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Gerd hatte Juanita wieder zu Horsts gebracht. Sie sollte nicht allein in dem Sterbehaus bleiben.
Dolf Falkner war, obgleich er seinen Angehörigen viel Leid und wenig Freude gebracht hatte, nicht unbeweint gestorben.
Nita hatte viele Tränen vergossen. Alles war vergessen, was Dolf ihr angetan hatte, und sie beklagte ehrlich, daß er so jung hatte sterben müssen. Am meisten aber weinte sie um das tiefe Leid, das aus Bernhard Falkners Augen leuchtete. Und auch ihre Schwiegermutter tat ihr leid, deren Schmerz um den verlorenen Sohn bei der sonst so kalten Frau um so ergreifender wirkte.
Zwischen Bernhard Falkner und seiner Frau kam in diesen Tagen gemeinsamen Schmerzes ein etwas erträglicheres Verhältnis zustande. Er suchte jetzt alles zu vergessen, was in den letzten Jahren an herben Enttäuschungen an ihn herangetreten war, und war so sorglich um seine Frau bemüht, daß diese ihm dafür dankbar sein mußte.
Seltsamerweise gestaltete sich jetzt Frau Helenes Verhältnis zu Gerd ganz eigenartig. Er brachte ihr eine so ehrliche Teilnahme entgegen und zeigte sich ihr gegenüber so durchaus großmütig und erbarmend, daß sie eine Art scheue Zuneigung zu ihm faßte. Es war, als wisse sie mit der nun brachliegenden Mütterlichkeit nichts Besseres anzufangen, als sie Gerd zuzuwenden. Sie fand für ihn Worte wie früher nie, und er war viel zu gütig und taktvoll, um nicht darauf einzugehen, daß sie ein besseres Verhältnis zwischen ihnen anbahnen wollte.
Gleich nach Dolfs Beerdigung war Nita mit Frau Horst und Lotti nach Swinemünde abgereist. Erst hatte sie auf diese Reise verzichten wollen, aber Gerd und ihr Schwiegervater drangen darauf, daß sie mitgehen sollte. Es war viel Staub aufgewirbelt worden durch die Duellaffäre, und Nita wurde mit neugierigen, wenn auch teilnahmsvollen Blicken verfolgt, wo sie sich sehen ließ.
Zwischen Gerd und Nita war in dieser Zeit kaum ein Wort gewechselt worden, was sich nicht auf rein Äußerliches bezog. Sie waren beide nicht die Naturen, jetzt an sich und ihre Herzensangelegenheit zu denken, wo sich ein frisches Grab zwischen ihnen wölbte.
Nachdem Nita abgereist war, widmete Gerd seine ganze freie Zeit seinem Vater. Und es kam ganz von selbst, daß er nun oft als Gast an seines Vaters Tisch saß. Seinem taktvollen Wesen war es mit zu danken, daß der Ton zwischen seinem Vater und seiner Stiefmutter ein angenehmerer war als all die letzten Jahre.
Über Dolf sprach keiner von ihnen. Sein Name hätte nur alle Schmerzen und Bitterkeiten von neuem aufgewühlt. Sein Vater gedachte seiner wie eines geliebten Kindes, das lange Zeit krank oder verirrt gewesen und nun zur Ruhe gekommen war. Fast war es, nachdem der erste Schmerz überwunden war, wie eine Erlösung für ihn, denn nun konnte er seines Sohnes mit der alten Liebe gedenken.
Tina verwaltete inzwischen die Villa des jungen Paares. Die Dienerschaft war bis auf ein Hausmädchen und den Gärtner entlassen worden. Nita war mit ihrem Schwiegervater übereingekommen, daß die Villa verkauft werden sollte. Sie konnte sich nicht entschließen, künftig darin zu wohnen. Solange sich kein Käufer gefunden hatte, sollte Tina nach dem Rechten sehen.
Eine aufregende Begegnung hatte Bernhard Falkner noch mit Dr. Halm, den er selbst aufsuchte, um alle näheren Umstände über seines Sohnes Ende zu erfahren.
Dr. Halm war sehr elend und niedergedrückt. So ruhig er konnte, teilte er Dolfs Vater mit, daß dieser durch ein Verhältnis mit seiner Frau, von dessen Intimität er sich selbst hatte überzeugen müssen, ihn zu einer Forderung gezwungen hatte. Im übrigen hatte Dr. Halm bereits die Scheidungsklage gegen seine Frau eingereicht.
Bernhard Falkner konnte dem schwergeprüften Manne nicht zürnen, und er brachte es über sich, selbst ein Gnadengesuch zu unterschreiben, daß Dr. Halm die übliche Festungshaft erlassen werden solle.
Lotti Horst saß in einem Strandkorb und blickte träumerisch auf das Meer. Es war wenig bewegt. Flach und träge bespülten die Wellen den glatten Sand.
Lotti war allein. Ihre Mutter und Nita Falkner waren vor kurzer Zeit aufgebrochen, um einen Spaziergang zu den Molen zu unternehmen. Lotti hatte gestreikt -- sie sei zu faul und zu müde.
Nun sann sie darüber nach, wo heute Dr. Bruckner steckte. Sie hatte ihn den ganzen Morgen noch nicht gesehen. Und er war doch in diesen Wochen in Swinemünde kaum von ihrer Seite gewichen. Ob er eine Segelfahrt unternommen hatte? Oder besuchte er die Offiziere vom Schulschiff, die ihn neulich eingeladen hatten? Dann hätte er aber bestimmt gestern abend davon gesprochen.
Sie zeichnete mit ihrem Sonnenschirm verschlungene Buchstaben in den Sand, aber die Zeichen verwischten sich sofort wieder, der lose Sand schüttete sie zu.
Dr. Bruckner war inzwischen unbemerkt hinter dem Strandkorb erschienen und sah nun eine Weile schweigend und sichtlich interessiert zu, was sie sich da in den Sand zu schreiben bemühte. Er folgte der Spitze des Sonnenschirms und buchstabierte befriedigt »Georg«.
Da er den Vornamen Georg trug, hielt er es nicht für anmaßend, zu glauben, daß sich ihre Gedanken mit ihm beschäftigten.
»Guten Morgen, Fräulein Lotti!«
Sie schrak empor und sah zu ihm auf, während ein leises Rot ihr Gesicht färbte.
»Guten Morgen, Herr Doktor! Schon ausgeschlafen?« neckte sie.
Er warf sich zu ihren Füßen in den Sand, ganz dicht neben ihr. Seinen Strohhut legte er neben sich, so daß seine hohe Stirn dem leisen Lufthauch preisgegeben war.
»Sie gestatten doch, daß ich hier Platz nehme -- ich will Sie nicht stören.«
»Oh -- Sie stören mich nicht.«
»Auch nicht bei Ihren Schreibübungen? Ich sah, daß Sie in den Sand malten.«
Sie blickte zur Seite.
»Das tat ich nur aus Langeweile. Wenn man so allein ist. Sie sind ein rechter Langschläfer, Herr Doktor.«
Von unten herauf sah er ein wenig erregt in ihr reizendes Gesicht.
»Langschläfer? Da muß ich doch sehr bitten. Ich habe schon eine Korrektur gelesen, Briefe geschrieben, eine tüchtige Schwimmtour unternommen und gefrühstückt. Seit drei Stunden bin ich schon in Tätigkeit.«
»Dann nehme ich den Langschläfer zurück.«
»Reuevoll, hoffentlich?
»Sehr reuevoll.«
»Ihre Frau Mutter und Frau Falkner sah ich vom Hotelfenster aus zu den Molen zu gehen.«
»Ja, sie wollen einen tüchtigen Spaziergang machen, Mama, um etwas für ihre Schlankheit zu tun, Nita, um sich Appetit zu holen.«
»Und Sie sind allein zurückgeblieben?«
»Ich bin schlank genug, und an Appetit fehlt es mir auch nicht«, scherzte sie.
Er sah sie plötzlich unruhig an und richtete sich ein wenig auf.
»Ich freue mich -- daß Sie allein sind«, sagte er mit seltsamer Betonung.
Das Blut schoß ihr ins Gesicht.
»Warum denn?« fragte sie scheinbar gleichgültig.
Er ließ seine Augen nicht von ihrem Gesicht.
»Weil Sie noch so viel Platz im Strandkorb haben. Hier im Sand liegt es sich heute sehr unbequem. Darf ich mich nicht ein wenig zu Ihnen setzen?
Sie rückte zur Seite.
»Bitte sehr.«
Er sprang auf und setzte sich zu ihr in den Strandkorb, der sie vor allen neugierigen Blicken verbarg. Von der Seite sah er sie eine Weile an. Ihr reines Profil hob sich lieblich ab von dem rot und weiß gestreiften Stoff, der den Strandkorb auskleidete. Ihre kleine, sonnengebräunte Hand lag auf dem herabgeklappten Tischchen, das am Korb befestigt war.
Er griff plötzlich nach der kleinen Hand, die merklich in der seinen bebte.
»Fräulein Lotti, wie lange kennen wir uns eigentlich schon?«
»Eine Ewigkeit!« stieß sie hervor.
Er lachte.
»Nein -- so lange noch nicht. Aber so fünf oder sechs Jahre. Sie waren damals noch ein kleines, wildes Schulmädel mit Hängezöpfen und kurzen Kleidern.«
Sie nickte.
»Ja -- und Sie hatten Ihren ersten Roman bei Papa verlegt und trugen eine lila Krawatte und nagelneue, rotbraune Glacés, als wir uns das erste Mal sahen!« rief sie mit erzwungener Lustigkeit, denn daß er ihre Hand noch immer fest in der seinen hielt, irritierte sie.
»So? Das weiß ich allerdings nicht mehr -- ich meine das mit der Krawatte und den Handschuhen. Aber ich weiß noch ganz genau, daß Sie ein weißes Kleid mit blauen Schleifen trugen und einen Strauß Heckenrosen in der Hand hielten, die Sie Ihrer Frau Mutter von einem Spaziergang mit Ihrer Lehrerin mitgebracht hatten.«
Sie wandte ihm in atemlosem Staunen das Gesicht zu.
»Das wissen Sie noch?«
»Ja. Und als ich Sie so vor mir sah, da dachte ich -- soll ich sagen, was ich dachte?«
Sie nickte wortlos.
»Da dachte ich: Da ist der leibhaftige Frühling ins Zimmer getreten, und er schaut dich an mit Augen, so blau wie der Himmel. Und sooft ich Sie später sah -- immer war mir so froh zumute, als sei ich dem Frühling begegnet -- auch wenn Sie noch so kriegerisch gegen mich gestimmt waren. Manchmal haben Sie mich nämlich sehr schlecht behandelt.«
»Ach, das war doch nur Scherz«, sagte sie leise.
Er drückte ihre Hand ganz sanft.
»Scherz? Nun -- vielleicht war es später auch manchmal ein wenig Ungeduld, daß der ›langweilige Dr. Bruckner‹ immer so gelassen und ruhig blieb in Ihrer Gesellschaft. Sie hätten ihn vielleicht gern ein wenig aus seiner Ruhe aufgerüttelt, nicht wahr?«
Sie sah ihn scheu und unsicher an.
»Vielleicht«, sagte sie, tief atmend.
Er faßte schnell noch ihre andere Hand.
»Das ›Ruhigbleiben‹ ist mir schwer genug geworden, Lotti. Denn ich habe mir bald, sehr bald gesagt: ›Diese liebe, kleine Lotti Horst, die möchtest du einmal zur Frau haben. Aber du mußt warten, bis sie sich bewußt geworden ist, ob sie dich so recht von Herzen liebhaben kann. Früher darfst du sie nicht fragen, ob sie dich zum Mann haben will.‹ Und da habe ich nun, wenn die Ungeduld in mir rumorte, ein recht braves gelassenes Gesicht machen müssen, habe mir immer wieder sagen müssen: Warte noch, sie ist noch zu jung. Aber es war schwer, dieses Warten. -- Und nun, zum Kuckuck mit der ganzen Gelassenheit! Jetzt halte ich es nicht mehr aus. Und wenn du mir nun nicht auf der Stelle sagst, das du meine Frau werden willst -- dann Lotti, ja dann nehme ich dich auf meine Arme und laufe mit dir direkt ins Wasser hinein -- bis du mir dein Jawort gibst.«
Lotti hatte atemlos zugehört. Nun sah sie ihn mit leuchtenden Augen an, und um ihren Mund tanzten tausend Schelme.
»Nein, ins Wasser gehe ich nicht mit, da wähle ich lieber das kleinere Übel und werde Frau Dr. Bruckner«, sagte sie leise.
Er umschlang sie mit beiden Armen und küßte sie auf den blühenden Mund.
Sie wollte sich losmachen.
»Aber, Georg, wenn das jemand sieht!«
»Dann wird er nicht blind werden vor Entsetzen, weil sich ein Brautpaar küßt!« rief er übermütig und küßte sie wieder.
»Wir sind ja noch kein Brautpaar. Meine Eltern müssen doch erst ihre Zustimmung geben.«
»Hab' ich schon in der Tasche, Lotti, schon lange.«
Sie zog ihn an den Ohren.
»So -- und mich läßt du so lange hangen und bangen? Konntest du nicht wenigstens gleich am ersten Tag hier in Swinemünde deinen Antrag machen?«
»Nein, ich wollte mich erst noch ein bißchen quälen, damit es nachher um so schöner wird.«
»Aber mich hast du ebenfalls gequält.«
Er küßte ihre Hände.
»Hab' ich das wirklich, Lotti? Hast du nicht längst gewußt, wie es um mich steht?«
»Ein bißchen geahnt hab' ich's schon, Georg. Aber so etwas möchte man doch genau wissen. Und dann -- hier sehen dich alle Damen so eroberungslustig an. Der berühmte Schriftsteller ist für sie eine interessante Persönlichkeit. Die blonde Engländerin, die mit uns im Hotel Splendid wohnt, läßt dich nicht aus den Augen. Und die beiden feschen Wienerinnen, die mit ihrer Mutter bei Tisch neben uns sitzen, die fallen mir schon längst auf die Nerven mit ihren koketten Blicken. Was die sich wohl denken? Ich war furchtbar eifersüchtige«, sagte Lotti lachend.
Er zog sie fest an sich.
»Nein -- jetzt flunkerst du, du warst gar nicht eifersüchtig, sondern hast die kleinen Wienerinnen immer ein bißchen mokant und überlegen angesehen, weil du ganz genau wußtest, daß du allein mein Herz ausfüllst. Ich war ja auch nicht eifersüchtig auf die Herren, die sich um deine Gunst bemühten.«
Sie lachten beide übermütig, und Bruckner küßte seine Braut erst einmal wieder bis zur Atemlosigkeit ab.
Schnell verging für sie die Zeit. Sie hatten sich so viel zu sagen, jetzt, da ihr Verhältnis ein so ganz anderes geworden war. Lotti beichtete, wie ungeduldig sie auf seine Erklärung gewartet habe.
Gerade als sie wieder etwas mit einem Kuß bekräftigen mußten, erschien Frau Gertrud Horst mit Nita vor dem Strandkorb.
Frau Gertrud sah lächelnd und bewegt auf das glückliche Paar, und Nita, die ebenfalls längst gemerkt hatte, wie es um die beiden stand, sagte lächelnd:
»Ich gratuliere.«
Das Brautpaar sah erschrocken auf, aber sie blieben nebeneinander sitzen, Hand in Hand.
»Mutti -- liebe Mutti!« rief Lotti weich.
»Was ist denn, Kind?« fragte diese, mit Tränen der Rührung kämpfend.
Um Lottis Mund zuckte der Schelm.
»Ach, nichts weiter, Mutti -- ich habe nur einen lässigen Junggesellen von seiner Ehescheu kuriert. Du weißt, ich hatte eh mir doch vorgenommen, säumige Männer zu bekehren.«
»Und nimmst nun den ersten Bekehrten gleich für dich in Anspruch?«
Lotti sprang auf und fiel der Mutter um den Hals.
»Weil nicht gleich ein anderer zur Stelle war, hab' ich mich erbarmt.«
»Oho!« rief Dr. Bruckner.
Lotti gab ihm den ersten freiwilligen Kuß.
»Nun schweig still«, sagte sie schelmisch.
Bald darauf kehrten sie alle zusammen ins Hotel Splendid zurück, wo sie ihre Zimmer hatten. Es war Zeit, Toilette zu machen für die Tafel.
So war Lotti Horst als Braut von Swinemünde zurückgekehrt. Nita war dringend von ihren Schwiegereltern gebeten worden, wieder zu ihnen ins Haus zu ziehen, damit nicht noch mehr Gerede entstand, als ohnedies schon der Fall war.
Da auch Gerd seine Bitten mit den ihren vereinte und Frau Helene entschieden liebenswürdiger geworden war durch ihren schweren Verlust, willigte Nita ein.
Und so bezog sie wieder die Zimmer im Falknerschen Haus, die sie als junges Mädchen bewohnt hatte. Sie besuchte aber Horsts sehr oft und ging auch zuweilen zu Tina hinaus, um da noch allerlei Anweisungen zu geben über die Sachen, die sie beim Verkauf der Villa für sich behalten wollte. Es gab da manches, was sie nicht in fremde Hände gehen lassen wollte.
Gerd und Nita trafen jetzt oft zusammen, entweder bei Horsts oder im Falknerschen Haus. Sie waren jedoch nie allein. Wenn sie auch nie ein unbelauschtes Wort sprechen konnten, so suchten doch ihre Augen einander oft zu begegnen.
Sie wußten beide, daß sie auf ein späteres gemeinsames Glück hoffen durften, und das Warten darauf wurde ihnen mit dieser Gewißheit leicht.
Bernhard Falkner bemühte sich unterdessen, einen Käufer für seine Fabrik zu finden. Er war durch die Ereignisse der letzten Jahre müde und kraftlos geworden und sehnte sich nach Ruhe.
Es gelang ihm denn auch bald, für die gut fundierte und außerordentlich leistungsfähige Fabrik in zwei Brüdern Interessenten zu finden, und nach längeren Verhandlungen ging die Fabrik in deren Hände über. Das gesamte Personal blieb auf seinen Posten.
Nicht leichten Herzens trennte sich der alte Herr von seinem Lebenswerk, das er einst in seines Sohnes Hände hatte legen wollen. Aber er hatte so vieles verwinden müssen, daß er sich nun auch darein fügte.
Dann fand sich auch ein Käufer für die reizende Villa am Stadtwald. Albert Horst kaufte sie für seine Tochter, die im nächsten Jahr Hochzeit halten sollte.
Ein Jahr lang wollten Lottis Eltern ihre einzige Tochter noch für sich behalten. Das hatten sie sich ausbedungen. Schnell genug verging dieses Jahr.
Zu Lottis Hochzeit legte Nita zum erstenmal die Trauerkleider ab, die sie um Dolf getragen hatte. Sie trug wieder ein weißes Kleid mit reicher, kostbarer Stickerei, und um ihren Hals schlang sich wieder die herrliche Perlenschnur. Auch eine rote Rose steckte sie wieder in das schwarze Haar -- so, wie sie Gerd damals zuerst gesehen hatte, als er in sein Vaterhaus zurückkehrte.
Gerd fühlte, wie ihm das Blut jäh zum Herzen schob, als er sie so vor sich sah. Solange sie Trauerkleider getragen hatte, war sie ihm ferngerückt. Als er sie nun in dem weißen Kleid vor sich sah, erwachten die lange zurückgehaltenen heißen Wünsche in seinem Herzen zu neuem Leben, und ungestüm fordernd pulsierte das heiße Blut durch seine Adern.
Während der ganzen Hochzeitsfeier wich er kaum von ihrer Seite, und die Tore des Lebens taten sich vor ihnen auf.
Gerd schien es plötzlich unsagbar schwer, sich zu beherrschen, wie er es bisher hatte tun müssen.
Auch in Nitas Augen lag ein sehnsüchtiger Glanz. Sie war zauberhaft schön, und sie war sich ihrer Schönheit zum erstenmal mit Wonne bewußt. Ihr ganzes Sein glühte und blühte Gerd entgegen, ihre Seele jauchzte ihm zu, und sie verbarg das, was sie empfand, nicht mehr ängstlich vor seinen Blicken. So fuhren sie beide zur Kirche, in der Lotti getraut wurde, und so saßen sie sich gegenüber oder gingen Seite an Seite und ließen die Blicke selbstvergessen ineinander ruhen. Aber noch sprachen sie kein Wort über das, was ihre Seelen empfanden. Vieler Augen ruhten bewundernd auf diesem schönen Paar, das ganz füreinander geschaffen schien. Als das neuvermählte Paar am Spätnachmittag seine Hochzeitsreise angetreten hatte, stand Juanita, die sich von Lotti verabschiedet hatte, in dem kleinen Salon Frau Gertruds am Fenster und blickte dem davonfahrenden Wagen nach.
Sie war ganz allein und mit einem Seufzer dachte sie an jenen Tag zurück, da sie an Dolfs Seite in die Welt hinausgefahren war. Wie ein glückliches Kind war sie ahnungslos mit ihm gegangen und hatte geglaubt, daß ein ganzes Leben voll Glückseligkeit an seiner Seite vor ihr lag.
Ach -- wie bald war dieser schöne Traum zerstört! Was alles hatte sie nach jenem Tag durchlebt und durchlitten, bis sie sich im Herzen von Dolf losgesagt hatte, bis sie resigniert hatte.
Sie schauderte zusammen, und Tränen verdunkelten ihren Blick. Nun lag Dolf schon über ein Jahr in der Kalten, dunklen Erde. Dieser schöne blühende Mensch war in seiner besten Jugendkraft dahingerafft worden, ehe er sie vergeuden konnte in einem wüsten, unbeherrschten Leben. Die Erde deckte barmherzig alles zu -- auch das, was er ihr angetan hatte. Sie hatte ihm ehrlich verziehen, hatte ehrlich darum getrauert, daß er so jung hatte sterben müssen, ehe er seinem Leben einen rechten Wert hatte geben können. Aber ihr junges Herz hatte sich wieder aufgerichtet und wandte sich nun in jauchzender Lebensbejahung dem Manne zu, den sie bewußter, stärker und besser liebte, als sie Dolf geliebt hatte. War diese Liebe neu? War sie nicht schon in ihr gewachsen seit ihren Kindertagen? War es nicht schon wie ein seliges Ahnen in ihr gewesen, damals, als er mit seiner weichen, tröstenden Stimme Zu ihr sagte: »Arme kleine Nita.«
Heiß und sehnsüchtig wallte es in ihrem Herzen auf. Gerd! Gerd! Ihre Seele rief ihn mit tausend süßen Namen.
Erschauernd legte sie ihre Stirn auf die Hände, die den Fenstergriff umfaßt hielten.
»Gerd! Gerd!«
Wieder rief ihr Herz nach ihm mit heißer Innigkeit. Und als hätte seine Seele ihren Ruf vernommen, so stand er plötzlich neben ihr.
»Nita!«
Sie zuckte zusammen und wandte das Gesicht nach ihm um.
Es war blaß und erregt, dieses wunderschöne, beseelte Frauenantlitz, und in ihren Augen lag ein tiefes, heißes Sehnen.
Gerds Gesicht erblaßte unter diesem Blick. Er faßte ihre Hände und zog sie vom Fenster fort.
»Nita -- Nita -- ich suchte dich und fand dich nicht! Und mir war, als riefst du mich -- endlich finde ich dich hier.«
Sie sah ihn groß an und erzitterte.
»Ja, ich rief dich, Gerd«, sagte sie leise, fast vergehend unter seinem jäh aufleuchtenden Blick.
Er drückte ihre Hände an seine Augen.
»So darf ich dich endlich fragen, ob du mir gehören willst, Nita? Ich habe gehofft und geharrt -- seit ich dich frei weiß. Und jede Minute ist mir zur Ewigkeit geworden. Ich mußte ja warten, bis du dich innerlich erst ganz frei gemacht hattest von allem, was dich quälte und bedrückte. Bist du nun frei, Nita, frei für mich und meine starke, heiße Liebe?«
Sie strahlte ihn glückselig an.
»Gerd, ach Gerd, ich weiß und fühle nichts mehr, als daß ich dich liebe.«
Mit einem zitternden Atemzug zog er sie fest in seine Arme.
Zum erstenmal ruhten ihre Lippen in heiliger, seliger Glut aufeinander. Eng umschlungen hielten sie sich, und die höchste Erdenwonne durchflutete ihre Seelen, so daß sie erschauerten vor der Allgewalt ihrer Liebe. Lange vermochten sie nicht zu sprechen. Sie sahen sich nur immer wieder an und ließen ihre Seelen ineinander tauchen und küßten sich wieder und wieder mit einer andächtigen Glut.
Sie waren sich bewußt, einander das Höchste und Tiefste zu geben, was eine Menschenbrust zu fassen vermag. Leise drangen von unten schmeichelnde Klänge herauf, als wenn das Leben mit seinen Freuden locken wollte. Sie hörte es ohne Bewußtsein. Für sie war jetzt die ganze Welt versunken.
Juanita lag an Gerd Falkners Herz, dessen heißen, starken Schlägen sie lauschte wie der süßesten Melodie des Lebens, und er hielt die erbebende Gestalt in seinen starken Armen und trank aus ihren Augen und von ihren Lippen den Born des Lebens.
»Meine holde, süße Frau -- wie werden wir glücklich sein«, sagte er endlich. »Nun sollst du warm und sicher ruhn im Schutz meiner Liebe.«
Sie schmiegte sich an ihn.
»Halte mich, mein Gerd, halte mich, daß ich nicht versinke in ein Meer von Glückseligkeit. Nun hab' ich heimgefunden endlich heimgefunden«, flüsterte sie. Er strich unsagbar zärtlich über ihr Haar.
»Mein Vöglein, du sollst ein warmes, trautes Nest bekommen.«
Wieder küßten sie sich in seliger Versunkenheit.
»Wie schade, daß wir nun wieder unter all die fremden Menschen gehen müssen«, sagte Nita leise.
»Warum müssen wir denn?« fragte er mit einem übermütigen Lächeln, wie sie es noch nie in seinem ernsten Gesicht gesehen hatte.
»Wir können doch nicht hierbleiben, in Tante Gertruds Salon.«
»Ei, wer will es uns wehren?«
»Man wird uns doch vermissen in der Gesellschaft.«
»Ach, was geht uns die Gesellschaft an. Aber warte, ich habe einen herrlichen Gedanken. Komm, meine Nita, setz dich hierher, und warte einige Minuten, gleich bin ich wieder hier.«
Er küßte sie auf die fragenden Augen und eilte hinaus.
Unten suchte er zwischen all den fröhlichen Menschen die Brautmutter, die ihre Lotti mit ein wenig bangem Herzen hatte ziehen lassen und sich nun mühte, froh mit den Fröhlichen zu Sein.
Gerd zog sie auf die Seite.
»Liebe, teure Tante Gertrud, in aller Heimlichkeit laß dir sagen, das ich mich eben mit Nita verlobt habe. Wir haben uns nun wie alle Brautleute eine Menge zu sagen. Zu Hause bei meinen Angehörigen sind wir aber nie allein -- auch sonst fehlt uns jede Gelegenheit. Deshalb bitte ich dich, melde uns der verehrten Gesellschaft als abhanden gekommen, sag, wir haben das Fest verlassen und sind nach Hause zurückgekehrt. Und dann sei so gut und leihe uns deinen kleinen Salon -- du weißt, da holte ich mir schon als Kind immer mein Scherflein Liebe. Nun habe ich da den ganzen großen Schatz gehoben, und den möchte ich jetzt ein Stündchen ganz für mich allein haben. Also, nicht wahr, wir dürfen deinen Salon als Zufluchtsstätte für unser Glück betrachten?«
Frau Gertrud drückte ihm die Hand und nickte ihm mit feuchten Augen zu.
»Laß dir von Herzen Glück wünschen, mein lieber Gerd. Nita werde ich nachher gratulieren -- aber erst in einer Stunde. Inzwischen werde ich dafür sorgen, daß ihr ungestört seid.«
»Du bist ein Engel, Tante Gertrud.«
Sie lachte.
»Verliebte sind immer überschwenglich -- selbst gelehrte Professoren. Also geh zu deiner Herzliebsten, ich werde euch als verabschiedet melden.«
Gerd flog die Treppe wieder hinauf, und als er oben vor Nita stand, zog er sie jauchzend in seine Arme.
»Jetzt bist du eine Stunde mein, Süße!« rief er glückselig und zog sie neben sich nieder, sie fest umschlingend. Sie schmiegte sich an seine Seite und legte ihren Kopf an seine Schulter. So sah sie zu ihm auf. Und so saßen sie, Auge in Auge, Lippe auf Lippe. Viel wußten sie sich nicht zu sagen, ihr Schweigen war beredter als tausend Worte, und ihre Lippen hatten ein süßeres Amt, als zu sprechen.
Schon zwei Monate später fand Gerds und Nitas Hochzeit statt. Sie wurden in aller Stille getraut, und nur die nächsten Freunde und Verwandten waren zu der schlichten Feier geladen. So hatte es das Brautpaar gewollt.
Bernhard Falkner sah zufrieden auf das Glück seiner Kinder, und Frau Helene fand sich mit guter Haltung darein, daß Gerd Dolfs Nachfolger wurde.
Gerd und Nita machten nur eine kurze Hochzeitsreise, weil Gerd nicht lange abkommen konnte. Nach der Rückkehr wohnte das junge Paar trotz aller Gegenvorstellungen zunächst in Gerds bisheriger Junggesellenwohnung, die in aller Eile ein wenig behaglicher für die junge Frau ausgestattet worden war.
Dort wollten sie bleiben, bis draußen am Stadtwald eine neue Villa für sie fertig war. Der Grundstein zu ihrem künftigen Heim war bereits gelegt, und in einem Jahr sollte das neue Heim bezogen werden.
Bis dahin lebte das glückliche Paar ganz still und zurückgezogen. Sie waren sich selbst genug und verlangten nicht nach Gesellschaft. In den Universitätsferien streiften sie in Gottes schöner Welt umher, in stillen, abgelegenen Orten. Es war ein tiefes, seliges Glück, das den beiden Menschen beschieden war, ein vollständiges Aufgehen ineinander, wie es nur wenigen Auserwählten beschieden ist.
Gerd hatte eine Versöhnung zwischen Tante Gertrud und seinem Vater zustande gebracht, als er Hochzeit hielt, und hochherzig hatte Frau Horst auch Helene Falkner die Hand gereicht, damit sie sich bei Gerds Hochzeit nicht aus dem Weg gehen mußten.
Bernhard Falkner fand an seinem Lebensabend noch einige Jahre stillen Friedens im Glück seines Sohnes. Gerd dankte oft in stillen Stunden dem Geschick, das ihn und Nita vor Schuld und Sünde bewahrt hatte, nachdem er in schwerem Kampf mit sich gerungen hatte, daß er nicht begehrlich die Augen hob zu seines Bruders Weib.
Die alte Tina war, solange Gerd und Nita in der kleinen Wohnung am Promenadenplatz wohnten, dorthin übergesiedelt und wechselte sich mit Frau Wendt und Gerds Diener in die Bedienung des jungen Paares ab.
Als dieses aber nach Jahresfrist in die vornehme, wunderschöne Villa übersiedelte, die bis ins kleinste nach den Wünschen des jungen Paares gebaut und ausgestattet worden war, da erhielt die alte Tina ein behagliches Ruheplätzchen in diesem vornehmen Heim, und sie durfte nun gar nichts mehr tun, als sich pflegen. Gerd und Nita hatten nicht vergessen, was sie der treuen, alten Dienerin schuldig waren.
Auch in dem neuen schönen Heim blieb das Glück dem jungen Paar treu. Sie öffneten ihr Haus nun auch der Geselligkeit, um ihren gesellschaftlichen Pflichten nachzukommen. Und die schöne Frau Professor Falkner war eine vielbewunderte und gefeierte Persönlichkeit.
Dr. Bruckner und seine junge Frau gehörten zu den liebsten und häufigsten Gästen im Professorenhaus. Lotti und Nita waren einander in inniger Freundschaft verbunden.