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An demselben Abend hatte Gerd allein im Garten gesessen. Seine Angehörigen waren im Wohnzimmer, und aus den offenen Fenstern hörte er zuweilen Dolfs laute Stimme herausklingen.
Dann störten Gerd aber die Dienstboten in seiner Ruhe, die vor dem hinteren Ausgang der Villa auf der Treppe saßen und miteinander scherzten und lachten.
Da ging er an ihnen vorbei ins Haus zurück. Er sah, daß es das Zimmermädchen, der Diener und die Zofe seiner Stiefmutter waren.
Als er in den ersten Stock hinaufkam und sein Zimmer aufsuchen wollte, hörte er aus dem Schlafzimmer der kleinen Nita, an dem er vorüberging, ein so schmerzliches und verzweifeltes Schluchzen und Weinen, daß er wie gebannt stehenblieb und lauschte. Und dann vermochte er es nicht länger anzuhören, dieses trostlose Weinen. Leise öffnete er das Zimmer und trat ein, die Tür wieder hinter sich schließend.
Der Mond schien durch die zugezogenen Vorhänge nur matt ins Zimmer und spendete gerade so viel Licht, daß Gerd in schwachen Umrissen die Möbel erkennen konnte.
Schnell trat er an das Bett heran, in dem die kleine Nita, in ihren Kissen gewühlt, lag und weinte.
Voll Erbarmen beugte er sich über sie und legte seine Hand auf ihr Köpfchen. »Weine nicht, meine kleine Nita!« sagte er sanft und tröstend in spanischer Sprache, weil er glaubte, damit beruhigend auf sie einzuwirken,.
Sie wandte sich schluchzend um und faßte seine Hand.
»Wer bist du? fragte sie schluchzend, indem sie sich auf die Knie emporrichtete.
Er umfaßte sie mitleidig, streichelte ihr die Wangen, und als er merkte, daß diese naß von Tränen waren, zog er das seidene Tuch aus der Brusttasche und trocknete ihr die Tränen.
»Wer ich bin? Kennst du mich nicht? Ich bin ein Mensch, der deinen Schmerz versteht und mit dir fühlt. Sei ruhig, arme kleine Nita, weine nicht.
Das Kind richtete sich nun ganz empor und schmiegte sich zitternd an ihn.
»Ich fürchte mich so allein! Mein Väterchen soll kommen oder Pedro, oder die gute Tante Maria. Ich will nicht allein sein.«
»Ich bin ja bei dir.
Juanita schluchzte, wie Kinder nach langem Weinen tun.
»Du gehst aber wieder fort und wirst nicht wiederkommen morgen, wenn es dunkel ist.«
»Ja, ja, Nita, ich komme wieder.«
»Nicht wahr, du bist der gute Herr Gerd, der im Garten saß, als ich hierherkam?« fragte Nita und suchte mit ihren Augen das Dunkel zu durchdringen.
Er lächelte und streichelte ihr Haar.
»Ja, Nita.
Sie nickte.
»Ich weiß, weil du spanisch mit mir sprichst wie mein Mütterchen und Pedro. Die andern können nur deutsch mit mir sprechen. Sag, hast du Nita ein wenig lieb, guter Herr Gerd?«
»Ja, mein armes kleines Vöglein, ich habe dich lieb. Hast dein warmes Nest verlassen müssen, ehe du flügge warst, und frierst nun.
»Was hast du gesagt, Herr Gerd? Gelt -- du meinst, daß mich hier niemand liebhat. Nur Onkel Bernhard ein wenig. Und Dolf, wenn er mir Bilder zeigt. Aber er läuft immer fort. Und Tante Helene -- die ist böse, Herr Gerd.«
»Nenne mich nicht ›Herr Gerd‹, sag einfach Gerd zu mir.«
»Ja, das will ich tun, guter Gerd.«
»Und du mußt nun brav sein und gar nicht mehr weinen, hörst du?«
»Wenn du bei mir bleibst, will ich gewiß nicht weinen. Du hast so eine liebe, warme Stimme -- wie mein Väterchen. Und du bist gut, ich weiß es, nicht so böse wie Tante Helene, die mich mit so kalten Augen ansieht, wenn ich nach der guten Tante Maria rufe. Sag, kommt denn die gute Tante Maria nicht endlich zu mir?«
»Sie kann nicht zu dir kommen -- solange du wach bist. Tante Maria ist ein Engel geworden und kommt nur zu dir, wenn du schläfst.«
»O wie mein Mütterchen! Dann ist sie wohl auch im Himmel bei Väterchen und Mütterchen?«
»Ja, ja, meine kleine Nita, und sie sind alle bei dir, wenn du hier allein bist, auch wenn du sie nicht siehst. Und wenn du schläfst, kommen sie zu dir und herzen und küssen dich.
»Ach, du guter Gerd -- das hat mir Väterchen auch versprochen. Aber daß Tante Maria auch ein Engel ist, hat er mir nicht gesagt. Er hat mir nur gesagt, sie ist gut und schön wie ein Engel und wird mich sehr liebhaben.«
Gerd fühlte sich tief ergriffen. Aber er war nun mit seinem Latein am Ende und wußte nicht mehr, was er dem Kind sagen sollte. Aber das Mitleid half ihm weiter.
»Dein Väterchen hat in dem fernen Land nicht gewußt, daß Tante Maria nun ein richtiger Engel geworden ist.«
Nita seufzte und schluchzte noch einmal auf.
»Ach -- wäre ich doch auch im Himmel bei Väterchen und Mütterchen und bei Tante Maria.«
Gerd wußte nicht, was er antworten sollte, und überlegte. Dann sagte er:
»Das darf nicht sein, Nita, du mußt erst größer und älter werden.«
Nita atmete tief auf und schmiegte sich an ihn. Streichelnd fuhr sie ihm mit der Hand über das Haupt.
»Du hast so weiches Haar wie mein Väterchen. Wenn ich die Augen schließe und dich streichle, kann ich denken, Väterchen ist bei mir.«
Gerd strich ihr unbeholfen das Haar aus dem heißen Gesichtchen.
»Ich meine es auch so gut mir dir wie dein Väterchen, kleine Nita, und deshalb muß ich nun von dir verlangen, daß du dich niederlegst und schläfst.«
»Bleibst du auch bei mir, bis ich eingeschlafen bin?
»Ja, ja -- wenn du artig bist und schnell schläfst.«
»Und kommst du auch morgen wieder, wenn ich so allein bin?
»Ja, Kind, aber du darfst nicht weinen, mußt ruhig warten.«
»Alles will ich tun wie du willst.«
»Nun gut, so schlaf jetzt, sonst betrübst du mich.
»Nein, o nein, das will ich gewiß nicht tun. Du bist ja so gut, so gut.«
Sie kuschelte sich schnell in ihre Kissen.
»Bitte, gib mir deine Hand, bat sie leise.«
Er tat es, und seine Hand mit ihren beiden umfassend, schloß sie fest die Augen, als könnte sie damit das Einschlafen beschleunigen.
Still setzte er sich neben sie nieder und verhielt sich ganz ruhig. So seltsam friedlich war ihm zumute bei seinem Samariterwerk. Ganz still war es im Haus, nur zuweilen drang ein verlorener Laut von der schwatzenden Dienerschaft aus dem Garten empor. Tiefer und gleichmäßiger wurden die Atemzüge des kleinen Mädchens. Die Händchen lösten sich mehr und mehr, und bald merkte Gerd, daß Nita eingeschlafen war.
Leise erhob er sich und schlich aus dem Zimmer. Er suchte aber jetzt nicht das seine auf, sondern ging leise die Treppe hinab bis in das Souterrain des Hauses.
Dort öffnete er die Küchentür.
An dem blankgescheuerten Tisch saß eine dralle, rundliche Frauensperson von ungefähr vierzig Jahren. Sie trug ein dunkelblaues Kattunkleid mit weißen Tupfen, eine breite, weiße Schürze und auf dem glattgescheitelten Haar ein weißes Häubchen. Vor ihr lag eine Zeitung, in der sie las, Sie war ganz allein.
»Tina!« rief Gerd leise.
Sie blickte überrascht auf, denn beim Öffnen der Tür hatte sie gemeint, einer der Domestiken sei eingetreten.
»Oh, du mein lieber Gott -- der junge Herr! Was gibt es denn, Herr Gerd?« rief sie aufspringend.
Gerd zog die Küchentür hinter sich zu.
»Tina -- ich habe eine Bitte.«
Sie nickte eifrig.
»Reden Sie nur, Herr Gerd, reden Sie nur, Sie wissen doch, für Sie gehe ich durchs Feuer, wenn es sein muß.«
Gerd schüttelte lächelnd das Haupt. »So schlimm wird es nicht, Tina. Aber einen großen Gefallen sollst du mir tun. Ich weiß, du bist sehr gutherzig, und ich habe noch nicht vergessen, wie gut du zu mir gewesen bist, als ich noch ein Kind war.«
»Na ja, Herr Gerd -- es guckte ja auch kein Mensch sonst nach Ihnen. Umsonst bin ich ja nicht schon zu Lebzeiten Ihrer seligen Frau Mutter hier im Hause gewesen. Habe alles mitangesehen, was so passiert ist, und habe mir mein Teil gedacht. Du lieber Gott -- wund und weh wird mir noch immer, wenn ich an Ihre selige Frau Mutter denke, Herr Gerd. Das war eine Frau -- der reine Engel, jawoll -- der reine Engel. Na ja, als Dienstbote muß man ja zu allem still sein, sonst wird man fortgejagt. Aber das wissen Sie, Herr Gerd, daß ich immer zu Ihnen gehalten habe.«
Gerd drückte ihr die harte, verarbeitete Hand.
»Ja, Tina, das weiß ich, und nie will ich dir vergessen, was du an mir getan hast, ich vergelte es dir schon noch einmal. Aber jetzt habe ich wieder eine Bitte. Du weißt doch, Tina, daß jetzt wieder so ein armes, mutterloses Kind hier im Hause ist?«
»Ach, Sie meinen die kleine Spanierin, Herr Gerd? Guter Gott, das arme, kleine Wurm! Ich habe die Kleine noch kaum recht gesehen. Aber ein feines, hübsches Kindchen ist es -- wie eine Prinzessin. Sie soll ja wohl eine Erzieherin kriegen?«
»Allerdings, Tina. Aber jetzt eben komme ich aus ihrem Zimmer und habe sie getröstet. Sie lag mutterseelenallein und weinte herzzerreißend genau wie ich, als meine Mutter gestorben war. Und kein Mensch kümmerte sich um sie.«
Tina schlug die Hände zusammen. »War denn die Sophie nicht bei ihr?
»Nein, Sophie ist draußen im Garten mit Friedrich und Anna. Das Kind war ganz allein in seinem Jammer. Und siehst du, Tina, da habe ich an dich gedacht. Ich weiß, du kannst wunderschön trösten und beruhigen und so hübsche und lustige Geschichten erzählen.«
Die Köchin sah ganz gerührt zu ihm auf.
»Das wissen Sie noch, Herr Gerd?«
Er nickte.
»Ja, Tina, das weiß ich noch. Und ich will dich nun bitten, dich jeden Abend ein halbes Stündchen zu der kleinen Nita zu setzen, um ihr das Herz leichter zu machen. Ich habe ihr versprochen, morgen wieder zukommen, und da will ich dich zu ihr führen, daß sie zu dir Vertrauen gewinnt. Denn ich gehe nun bald von zu Hause fort, für immer, und ich sorge mich um die Kleine und möchte, daß sie hier im Hause jemanden hat, der sich ihrer liebevoll annimmt. Willst du das tun?«
Tina nickte energisch.
»Aber freilich, Herr Gerd, aber freilich. Die Sophie ist ein Flederwisch. Ich denke, sie sitzt bei der Kleinen, sonst hätte ich doch mal nach ihr gesehen. Also, Sie können ganz ruhig sein, Herr Gerd, von jetzt an kümmere ich mich selbst um das Kind -- schon Ihnen zuliebe. Das arme, kleine Wurm!«
»Also abgemacht, Tina. Morgen abend um halb neun Uhr bist du oben vor ihrer Tür.«
»Ja, Herr Gerd. Ist sie denn heute ruhig geworden?
»Ja, sie ist eingeschlafen, als ich noch bei ihr war. Also, nun gute Nacht, Tina. Und vielen Dank.«
»Schon gut, Herr Gerd, da ist nichts zu danken.«
Gerd ging leise aus der Küche und stieg die Treppe wieder hinauf. An Nitas Tür lauschte er noch ein Weilchen, aber es war alles still. Da suchte er beruhigt sein Zimmer auf. Am nächsten Abend wartete Gerd, bis Sophie, Frau Helenes Zofe, sich aus Nitas Zimmer entfernte, nachdem sie diese zu Bett gebracht hatte. Kurze Zeit darauf traf er mit Tina an Nitas Tür zusammen.
Leise traten sie ein.
»Schläfst du schon, Nita?« fragte Gerd leise.
Die Kleine richtete sich schnell auf. »Nein, guter Gerd, ich wartete auf dich. Ach, wie gut, daß du kommst, wie gut von dir.«
Er trat an ihr Bettchen.
»Ich komme nicht allein, mein liebes Kind. Da ist noch die gute Tina, die dich sehr liebhat und immer nach dir sehen will, wenn ich fort bin und ich nicht zu dir kommen kann.«
Nita umklammerte seinen Hals.
»Ach, geh nicht fort, geh nicht fort.«
»Jetzt noch nicht, Nita, erst später. Nun gib mal Tina ein Händchen. Sie ist sehr gut, die Tina.«
Die Köchin nahm gleich das Kind auf den Arm, hüllte es sorglich in eine Decke und plauderte mit ihm. Diese schlichte, treue Person fand sofort den rechten Herzenston, und Nita schmiegte sich vertrauend in ihre Arme und ließ sich dann willig wieder zur Ruhe legen.
Solange Gerd noch im Hause war, wechselte er mit Tina ab in sorglichen Liebesbeweisen für den kleinen Fremdling. Dann aber, als er abreiste, war Nita mit Tina so vertraut geworden, daß sie sich artig und ergeben in die Trennung von Gerd fügte. Niemand im Hause hatte eine Ahnung von dem heimlichen Samariterwerk, das Gerd und Tina an der kleinen Waise ausübten.
Und während sich Bernhard Falkner gütig, aber mit wenig Verständnis für ein Kindergemüt, um Nita mühte, während Frau Helene sich nur um Äußerlichkeiten kümmerte und Nita herausputzte, ohne daß das Kind das heimliche Bangen vor den kalten, flimmernden Augen verlor, fand die kleine Waise in der treuen, gutherzigen Tina eine liebevolle, verständige Trösterin, mit der sie von dem guten Gerd und von all ihren Lieben plaudern konnte. Und Tina fand mit ihrem schlichten Gemüt den rechten Ton für dieses kleine, vereinsamte Herz, das sich so sehr nach Liebe sehnte und diese Liebe nur bei einer Dienerin fand.
Gerhard Falkner hatte sein Vaterhaus verlassen.
In den letzten Tagen hatte er noch einige Unterredungen mit seinem Vater gehabt, die sich aber nur auf Äußerlichkeiten bezogen. Der Form halber machte Gerd seinen Vater mit seinen Zukunftsplänen bekannt, und der Vater gab ihm Ratschläge für die Anlage seines Kapitals.
Aber als sie dann beide Abschied nahmen voneinander, da schlossen sich die beiden Hände doch fester umeinander als sonst. In beider Herzen quoll es warm empor, und vielleicht hätten sie doch in dieser Stunde herzliche Worte für einander gefunden, wenn nicht Frau Helene dazwischengetreten wäre. Da war die gute, weiche Stimmung auf beiden Seiten verflogen. Die Hände lösten sich und sanken schlaff herab.
Von seiner Stiefmutter und Dolf verabschiedete sich Gerd mit kühler Höflichkeit, wie von fremden Menschen.
Von der kleinen Nita hatte er schon unbemerkt Abschied genommen. Mit guten, warmen Worten hatte er ihr Mut Zugesprochen und sie an Tina verwiesen. Sie hatte ihn fest umklammert, und der kleine, warme Körper hatte sich fest an ihn geschmiegt.
»Gehst du nun auch zu den Engeln, guter Gerd?« fragte sie traurig.
»Nein, Nita, ich reise nur in eine andere Stadt.«
»Wirst du wiederkommen?
»Nicht so bald, liebes Kind. Aber Tina bleibt bei dir.«
Nita seufzte.
»Tina ist gut, ich habe sie lieb -- aber dich habe ich noch viel lieber.«
Eigen warm wurde ihm ums Herz bei dieser Versicherung.
»Ich habe dich auch sehr, sehr lieb, meine kleine Nita, und ich werde immer an dich denken. Es tut mir sehr leid, daß ich dich verlassen muß.«
»So nimm mich doch mit dir, Tina geht auch mit uns -- o bitte, nimm mich mit, daß ich fortkomme von Tante Helene.«
Er streichelte ihre dunklen Locken. »Ich kann dich nicht mitnehmen, mein armes, kleines Vögelein, habe ja selbst kein warmes Nest.«
Er drückte Nita fest an sich, küßte sie und gab sie Tina in die Arme, die Zeugin dieser Szene war und sich heimlich die Augen wischte.
»Tina«, sagte der junge Mann leise, »schreibe mir ab und zu einige Zeilen, wie es Nita geht. Das Kind ist mir so ans Herz gewachsen. Antworten kann ich dir natürlich nicht, es würde auffallen, wenn Briefe von mir hier zu dir ins Haus kämen. Du würdest nur Unannehmlichkeiten haben. Aber ich werde Sorge tragen, daß mich deine Briefe immer erreichen. Schicke sie nur immer an meine Tante Horst in der Lessingstraße, die sendet sie mir dann sicher zu.«
Tina nickte mit feuchten Augen. »Das will ich tun, Herr Gerd, soviel werde ich schon mit Tinte und Feder zusammenbringen. Und der liebe Gott behüte Sie, Herr Gerd. Ich will immer für Sie beten, daß es Ihnen gutgeht.«
»Hab Dank, liebe gute Tina. Und du und ich -- wir sehen uns wieder. Laß mich nur erst mit meinem Studium fertig sein. Und wenn ich einmal etwas für dich tun kann, dann laß es mich wissen, hörst du?«
»Ja, ja, Herr Gerd, das will ich mir merken. Aber solange ich gesund bin und in Lohn und Brot, solange helfe ich mir schon selbst.«
Und nun war Gerd abgereist.
Im Falknerschen Hause schien er keine Lücke hinterlassen zu haben, niemand sprach von ihm, niemand bedauerte seine Abwesenheit. Nur das fremde kleine Mädchen weinte noch manchen Abend um ihn und jammerte, daß alle Menschen, die sie liebhatte, von ihr gingen. Tina mußte sie wieder und wieder trösten und ihr immer versichern, daß der gute Gerd eines Tages wiederkommen würde. Daran klammerte sich die kleine Waise, diese Hoffnung verwuchs mit ihrem ganzen Sein. Und wenn sie des Abends still und heimlich mit Tina plauderte, dann sagte sie stets: »Wenn der gute Gerd wiederkommt, dann will ich froh sein.«
Einige Wochen nach Gerds Abreise traf eine Erzieherin für Nita im Falknerschen Hause ein, die Frau Helene engagiert hatte. Juanita in eine Schule zu schicken, davon hatte Bernhard Falkner Abstand genommen. Ihre Vorbildung war in manchen Fächern vernachlässigt worden, während sie in anderen Fächern ihrem Alter weit voraus war. Darum war ein individueller Unterricht wünschenswerter. Und da Juanitas Verhältnisse es gestatteten, ihr eine Erzieherin zu halten, so geschah es.
Nach und nach gewöhnte sich Juanita in die neuen Verhältnisse. Sie fügte sich mit der ihr eigenen Sanftmut in alles, was man über sie bestimmte. Aber sie blieb seltsam still und in sich gekehrt. Nie verlor sie die Scheu vor Frau Helenes kalten, flimmernden Augen. Dabei übten diese Augen einen großen Einfluß auf sie aus. Wie alle schwachen Naturen fühlte sie sich wie unter einem Bann, der sie willenslos machte, wenn Helene sie mit ihren suggestiven Blicken ansah.
Zu Onkel Bernhard fühlte sich Juanita mehr hingezogen, aber er war nur selten für sie zu haben, da er durch seine Geschäfte, zu denen sich nun noch Juanitas Vermögensverwaltung gesellt hatte, sehr in Anspruch genommen war.
Hatte Nita aber einen Wunsch, dann wartete sie sicher, bis sie ihn Onkel Bernhard vortragen konnte.
Dolf stellte sich im ganzen gut zu der kleinen Hausgenossin. Er hatte bald herausgefunden, daß sich ihre Gutherzigkeit verschiedentlich ausnützen ließ, und davon machte er ausgiebigen Gebrauch.
Frau Helene hatte ihre Abneigung gegen Nita bezwungen, so gut es ging. Sie war klug genug, einzusehen, welche Vorteile ihr die Anwesenheit des Kindes brachten. Und dann wurde sie gebührend bewundert und angestaunt, wenn sie sich mit dem reizenden, kleinen Mädchen, das sie sehr zierlich kleidete, in der Öffentlichkeit sehen ließ. Überall nannte man Nita »die kleine Spanierin«, und ihre entschieden exotische Erscheinung erregte großes Aufsehen. Das gefiel Frau Helene sehr. Und so wenig sie sich im Hause auch um Nita kümmerte, so sehr hielt sie darauf, daß Nita sie täglich bei schönem Wetter auf ihren Ausfahrten oder Spaziergängen begleitete. Und waren Besucher anwesend, so zeigte sie sich gern mit Nita in einer zärtlich mütterlichen Pose.
Die großen, ernsten Kinderaugen paßten dann aber so gar nicht zu dem amüsanten Geplauder der Menschen, die das Kind umgaben und neugierig anstaunten.
Juanitas Erzieherin war eine hagere, wenig anmutige Erscheinung Mitte der Dreißig. Sie war Genferin von Geburt und faßte ihren Beruf sehr gewissenhaft und nüchtern auf. Im Herzen stand sie ihrem Zögling ganz fremd gegenüber. Sie richtete sich nach Frau Helenes Anweisungen und war zufrieden mit dem guten, bequemen Leben, das sie im Falknerschen Hause führte. Nita lernte leicht, machte schnelle Fortschritte und war ein stilles, leicht zu lenkendes Kind.
Daß ihr kleiner Zögling ein bedauernswertes Kind sein könne, kam ihr gar nicht in den Sinn. Nita wuchs ja im Überfluß auf und war eine Millionenerbin. Daß man mit solch einem vom Schicksal bevorzugten Geschöpf Mitleid haben könne, wäre Fräulein Meta Schüpp nicht eingefallen.
Sie ahnte auch nicht, daß des Abends, wenn Nita zu Bett gebracht worden war und sie sich mit einer spannenden Lektüre in ihr behagliches Zimmerchen zurückgezogen hatte, froh, aller Pflichten ledig zu sein -- daß dann leise eine rundliche Frauengestalt mit weißer Schürze und weißem Häubchen in Nitas Schlafzimmer huschte. Dann gab es zwischen Nita und der guten Tina ein zärtliches Kosestündchen.
»Meine liebe Tina -- bist du endlich wieder bei deiner Nita?« flüsterte dann ein süßes Kinderstimmchen. Den ganzen Tag zehrte Nita von diesem heimlichen Zusammensein mit der Köchin Tina.
Diese hatte das kleine Mädchen so innig ins Herz geschlossen, daß sie sich auf dieses Stündchen auch den ganzen Tag freute. Eine wunderliche Welt bauten sich diese beiden so grundverschiedenen Menschen da auf. Die Köchin verfügte über einen reichen Schatz mütterlichen Empfindens, der immer größer wurde, je mehr sie davon ausgab. Und die kleine Nita fühlte, daß sie im Schutz dieses mütterlichen Empfindens wohlgeborgen war.
Tina erzählte Juanita liebe, drollige Geschichten, sagte ihr kleine Verschen auf, die sie aus ihrer Kindheit behalten hatte, und musste vor allen Dingen wieder und wieder berichten von dem guten Gerd, als er noch ein kleiner Knabe war und sich auch von Tina herzen und trösten ließ, weil sein Mütterchen zu den Engeln gegangen war. Auch von dem großen Gerd musste Tina immer wieder erzählen.
Und so schloß sich um diese beiden Herzen in aller Stille ein festes Band, von dem niemand im Haus eine Ahnung hatte. Denn wurde Tina wirklich einmal gesehen, wenn sie zu Nita ging oder von ihr kam, dann sagte sie leichthin, daß die Kleine unruhig gewesen wäre und sie nach ihr gesehen hätte.
So wuchs Juanita Trebin im Hause ihres Vormundes auf. Nach außen schien ihrem Leben nichts zu fehlen, sie besaß alles, was sie sich wünschen konnte. Aber ihr liebeheischendes, warmes Herz mußte sich begnügen mit der zärtlichen Neigung einer treuen Dienerin.
Nie verriet Nita, das Tina des Abends heimlich zu ihr kam. Auch Gerds Name kam den andern gegenüber nie über ihre Lippen, seit sie einmal von Frau Helene barsch abgefertigt worden war:
»Nenne diesen Namen nicht, Nita. Gerd gehört nicht mehr zu uns.«
Um so mehr dachte Nita an Gerd. Ihr junges Herz bewahrte getreulich das Andenken an ihn, und er wurde ihr ganz zu einer Idealgestalt. Nie schlief sie ein, ohne daran zu denken, wie er an jenem ersten Abend zu ihr gekommen war und sie so lieb getröstet hatte. »Weine nicht, meine arme, kleine Nita.« Das hörte sie immer wieder. Seine warme, weiche Stimme schien noch in ihren Ohren zu klingen und seine Hände fühlte sie noch die ihren umschließen im festen, warmen Druck.