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Bernhard Falkner saß in dem Privatkontor seiner Fabrik draußen am Südende der Stadt. Diese Fabrik, in der Teppiche gewebt wurden, war ein großer, roter Ziegelbau, der von drei Seiten einen mächtigen Hof umschloß. Die vierte Seite des Hofes begrenzte die Mauer, die das Grundstück von der Straße abschloß und in der zwei große Tore zur Ein- und Ausfahrt der Wagen und eine schmälere Pforte für Fußgänger angebracht waren.
Hunderte von Arbeitern und Beamten bevölkerten dieses Gebäude. Oben unter dem Dache befanden sich die Zeichensäle, wo die Teppichmuster entworfen und die Detailzeichnungen angefertigt wurden. Drunten hörte man das Schwirren und Fauchen der Maschinen, das Klappern der Webstühle, und einer Anzahl geöffneter Fenster entströmte feuchter Dampf und ein eigentümlicher Geruch von Farbe und feuchter Wolle.
In dem großen Hofe standen Wagen, die mit Teppichballen beladen wurden, die ein Fahrstuhl von oben herab beförderte. Bernhard Falkner war an dieses Geräusch so gewöhnt, daß es ihn nicht mehr störte. Seit zweiundzwanzig Jahren war er Besitzer dieser Fabrik. Er hatte sie selbst erbauen lassen, als er sich mit seiner ersten Frau vermählte. Das große Vermögen, das sie ihm in die Ehe brachte, hatte ihm das ermöglicht, denn er selbst hatte nur über ein bescheidenes Kapital verfügt. Die Fabrik hatte bald einen guten Ruf bekommen, sie war leistungsfähig, und es fehlte nicht an lohnenden Aufträgen. Mit den Jahren hatte Bernhard Falkner, der ein tüchtiger, begabter Kaufmann war, sein Unternehmen noch vergrößert und verbessert. Es war viel Geld eingekommen, aber er hatte auch, dank seiner verschwenderischen zweiten Frau, viel verbraucht. Und nun sollte er, gerade zu einer Zeit, da er allerlei Fehlschläge gehabt hatte, seinem Sohne das mütterliche Erbteil auszahlen, das bisher in seinem Geschäft gesteckt hatte. Dreihunderttausend Mark aus solch einem Betrieb zu ziehen -- das war keine Kleinigkeit. Und Bernhard Falkner saß auch heute wieder mit sorgenvoller Stirn und rechnete. Wenn seine Frau auch übertrieben hatte, wenn sie behauptete, daß ihn das Auszahlen der Summe ruinieren müsse, so kam er doch in eine verteufelt ernste und unangenehme Lage.
Trotzdem dachte er nicht daran, seinen Sohn zu bitten, ihm das Kapital noch länger zu überlassen. Nicht nur, daß er Gerhard so fremd geworden war, hinderte ihn daran, sondern auch der Gedanke, daß dessen Mutter wohl aus besonderen Gründen kurz vor ihrem Tod so testiert hatte. Er vermochte auch heute noch nicht ruhig an den Tod seiner ersten Frau zu denken.
Unmutig warf er endlich die Feder hin. Was half ihm alles Rechnen. Es änderte nichts an der Tatsache, daß er in die schwierigste Lage kam, wenn er das Geld auszahlen mußte. Vielleicht hätte er das gleiche Kapital an anderer Stelle aufnehmen können. Aber das hatte auch seine Schattenseiten, und so leicht war es nicht, eine solche Summe zu beschaffen. Zudem war der Termin unheimlich schnell nahegerückt, ohne daß er hätte Deckung schaffen können.
Trübe starrte er vor sich hin.
Sein gutgeschnittenes, kluges Gesicht erinnerte sehr an das seines Sohnes Gerhard. Nur waren dessen Züge schon jetzt markanter, energischer als die des Vaters. Vielleicht lag das auch daran, daß Bernhard Falkners Mund und Kinn durch einen Bart verdeckt waren. Der verbarg vielleicht die charakteristischen Linien, die bei Gerhard so deutlich hervortraten.
Auch andere Augen hatte Bernhard Falkner. Sie waren dunkelblau, fast schwarz und hatten einen weniger bestimmten, weniger herben Ausdruck, als die grauen Augen des Sohnes.
Alles in allem war Bernhard Falkner, trotzdem er fast fünfzig Jahre zählte, noch ein sehr stattlicher und gutaussehender Mann.
Mit einem Seufzer hob er endlich das Haupt.
»Du rächst dich -- noch aus dem Grabe heraus, Maria«, stöhnte er leise, mit der schmalen Hand nervös durch das graumelierte Haar fahrend.
Wie schon oft in den letzten sechzehn Jahren, seit dem Tode seiner ersten Frau, regte sich auch heute wieder das Gewissen in seiner Brust. Er wußte, daß er sich an Maria versündigt hatte, daß er sie gekränkt und beleidigt hatte mit seiner Leidenschaft für Helene, seiner zweiten Frau. Auch regte sich oft eine leise Stimme in ihm, die ihn anklagen wollte, das Maria wohl mit Absicht aus dem Leben geschieden sei, weil sie es nicht ertragen konnte, daß er sie verraten hatte. Aber diese Stimme brachte er stets mit Gewalt zum Schweigen. Daran wollte er nicht glauben, weil er sonst die Last nicht hätte tragen können.
Der Mahner in seiner Brust ließ sich nie ganz zum Schweigen bringen. Und der Anblick seines ältesten Sohnes weckte immer wieder von neuem die Erinnerung an seine Schuld.
Nur dann fühlte er sich ganz frei von aller Gewissensnot, Wenn Helene bei ihm war. Dann wußte er, daß er nicht anders hatte handeln können, daß das Gefühl, welches ihn zu ihr gezogen hatte, zu mächtig gewesen war, um sich dagegen auflehnen zu können.
Helenes Zauber wirkte auch jetzt noch mit der alten Macht auf ihn ein, und in ihrer Nähe war er zu glücklich, um Gewissensbissen Raum geben zu können.
Aber wenn er hier draußen in der Fabrik allein war, stiegen zuweilen Marias ernste, leidvolle Augen vor ihm auf, dann sah er sie wieder bleich und kalt, mit dem tiefen Schmerzenszug um den blassen Mund, auf ihrem letzten Lager liegen. So jung hatte sie sterben müssen -- so jung.
Bernhard Falkner war kein Mensch, der sich leicht über solche Erinnerungen hinwegsetzen konnte. Und jetzt, da er durch die Bestimmung in Marias Testament in eine schlimme Lage zu kommen drohte, sah er darin eine Art Vergeltung. Er hatte es nicht gewagt, Gerd zu bitten, ihm das Kapital zu belassen. Etwas wie Furcht war in ihm, daß sein Sohn ihm kalt seine Bitte abschlagen könne, mit einem vorwurfsvollen Hinweis auf seine Mutter. Denn daß Gerd ahnte, auf welche Weise seine Stiefmutter zur Nachfolgerin seiner Mutter geworden war, das ging deutlich genug aus seinem Verhalten hervor.
Gerechterweise hätte er es seinem Sohne nicht verdenken dürfen, daß dieser sich feindlich gegen seine Stiefmutter stellte; aber wenn Helene in Frage kam, schaltete bei ihm überhaupt jedes klare Denken aus. Und sie wußte ihren Mann so sehr gegen Gerd zu beeinflussen, daß sich Vater und Sohn fremd und kalt -- fast feindselig gegenüberstanden. Sie sprachen fast nur noch bei den gemeinsamen Mahlzeiten das Nötigste miteinander. Niemals waren sie allein, das suchte Frau Helene zu hintertreiben. Daß seine Frau ihn geflissentlich und mit Vorsatz, ohne sonderlich wählerisch in ihren Mitteln zu sein, seinem Sohne entfremdete, ahnte Bernhard Falkner nicht. Solch eine niedrige Handlungsweise traute er seiner Gattin nicht zu. In Gerds Augen glaubte er nur immer Trotz, Starrsinn und einen stillen Vorwurf zu lesen, und da verschloß er sein Herz vor ihm. Ihm war immer, als stehe Maria wie ein mahnender Schatten zwischen ihm und seinem Sohne.
Gerd Falkner war auch noch zu jung, um abgeklärt und milde richtend der Schuld eines Menschen gegenüberzustehen. Die Jugend ist hart und herb im Urteil, weil sie noch nicht weiß, wie leicht es ist, schuldig zu werden. Gerd war streng gegen sich selbst und andere. Und wenn er auch den Vater trotz allem liebte, schuldig fand er ihn doch, und wenn es auch schmerzte, er mußte ihn verurteilen. Sein Vater hätte das wohl begreifen müssen -- aber er wollte es nicht. Er wehrte sich gegen das Gefühl, wie ein Schuldiger vor seinem Sohne zu stehen.
Aber er wußte, daß Gerd mit allen Fibern seines Empfindens aus dem Vaterhause strebte, daß er sich nur widerwillig bisher der väterlichen Macht beugte, die ihn festhielt, bis er mündig war. Es war ihm gewiß, daß Gerd pünktlich sein Vermögen einfordern und fortgehen würde. Nichts würde ihn daheim halten. Stand er doch seiner ganzen Familie im Innersten feindlich gegenüber. Wie aber sollte er für Gerd das Geld flüssig machen, ohne sich selbst in die peinlichste Lage zu bringen? Darüber hatte er in der letzten Zeit oft vergeblich gegrübelt und sich auch schon ohne Erfolg bemüht, Ersatzkapital herbeizuschaffen. Nun lagen nur noch vier Wochen vor ihm bis zu Gerds Geburtstag. Und er wußte keinen Rat. Sollte er wirklich gezwungen sein, Gerd zu bitten, ihm das Kapital noch zu überlassen und sich vorläufig mit Auszahlung der Zinsen zu begnügen?
Er seufzte tief und sorgenvoll auf. Auch das Auszahlen der Zinsen würde ihm schwerfallen. Es war seltsam, welche Summen sein Hauswesen verschlang. Er mußte, so schwer es ihm fallen würde, Helene bitten, sich einzuschränken. So ging es nicht mehr weiter.
Mit trüben Augen starrte er vor sich hin. Da ließ der Kontordiener den Postboten herein, der verschiedene Einschreibesendungen brachte.
Mechanisch begann Bernhard Falkner die Briefe durchzusehen, als er wieder allein war. Es waren meist wichtige geschäftliche Abmachungen. Der Umsatz steigerte sich erfreulich von Jahr zu Jahr. Wenn man sehr sparsam sein würde und das Geschäft so weiter ging, dann konnte man vielleicht die Zinsen Gerds entbehren, und mit der Zeit ließ sich auch das Kapital herausziehen. Nur jetzt noch nicht -- jetzt noch nicht.
Zuletzt kam ihm ein Brief in die Hände, der oben den Vermerk »Privat« trug. Er betrachtete ihn kopfschüttelnd. Das Kuvert zeigte weder Firmenaufdruck, noch eine bekannte Handschrift, dafür aber ausländische Marken. Auf dem Poststempel entzifferte Bernhard Falkner den Namen einer kalifornischen Stadt. Er konnte sich nicht denken, was für private Nachrichten ihm von dort übermittelt werden könnten.
Langsam führte er den Brieföffner in das Kuvert und schlitzte es auf. Mehrere engbeschriebene Bogen entnahm er demselben und faltete sie auseinander, um zuerst nach der Unterschrift zu sehen.
»Justus Trebin.«
Er zuckte zusammen. Der Name entfuhr seinen Lippen in höchster Betroffenheit, und eine Weile starrte er wie gelähmt darauf nieder.
Was für Erinnerungen löste dieser Name in ihm aus. Justus Trebin! Diese beiden Worte klangen aus der Vergangenheit zu ihm herüber und zauberten die Gestalt des einstigen Jugendfreundes vor seine Augen.
Wie lange hatte er wohl diesen Namen nicht mehr gehört, wie lange den einst von ihm fast Unzertrennlichen nicht mehr gesehen? Von der Schule an waren sie einander zugetan gewesen -- wie Brüder -- bis, ja, bis Justus die Heimat verließ, für immer.
Und er hatte ihn vergessen über all dem privaten Erleben und der Geschäftigkeit seines Berufs. Jetzt aber stand er plötzlich wieder wie leibhaftig vor ihm, der große blonde Mensch mit den treuen, ernsten Augen, dem tiefen, träumerischen Gemüt -- ein echter Germane mit allen Schwächen und Tugenden seines Volkes.
Justus Trebin!
Bernhard Falkner atmete tief und gepreßt und sah starr vor sich hin. Aus der Vergangenheit stieg mahnend empor, was Justus Trebin aus der Heimat getrieben hatte. Die Zeit wurde lebendig, da er selbst um Maria, Gerds Mutter, gefreit hatte.
Justus Trebin hatte Maria ebenfalls geliebt -- wohl mit einer treueren, besseren Liebe als er selbst. Aber Maria hatte ihm den Vorzug gegeben und da Justus dem Freunde die Geliebte nicht neiden wollte und doch nicht ruhig Zeuge seines Glückes sein konnte --, ging er still und klaglos aus ihrem Weg. Er verließ die Heimat, um nie wiederzukehren, um nichts mehr von sich hören zu lassen. Und nun, nach zweiundzwanzig Jahren ein Lebenszeichen von ihm!
Wenn er damals geahnt hätte, von wie kurzer Dauer das Glück gewesen war, um das er den Freund beneiden mußte -- ob er dann auch fortgegangen wäre? Ob er dann nicht um den Besitz der Geliebten gekämpft hätte? Wie würde er selbst vor dem Freunde bestanden haben, wenn dieser ihn gefragt hätte: Hast du Maria so glücklich gemacht, wie sie es verdiente?
Ach -- Maria wäre wohl glücklicher geworden mit Justus Trebin. Er hätte ihr die Treue nicht gebrochen -- er nicht.
Justus Trebin war damals nach Mexiko gegangen, wo ein bedeutend älterer Bruder von ihm große Besitzungen hatte.
Eltern und Verwandte besaß er nicht mehr, und der Bruder hatte ihn schon oft gebeten, zu ihm zu kommen. Justus hatte sich aber nicht von dem Freunde -- und von Maria trennen wollen. Erst als Maria ihn zurückwies und Bernhard ihre Hand reichte, folgte er des Bruders Ruf.
Bernhard Falkner begann zu lesen:
»Mein lieber alter Freund Bernhard!
Denkst Du zuweilen noch der Zeit, da der Schreiber dieser Zeilen Dein unzertrennlicher Begleiter war, da wir beide einander in inniger Freundschaft zugetan waren? Es ist lange, lange her, mein Bernhard, daß wir einander das letztemal in die Augen schauten. Du weißt, weshalb ich fortging aus der Heimat. Den beiden Menschen, denen mein ganzes Herz gehörte, konnte ich nichts mehr sein, so war mir die Heimat verleidet, und ich ging zu meinem Bruder, dem allein ich mich noch zugehörig fühlte.
Du wirst fragen, weshalb ich nie von mir hören ließ. Lieber Bernhard -- ich konnte Maria nicht vergessen. Eine Frau wie sie kann man nicht vergessen, wenn man sie einmal geliebt hat. Und Du weißt, ich habe sie namenlos geliebt.
Wirf meinen Brief nicht empört von Dir, Bernhard, wenn Du ihn in den Händen hältst, bin ich nicht mehr am Leben. Und einem Sterbenden zürnt man nicht, weil er einmal ausspricht, was ihm jahrelang das höchste Glück, das tiefste Leid war.
Warum ich Dir heute schreibe, nach so langer, langer Zeit, da ich doch so lange schwieg? So wirst Du fragen. Mein lieber Freund -- ich weiß, daß mir nur noch kurze Zeit zum Leben bleibt und habe Dir eine große, große Bitte ans Herz zu legen, Dir und Deiner Maria. Ich hoffte, Dich noch selbst aufsuchen zu können, um Dir ein Vermächtnis zu übergeben und in der Heimat zu sterben. Aber mir ist, als könne ich dies Ziel nicht mehr erreichen, und so will ich für alle Fälle niederschreiben, was ich von Dir erbitte im Gedenken an unsere alte Freundschaft. Kann ich nicht mehr zu Dir kommen, so soll der Brief für mich sprechen, der nur in Deine Hände gelangen wird, wenn ich bereits ein toter Mann bin.
Laß Dir erst aus meinem Leben erzählen.
Ich ging damals zunächst nach Mexiko und blieb mehrere Jahre auf den Plantagen meines Bruders. Er hatte jedoch noch Besitzungen in Kalifornien, und seit neun Jahren lebe ich auf diesen kalifornischen Besitzungen. Kurz bevor ich für immer hierher übersiedelte, hatten mein Bruder und seine Frau bei einem räuberischen Überfall während eines Aufstandes das Leben verloren. Die Besitzungen waren verwüstet und konfisziert, und nur mit Mühe rettete ich mir und einer Nichte meiner Schwägerin, die im Hause meines zehn Jahre älteren Bruders lebte, das nackte Leben. Mercedes war ein stilles, sanftes Geschöpf -- sie liebte mich schon lange, und so wurde sie meine Frau, nachdem wir auf den kalifornischen Besitzungen meines Bruders in Sicherheit waren, dessen alleiniger Erbe ich war, da er kinderlos starb.
Mercedes schenkte mir ein Töchterchen, das wir nach meiner verstorbenen Schwägerin Juanita tauften. Bei dem Aufstand, der meinem Bruder das Leben gekostet hatte, erhielt auch ich, als ich Mercedes rettete, einen Streifschuß in die Lunge. Nur mühsam schleppte ich mich mit ihr in den Wald, wo uns dann ein treuer Diener meines Bruders auffand und uns unter Gefahr seines eigenen Lebens über die Grenze geleitete.
Pedro, so hieß der treue Diener, blieb dann für immer bei uns. Wochenlang lag ich jenseits der Grenze in einer Farm, dem Tode nahe. Auf dem Krankenbett ließ ich mir Mercedes antrauen, damit sie als meine Erbin ein Anrecht auf den mir zugefallenen Besitz hatte.
Aber ich genas unter Mercedes und Pedros treuer Pflege. Wir setzten unsere Reise fort und gelangten auf den nun mir gehörenden Besitzungen an.
Aber die überstandenen Strapazen, die Schrecken des Aufstandes hatten unsere Gesundheit schwer geschädigt. Nachdem Mercedes unserem Töchterchen das Leben gegeben hatte, siechte sie dahin. Sie erholte sich nicht wieder, und auch ich war mit meiner Gesundheit gar nicht mehr zufrieden. Fünf Jahre nach der Geburt unseres Töchterchens starb meine Frau. Ich habe sie herzlich betrauert, denn wenn ich sie auch nicht so lieben konnte, wie ich Maria geliebt habe, so war sie mir doch sehr teuer geworden, und ich hatte ja außer ihr und meinem Kinde keinen Menschen auf der Welt, der zu mir gehörte.
Nun war ich allein mit meiner kleinen Juanita -- und ich wußte, daß auch mir kein langes Leben beschieden sein würde. Der Arzt hatte es mir auf meine Bitte nicht vorenthalten, daß meine Jahre gezählt seien.
Mir ließ der Gedanke keine Ruhe: Was wird aus deinem Kind, wenn du stirbst? Wem konnte ich meine kleine Juanita anvertrauen? Und da dachte ich an die beiden Menschen, die mir einst die liebsten auf der Welt waren, und ich malte mir aus, wie mein armes Kind von Euch aufgenommen würde, wenn ich es Euch ans Herz legte. Ich sah dann Maria liebevoll bemüht, meiner kleinen Juanita die Mutter zu ersetzen, sah in Dir ihren zweiten Vater. Und es kam wie ein süßer Trost über mich, Juanita würde nicht verlassen sein, sie würde bei Euch eine zweite Heimat und ein liebevolles Verstehen finden. Kannst Du mir nachfühlen, mein Bernhard, wie mich der Gedanke beglückte, das Maria meinem Kind eine Mutter sein würde? Sie, die beste und edelste der Frauen -- was würde sie meinem Kind für eine herrliche Erzieherin sein.
Der Gedanke ließ mich nicht mehr los. Und mit ihm war eine heiße Sehnsucht in mir erwacht, Euch und die Heimat noch einmal wiederzusehen, ehe ich sterbe. So begann ich wegen des Verkaufs meiner Güter in Unterhandlung zu treten und mich langsam von meinen Besitzungen zu lösen. In wenigen Wochen ist alles abgeschlossen, mein Besitz ist zu Geld gemacht, das ich auf deutschen Banken angelegt habe. Aber die fortwährenden Aufregungen der letzten Zeit haben meine Kräfte aufgezehrt, und zuweilen kommt die Angst über mich, daß ich mein Vorhaben, nach der Heimat zu reisen, nicht mehr ausführen könne.
Deshalb schreibe ich für alle Fälle diesen Brief an Dich und erkläre meinen letzten Willen so genau und ausführlich, als wäre es gewiß, daß ich Dich nicht mehr sehen und sprechen kann. Denn Du sollst der Vormund meiner Tochter sein, gleichviel, ob Du und Maria Euch entschließen könnt, mein Kind bei Euch aufzunehmen -- oder nicht.
Ich bitte Euch aber mit der ganzen Kraft meiner Seele, nehmt Juanita bei Euch auf, gebt ihr eine Heimat. Es ist mir ein so tröstlicher Gedanke, das mein Kind in Eurem Schutz zurückbleibt. Kann ich Euch nicht mehr erreichen, dann soll mein alter treuer Diener Pedro meine Tochter und meine Aufzeichnungen zu Euch bringen, während er diesen Brief als Anmeldung vorausschicken soll.
Bei unserem dortigen Konsul habe ich mich nach Dir erkundigt und erfahren, das Du mit Deiner Frau und zwei Söhnen noch in demselben Haus wohnst, in das Du mit Maria nach Eurer Hochzeit einzogst. Ich sehe nun im Geiste mein Kind in Eurer Mitte und flehe Euch nochmals an -- nehmt es voll Liebe auf.
Meine Tochter kommt nicht mit leeren Händen zu Euch. Alle Kosten, die Euch durch ihren Aufenthalt in Eurem Hause verursacht werden, sollen Euch reichlich vergütet werden, denn Ihr habt selbst Kinder, denen Ihr nichts entziehen dürft. Juanitas Erbe beträgt nach deutschem Gelde etwas über zwei Millionen Mark. Dieses Geld ist, wie ich schon bemerkte, vorläufig auf deutsche Banken überwiesen worden. Du, mein Bernhard, sollst als Juanitas Vormund darüber bestimmen, wie es ferner gut und sicher angelegt wird. Ich habe mir nur vorbehalten, Bestimmungen zu hinterlassen, in welcher Weise diese Vermögensangelegenheiten geregelt werden sollen, falls sich Juanita einmal sehr jung verheiraten sollte. Auch in diesem Fall sollst Du, mein Bernhard, das Bestimmungsrecht behalten, ob der künftige Gatte meiner Tochter über ihr Vermögen verfügen darf, oder ob ihm nur die Nutznießung davon zustehen soll. Du wirst in diesem Fall, davon bin ich überzeugt, so gewissenhaft urteilen, ob Juanitas künftiger Gatte Vertrauen verdient, wie ich es selbst tun würde. Bis zu Juanitas Mündigkeit sollst Du aber auf jeden Fall ihr Vermögen verwalten.
Genaue Bestimmungen über das alles findest Du in meinen Aufzeichnungen. Du siehst daraus, wie fest ich Dir vertraue und wie ruhig ich meinen Besitz in Deine Hände lege, so ruhig wie meines Kindes Seele in die Hände Deiner Maria.
Solange Juanita in Deinem Hause weilt, steht Dir von ihren Zinsen jährlich eine Summe von fünfzehntausend Mark zu, als Erziehungsbeitrag, denn ihr Aufenthalt soll Dir keine Unkosten verursachen. Wird sie später in Gesellschaft eingeführt, so erhält sie natürlich außerdem ein entsprechendes Nadelgeld. Das alles findest Du noch ausführlich aufgezeichnet. Es soll da nicht gespart werden, wenn ich auch wünsche, daß sich Nita ganz in Euren Haushalt einfügt, ohne Euch Störungen zu verursachen. Meine kleine Nita ist ein sanftes, gutherziges Kind und steht jetzt im achten Lebensjahr. Ich hoffe, Ihr gewinnt sie lieb und schenkt ihr ein Plätzchen in Eurem Herzen. Bedenkt, daß sie eine Waise ist und niemanden auf der Welt hat. Sterbe ich, ehe ich Nita zu Euch bringen kann, so wird Pedro sich sofort mit ihr aufmachen, zugleich wird dieser Brief an Dich abgehen. Pedro wird mit Nita wohl bald nach diesem Briefe bei Dir eintreffen. Er geht, sobald er meinen Auftrag ausgeführt hat, hierher zurück. Ich habe ihm ein Häuschen und ein Stück Land geschenkt, wo er sich zur Ruhe setzen soll. Pedro ist ein kluger, gebildeter Mensch, er wird Dir gern Einzelheiten aus meinem Leben berichten, denn er ist mir völlig ergeben und war schon meinem Bruder ein treuer Beamter. Er ist ein Landsmann von meiner Frau, ein Spanier, kann sich aber zur Not auch in deutscher Sprache mit Dir verständigen.
So, mein Bernhard, ich hoffe, Du wirst nun alles Nötige wissen. Und nochmals lege ich Dir die heiße Bitte ans Herz, Dir und Maria -- nehmt meine Nita bei Euch auf. Ich weiß, Ihr werdet es tun, denn ich kenne Euch beide und habe zu keinem Menschen so großes Vertrauen wie zu Euch. Es bleibt mir auch keine Wahl. Sollte es Euch aber doch aus irgendeinem Grunde unmöglich sein, meine heiße Bitte zu erfüllen -- so muß Nita mit Pedro hierher zurückkehren und bei ihm bleiben. Aber er ist Junggeselle und kann Nita natürlich nicht das sein, was Ihr für sie sein könntet. Nun leb wohl, mein Bernhard -- diesmal für immer. Und einen letzten Gruß für Maria! -- Heißen Dank Euch beiden im voraus für alles, was Ihr meinem Kinde zuliebe tut. Alles Glück der Welt für Euch -- laßt mein Kind daran teilnehmen, damit seine Jugend nicht ohne Sonne und Wärme ist.
Leb wohl, mein Bernhard!
Dein treuer Freund
Justus Trebin.«
Es waren seltsame Gefühle, die Bernhard Falkner beim Lesen dieses Schreibens beherrschten. Justus Trebin hatte geglaubt, dass Maria noch am Leben war. Der Konsul, bei dem er sich erkundigt hatte, hatte vielleicht gar nicht gewußt, das Maria Falkner gestorben und an ihre Stelle längst eine andere getreten war. Sicher war es Justus Trebin hauptsächlich darum zu tun gewesen, seine kleine Tochter den Händen der Frau zu übergeben, die er einst namenlos geliebt und verehrt hatte, die er nie hatte vergessen können. Ob er sein Kind wohl auch in das Haus des Freundes geschickt haben würde, wenn ihm gesagt worden wäre: »In Bernhard Falkners Haus und Herzen wohnt jetzt eine andere als Maria?« -- Aber gleichviel -- Justus war tot, da er seinen Brief in den Händen hielt. Und sein Kind war auf dem Wege hierher und konnte jeden Tag eintreffen. So sollte die kleine Juanita auch eine Heimat finden in seinem Hause. Das war er dem einstigen Freund schuldig, der vertrauensvoll alles, was er hinterließ, in seine Hände legte. Und er wollte der kleinen Waise ein guter Vormund, ein treuer Schützer und Hüter sein und ihr Vermögen in ehrlicher, uneigennützigster Art verwalten, so wie es Justus von ihm erwartet hatte. Es war ja nicht daran zu denken, daß er das heimatlose Kind von seiner Schwelle gehen ließ.
Das war das erste, das Bernhard Falkner klar wurde.
Aber dann dachte er an Helene.
Was würde sie zu dem kleinen Fremdling sagen?
Er stützte den Kopf nachdenklich in die Hand. Obwohl er Helene noch immer leidenschaftlich liebte, mußte er sich doch eingestehen, daß sie wenig dazu geschaffen war, einem fremden Kind die Mutter zu ersetzen, Pflichten zu übernehmen, die ihr Mühe und Lasten auferlegten.
Es würde nicht leicht sein, sie zu dieser Aufgabe zu überreden.
Grübelnd sann er über die ganze Sache nach. Und plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihn zusammenzucken ließ. Er sprang auf und starrte vor sich hin. Und dann entfaltete er den Brief noch einmal und überlas von neuem die Stelle, wo von dem Vermögen der kleinen Juanita die Rede war. Wie von einem Gedanken überwältigt sank er wieder in seinen Sessel zurück. Seine Augen weiteten sich und glänzten wie neubelebt, und seine Brust hob sich unter einem tiefen Atemzug.
Das war ja die Rettung aus seiner verzweifelten Lage, da schickte ihm der Himmel eine Hilfe, mit der er nie gerechnet hatte.
Zwei Millionen Mark sollte er nach eigenem Ermessen anlegen! Wer wollte ihm verdenken, wenn er davon dreihunderttausend Mark in seinem eigenen Geschäft anlegte anstelle des auszuzahlenden Kapitals seines Sohnes? Er konnte es mit ruhigem Gewissen tun, denn sein Geschäft war gut fundiert. Und dann -- der Erziehungsbeitrag für die kleine Juanita würde der nicht reichlich den Ausfall von Gerds Zinsen decken?
War das nicht ein Glücksfall ohnegleichen? Wurde ihm da nicht mit einem Male alle Sorge abgenommen?
Daran hatte er zuerst gar nicht gedacht. Aber nun kam ihm die Erkenntnis wie eine Erleuchtung.
Und wenn er das alles Helene auseinandersetzte, dann würde sie sicher die kleinen Unannehmlichkeiten mit in kauf nehmen, die ihr die Anwesenheit des Kindes verursachten. Man könnte ja genügend Personal zur Pflege der kleinen Waise engagieren, so daß Helene wenig Mühe und gewissermaßen nur die Oberaufsicht haben würde.
Bernhard Falkner war ein Mann -- er wußte nicht, daß der kleinen Juanita in seinem Hause das Beste fehlen würde: die Liebe. Er kannte Helene nicht, wußte nicht, welch ein großer Unterschied es war, ob eine Frau wie Helene oder die warmherzige, feinfühlige und liebevolle Maria diesen kleinen Fremdling ans Herz nehmen würde. Justus Trebin hatte sein Kind Marias Schutz empfohlen -- einer Helene hätte er es sicher nicht anvertrauen mögen. Aber das wußte Bernhard Falkner nicht, er glaubte, es sei gleich, wer Juanita aufzog, wenn es nur überhaupt Frauenhände waren.
Sichtlich belebt und froh faltete er jetzt den Brief zusammen und steckte ihn zu sich. Dann sah er nach der Uhr. Es trieb ihn, Helene über das alles zu berichten und mit ihr zu sprechen. Aber jetzt gleich konnte er doch nicht fort. Er mußte erst noch warten, bis ihm verschiedene eilige Briefe zur Unterschrift vorgelegt wurden.