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Nachdem der König am 2. Juli in Palermo Briefe von Nelson und Sir William erhalten, welche ihm die Hinrichtung Caracciolos meldeten und ihn dringend baten, so schnell als möglich zur Stelle zu kommen, beschloß er, nach Neapel oder vielmehr in die Bai von Neapel zu gehen und reiste am 3. Juli ab, nicht auf dem »Seahorse«, welches ihm Nelson geschickt, sondern auf der neapolitanischen Fregatte »die Sirene«.
Ohne Zweifel fürchtete er, die Marine, welche sich schon durch den Vorzug, den er Nelson vor Caracciolo eingeräumt, verletzt fühlte und später durch den Prozeß und den Tod des Admirals in nicht geringe Bestürzung versetzt worden war, sich vollständig zu entfremden. So stürmisch und mißlich die erste Überfahrt gewesen, so ruhig und ausgezeichnet schön war die zweite. Ein an Nelson abgesendetes leichtes Fahrzeug war am 6. Juli angelangt und hatte ihm gemeldet, daß der König unterwegs sei und wahrscheinlich am 7. oder 8. anlangen würde. Nelson beschloß die Belagerung des Kastells San Elmo energisch zu betreiben, damit der König bei seiner Ankunft seine Fahnen auf allen Festungen wehen sähe.
Das Kastell San Elmo war nicht schwer zu nehmen, besonders in Anbetracht der Gesinnungen seines Kommandanten, des Oberst Mejean. Noch an demselben Tage, wo die Vorbereitungen zum Angriff begannen, hatte Mejean, in der Meinung, der Kardinal sei immer noch der Verbündete der Engländer, oder vielmehr der die Operationen leitende General, ihm einen Boten geschickt, um ihm sagen zu lassen, die französische Garnison sei bereit zu kapitulieren, unter der Bedingung, daß man ihr eine Million schenke. Dieses Anerbieten war von der Drohung begleitet, Neapel zu bombardieren, wenn die Million nicht binnen achtundvierzig Stunden ankäme. Der Kardinal ließ dem Oberst antworten, daß der Krieg unter ehrlichen Leuten mit Eisen, aber nicht mit Gold geführt werde; daß in allen zivilisierten Ländern die Kriegsgesetze untersagten, auf die Häuser zu schießen, welche innerhalb eines Umkreises lägen, von welchem kein Angriff ausginge; daß die Batterien, welche gegen San Elmo spielen würden, wahrscheinlich auf der entgegengesetzten Seite der Stadt aufgepflanzt wären und daß er folglich sein Feuer nicht gegen die Stadt, sondern gegen diese Batterien selbst zu richten habe. Er fügte hinzu, wenn eine einzige Bombe von dem Schlosse auf einen Punkt geworfen würde, von welchem aus kein Angriff erfolgt sei, der Oberst Mejean mit seinem eigenen Kopfe für das Unheil zu haften habe, welches daraus entstehen könnte. Am 1. Juli stieg Truebridge mit fünfzehnhundert Mann Engländern ans Land, verstärkte sich durch fünfhundert Mann Russen und begann sofort die Belagerungsarbeiten. In der Nacht vom 8. zum 9. langte der König in Procida an. Er war von dem General Acton und dem Fürsten von Castelcicala begleitet. Den 9. blieb er den ganzen Tag in Procida, ohne Zweifel, um sich zu überzeugen, daß der Richter Speciale hier seiner Pflicht gut nachkomme. Endlich am 10. kam er an Bord des »Donnerers«, wo seine Ankunft mit einunddreißig Kanonenschüssen begrüßt ward. Die Nachricht, daß der König in Procida sei, hatte sich schon in Neapel verbreitet, und die auf dem »Donnerer« abgefeuerten Salven und die auf dem großen Mast aufgehißte königliche Flagge verkündeten seine Anwesenheit an Bord des Admiralschiffes. Sofort drängte sich die ganze Bevölkerung nach Santa Lucia, nach dem Molo und nach Marinella, und eine ungeheure Menge mit Bannern geschmückter und mit Musikanten besetzter Boote verließ den Hafen und steuerte nach dem englischen Geschwader, um den König willkommen zu heißen. Kaum war Ferdinand auf dem Admiralschiffe angelangt, so verlangte er ein Fernrohr, stieg auf die Schanze und richtete das Glas auf San Elmo. In demselben Augenblicke wollte der Zufall, daß eine russische Kugel den Stock der französischen Fahne zerschlug und diese herabwarf.
Der König, der wie immer sehr abergläubisch war, rief: »Eine gute Vorbedeutung, lieber Nelson! Eine gute Vorbedeutung.«
Und in der Tat, gerade als ob der Oberst Mejean sich mit Truebridge verabredet hätte, dem König eine Überraschung zu bereiten, war die Fahne, welche auf die dreifarbige folgte, die weiße, auch die »Parlamentärfahne« genannt. Diese Fahne, welche nur auf die Ankunft des Königs gewartet zu haben schien, um sich zu entfalten, brachte eine gewaltige Wirkung hervor. Das Volk erhob ein lautes Beifallsgeschrei und die Kanonen der ganzen Flotte antworteten den Kanonen des »Donnerers«. Sobald als der Kardinal Ruffo durch diese Salven erfahren, daß der König auf der Reede war, schiffte er sich ein und begab sich an Bord von Nelsons Schiff, wo er seit dem Tage des Bruches des Vertrages nicht wieder gewesen. Als die Gefangenen auf den Feluken, die nun endlich eingesehen, daß sie in ihm einen Verteidiger hatten, ihn vorbeifahren sahen, faßten sie wieder einige Hoffnung, denn sie glaubten, er werde für sie sprechen. Und in der Tat hatte der Kardinal den König nicht sobald begrüßt, so brachte er die Frage wegen der Verträge zur Sprache, und erklärte laut, daß der Bruch derselben ein öffentlicher Skandal sein würde, welcher an allen Höfen von Europa gerechte Entrüstung hervorrufen müßte. Der König antwortete, ehe er sich hierüber ausspräche, wolle er erst Nelson und Sir William hören.
Er ließ beide demgemäß rufen, und nun erneuerte sich die frühere Diskussion. Sir William verfocht den diplomatischen Grundsatz, daß Monarchen nicht mit ihren rebellischen Untertanen unterhandeln könnten, und erklärte, daß aus diesem Grunde die Verträge zerrissen werden müßten.
Nelson bewies unversöhnlichen Haß gegen die französischen Revolutionäre und sagte, man müsse das Übel mit der Wurzel ausrotten, um neues Unglück zu verhindern. Was den Kardinal betraf, so blieb er fest bei seinem Prinzip stehen, daß, da die Kapitulation geschlossen worden, dieselbe auch gehalten werden müsse. Alle seine Vorstellungen vermochten jedoch nichts gegen die Beweisgründe Nelsons und Sir Williams, die überdies mit den geheimen Gedanken des Königs übereinstimmten. Die Gefangenen wurden nicht freigegeben, und als sie den Kardinal mit gesenktem Haupte und gerunzelter Stirn wieder zurückfahren sahen, begriffen sie, daß für sie alles aus sei. Als Ruffo wieder in sein Hauptquartier zurückkam, sendete er zum zweiten Male seine Entlassung ein. Noch denselben Tag wurden die Gefangenen, die sich an Bord des »Donnerers« und der Feluke befanden, wieder ans Land gesetzt und zwei und zwei aneinandergekettet in die Gefängnisse der Vikaria gebracht. Als dieses Schloß keinen Gefangenen mehr aufzunehmen vermochte – ein Brief des Königs spricht von achttausend! – ward ein Teil derselben nach den in Kerker umgewandelten »Granili« gebracht.
Bei diesem Anblicke schlossen die Lazzaroni mit Recht, daß ihnen nun freie Hand gegeben sei, und da ich zu Anfang dieser Bekenntnisse versprochen habe, alles zu sagen, so gestehe ich, daß die Tage des 8. und 9. Juli Zeugen von Greueltaten waren, die man uns wie etwas ganz Gewöhnliches und Natürliches berichtete. Nelson und Sir William Hamilton waren damit einverstanden, und der König selbst lächelte darüber. Besonders erzählte man von den Bluttaten eines Priesters namens Rinaldi, welcher stolz auf das, was er an diesen beiden Tagen getan, an den König eine Petition richtete, in welcher er um das Kommando der Stadt Capua bat und zur Unterstützung seiner Bitte sich darauf berief, daß er einen Arm von einem an langsamem Feuer gebratenen Jakobiner verzehrt, daß er zwei andern Jakobinern die Leiber aufgeschlitzt, und fünf oder sechs Jakobinerkinder in Stücke gehauen habe. Der König bewilligte ihm eine Gratifikation an Geld und außerdem eine ehrende Auszeichnung, ich weiß nicht mehr welche. Was mich betraf, so war es mir, als träumte ich, und als lastete ein blutiger Alp auf mir. Ich glich jenen Frauen des Mittelalters, welche, nachdem sie sich in einem Walde verirrt, um Mitternacht in einen Hexensabbat hineingeraten. Zur Beteiligung an dem ruchlosen Tanze aufgefordert, weigern sie sich anfangs mit Grauen und Entsetzen, dann aber mit Gewalt in die höllische Runde hineingezogen, berauschen sie sich allmählich an dem Anblick der Fackeln, an dem tobenden Gesang, an der Berührung der fieberhaft brennenden Hände und erwachen am nächstfolgenden Morgen wie zerschlagen, besudelt durch die teuflische Orgie, die sie vergebens in das Bereich der Träume verweisen möchten, und deren furchtbare Wirklichkeit ihnen bis zur Stunde des Todes vorschweben wird.
Sobald das Kastell San Elmo übergeben, und der König folglich wieder Herr von Neapel war, ward die von dem Kardinal ernannte Junta aufgelöst, weil sie als zu gelind erkannt worden. Nur die zwei strengsten Mitglieder derselben wurden beibehalten. Diese beiden Mitglieder waren Antonio della Rocca und Angelo di Fiore.
Die an Bord des »Donnerers« ernannte neue Junta ward beauftragt, die verschiedenen Kategorien der Rebellen zu richten, welche der König Sorge getragen, selbst zu bezeichnen. Die Liste war lang, so lang, daß man, es ist entsetzlich es zu sagen, glaubte, der Henker, welcher zehn Dukati für jede Hinrichtung bekam, werde zu rasch reich werden, wenn er noch fernerhin auf diese Weise honoriert würde. Aus diesem Grunde ließ der Fiscalprokurator, Baron Don Giuseppe Guidobaldi, ihn kommen, und zwang ihn, hundert Dukati monatlich anstatt zehn Dukati für jede einzelne Hinrichtung anzunehmen. Es bleibt mir nun noch etwas Furchtbares, Unglaubliches, beinahe Übernatürliches zu erzählen übrig, etwas, woran die Erinnerung heute noch, das heißt nach Verlauf von vierzehn Jahren, mich schaudern macht.
Der König befand sich seit einer Woche an Bord des »Donnerers«, denn er hatte nicht ein einzigesmal den Fuß ans Land setzen wollen und niemanden empfangen als die Vollstrecker seiner Rache, als eines Morgens ein Fischer, welcher die Nacht in dem Golf zugebracht, in die Nähe des Admiralschiffes kam und während er seine Fische verkaufte sagte, er habe den Admiral Caracciolo vom Boden des Meeres auftauchen und dicht unter dem Wasserspiegel hin auf Neapel zuschwimmen sehen. Die Offiziere erzählten dies Nelson, welcher den Fischer selbst befragen wollte. Dieser erzählte die Sache zum zweiten Male ganz so, wie er sie bereits zum ersten Male erzählt, und schwur bei der Madonna, daß alles reine Wahrheit sei. Die Seeleute besitzen, wie stark sie an Geist auch sein mögen, immer einen gewissen Aberglauben, und obschon Nelson von dem, was der Fischer erzählte, kein Wort glaubte, so wollte er doch sehen, wodurch diese Mitteilung veranlaßt worden sein könnte. Der Tag war schön und er schlug dem König vor, eine Spazierfahrt in den Golf zu machen. Der König, der an Bord des »Donnerers« nicht viel Zerstreuung hatte, nahm das Anerbieten an und Nelson lenkte sein Schiff nach dem von dem Fischer bezeichneten Punkte. Kaum aber hatte er eine halbe Meile zurückgelegt, als die auf dem Vorderteile stehenden Offiziere einen Körper sahen, der, indem er plötzlich bis an den Gürtel aus dem Wasser auftauchte, ihnen entgegenzukommen schien.
Sie riefen sofort den Kapitän Hardy, der trotz des Seegrases, welches diesen Körper bedeckte, und trotz der Zeit, die seit seiner Versenkung verflossen war, sofort Caracciolos Leiche erkannte. Wir, der König, Nelson, Sir William Hamilton und ich, standen auf dem Hinterteile des Schiffes. Der Kapitän Hardy sagte Nelson ein Wort ins Ohr und letzterer begab sich nach dem Bug und erkannte Caracciolo ebenfalls. Er befahl sofort beizulegen. Es galt nun diese eigentümliche Neuigkeit dem König mitzuteilen. Sir William übernahm diese Aufgabe. Der König konnte es nicht glauben. Nichtsdestoweniger erblaßte er sichtbar und begab sich nach dem Vorderteil des Schiffes. Ich wollte aufstehen wie die andern, aber vergebens. Meine Füße weigerten sich, mich zu tragen. Ich ließ den Kopf in die Hände sinken und schloß die Augen, um nichts zu sehen, selbst nicht durch die Finger hindurch. Beim Anblick der seltsamen Erscheinung prallte Ferdinand drei Schritte zurück. »Was soll das heißen?« fragte er meinen Gemahl.
»Sire,« antwortete dieser, »es ist Caracciolo, welcher, nachdem er neunzehn Tage unter dem Wasser gelegen, heute wieder auftaucht, um Ew. Majestät um Verzeihung für das Verbrechen zu bitten, welches er an Ihnen begangen.«
Der Schiffskaplan, der ebenfalls zugegen war, wagte jedoch die Worte zu äußern: »Vielleicht bittet er auch um ein christliches Begräbnis.«
»Man gebe es ihm,« rief der König, indem er fort in Nelsons Kajüte stürzte. Nelson gab demzufolge Befehl, daß man die Leiche aus dem Wasser zöge, in ein Boot legte und nach der kleinen Kirche Santa Lucia brächte, zu welcher Parochie der Hingerichtete bei Lebzeiten gehört hatte. Als man sich anschickte, diesen Befehl auszuführen, zog ich mich ebenfalls in meine Kajüte zurück. Es war schon genug, daß ich den unglücklichen Caracciolo an der großen Raa der »Minerva« hängen gesehen, ohne mich nach den neunzehn Tagen, welche er unter dem Wasser zugebracht, wieder seiner Leiche gegenüber zu sehen.
Welchen Abscheu aber ein solcher Anblick mir auch einflößte, so konnte ich doch, indem ich die Flucht ergriff, nicht umhin, einen Blick nach dem scheußlichen Kadaver zu werfen, und ich sah wieder jenes verworrene Haar und jenen struppigen Bart, womit Caracciolo mir erschienen war, als man ihn an Bord des »Donnerers« gebracht. Nur war das Gesicht jetzt grün und es kam mir vor, als hätte es keine Augen. Ohne Zweifel waren dieselben von den Fischen ausgenagt worden. Ich begriff das Entsetzen, welches dieser Anblick dem König Ferdinand notwendig eingeflößt. Er hatte diesen Tod befohlen und selbst ich, die ich bloß schuldig war, nichts gegen die Vollstreckung desselben getan zu haben, glaubte darüber den Verstand verlieren zu müssen. Später erfuhr ich von Sir William, welcher allen Einzelheiten des Vorganges mit seiner gewöhnlichen Kaltblütigkeit gefolgt war, daß die Leiche an den Füßen noch die beiden Kanonenkugeln hatte, welche dazu gedient, sie auf den Meeresboden hinabzuziehen. Man band sie los und ein Teil des Fleisches von den Beinen ging mit dem Riemen los, vermittels dessen die Kugeln befestigt waren.
Man wog letztere und der Kapitän Hardy konstatierte, daß der Körper trotz des enormen Gewichts von zweihundertundfünfzig Pfund wieder auf die Oberfläche des Wassers gekommen war. Caracciolo ward in der kleinen Kirche Santa Lucia bestattet. Als der »Donnerer« wieder in den Hafen zurückgekehrt war und ich noch schaudernd von dem, was ich gesehen, wieder auf das Deck hinaufkam, erfuhr ich, daß ein Matrose, der in der Trunkenheit seinen Vorgesetzten geschlagen, soeben zum Tode verurteilt worden war. Mein Herz war zur Milde gestimmt. Es war mir, als ob, wenn ich einem Menschen auch wenn er strafbar wäre, das Leben rettete, dies die Last mindern würde, welche auf meiner Brust lag. Ich glaubte dadurch vor Gott das Verbrechen zu sühnen, daß ich nicht einen andern Menschen vor diesem Schicksale bewahrt. Ich erkundigte mich nach dem Namen des verurteilten Matrosen. Man erwiderte mir, er hieße Thomas Campbell. Der Name fiel mir auf. Ganz gewiß gehörte derselbe meinen Jugenderinnerungen an. Ich ließ diese Erinnerungen an meinem geistigen Auge vorübergehen und besann mich, daß, als ich Kinderwärterin in Hawarden war, eines Tags, als ich die mir anvertrauten Kinder spazieren führte, die Pension der Mistreß Tolman, welcher ich auch eine Zeitlang angehört, an mir vorübergekommen war, und daß, während meine früheren Mitschülerinnen mich wegen meines damaligen Standes verspottet, eine einzige auf mich zugekommen war und mich umarmt hatte. Dieses junge Mädchen hatte Fanny Campbell geheißen. Ich weiß nicht, weshalb ich, als ich diesen Namen hörte, der doch in England ein sehr gewöhnlicher ist, auf den Gedanken kam, daß der Verurteilte ein Verwandter des jungen Mädchens sein müsse, welches mir einen Beweis von Freundschaft gegeben, während die andern mir nur ihre Verachtung zu erkennen gaben. Ich rief den Kapitän Hardy, welcher von allen Offizieren der war, mit welchem ich am meisten verkehrte, weil er von allen der beste Freund Nelsons war. Ich bat ihn, mir etwas Näheres über den unglücklichen Thomas Campbell mitzuteilen und mir ganz besonders zu sagen, aus welcher Provinz er stamme. Hardy wußte nichts Näheres über den Verurteilten, er ließ jedoch das Protokoll der Verurteilung holen, und ich ersah daraus, daß der Matrose aus der kleinen Stadt Hawarden gebürtig war. Ich zweifelte nun nicht mehr, daß er der Bruder der armen Fanny Campbell sei, und bat Hardy, mich zu dem Gefangenen zu führen, ohne jedoch jemanden davon etwas zu sagen.
Hardy weigerte sich einige Augenblicke lang, aber ich drang so sehr in ihn, daß er endlich nachgab. Er führte mich sodann die Treppen und die Matrosenleitern hinab, bis in den untersten Raum, wo der arme Teufel in Ketten lag. Man kann sich denken, wie er erstaunte, als er mich erblickte. Alle Matrosen kannten mich und ebenso war auch sicherlich allen mein vertrautes Verhältnis zu Nelson bekannt. Mein Erscheinen war daher für diesen Unglücklichen das, was ein in die ewige Nacht der Verdammten fallender Sonnenstrahl ist oder vielmehr sein würde. Anfangs schien er in seiner Betäubung meine Fragen nicht zu begreifen und zögerte mit der Antwort. Ich fragte ihn, ob er wirklich aus Hawarden sei. Er antwortete ja. Ich fragte weiter, ob er eine Schwester habe und seine Antwort war abermals bejahend. Ich sagte ihm nun, daß ich seine Schwester gekannt. Er schüttelte den Kopf. »Ich versichere Euch aber, daß ich sie gekannt,« hob ich wieder an. – »Wie?« entgegnete er, »eine vornehme Dame wie Sie hätte ein armes Mädchen wie die Tochter des Marinesergeanten John Campbell gekannt?« – »Ich habe sie so gut gekannt, daß ich jetzt noch ihren Namen weiß. Sie hieß Fanny,« sagte ich. – Er stutzte. – »Das ist allerdings wahr,« sagte er.
Dann sammelte er sich und fuhr fort: »Da Sie meine Schwester gekannt haben und da Ihr Besuch beweist, daß Sie an einem armen Verurteilten einiges Interesse nehmen, so werde ich eine Bitte an Sie richten.« – »Ja, tut das, mein Freund.« – »Meine Schwester hat den Pfarrer eines kleinen Dorfes geheiratet, welches zwischen Hawarden und Northorp liegt.« – »Heißt der Ort vielleicht Youlaw?« – »Ganz recht!« rief Thomas; »wie können Sie das wissen?« – »Nun, das kann Euch gleich sein. Ihr sehet, daß ich es weiß.« – »Wohlan, Madame, vergessen Sie mich nicht und wenn ich tot sein werde, so schreiben Sie an meine Schwester – ich selbst kann nicht schreiben – schreiben Sie meiner Schwester, ich sei tot, aber sagen Sie ihr nicht, daß ich gehängt worden bin. Bitten Sie sie, für mich zu beten, und da sie ein frommes Mädchen ist, so wird sie nicht verfehlen, es zu tun.«
»Ist dies alles, was Ihr wünscht, mein Freund?« fragte ich. – »Ach, mein Gott, ja, Madame. Ich bin mit Recht zum Tode verurteilt. Ich habe mich gegen meinen Vorgesetzten vergangen. Dennoch aber war dies nicht allein meine Schuld –«
»Wessen Schuld war es denn aber, wenn es nicht die Eurige war?« – »Der verteufelte Wein des Vesuvs war daran schuld. Ich hatte ihn getrunken, als ob ich Bier tränke, ohne zu bedenken, daß er im Feuer gewachsen war. Meine Gedanken hatten sich verwirrt, ich erkannte meinen Vorgesetzten nicht, meine Augen sahen nicht mehr, und auf diese Weise beging ich das Verbrechen. – Ich hoffe aber, daß der gute Gott einen Blick auf das Logbuch werfen und sehen wird, daß ich in den zehn Jahren, welche ich auf der königlichen Flotte diene, nicht mehr als drei Bestrafungen erlitten habe. Freilich wird die dritte eine sehr nachdrückliche sein, und jede fernere unmöglich machen.«
»Mein lieber Hardy,« sagte ich, indem ich mich nach dem Flaggenkapitän herumdrehte, »ich weiß nun alles, was ich wissen wollte. Lassen wir diesen armen jungen Mann mit seinen Gewissensbissen wieder allein.« Dann setzte ich leise hinzu: »Die hoffentlich seine ganze Strafe sein werden.« Hardy sah mich an und schüttelte den Kopf. Ich ging wieder aufs Deck hinauf und suchte Nelson.
»Mein lieber Horatio,« sagte ich zu ihm, »ich muß Ihnen eine Geschichte erzählen. Als meine Mutter als Magd auf einem Pachthofe diente, erhielt sie durch ein kleines Vermächtnis, welches ihr ein früherer Dienstherr hinterlassen, die Mittel, mich in eine Pension für junge Mädchen zu bringen, wo ich in einem Jahre lesen, schreiben, ein wenig musizieren und zeichnen lernte. Nach Verlauf dieses Jahres blieb aber plötzlich das Geld aus, ich mußte die Pension verlassen, und als Kinderwärterin in die Dienste eines wackeren Mannes, eines gewissen Mr. Hawarden, treten. Eines Tages, als ich mit meinen kleinen Pflegebefohlenen auf einer Wiese spazieren ging, kamen die jungen Mädchen, meine ehemaligen Mitschülerinnen, welche ich oft durch meine Leistungen in den Schatten gestellt, über dieselbe Wiese und da sie beinahe alle von vornehmer Familie waren, so verspotteten sie mich wegen meiner damaligen bescheidenen Stellung und wegen meiner armseligen Kleidung, welche die einer dienenden Person war.«
»Arme liebe Emma!« sagte Nelson, indem er mir die Hand drückte.
»Eine einzige trat aus der Reihe ihrer Gefährtinnen, kam auf mich zu, und als sie sah, daß ich weinte, trocknete sie mir die Tränen mit ihrem Taschentuch, umarmte mich und sagte zu mir: ›O Emma, ich bin nicht wie diese boshaften Geschöpfe! Ich liebe dich immer noch.‹ – Und ihre Tränen mit den meinigen mischend, umarmte sie mich zum zweitenmal und kehrte dann zu ihren Genossinnen zurück, von welchen sie mit spöttischem Gelächter empfangen ward.« – »Das war ein gutes Mädchen,« sagte Nelson, »und ich möchte ihren Namen und ihren Wohnsitz wissen, um ihr, wenn sie noch nicht verheiratet ist, eine Aussteuer zu geben.« – »Sie zählt jetzt vierunddreissig Jahre und sie ist verheiratet und glücklich.« – »Ah so! Nun dann um so besser.« – »Sie hat aber einen Bruder, der sich in einer schlimmen Lage befindet; darf ich diesen Bruder verlassen oder muß ich aus Dankbarkeit gegen seine Schwester nicht vielmehr versuchen, ihn der schlimmen Lage, worin er sich befindet, zu entreißen?« – »Meine liebe Emma,« sagte Nelson, »wenn Sie nach der Handlungsweise der Schwester diesen Bruder verlassen wollten, so würden Sie sich einer Undankbarkeit schuldig machen und ich glaube nicht, daß Sie diesem häßlichen Laster huldigen.« – »Werden Sie mir dann bei meinem Bemühen, mich meiner Schuld gegen Fanny zu entledigen, hilfreiche Hand leisten?« – »Ja, wenns in meiner Macht steht.« –
»Und Sie geben mir Ihr Wort darauf?« –
»So wahr ich Nelson heiße.« –
»Wohlan, mein lieber Horatio,« sagte ich, indem ich meinen Arm um seinen Hals schlang und meine Lippen auf die Narbe seiner Stirn drückte, »dieses wackere Mädchen, in bezug auf welches Sie mir Dankbarkeit predigen, heißt Fanny Campbell und ihr Bruder, Thomas Campbell, ist es, der heute wegen Beleidigung eines Vorgesetzten durch das Kriegsgericht zum Tode verurteilt worden ist.«
»Na,« sagte Nelson, indem er die Stirn runzelte, »die Sache ist ernster, als ich glaubte, liebe Emma.« – »Dann weisen Sie mich also wohl ab?« – »Nein, das sage ich nicht; ich suche bloß ein Mittel, um die Sache ins Gleiche zu bringen.« – »Wie? ins Gleiche zu bringen? Dies scheint mir sehr schwierig zu sein. Sie können den armen Teufel doch nicht gleichzeitig hängen und auch nicht hängen!« – »Nein, das allerdings nicht, wohl aber kann ich ihn bis zum letzten Augenblick glauben lassen, daß er gehängt werde und im letzten Augenblick werden Sie erscheinen und ihn retten. Erfolgte nicht auf diese Weise, wie uns neulich Sir William erzählte, die Entwicklung in den antiken Tragödien? Ein Gott oder eine Göttin erschien und der Schuldige war gerettet. Wir befinden uns hier auf dem Boden des klassischen Altertums; nehmen mir uns ein Beispiel an demselben.«
Es widerstrebte mir einigermaßen, die Rolle anzunehmen, welche Nelson mir in dieser Komödie zuteilte, durch welche die Angst eines Unglücklichen um fünfzehn bis achtzehn Stunden verlängert ward. Nelson wollte aber von nichts anderem hören und man mußte die Gnade entweder annehmen, so wie er dieselbe darbot, oder ganz darauf verzichten. Am nächstfolgenden Tage geschah die Sache so, wie Mylord gewollt hatte. Schon am frühen Morgen wurden die Matrosen und Marinesoldaten auf dem Deck zusammengerufen, der Schuldige ward vorgeführt, die Trommeln wirbelten, der Strang war bereits über die Segelstange geworfen und die Schlinge dem Verurteilten um den Hals gelegt, als, der getroffenen Verabredung gemäß, ich erschien und um die Begnadigung bat, welche mir gewährt ward. Der arme Teufel, welcher noch Kraft besessen, so lange es sich darum gehandelt, zu sterben, verlor dieselbe plötzlich, als er leben sollte, und ward ohnmächtig. Man brachte ihn wieder zur Besinnung, indem man ihm einen Eimer Seewasser ins Gesicht schüttete, dann führte man ihn wieder in den Raum hinab, wo er noch acht Tage in Ketten gelegt ward. Als diese Zeit vorüber war, kam er, um sich bei mir zu bedanken, und trat seinen Dienst wieder an.
»Nun,« fragte ich ihn, »wirst du wieder vom Weine des Vesuv trinken?« – »O, weder Wein noch Bier, Mylady!« antwortete er. »Ich habe den Schwur getan, während der ganzen noch übrigen Zeit meines Lebens bloß Wasser zu trinken.«
Später hörte ich, daß bis zum Jahre 1807, das heißt bis zum Bombardement von Kopenhagen, wo er das Leben verlor, Thomas Campbell treulich Wort gehalten hatte.
Der König hatte in Neapel alles getan, was er dort hatte tun wollen. Er hatte seine Junta eingesetzt und dieselbe bei der Arbeit gesehen. Vom 6. Juli bis zum 3. August war kein Tag vergangen, an welchem nicht wenigstens ein Verurteilter gehängt worden wäre. Demzufolge gab er Nelson den Wunsch zu erkennen, nach Palermo zurückzukehren. Nelson ging am 6. August unter Segel und am 8. waren wir wieder in der Hauptstadt von Sizilien angelangt. Ich fand die Königin gegen mich noch immer so gut und so liebreich, wie sie immer gewesen war. Sie war es, welche mir mitteilte, daß sie im Laufe von weniger als acht Tagen zwei Entlassungsgesuche vom Kardinal Ruffo erhalten und daß sie jedesmal durch die positive Weigerung, sie anzunehmen, geantwortet, weil sie, setzte sie hinzu, der Popularität dieses Mannes noch auf einige Zeit bedürfte.