicherlich sehr glücklich darüber, daß ich sie kommandiere. Soeben habe ich Briefe von der Königin und dem König von Neapel erhalten, wodurch meine Briefe vom 18. Juli und 12. Juli beantwortet wurden. Kein Wort für Dich! In der Tat, dieser König und diese Königin würden selbst die Undankbarkeit erröten machen. Ich füge die Abschrift dieser Briefe dem meinigen bei, welcher mit der ersten Gelegenheit nach England abgehen und Dir sagen wird, wie sehr ich Dich liebe. Der kleine Vogel hat sich noch nicht sehen lassen, aber es ist noch nichts versäumt. Mein verstümmelter Körper ist hier, aber mein Herz ist bei Dir.
H. Nelson.«
An demselben Tage, dem 20. September, wo Nelson seine Vereinigung mit Collingwoods Flotte bewirkte, empfing der Admiral von Villeneuve von seiner Regierung den Befehl, in See zu stechen, die Meerenge zu passieren, Truppen auf die Küsten von Neapel zu werfen und nachdem er das mittelländische Meer von den englischen Schiffen gesäubert, in den Hafen von Toulon zurückzukehren. Die vereinigte Flotte bestand aus dreiunddreißig Linienschiffen, achtzehn französischen und fünfzehn spanischen. Sie begann sich, von einer leichten Brise getrieben, Sonnabend am 19. Oktober, um sieben Uhr morgens, zu zeigen. Am Nachmittage desselben Tages, als die Schlacht nahe bevorzustehen schien, schrieb Nelson an mich und an das arme Kind, welches nun bald verwaist dastehen sollte, die zwei folgenden Briefe, die man nach seinem Tode in seinem Pult fand, und welche mir später der Kapitän Hardy überbrachte: »Meine teure, vielgeliebte Emma! – Soeben geht die Nachricht ein, daß die feindliche Flotte den Hafen verläßt. Wir haben sehr wenig Wind, so daß ich nicht hoffen kann, vor morgen mit ihr zusammenzutreffen. Möge der Gott der Schlachten meine Bemühungen mit glücklichem Erfolge krönen. Auf alle Fälle bin ich, mag ich siegen oder fallen, überzeugt, daß mein Name dadurch Dir und Horatia, welche ich mehr liebe als mein eigenes Leben, nur um so teurer werden wird. Bete für deinen Freund.
Nelson.«
An Horatia schrieb er: »Victory, 19. Oktober 1805. Mein teurer Engel! Ich bin, nachdem ich Dein liebes Briefchen vom 19. September erhalten, der glücklichste Mensch von der Welt. Es macht mir großes Vergnügen, zu wissen, daß Du ein gutes Mädchen bist, und daß Du meine teure Lady Hamilton liebst, welche Dich ihrerseits anbetet. Gib ihr einen Kuß für mich. Die vereinigte Flotte des Feindes läuft, wie man mir meldet, von Cadix aus. Deshalb beeile ich mich, Deinen Brief zu beantworten, meine teure Horatia, um Dir zu sagen, daß Du fortwährend der Gegenstand meiner Gedanken bist. Ich bin überzeugt, daß Du für mein Wohlergehen, für meinen Ruhm und für meine baldige Rückkehr betest. Empfange, mein Kind, den Segen Deines Dich liebenden Vaters
Nelson.«
Am nächstfolgenden Tage fügte er meinem Briefe noch die Nachricht hinzu: »20. Oktober, morgens. Wir langen eben an den Ausmündungen der Meerenge an. Man sagt mir, man sehe in der Ferne vierzig Segel. Ich glaube, es sind dreiunddreißig Linienschiffe und sieben Fregatten, da der Wind aber sehr kalt ist und das Meer sehr hoch geht, so glaube ich, sie werden noch vor Einbruch der Nacht in den Hafen zurückkehren.«
Endlich, in dem Augenblicke, wo er die vereinigte Flotte erblickte, schrieb er in sein eigenes Tagebuch: »Möge der große Gott, vor welchem ich anbetend niedersinke, England im allgemeinen Interesse des unterdrückten Europas einen großen und ruhmreichen Sieg verleihen, und möge er auch gestatten, daß dieser Sieg durch keinen Fehler von seiten derer, welche kämpfen und triumphieren werden, verdunkelt werde. Was mich persönlich betrifft, so befehle ich mein Leben in die Hände dessen, der es mir gegeben. Möge der Herr des Himmels die Anstrengungen segnen, die ich machen werde, um meinem Vaterland treu zu dienen. Ich stelle ihm allein die heilige Sache anheim, zu deren Verteidiger er mich heute, in seiner Gnade berufen hat. Amen! Amen! Amen!«
Nach diesem Gebet, in welchem man jenes Gemisch von Mystizismus und Enthusiasmus findet, welches in gewissen Augenblicken unter der rauhen Schale des Seemannes hindurchblickt, schrieb er noch folgendes Todestestament: »Am 21. Oktober 1805 in Sicht der ungefähr noch zehn Meilen von uns entfernten vereinigten Flotten von Frankreich und Spanien. In Erwägung, daß die ausgezeichneten Dienste, welche von Emma Lyonna, Sir William Hamiltons Witwe, dem König und der Nation geleistet worden, niemals eine Belohnung, weder vom König noch von der Nation empfangen haben, erinnere ich hier namentlich daran: 1. Daß Lady Hamilton im Jahre 1799 die Mitteilung eines Briefes des Königs von Spanien an seinen Bruder, den König von Neapel erlangt hat, in welchem ersterer letzteren von seiner Absicht, England den Krieg zu erklären, in Kenntnis setzte, und daß, durch diesen Brief gewarnt, der Minister an Sir John Jervis den Befehl schicken konnte, sich, wenn sich die Gelegenheit dazu darböte, auf die spanischen Arsenale und auf die spanische Flotte zu werfen, und doch, wenn keines von beiden geschehen, dies nicht Lady Hamiltons Schuld ist. 2. Daß die unter meinem Befehl stehende britische Flotte nicht zum zweiten Male nach Egypten hätte zurückkehren können, wenn nicht durch Lady Hamiltons Einfluß auf die Königin von Neapel dem Gouverneur von Syrakus Befehl gegeben worden wäre, der Flotte zu erlauben, sich in den Häfen von Sizilien mit allem zu versehen, was sie brauchte, und daß ich auf diese Weise alles erlangte, was ich bedurfte, und in den Stand gesetzt ward, die französische Flotte zu vernichten. In Anbetracht alles dessen überlasse ich meinem König und meinem Vaterland die Sorge, diese Dienste zu belohnen, und Lady Hamiltons Zukunft in freigebiger Weise sicherzustellen. Ebenso vertraue ich auch dem Wohlwollen der Nation meine Adoptivtochter, Horatia Nelson-Thompson, und wünsche, daß sie fortan den Namen Nelson trage. Dies sind die einzigen Begünstigungen, welche ich von dem König und von England in dem Augenblicke erlange, wo ich im Begriff stehe, für beide mein Leben aufs Spiel zu setzen. Gott segne meinen König und mein Vaterland und alle, die mir teuer sind.
Nelson.«
Alle diese Vorsichtsmaßregeln, welche Nelson traf, um meine Zukunft sicherzustellen, sind Beweise, daß er von Todesahnungen verfolgt ward. Um den Urkunden, die er seinem Tagebuch einverleibt, noch mehr Gültigkeit zu geben, rief er seinen Flaggenkapitän Hardy und den Kapitän Blackwood vom »Euryalus«, denselben, der ihn in Merton aufgesucht, und ließ von ihnen beiden das Geschriebene als Zeugen mit unterschreiben. In der Tat finden sich ihre beiden Namen auch in dem Tagebuch neben dem Nelsons.
Mittlerweile näherten sich die beiden Flotten einander. In diesem feierlichen Augenblicke, welcher einem der furchtbarsten Kämpfe voranging, deren Schauplatz jemals das Meer gewesen, gab jeder Kommandant seinen Tagesbefehl. Der französische Admiral sagte zu seinen Kapitänen: »Man darf nicht auf die Signale des Admirals warten, die in der Verwirrung des Kampfes nicht gesehen werden können. Es muß vielmehr ein jeder auf die Stimme der Ehre hören und sich dahin begeben, wo die Gefahr am größten ist. Jeder Kapitän ist auf seinem Posten, wenn er im Feuer ist.« Von Seiten der Engländer waren aller Augen auf das Admiralsschiff geheftet, um den Tagesbefehl zu lesen, der an Bord des verbündeten Geschwaders schon verteilt war. Es dauerte nicht lange, so sah man an der Spitze des großen Mastes des »Victory« einen Zettel, auf welchem die lakonische Anrede geschrieben stand: »England erwartet, daß ein jeder seine Pflicht tue.«
Nelsons guter Genius, der kleine glückverkündende Vogel, war nicht zum Vorschein gekommen. Und nun verleihe Gott mir Kraft, zu schreiben, was mir noch zu erzählen übrig bleibt. Es war ein Uhr nachmittags und man befand sich auf der Höhe des Kaps Trafalgar, als das Feuer begann. Nelson trug einen blauen Rock und auf der Brust den Bath-Orden, den Ferdinands-Orden, den Verdienst-Orden, den Joachims-Orden, das Maltheserkreuz und den ottomanischen Halbmond. Diese Dekorationen mußten ihn natürlich zum Zielpunkt aller Schüsse machen und der Kapitän Hardy wollte ihm durchaus einen andern Rock anziehen. »Es ist zu spät,« sagte Nelson. »Man hat mich nun schon in diesem gesehen.« Der Kampf war furchtbar und vier Schiffe, der »Victory«, der »Formidable«, der »Bucentaurus« und der »Téméraire« schossen aus nächster Nähe auf einander. Der erste Mann, der an Bord des »Victory« fiel, war Nelsons Sekretär. Er ward von einer Kugel zerrissen, während er mit dem Kapitän Hardy sprach. Da Nelson diesen jungen Mann sehr liebte, so ließ Hardy seine Leiche sofort beseitigen, damit ihr Anblick den Admiral nicht betrüben möchte. Beinahe in demselben Augenblicke warfen zwei Kettenkugeln acht Mann, mitten durchgerissen, auf das Deck herab, »O, o,« sagte Nelson, »dieses Feuer ist zu lebhaft, als daß es lange dauern könnte.«
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so schnitt der Luftdruck einer an seinem Munde vorüberfliegenden Kanonenkugel ihm den Atem ab, so daß er beinahe erstickt wäre. Er klammerte sich an die Arme eines seiner Leutnants, taumelte eine Minute mühsam nach Luft schnappend hin und her und sagte dann, sich wieder ermannend: »Es ist nichts, es ist nichts!« Dieses Feuer hatte ungefähr seit zwanzig Minuten gedauert, als Nelson plötzlich wie vom Blitze getroffen auf das Deck niederstürzte. Es war genau ein Viertel auf zwei. Eine aus dem Besanmastkorbe des »Formidable« abgefeuerte Kugel hatte ihn von oben getroffen, war, ohne durch die Epaulette matt gemacht zu werden, durch die linke Schulter gegangen und hatte das Rückgrat zerschmettert. Er stand gerade an derselben Stelle, wo sein Sekretär getroffen worden, und stürzte mit dem Gesichte in dessen Blut. Er versuchte, auf die linke Hand gestützt, sich wieder auf ein Knie emporzurichten. Hardy, der nur zwei Schritte von ihm entfernt stand, sprang hinzu und stellte ihn, von zwei Matrosen und dem Sergeant Seeter unterstützt, wieder auf die Füße. »Ich hoffe, Mylord,« sagte er, »daß Sie nicht gefährlich verwundet sind.« Nelson aber antwortete: »Diesmal, Hardy, hat man mir den Rest gegeben.« – »O, das will ich nicht hoffen!« rief der Kapitän. – »Dennoch ist es so,« sagte Nelson. »An der Erschütterung meines ganzen Körpers fühle ich, daß das Rückgrat getroffen ist.«
Hardy gab sogleich Befehl, den Admiral nach dem Posten der Verwundeten zu tragen. Während die Matrosen ihn dorthin trugen, bemerkte er, daß die Taue, mittels deren man das Steuerruder handhabt, durch den Kugelhagel zerrissen waren. Er machte den Kapitän Hardy darauf aufmerksam und befahl einem Kadetten, die zerrissenen Taue durch neue zu ersetzen. Nachdem er diese Befehle erteilt, zog er sein Tuch aus der Tasche und bedeckte sich Gesicht und Orden, damit die Matrosen ihn nicht erkennen möchten und soviel als möglich niemand erfahre, daß er verwundet sei. Als man ihn in das Zwischendeck hinabgeschafft hatte, kam Mr. Beatty, der Schiffschirurg, herbeigeeilt, um ihm Beistand zu leisten. »Ach, mein Lieber Beatty,« sagte Nelson, »wie groß auch Ihre Wissenschaft sei, so können Sie doch jetzt nichts mehr für mich tun. Das Rückgrat ist mir zerschossen.« – »Ich hoffe, daß, die Wunde nicht so schwer sei, wie Sie glauben, Mylord,« sagte der Wundarzt. In diesem Augenblicke näherte sich Mr. Scott, der Schiffskaplan. Der Admiral erkannte ihn und rief mit vor Schmerz bebender, aber dennoch kräftiger Stimmt: »Ehrwürdiger Herr, grüßen Sie Lady Hamilton grüßen Sie Horatia, grüßen Sie alle meine Freunde von mir. Sagen Sie ihnen, daß ich mein Testament gemacht, und daß ich meinem Vaterland aufgetragen, für Lady Hamilton und meine Tochter Horatia zu sorgen. Merken Sie wohl, was ich Ihnen in dieser Stunde sage, und vergessen Sie es niemals.«
Nelson ward auf ein Bett getragen. Mit großer Mühe zog man ihm seinen Rock aus und bedeckte ihn mit einem Tuche. Während man auf diese Weise mit ihm beschäftigt war, sagte er zu dem Kaplan: »Doktor, ich bin verloren! Doktor, ich bin ein Kind des Todes!« Der Arzt untersuchte die Wunde. Er versicherte Nelson, daß er sie sondieren könne, ohne ihm großen Schmerz zu verursachen. Er sondierte sie auch wirklich und ermittelte, daß die Kugel in die Brust eingedrungen und im Rückgrat steckengeblieben war. »Ich bin überzeugt,« sagte Nelson, während man ihn sondierte, »daß die Kugel durch und durch gegangen ist.« Der Arzt untersuchte den Rücken, derselbe war unversehrt. »Sie irren sich Mylord,« sagte er. »Versuchen Sie aber, mir zu erklären, was Sie empfinden.« – »Es ist mir,« antwortete der Verwundete, »als ob mit jedem Atemzuge ein Blutstrom in mir aufstiege. Der untere Teil meines Körpers ist schon wie tot. Ich atme nur mit Mühe, und obschon Sie das Gegenteil sagen, so behaupte ich doch, daß das Rückgrat entzwei ist.« Diese Symptome verrieten dem Arzt, daß keine Hoffnung auf Rettung mehr möglich sei; dennoch wußte davon, daß die Wunde tödlich war, niemand an Bord etwas als der Arzt, der Kapitän Hardy, der Kaplan und die beiden Hilfschirurgen.
Die Tränen treten mir in die Augen und hindern mich weiter zu schreiben. In den neun Jahren, welche seit diesem Ereignis vergangen sind, habe ich diesen ruhmreichen Tod oft in allen seinen Einzelheiten erzählt, aber es ist jetzt das erste Mal, daß ich ihn niederschreibe. Ich werde fortfahren, sobald ich mich wieder stark genug fühle.
Versuchen wir ans Ende zu gelangen. Jedesmal, wenn ein französisches Schiff die Flagge strich, erhob die Mannschaft des »Victory« ein lautes Hurra und bei jedem dieser Hurras fragte Nelson, seine Wunde vergessend, begierig: »Was gibt es?« Man unterrichtete ihn dann von der Ursache des Rufes und der Verwundete gab darüber die größte Freude zu erkennen. Er litt brennenden Durst, verlangte oft zu trinken und bat, daß man ihm mit einem Fächer von Papier Kühlung zufächele. Da er den Kapitän Hardy zärtlich liebte, so hörte er nicht auf, Befürchtungen für das Leben dieses Offiziers kund zu geben. Der Kaplan und der Arzt beruhigten ihn über diesen Punkt, oder suchten ihn vielmehr zu beruhigen. Sie schickten dem Kapitän Hardy Botschaft über Botschaft, um ihm zu sagen, daß der Admiral ihn zu sehen wünsche, und der Verwundete, der ihn gleichwohl nicht kommen sah, rief in seiner Ungeduld: »Sie wollen Hardy nicht kommen lassen. Gewiß ist er tot!« Endlich, eine Stunde zehn Minuten, nachdem Nelson verwundet worden, kam der Kapitän Hardy in das Zwischendeck hinunter. Als der Admiral ihn erblickte, stieß er einen Freudenruf aus, drückte ihm liebreich die Hand und sagte: »Nun, Hardy, wie geht der Kampf? Wie stehen die Aussichten für uns?« – »Gut, sehr gut, Mylord,« antwortete der Kapitän, »wir haben schon zwölf Schiffe genommen.« – »Ich hoffe doch, daß keins von den unsrigen die Flagge gestrichen hat?« – »Nein, Mylord, keins.« – Nun in dieser Hinsicht beruhigt, kam Nelson wieder auf sich selbst zurück und sagte seufzend: »Ich bin ein Kind des Todes, Hardy, und es geht rasch mit mir zu Ende. Bald wird alles aus sein. Treten Sie näher, mein Freund.« Dann hob er im leisem Tone wieder an: »Ich bitte Sie um eins, Hardy. Wenn ich tot bin, so schneiden Sie mir das Haar für meine teure Lady Hamilton ab und geben Sie ihr alles, was mir gehört haben wird –« »Ich habe soeben mit dem Arzte gesprochen,« unterbrach Hardy. »Er hat die beste Hoffnung, Sie am Leben zu erhalten.« – »Nein, Hardy, nein,« entgegnete Nelson, »versucht nicht, mich zu täuschen. Mein Rückgrat ist entzwei.« – Die Pflicht rief Hardy wieder auf das Deck und er ging hinauf, nachdem er dem Verwundeten die Hand gedrückt. Nelson verlangte wieder nach dem Arzte. Dieser war bei dem Leutnant William Rivers, dem eine Kugel das eine Bein weggerissen, beschäftigt. Nichtsdestoweniger kam er herbeigeeilt, nachdem er seinen Gehilfen aufgetragen, den Verband vollends anzulegen. »Ich wollte bloß hören, wie es mit meinem unglücklichen Kameraden stünde,« sagte Nelson. »Was mich betrifft, Doktor, so bedarf ich Ihrer nicht mehr. Gehen Sie, gehen Sie; ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich in dem untern Teile meines Körpers schon alle Empfindung verloren habe und Sie wissen recht wohl, daß man unter solchen Umständen nicht lange mehr leben kann.« Die hier unterstrichenen Worte ließen dem Arzte über Lord Nelsons Absicht keinen Zweifel. Er spielte damit auf einen armen Teufel an, der vor einigen Monaten an Bord des »Victory« eine Wunde unter ähnlichen Umständen wie die Nelsons davongetragen, und er hatte bei diesem Unglücklichen die Annäherung des Todes mit derselben Neugier verfolgt, als ob er erraten hätte, daß derselbe Tod auch seiner harre. Der Arzt sagte hierauf zu Nelson:
»Mylord, gestatten Sie mir, Sie zu betasten.«
Und er begann Nelsons untere Extremitäten zu berühren, welche schon des Gefühls beraubt und gleichsam tot waren.
»O,« hob Nelson wieder an, »ich weiß recht wohl, was ich sage. Scott und Burke haben mich auch schon so berührt und ich habe dieselben ebensowenig gefühlt, als ich Sie fühle. Ich sterbe, Beatty, ich sterbe.«
»Mylord,« entgegnete der Arzt, »allerdings, ich kann nichts mehr für Sie tun.« Und indem er diese letzte entscheidende Erklärung gab, drehte er sich herum, um seine Tränen zu verbergen. »Ich wußte es wohl,« sagte Nelson. »Ich fühle, wie mir etwas in der Brust aufsteigt.« Und er legte die Hand auf den Punkt, den er meinte. »Gott sei Dank,« murmelte er; »ich habe meine Pflicht getan.« Da der Arzt dem Admiral keine Linderung bringen konnte so ging er, um seine Fürsorge anderen Verwundeten zuzuwenden; fast in demselben Augenblicke kam aber der Kapitän Hardy zurück, der, bevor er das Deck zum zweiten Mal verlassen, den Leutnant Hills abgesendet hatte, um den Admiral Collingwood von der betrübenden Neuigkeit in Kenntnis zu setzen. Hardy wünschte Nelson Glück, daß er, obschon bereits in den Armen des Todes, einen vollständigen und entscheidenden Sieg davongetragen, und meldete ihm, daß, soviel er beurteilen könne, fünfzehn französische Schiffe sich in diesem Augenblicke in der Gewalt der englischen Flotte befanden.
»Ich hätte gewettet, es wären zwanzig!« sagte Nelson. Plötzlich erinnerte er sich der Richtung des Windes, und der von ihm beobachteten Symptome des herannahenden Sturmes. »Lassen Sie den Anker werfen, Hardy, lassen Sie den Anker werfen,« sagte er. – «Ich glaube,« antwortete der Flaggenkapitän, »Admiral Collingwood wird das Kommando der Flotte übernehmen.« – »Nein, wenigstens nicht so lange ich lebe,« sagte der Verwundete, indem er sich auf den Ellbogen emporrichtete.«Hardy, ich sage Ihnen, Sie sollen den Anker werfen! Ich will es!« – »Ich werde sogleich Befehl dazu erteilen, Mylord.« – »Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, so tun Sie es, und zwar binnen fünf Minuten.« – Dann setzte er leise und als ob er sich dieser Schwäche schämte, hinzu: »Hardy, nicht wahr, Sie werden meine Leiche nicht in das Meer werfen?« – »O, gewiß nicht, Mylord! In dieser Beziehung können Sie unbesorgt sein,« antwortete Hardy schluchzend. – »Sorgen Sie für die arme Lady Hamilton,« sagte Nelson mit immer matter werdendem Tone; »für meine arme Lady Hamilton. Küssen Sie mich, Hardy!« – Der Kapitän küßte ihn weinend auf die Wange.
»Ich sterbe zufrieden,« sagte Nelson. »England ist gerettet.«
Der Kapitän Hardy blieb noch einen Augenblick in stummer Betrachtung neben dem sterbenden Helden stehen, kniete dann nieder und küßte ihn auf die Stirn.
»Wer küßt mich?« fragte Nelson, dessen Auge schon von der Nacht des Todes umflort zu werden begann.
Der Kapitän antwortete: »Ich bin es – Hardy.«
»Gott segne Sie, mein Freund,« sagte der Sterbende.
Hardy ging wieder auf das Deck hinauf. Nelson, der den neben ihm stehenden Kaplan erkannte, sagte hierauf zu ihm: »Ach, ehrwürdiger Herr, ein hartnäckiger Sünder bin ich niemals gewesen.« Dann nach einer Pause setzte er hinzu: »Ich bitte Sie, vergessen Sie nicht, daß ich Lady Hamilton und meine Tochter Horatia Nelson meinem Vaterland und meinem König als Erbteil hinterlassen habe. Vergessen Sie niemals Horatia.« Sein Durst ward immer größer. Er rief: »Trinken! – Trinken! – Den Fächer! – Schafft mir Luft! – Reiben Sie mich!«
Diese letzte Aufforderung war an den Kaplan Mr. Scott gerichtet, der dem Sterbenden dadurch einige Erleichterung verschafft, daß er ihm die Brust mit der Hand rieb. Er sprach jedoch diese Worte mit gebrochener Stimme, welche gesteigerte Schmerzen verriet, so daß er alle seine Kräfte zusammenraffen mußte, um noch ein letztes Mal sagen zu können: »Gott sei Dank, ich habe meine Pflicht getan.« Nun erst hörte Nelson auf zu sprechen. War es Schwäche? War es die letzte Ohnmacht? Wie dem auch sein mochte, so richteten der Kaplan und Mr. Burke mit Hilfe von Kissen ihn auf und erhielten ihn in einer weniger schmerzlichen Position. Sie respektierten diese Todesstille und hörten selbst auf zu sprechen, um nicht den Sterbenden in seinem letzten Augenblicke zu stören. Der Arzt kam zurück. Nelsons Intendant war zu ihm gegangen, um ihm zu sagen, daß sein Herr im Begriff stehe, den Geist aufzugeben. Mr. Beatty ergriff die Hand des Sterbenden; sie war kalt. Er fühlte ihm an den Puls, dieser schlug nicht mehr; dann berührte er ihn an der Stirn. Nelson schlug sein einziges Auge auf und schloß es sofort wieder. Der Arzt verließ ihn, um sich zu andern Verwundeten zu begeben, welchen seine Fürsorge nützlich sein konnte. Kaum aber hatte er sich entfernt, so rief der Intendant ihn zurück und sagte: »Mylord ist tot!« Mr. Beatty eilte sogleich wieder zu ihm. Nelson hatte in der Tat den letzten Seufzer ausgehaucht. Es war vier Uhr zwanzig Minuten. Er hatte sonach von dem Augenblick an, wo er die Wunde empfangen, noch drei Stunden und zweiunddreißig Minuten gelebt. Indem ich Nelson verlor, hatte ich alles verloren.
Ich brauche nicht erst die Trauer zu schildern, von welcher bei der Kunde von Nelsons Tod die ganze englische Flotte ergriffen ward. Man vergaß darüber beinahe den gewonnenen Sieg. Hardys erste Sorge war, dem Arzt den von Nelson ausgesprochenen Wunsch mitzuteilen, daß man ihn nicht in das Meer werfen, sondern in sein Vaterland zurückführen möge. Am Tage nach der Schlacht, als die Umstände gestatteten, sich mit der Fürsorge zu beschäftigen, welche man Nelsons sterblichen Überresten zu widmen hatte, sann man auf ein Mittel, durch welches man die Verwesung der Leiche verhindern könnte. Natürlich mußte man sich zu diesem Zwecke der Hilfsmittel bedienen, welche an Bord des »Victory« zu haben waren. Man hatte nicht genug Blei, um einen Sarg zu fertigen. Deshalb nahm man die größte Tonne, die man finden konnte, legte die Leiche hinein und füllte das Gefäß dann mit Rum. Noch am Abend des Tages, wo diese traurige Verrichtung geschehen, erhob sich, wie Nelson vorausgesehen, ein furchtbarer Sturm aus Südwest. Derselbe dauerte die ganze Nacht ununterbrochen, es ward Tag und der Sturm wütete bis zum Abend mit derselben Heftigkeit. Während dieser vierundzwanzig Stunden blieb Nelsons Leiche im Zwischendecke unter der Obhut einer Schildwache. Plötzlich aber sprang der Deckel der Tonne mit einem Getöse, welches dem eines Musketenschusses glich, auf. Die Ursache war der Druck der Gase, die sich aus der Leiche entwickelt hatten. Man schloß die Tonne wieder, brachte aber, um einer Wiederholung dieser Explosion vorzubeugen, eine Öffnung im Deckel an. Als man in Gibraltar ankam, ersetzte man den Rum durch Weingeist. Am Nachmittag des 3. November lichtete die »Victory« den Anker, verließ die Bai von Gibraltar, passierte die Meerenge und fand vor Cadix das Geschwader unter dem Kommando des Admirals Collingwood wieder. Noch denselben Abend setzte das Trauerschiff seinen Weg nach England weiter fort und kam nach einer Fahrt von beinahe fünf Wochen in Epithead an. Die Nachricht von der gewonnenen Schlacht und von Nelsons Tod war jedoch in London schon seit dem 7. November bekannt. Ich erfuhr sie ganz einfach durch einen Brief von Nelsons Bruder, welcher, ohne Zweifel bloß mit dem Gedanken beschäftigt, daß er infolge dieses Todesfalls nun Lord und Pair ward, nicht Zeit fand, mich mündlich zu benachrichtigen. Ich befand mich in meinem Haus in London, als ich diese Kunde erhielt. Der Doktor Nelson sagte mir nicht, aus welcher Quelle er sie hatte und ich zweifelte daher noch. Ich nahm Horatia in meine Arme, ich ließ den Wagen anspannen und fuhr sofort nach der Admiralität. Ich brauchte aber nicht einmal erst hineinzugehen, um die Überzeugung zu gewinnen, daß die Nachricht in völliger Wahrheit beruhte. Alle Welt kannte bereits den Sieg sowohl als auch den Preis, um welchen er erkauft worden war.
Am 4. Dezember, am Vorabende des zum Dankgottesdienste bestimmten Tages, kam die »Victory« in St. Helens an und entfaltete zum Zeichen der Trauer Nelsons Fahne auf halber Masthöhe. Sämtliche in Spithead liegenden Schiffe senkten sofort ihre Flaggen in derselben Weise. Denselben Tag sendete der wackere Kapitän Hardy in treuer Vollstreckung der ihm von Nelson erteilten Instruktionen einen Kurier, der mir den an mich adressierten Briefs sowie den an Horatia gerichteten zustellte. In einem besonderen Briefe schrieb mir der Kapitän, er habe mir vielerlei besondere Mitteilungen zu machen und eine Menge Kostbarkeiten zu übergeben, könne aber sein Schiff nicht verlassen. Deshalb forderte er mich auf, Postpferde zu nehmen und nach St. Helens zu kommen; wo er mit mir konferieren könne. Ich reiste sofort ab und langte am 5. morgens an. Der vortreffliche Freund kam nun ans Land und brachte den ganzen Tag bei mir zu. Als ich ihm hierauf den Wunsch zu erkennen gab, Mr. Scott, den Kaplan, und Mr. Beatty, den Arzt, zu sehen, ließ er dieselben holen und ich berauschte mich in meinem Schmerze, indem ich von ihnen Nelsons letzte Augenblicke in allen ihren Einzelheiten schildern hörte. Am nächstfolgenden Tage gab mir Kapitän Hardy einen guten Rat. Dieser bestand darin, daß ich sämtliche Gegenstände, welche Nelson gehört und die er mir vermacht, an einen sichern Ort bringen sollte, damit nicht etwa seine Familie sich derselben bemächtige und ein skandalöser Prozeß dadurch veranlaßt würde. Ich befolgte diesen Rat und mietete gleich in Spithead ein kleines Zimmer, wohin ich alle Gegenstände bringen ließ, welche Eigentum meines Helden gewesen waren. Drei Tage vergingen mit diesem frommen Werke und gewährten mir den größten Trost, denn jeden Augenblick traten mir bei dem Anblicke irgendeines neuen Liebesbeweises, welchen Nelson mir gegeben, die Tränen, die mich erstickt hätten, in die Augen und gewährten mir die einzige Herzenserleichterung, die es für mich geben konnte. Sonnabend, am 15. Dezember, ward Nelsons Leiche in den Sarg gelegt, welchen ihm früher der Kapitän Baron Hallowell geschenkt, und der, wie man sich erinnern wird, aus dem Maste des französischen Schiffes, der »Orient« gehauen und dann unter einen von Flaggen gebildeten Baldachin gestellt worden war. Mr. Tyson, ehemaliger Sekretär des Admirals, Mr. Nayber, Mr. York Herald und Mr. Wilby waren von der Admiralität beauftragt, die Leiche in Empfang zu nehmen, welche in einer Yacht von dem »Victory« hinweggeführt und nach dem Hospitale von Greenwich gebracht werden sollte. Die Begräbnisfeierlichkeiten waren auf den 6. Februar festgesetzt. Man hatte bestimmt, daß der Sarg in der St. Paulskirche beigesetzt würde, welche, zur künftigen Gruft von Helden und Staatsmännern bestimmt, durch Nelson zum Pantheon Englands eingeweiht ward. Man erlaube mir, nicht länger bei Schilderungen meines Unglücks zu verweilen. Anfangs glaubte ich, dasselbe werde ewigen Schmerz zur Folge haben. Ich ließ mir Trauerkleider fertigen und nahm mir vor, nie andere zu tragen. Eines der Zimmer in Merton widmete ich den geheiligten Reliquien, in deren Besitz ich durch Kapitän Hardys frommen Gehorsam gelangt war. Ein Jahr lang blieb ich auf diese Weise fern von der Welt und lebte mit meiner Horatia allein. Ich hatte die menschliche Schwäche ebensowenig in Anschlag gebracht, als die weibliche Beweglichkeit. – –
Der noch übrige Teil meines Lebens ist weiter nichts als eine Reihenfolge von Fehltritten, Ausschweifungen und Verirrungen, die mich dahin gebracht, wo ich jetzt bin. Von dem Augenblicke an, wo ich nicht mehr Sir Williams Gattin, von dem Augenblicke an, wo ich nicht mehr Nelsons Geliebte, ja sogar von dem Augenblicke an, wo ich nicht mehr die Freundin der Königin Karoline war, ward ich ganz einfach wieder Emma Lyonna, das heißt eine reichgewordene Kurtisane, welche sich vielleicht wenigstens die Achtung, die man dem Reichtume zu zollen pflegt, hätte bewahren können, wenn sie ihr Vermögen zusammenzuhalten verstanden hätte. Einen Begriff von dem Maße meiner Erniedrigung erhielt ich gleich anfangs durch die Weigerung Englands und des Königs, Nelsons Testament anzuerkennen. Er hatte mich dem König und dem Lande vermacht. Hätten nun das Land und der König in irgendeiner Weise das Testament des Mannes, der ihnen sein Leben geopfert, berücksichtigt, so würden sie mich in meinen eigenen Augen höher gestellt haben. Hätten sie aber auch nur, indem sie mich zurückstießen, wenigstens meine arme Horatia aufgenommen und anerkannt, so wäre dies für mich, indem ich meine Tochter geehrt sah, eine Nötigung gewesen, ebenfalls ehrenwert zu bleiben, denn das Unglück, mich zur Mutter zu haben, mußte nach meiner Ansicht wenigstens durch die Ehre aufgewogen werden, Nelson, das heißt den ersten Seemann nicht bloß seines Jahrhunderts, sondern vielleicht auch aller Zeiten, zum Vater gehabt zu haben. Aber dies war nicht der Fall. Man überhäufte mich und mein Kind mit Verachtung, und dadurch, daß ich mich verachtet fühlte, ward ich auch wieder verächtlich. Während ich mich aber in den letzten Jahren meines Lebens wieder in jenen Strudel von Torheiten, Verirrungen und Ausschweifungen stürzte, womit ich meine Existenz begonnen, hielt ich wenigstens meine Horatia von mir entfernt, damit keiner meiner Fehler auf sie zurückwirken möchte. Ich legte die viertausend Pfund Sterling, welche ihr Vater ihr vermacht, auf ihren Namen sicher an, und diese Rente von fünftausend Franks diente zur Bestreitung der Kosten ihres Lebensunterhaltes und ihrer Erziehung. Die ausführliche Schilderung der Ereignisse, welche mich vom Luxus zum Mangel, vom Reichtum zur Armut führten, würde allzulang sein und kein Interesse darbieten.
Ich habe meine Abende in Palermo und die Leidenschaft erzählt, welche ich dort für das Spiel faßte. Diese Leidenschaft ward immer mächtiger in mir. An ein verschwenderisches Leben gewöhnt, verstand ich nicht, meine Ausgaben nach meinen Einkünften zu bemessen, und zwei Jahre nach Nelsons Tod sah ich mich in solcher Geldverlegenheit, daß ich mich genötigt fand, Merton Place zu verlassen, welches nun an die Meistbietenden verkauft ward. Glücklicherweise hatte ich den alten Herzog von Queensbury, von welchem ich schon gesprochen, zum Freunde. Er nahm mich in eines seiner möblierten Häuser zu Richmond auf und gab mir anstatt meiner verkauften Wagen und Pferde eine andere Equipage. Seine Geschenke setzten mich in den Stand, gut und sorgenfrei zu leben bis zur Stunde seines Todes, der gegen das Ende des Jahres 1810 erfolgte. Seine Güte für mich erstreckte sich auch noch über das Grab hinaus, denn er vermachte mir in seinem Testamente eine Summe von tausend Pfund Sterling und außerdem eine jährliche Rente von fünfhundert. Leider aber hatte er sich für reicher gehalten, als er wirklich war, und seine Vermächtnisse hatten sein eigentliches Vermögen bedeutend überschritten. Die Folge hiervon war, daß das Tribunal das Testament für null und nichtig erklärte und ich auf diese Weise der Wohltaten, die mein alter Freund mir zu erzeigen beabsichtigt, verlustig ging. Diese Enttäuschung war um so schmerzlicher für mich, als ich auf diese Erbschaft fest gerechnet und mich in Ausgaben gestürzt hatte, die ich davon zu bestreiten gedacht. Einige Freunde, die mir noch blieben, taten hierauf Schritte bei den großen Kaufleuten und Schiffsreedern, um von ihrer Freigebigkeit das zu erlangen, was man von dem Ministerium nicht hatte erlangen können, das heißt die Belohnung der Dienste, welche ich dem Staat geleistet. Ihre Schritte und meine Gesuche hatten aber keinen Erfolg und ich geriet in solchen Mangel, daß ich alle meine Möbel ebenso verkaufen mußte, wie die teuren Andenken, die ich von Nelson hatte, und die mich zuweilen noch in den Schmerzen meines gegenwärtigen Lebens getröstet. Man nahm mir alles, sogar die kostbare Kapsel, in welche die Stadt Oxford das Ehrenbürgerdiplom eingeschlossen, welches sie dem Sieger von Abukir geschenkt. Da das Geld, welches man durch diesen Verkauf gewann, aber bei weitem nicht ausreichte, um alle meine Gläubiger zu befriedigen, so ließen mehrere, die noch grausamer waren als die andern, mich festnehmen und in das Schuldgefängnis von Kingsbench bringen, wo ich mit der armen Horatia blieb, welche ich auf diese Weise, wenn auch nicht in meinen Ruin, denn sie hatte ihre viertausend Pfund, die ich nicht angreifen konnte, wenigstens aber mit in mein Unglück hineinzog. Wir verlebten in diesem Gefängnisse über ein Jahr und erduldeten dabei fast jede nur mögliche Entbehrung und Demütigung, denn ein Mann, welchem ich leichtsinnigerweise Vertrauen geschenkt und dessen Händen ich meine Papiere übergeben, ließ damals in meinem Namen meinen ganzen Briefwechsel mit Nelson, sowie mehrere andere Briefe drucken, die sich in seinem Besitze befanden. Was konnte ich in meinem Gefängnisse dagegen tun? Höchstens protestieren. Dies tat ich auch, meine Stimme ward aber nicht gehört, oder man schenkte ihr keinen Glauben. Endlich faßte ein wackerer, vortrefflicher Mann, Mitglied des Gemeinderates, Mitleid mit mir, als er sah, wie grausam ich für meine Verirrungen bestraft ward. Er verständigte sich mit meinen Gläubigern, gab eine Summe Geldes her und regulierte die Sache so, daß ich von allen ferneren Ansprüchen frei war.
Ich beschloß nun, sofort England zu verlassen und auf den Kontinent zu gehen. Mein Gönner war mir zur Ausführung meines Planes behilflich und versah mich mit den nötigen Mitteln. Wir schifften uns nach Calais ein und fanden zwischen dieser Stadt und Boulogne, in der Nähe des kleinen Hafens Ambleteuse, ein vereinzelt stehendes Haus, in dessen Dunkel ich beschlossen habe, den Rest meines Lebens zuzubringen. Dieser Rest wird übrigens kein langer sein. Die Schmerzen, die Qualen und die Unruhe, die ich zehn Jahre lang zu ertragen gehabt, haben mich vor der Zeit alt gemacht und meine Kräfte aufgezehrt.
Der Arzt, welcher mich aus Mitleid besucht, nahm neulich beim Fortgehen Horatia mit aus dem Zimmer und ich sah, wie das arme Kind mit rotgeweinten Augen wieder hereinkam.
Nun warf ich, weil ich fühlte, daß der Tod herannahe, einen Blick auf mein vergangenes Leben, und meine Handlungen erschienen mir in ihrem wahren Lichte. Ich zitterte, ich schauderte, ich hatte Nächte, in welchen unaufhörlich Gespenster vor mir herumtanzten, und am Tage ward ich von nagender Reue gefoltert. Ich fühlte, daß ich, wenn ich so stürbe, in Verzweiflung enden würde. Plötzlich aber fiel ein Lichtstrahl in meine Nacht, und der Herr erleuchtete mich. Ich sagte bei mir selbst: »Es gibt eine sanfte und barmherzige Religion, zu welcher ich mich stets unwiderstehlich hingezogen gefühlt, eine Religion, deren Stifter der Ehebrecherin und dem Mörder am Kreuze verziehen hat. Ich will einen Priester dieser Religion rufen lassen und meine schuldbeladene Seele seinen Händen überantworten.«
Ich habe nach dem Priester geschickt und erwarte ihn.
Herr des Himmels und der Erde! Sei der bereuenden Sünderin gnädig und barmherzig!
* * *
Hiermit sind Emma Lyonnas Bekenntnisse zu Ende.
Unsere Leser wissen bereits, was weiter geschah. Sie haben zu Anfange dieser Erzählung den Priester kommen sehen. Sie haben das geheiligte Wasser der Taufe die bleiche Stirn der Sünderin netzen, sie haben diese Stirn mit dem Siegel der Reue und der Vergebung auf die Kissen zurücksinken sehen. Fünf Minuten später ruhte Lady Hamilton in der Barmherzigkeit Gottes. Fügen wir jetzt noch einige Worte über das hinzu, was nach ihrem Tode geschah.
Die Gattin des Gesandten Englands, die Geliebte Nelsons, die Freundin der Königin von Neapel sollte am 16. Januar 1815 in einem auf Gemeindekosten angeschafften Sarge in das gemeinschaftliche Grab der Ortsarmen geworfen werden, als ein in Calais wohnhafter englischer Kaufmann, von der Ansicht ausgehend, daß es für seine Landsleute eine Schmach sei, die arme Unglückliche nach ihrem Tode ebenso zu verlassen, wie man sie während der letzten Jahre ihres Lebens verlassen, für sie einen Platz in dem ehrenvolleren Teile des Kirchhofes kaufte und in Begleitung von etwa fünfzig andern Engländern ihr die letzten Ehren erwies.
Ihr Grab ward durch einen Leichenstein bezeichnet, dessen Inschrift in den Worten des Erlösers bestand:
»Wer unter Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.«
Die junge Horatia, welche damals eben ihr vierzehntes Jahr zurückgelegt und ihre Mutter während der Krankheit derselben mit der rührendsten und unverbrüchlichsten Liebe und Sorgfalt gepflegt, kehrte nach dem Tode ihrer Mutter nach England zurück und blieb zwei Jahre in der Familie Mr. Matchams und dann Mr. Boltons, eines Schwagers von Lord Nelson. Im Jahre 1822 vermählte sie sich mit dem wohlehrwürdigen Philipp Ward, Pfarrer von Teuterden, und ward glückliche Mutter von acht Kindern.
Ende.