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Bernhard Falkner war, nachdem Gerd ihn verlassen hatte, bald nach Hause gefahren, um mit seiner Frau über die neue kleine Hausgenossin zu sprechen.
Unerwartet trat er in ihr Zimmer. Sie saß, in einem Buche lesend, in einem Sessel und erhob sich sofort, als er eintrat.
»Du, Bernhard? Um diese Zeit?« fragte sie erstaunt.
Er sah sie an, und als sie in ihrer ganzen Schönheit vor ihm stand, riß er sie in seine Arme und küßte sie.
»Komme ich dir zu früh?
Sie lächelte zärtlich, betörend, und darüber sah er nicht das Kalte, forschende Flimmern ihrer Nixenaugen.
»Zu früh niemals, Bernhard. Aber ich bin leider gewohnt, das du sonst später kommst.«
Er zog sie neben sich auf den Diwan.
»Ich habe dir etwas Besonderes mitzuteilen, Helene.«
Ein forschender, unruhiger Seitenblick streifte ihn.
»Hoffentlich nichts Unangenehmes, du machst mir bange.«
»Sei ganz ruhig, es ist nichts Unangenehmes. Also, zuerst Gerd war draußen bei mir.«
Sie zuckte leise zusammen.
»Gerd? Bei dir in der Fabrik?«
»Ja, mein Schatz. Und er hat mir gesagt, daß du es über dich gebracht hast, bei ihm für mich zu bitten wegen seines Vermögens. Ich danke dir. Du hast mir da einen neuen Beweis deiner Liebe gegeben, denn ich weiß, was es dich gekostet hat, dem widerspenstigen Bengel ein gutes Wort au geben.«
Sie seufzte tief auf.
»Ich tat es doch für dich, mein Bernhard, sagte sie heuchlerisch. Und dann fuhr sie unruhig fort: »Was hat er dir gesagt?«
»Er bot mir zu meiner Überraschung selbst an, sein Kapital in meinem Geschäft stehenzulassen.«
Sie atmete auf.
»Gott sei Dank.«
Er zog sie fest an sich.
»Ich werde es zum Glück nicht nötig haben und habe ihm bereits gesagt, daß er das Geld ausbezahlt bekommt.«
Unruhig blickte sie ihn an.
»Ausbezahlt? Ja -- kannst du das denn tun?«
Lächelnd küßte er die Hände seiner Frau.
»Höre mich an, Helene -- ein besonderer Glücksfall hat mich plötzlich aus aller Not befreit.«
Er erzählte ihr von dem Brief Justus Trebins und malte ihr alles in verlockenden Farben aus. Nur davon sprach er nicht, was Justus Trebin von Maria geschrieben hatte. Er hatte es nicht nötig, Überredungskünste anzuwenden. Helene hatte einen viel zu berechnenden, praktischen Sinn, um nicht sogleich alle Vorteile zu übersehen, die ihr die Anwesenheit der reichen jungen Erbin in ihrem Hause bringen würde. Die kleinen Unannehmlichkeiten fielen dagegen fast gar nicht ins Gewicht.
Sie war nicht die Person, sich durch irgendwelche Pflichten das Leben zu erschweren. Wenn das fremde Kind Pflege und Aufsicht brauchte, so konnte man bezahlte Leute dafür anstellen. Im übrigen würde es sich sehr nett machen, wenn sie sich mit dem kleinen Mädchen, das natürlich hübsch und zierlich herausgeputzt werden mußte, zeigen konnte.
Jedenfalls war sie sofort bereit, das Kind aufzunehmen.
»Natürlich, Bernhard, es ist doch selbstverständlich, daß wir uns der kleinen Waise liebevoll annehmen. Dein Freund soll sich nicht in uns getäuscht haben, wir werden dem verwaisten Kind eine Heimat bieten«, sagte sie, scheinbar von Mitleid erfüllt.
Bernhard Falkner schämte sich fast, daß er bei dieser Angelegenheit auch an die finanzielle Seite gedacht hatte. Die schien Helene ganz nebensächlich zu sein. Sie dachte nur voll Mitleid an die arme Waise.
Er zog sie zärtlich an sich und war von neuem von seiner schönen Frau bezaubert. In ihrer Nähe vergaß er auch ganz das drückende Gefühl, das seit seiner Unterredung mit Gerd in ihm gewesen war und das ihn anklagen wollte, zu schroff und hart gegen ihn gewesen zu sein.
Er besprach noch allerlei mit seiner Frau. Aber auch jetzt erwähnte er nichts davon, das Justus Trebin Maria geliebt hatte und daß er geglaubt hatte, sein Kind in ihre Obhut geben zu können. So sollte sie es gar nicht erfahren, denn er meinte, es müsse sie kränken. Vielleicht nahm es ihr auch die Lust, sich der kleinen Juanita anzunehmen, und das sollte nicht sein.
Frau Helene konnte es nicht unterlassen, ihrem Gatten voll klagender Wehmut zu berichten, das Gerd ihr wieder »sehr unverschämt« entgegengetreten sei. Das weckte natürlich wieder heftigen Groll in dem Vaterherzen.
Zum Überfluß kam jetzt Dolf herbeigelaufen, der draußen erst wohlweislich seine Zigarette fortgeworfen hatte. Er machte ein sehr klägliches Gesicht und rief jammernd:
»Gerd hat mich aus seinem Zimmer hinausgeworfen. Er will nur nicht, daß ich sehe, was er tut. Und so garstig ist er zu mir, obgleich ich ihm immer wieder liebevoll entgegenkomme. Ach lieber Papa -- warum ist Gerd nur so gehässig mir gegenüber? Ich tue ihm doch nie etwas zuleide.
Bernhard Falkner zog ihn zärtlich zwischen seine Knie und streichelte ihm das rotgoldene Haar. Voll zärtlichem Vaterstolz sah er in das bildschöne Knabengesicht, dem man jetzt nichts von den bösen Charaktereigenschaften ansah.
»Laß gut sein, mein Dolf, gräme dich nicht. Nur noch wenige Wochen, dann verläßt Gerd ohnedies das Haus. Gehe ihm solange möglichst aus dem Wege. Ich möchte nicht noch Szenen mit ihm heraufbeschwören und mich aufregen.«
»Nein, lieber Papa -- das sollst du gewiß nicht. Du sollst nicht Arger haben meinetwegen. Ich werde es ja solange noch aushalten«, antwortete Dolf schmeichlerisch, sich an den Vater schmiegend.
Frau Helene streichelte Dolf zärtlich die Hand.
»Mein armer, armer Junge, du bist Gerd nun einmal ein Dorn im Auge. Sei nicht betrübt, Papa und ich haben dich um so lieber.
Der scheinheilige Schlingel ließ sich herzen und küssen und triumphierte dabei innerlich, das er Gerd wieder einmal gehörig angeschwärzt hatte. Er wußte aus Erfahrung, daß Gerd sich nie verteidigte, wenn ihm der Vater Vorhaltungen machte über sein »liebloses Benehmen« Dolf gegenüber. Mochte Dolf noch so dick aufgetragen haben, mochte er direkt Lügen über ihn berichtet haben -- Gerd blieb stumm und deckte diese Lügen nicht auf.
Dabei war Gerd weniger bestrebt, Dolf zu schonen als den Vater, denn Gerd wußte, daß sein Vater Dolf sehr liebte und an seinen guten Charakter glaubte. Wenn der Vater schon eines Tages hinter das wahre Wesen Dolfs kommen würde -- durch ihn selbst sollte es nicht geschehen. Wahrscheinlich hätte man ihm auch gar nicht geglaubt, wenn er Dolf angeklagt hätte. --
Eine Stunde später saß die Familie Falkner zu Tisch. In dem schönen, reichausgestatteten Speisezimmer war der Tisch für vier Personen gedeckt.
Gerd fand sich pünktlich ein und nahm seinen Platz neben dem Bruder ein, sich stumm verneigend.
Kein Zug in seinem strengen, jungen Gesicht verriet, was er innerlich durchlebt hatte, seit er den Brief seiner Mutter gelesen hatte.
Er mußte nur denken, daß in demselben Speisezimmer, an demselben Tisch vor langen Jahren an Stelle der falschen Frau mit den flimmernden, unheimlichen Augen seine eigene Mutter als Herrin gesessen hatte.
Ihm war zumute, als müßten ihm bei diesen Gedanken brennende Tränen aus den Augen stürzen. Und er wußte, daß es nun für ihn höchste Zeit war, aus dem Hause zu kommen, wenn ihn sein ungestümes Blut nicht noch zu Unbesonnenheiten hinreißen sollte. In Gedanken versunken löffelte er seine Suppe, dann rissen ihn plötzlich einige Worte seines Vaters aus seiner Versunkenheit.
»Du wirst nun bald eine liebe kleine Hausgenossin bekommen, mein lieber Dolf.«
Gerd hob die Augen, und auch Dolf sah erstaunt in des Vaters Gesicht.
»Eine Hausgenossin, Papa? Aber wie denn?« fragte Dolf.
»Ja, mein Junge. Ein kleines Mädchen, das aus Kalifornien kommt, soll künftig bei uns wohnen. Die kleine Juanita Trebin hat ihre Eltern verloren und soll in Deutschland, und zwar in unserem Hause erzogen werden.«
Gerd mußte unwillkürlich denken: Das arme Kind!
Dolf riß seine Augen weit auf.
»Juanita? Das klingt doch spanisch, Papa?«
»Ganz recht, mein Junge. Ihre Mutter war eine Spanierin, und ihr Vater war einst mein bester Freund. Er schickt mir seine kleine Tochter als ein Vermächtnis. Sie ist acht Jahre alt und soll bei uns erzogen werden. Freust du dich nicht auf die kleine Hausgenossin?«
Dolf machte ein zweifelndes Gesicht.
»Gott -- mit solch kleinen Mädels ist eigentlich nichts Rechtes anzufangen.«
Seine Mutter lachte.
»Ach geh, Dolf. Du wirst ihr Ritter sein, ihr Beschützer, dessen bin ich gewiß.«
Dolf machte ein braves Gesicht.
»Ja doch, Mama. Aber sag mal, lieber Papa, wie kommen wir eigentlich dazu, das kleine Mädchen bei uns aufzunehmen?«
»Ich sagte dir doch, ihr Vater war mein bester Freund, und da sein Kind verwaist ist, so ist es Christenpflicht, es aufzunehmen.«
»Na ja«, sagte Dolf zögernd, »aber wird das nicht scheußlich viel Geld kosten? Mädels brauchen doch 'ne Menge Kram.«
Wieder lachte seine Mutter zärtlich.
»Wie drollig der kleine Praktikus ist -- er wird mal ein tüchtiger Kaufmann werden«, sagte sie zu ihrem Gatten.
Dieser lächelte und sagte dann ruhig:
»Die kleine Juanita ist eine reiche Erbin, und alle Kosten werden mir reichlich ersetzt, du kleiner Rechenmeister.«
Dolf machte ein eitles Gesicht.
»Ein Kaufmann muß immer rechnen, Papa, das hast du mir selbst so oft gesagt. Und ich will doch deine Lehren befolgen.«
Bernhard Falkner sah seinen Jüngsten zärtlich an.
»Das höre ich gern, Dolf. Ich freue mich, das du meine Lehren beherzigst. Du wirst gewiß einmal ein tüchtiger Geschäftsmann. Da habe ich doch wenigstens einen Sohn, dem ich mein Geschäft in Ruhe hinterlassen kann.«
Für Gerd lag in diesen Worten ein versteckter Tadel. So ging es fast immer. Meist wurde er wenig von seinen Angehörigen beachtet. Sprach man mit ihm, so geschah es sicher in einer kränkenden Weise.
Gerd hatte auf seines Vaters Wunsch Kaufmann werden sollen. Aber er hatte wenig Sinn und Interesse für diesen Beruf, und »Rechnen« wie Dolf konnte er freilich nicht mit seinem großzügigen, impulsiven Wesen. Er hatte darauf bestanden, studieren zu dürfen, und sein Lerneifer und seine Begabung waren groß. Er wollte Naturforscher werden. Nach Beendigung seiner Studien wollte er große Reisen unternehmen und unerschlossene Länder durchforschen. Das war das Ideal, dem er nachstrebte. Eifrig hatte er sich für diesen Beruf vorbereitet, hatte vor allen Dingen auch Sprachstudien getrieben. Da er ein hervorragendes Sprachtalent besaß, wurde es ihm leicht, sich verschiedene Sprachen anzueignen. Er sprach schon fließend Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch und betrieb jetzt auch noch das Russische sehr eifrig.
Auf den versteckten Vorwurf seines Vaters vermied er zu antworten, obwohl seine Stirn sich rötete.
Dolf hatte ihn schadenfroh von der Seite angesehen und wandte sich nun wieder an den Vater.
»Nun erzähle doch mal weiter von dem kleinen Mädchen, Papa. Also ist es eine reiche Erbin? Sie erbt wohl Farmen oder Goldklumpen oder so?«
Bernhard Falkner lachte.
»Nein, Dolf, ihr Vater hat ihren Besitz schon zu Geld gemacht. Sie besitzt etwa zwei Millionen Mark, die ich verwalten und in deutschen Unternehmungen anlegen soll.«
Gerd wußte plötzlich, woher der Vater das Kapital nehmen würde, um ihn auszuzahlen.
»Hm!« machte Dolf anerkennend, »zwei Millionen -- das ist eine ganze Menge Geld. Ich bin ja sehr neugierig auf die kleine Kalifornierin.«
Es war drei Tage später, um die Mittagszeit.
Gerd saß mit einem Buch im Garten und lernte.
Da sah er, daß sich das Tor öffnete, und auf dem breiten, kiesbestreuten Weg kam ein kleiner, hagerer Herr daher, neben dem ein kleines Mädchen zierlich einhertrippelte. Der kleine Herr hatte ein bartloses, lederfarbenes Gesicht mit klugen, schwarzen Augen. Er war sehr sorgsam gekleidet. Auch das kleine Mädchen zeigte ein gepflegtes, vornehmes Äußeres.
Es sah mit seinen großen, dunklen Augen, die sanft aus dem reizenden, gebräunten Gesichtchen leuchteten, scheu und ängstlich um sich. Nun erblickte es Gerd.
»Schau, Pedro -- ist dies Onkel Bernhard?« fragte die Kleine mit einem süßen, feinen Stimmchen ihren Begleiter und zeigte auf Gerd.
Der Fremde erblickte nun ebenfalls den jungen Mann und zog sofort den Hut.
Gerd erhob sich und trat zu den beiden heran. Er ahnte, daß das kleine Mädchen Juanita Trebin war.
»Ich bin Gerhard Falkner. Sie wünschen gewiß meinen Vater, Bernhard Falkner, zu sprechen?«
Der kleine Herr ließ einen raschen, scharfen Blick über Gerds Gesicht gleiten, und der mußte ihn wohl zufriedenstellen, denn ein freundliches Lächeln umspielte seine Lippen.
»So ist es, mein Herr. Darf ich Sie bitten, mich zu Herrn Bernhard Falkner zu führen« sagte er, mühsam die deutschen Worte formend.
»Bitte folgen Sie mir«, sagte Gerd artig und schritt neben den beiden dem Haus zu.
Die Kleine sah beklommen an ihm empor.
»Ist das nicht der gute Onkel Bernhard?« fragte sie Pedro in spanischer Sprache. Gerd wandte sich ihr lächelnd zu.
»Gleich wirst du bei dem guten Onkel Bernhard sein, kleine Juanita«, sagte er ebenfalls spanisch.
Die Kleine faßte rasch nach seiner Hand, ihre Augen leuchteten auf.
»Oh, du sprichst mit mir wie mein Mütterchen und wie Pedro, guter Herr. Wie heißt du?« sagte sie wieder auf spanisch.
Der junge Mann sah voll warmer Teilnahme in ihre Augen.
»Ich heiße Gerd.«
»Gerd!« wiederholte sie, als präge sie sich den Namen fest ein.
Pedro aber sagte mahnend:
»Du sollst doch deutsch sprechen, Nita.«
Sie nickte.
»Das will ich tun, Pedro. Aber es freut mich so sehr, daß der gute Herr spanisch mit mir spricht. Nun ist mir schon nicht mehr so bang.«
Sie waren ins Haus getreten. Gerd unterhielt sich dabei mit Pedro, und dieser schien nicht minder erfreut als Juanita, daß der junge Mann fließend in seiner Muttersprache mit ihm plauderte.
Nun öffnete Gerd die Tür zum Zimmer seines Vaters, wo dieser nach Tisch eine Zigarre zu rauchen pflegte.
»Vater -- hier ist Don Pedro mit der kleinen Juanita angekommen!« rief er ins Zimmer.
Bernhard Falkner war allein und sprang sofort auf, um den Angekommenen entgegenzugehen.
Gerd schloß hinter ihnen die Türe und verschwand. Die Kleine sah ihm betrübt nach und faßte ängstlich Pedros Hand.
Bernhard Falkner neigte sich gütig zu ihr herab und reichte ihr die Hand.
»Herzlich willkommen, meine liebe kleine Juanita!«
Sie legte sofort zutraulich ihre Hand in die seine.
»Du bist der gute Onkel Bernhard?
»Ja, mein kleines Mädchen.«
»Ich soll dir viele Grüße bringen -- von meinem Väterchen«, sagte sie leise und ihre Augen füllten sich mit Tränen im Gedenken an den toten Vater.
Bernhard Falkner sah Pedro fragend an.
Dieser nickte, als habe er die stumme Frage verstanden.
»Mein Herr ist tot. Sie haben doch seinen Brief erhalten?«
»Ja, und Sie sehen mich bereit, seinen Wunsch zu erfüllen und Juanita in meinem Haus aufzunehmen. Bitte, nehmen Sie Platz, wir wollen alles in Ruhe besprechen.«
Es stellte sich aber nun heraus, daß Don Pedro sich nur mangelhaft der deutschen Sprache bedienen konnte. Und nachdem er sich eine Weile gequält hatte, sagte er bittend:
»Ihr Herr Sohn, der uns zu Ihnen führte, sprach fließend Spanisch mit mir. Könnte er uns nicht als Dolmetscher dienen? Das würde uns die Verhandlungen bedeutend erleichtern.«
Bernhard Falkner war es zwar nicht sehr angenehm, Gerd hinzuzuziehen, aber er konnte diese Bitte nicht gut abschlagen.
So ließ er Gerd rufen. Der junge Mann war sofort zum Dolmetscher bereit.
Die kleine Juanita hatte sich schnell wieder an Gerds Seite gestellt, als fühle sie instinktiv, daß er es sehr gut mit ihr meine. Bernhard Falkner gefiel ihr auch sehr gut und flößte ihr Vertrauen ein, aber Gerd schien ihr noch vertrauenerweckender.
So vermittelte Gerd nun die Unterhaltung zwischen dem Vater und Don Pedro. Und dabei erfuhr er allerlei, was ihn sehr interessierte. Vor allem hörte er staunend, daß Justus Trebin seine Mutter gekannt hatte, daß er eine große Hochachtung und Verehrung für diese gehegt haben mußte und dass er der Ansicht gewesen war, daß Maria Falkner noch am Leben und daß sie die Erziehung seiner Tochter leiten würde.
Seinem Vater schien die Erwähnung dieser Einzelheiten unangenehm zu sein, er versuchte schnell darüber hinwegzugehen. Aber Don Pedro, der von seinem verstorbenen Herrn sichtlich viel Gutes über »Donna Maria« gehört haben mußte, verlangte schließlich sehr dringend danach, diese selbst zu sprechen und ihr persönlich die kleine Juanita zu übergeben.
Als er dann vernahm, daß Maria Falkner schon seit sechzehn Jahren tot sei und daß Bernhard Falkner eine zweite Frau besaß, war er sehr bestürzt und sichtlich betrübt.
»Oh«, sagte er bedauernd, »Wenn das mein Herr gewußt hätte! Er war so froh, daß Nita in Donna Maria eine sehr liebevolle zweite Mutter finden würde.«
Bernhard Falkner versicherte ihm nun, entschieden in unbehaglicher Stimmung, daß seine zweite Frau die Kleine mit derselben Liebe und Sorgfalt erziehen würde.
Gerd sah das arme kleine Mädchen mitleidig an. Er wußte nur zu gut, welch ein großer Unterschied es sein würde, daß sie in Frau Helenes Hände kam statt in die seiner Mutter. Aber er enthielt sich jeder Bemerkung.
Don Pedro bat nun darum, die Dame des Hauses kennenlernen zu dürfen. Er war sichtlich beunruhigt um seinen kleinen Schützling.
Aber als dann Frau Helene eintrat und sofort in ihrer bezaubernden Liebenswürdigkeit auf Don Pedro einsprach, da erging es dem kleinen Herrn genau wie so vielen anderen Männern -- er war entzückt von der schönen Frau mit dem bezaubernden Lächeln, und seine Unruhe schwand.
Helene wandte sich dann liebevoll an die kleine Juanita.
»Nun kommst du mit mir, meine kleine Nita. Die Herren haben hier wohl noch lange zu verhandeln. Ich bringe dich in dein Zimmer, und du sollst mir sagen, ob es dir gefällt«, sagte sie, Nita zu sich heranziehend von Gerds Seite.
Juanita sah aber bang und ängstlich zu ihr auf.
»Bist du die liebe Tante Maria?«
Es zuckte in Helenes Augen auf, und ein seltsamer Blick flog zu ihrem Gatten hinüber, der sichtlich betreten war.
»Mein Freund hat nicht gewußt, daß -- daß meine erste Frau gestorben ist«, erklärte er hastig.
Helene hatte sich schon wieder gefaßt.
»Ah, so!« rief sie nur und wandte sich Nita wieder zu.
»Ich bin Tante Helene, kleine Nita.«
Die Kleine schüttelte bekümmert den Kopf.
»Ich will aber doch zu Tante Maria, die mich sehr liebhaben wird. Es dauert so sehr lange, bis ich zu ihr komme. Willst du mich zu ihr führen?«
Helene faßte mit festem Griff die kleine Kinderhand.
»Komm nur, Nita, ich werde dich ebenso lieb haben.«
Damit nickte Helene Don Pedro liebenswürdig beruhigend zu und zog die Kleine mit sich aus dem Zimmer.
Nita folgte entschieden widerwillig, und ihre Augen flogen ängstlich und flehend zu Gerd hinüber.
Heißes Mitleid mit der armen Kleinen erfüllte den jungen Mann.
Sie wird frieren und darben in der Atmosphäre, die meine Stiefmutter um sich verbreitet, wie ich gefroren und gedarbt habe. Arme kleine Nita, dachte er.
Dann mußte er sich aber wieder seinem Amt als Dolmetscher widmen und bekam so einen ganz genauen Einblick in die Verhältnisse. Schrankenloses Vertrauen mußte Justus Trebin zu seinem Vater gehabt haben. Und Gerd sagte sich schmerzlich, daß der Vater wohl in allen Fällen dieses Vertrauen verdienen würde, wenn ihm nicht eine Frau wie Helene zu Seite stände.
Don Pedro blieb drei Tage in L…, um noch alles Geschäftliche mit Bernhard Falkner zu ordnen. Er hatte in einem Hotel Wohnung genommen und kam jeden Tag auf einige Stunden in das Falknersche Haus.
Die kleine Juanita hatte er aber nur noch am nächsten Tag gesehen und gesprochen, als er gegen Mittag ins Haus kam. Sie stand in der großen Diele neben Dolf, der ihr ein Bilderbuch zeigte und sich sichtlich bemühte, »nett zu der kleinen Millionärin« zu sein.
Die Kleine war auf Pedro zugesprungen, hatte seine Hand gefaßt und ihm zugeflüstert:
»Tante Maria ist immer noch nicht da, Pedro. Wird sie noch lange ausbleiben?«
Er hatte ihr über die schwarzen Locken gestreichelt.
»Du mußt jetzt bei Tante Helene bleiben, sie ist auch gut zu dir, Nita«, hatte Pedro geantwortet.
Nita hatte etwas darauf erwidern wollen, aber da war Dolf zu ihr getreten.
»Komm doch, wir wollen die Bilder ansehen.«
Nita ließ sich mit fortziehen. Aber sie rief Pedro zu:
»Du kommst doch wieder, Pedro?«
Der kleine Herr nickte nur.
Bernhard Falkner hatte ihm gesagt, daß es für Nita besser wäre, wenn er nicht Abschied von ihr nähme. Sie müsse sich erst eingewöhnen, und der Abschiedsschmerz sollte ihr erspart bleiben. Pedro sah dies ein, und so willigte er schweren Herzens ein, ohne Lebewohl von seinem kleinen Schützling zu gehen.
Er war überzeugt, das Nita in guten Händen und wohl aufgehoben war. Er ahnte nicht, daß Nita ihn bitten wollte: »Nimm mich wieder mit dir fort, Pedro, Tante Maria, die mich lieb hat, ist nicht hier, und Tante Helene hat mich gar nicht lieb und sieht mich böse an.«
Nita kam nicht dazu, diese Worte auszusprechen. Pedro reiste ab und hatte seinem Liebling nur von ferne einen Abschiedsblick zugeworfen. Die Kleine wartete vergeblich auf seine Wiederkehr, und als man ihr endlich sagte, daß er abgereist sei, weinte sie bitterlich und konnte sich nicht darüber beruhigen.
Zu Helene konnte die Kleine kein Herz fassen, obwohl diese sich Mühe gab, sich ihr von der besten Seite zu zeigen. Kinder haben ein feines Gefühl und empfinden instinktiv, wer es gut und herzlich mit ihnen meint. Dolf lenkte sie wohl ein wenig ab von ihrem Schmerz, indem er ihr immer neue Spiele und Unterhaltungen bot. Aber seine Geduld war bald erschöpft, und er wußte nichts mehr mit der »ewig heulenden« Nita anzufangen.
Frau Helene gab sich einige Tage Mühe, Juanitas Zuneigung zu gewinnen. Als diese jedoch nach wie vor nach der »guten Tante Maria« verlangte und Helenes Bemühungen erfolglos waren, da stieg in dem Herzen der kleinlich denkenden Frau ein heftiger Groll gegen das Kind auf. Sie verwies ihr so heftig, »ewig nach Tante Maria zu schreien«, daß Nita ganz entsetzt in ihr böses Gesicht starrte. So heftig hatte noch kein Mensch zu ihr gesprochen. Sie verstummte und zog sich scheu zurück.
Frau Helene hatte ihrem Gatten Vorwürfe gemacht, daß er ihr nicht vorher mitgeteilt hatte, das Justus Trebin Maria gekannt hatte und der Meinung gewesen war, daß diese noch am Leben sei.
»Daß das Kind immerfort nach Tante Maria verlangt, ist natürlich nicht sehr erhebend für mich«, hatte sie unmutig gesagt.
Ihr Gatte beruhigte sie und sagte ihr, daß er es ihr mit Absicht verschwiegen habe, um ihr die Unbefangenheit nicht zu nehmen. Nita werde sich schon an sie gewöhnen.
Helene verlor aber bald die Geduld und überließ den kleinen Fremdling völlig den Dienstboten.
Da Bernhard Falkner den größten Teil des Tages abwesend war und Nita abends, wenn er heimkam, schon zu Bett gebracht worden war, sah und hörte er nicht viel von ihr und war zufrieden, wenn ihm seine Frau versicherte, daß sie sich langsam eingewöhne.
Juanita blieb scheu und still. Und bei dem gemeinsamen Mittagessen, das sie mit der Familie einnahm und wo sie das einzige Mal am Tage mit Bernhard Falkner und Gerd zusammentraf, da blickte sie immer flehend und angstvoll zu Gerd hinüber, als müsse ihr von ihm Hilfe kommen. Es schnitt ihm ins Herz, wenn sich die traurigen Kinderaugen in die seinen senkten. Er konnte sich so gut in das kleine Herz hineindenken.
Bernhard Falkner mühte sich während dieser Mahlzeiten ehrlich, das Vertrauen der Kleinen zu gewinnen, und ihm gelang es auch zuweilen, ein Lächeln in das reizende Kindergesicht zu locken.
Als Gerd in diesen Tagen wieder einmal bei seiner Tante war, erzählte er ihr auch von dem kleinen Fremdling.
»Wieviel behaglicher und froher würde sich das kleine Mädchen bei dir und Lotti fühlen, Tante Gertrud. Du glaubst nicht, wie traurig sie um sich blickt in der neuen Umgebung. Sie verlangt immerfort nach der guten Tante Maria. Ihr Vater muß meine Mutter sehr gut gekannt und ihr viel Liebes und Gutes von ihr erzählt haben«, sagte er am Schluß seiner Erzählung.
Frau Gertrud horchte auf.
»Wie heißt denn die kleine Juanita mit ihrem Vatersnamen? fragte sie interessiert.
»Trebin. Ihr Vater hieß Justus Trebin.«
»Justus Trebin! Mein Gott -- wie seltsam, wie seltsam!« rief Frau Gertrud Horst erregt.
»Was ist dabei so seltsam, Tante? Kanntest du ihn auch?«
Sie nickte.
»Ach, mein lieber Gerd -- wie seltsam führt uns die Vorsehung zuweilen. Justus Trebin! -- Ja, ich kannte ihn. Er hat deine Mutter sehr geliebt, so sehr, daß er aus der Heimat floh, als sie ihre Hand seinem Freunde Falkner reichte. Es hat ihr so weh getan, daß sie ihm Schmerz bereiten mußte. Aber sie liebte deinen Vater zu sehr. Manch liebes Mal hat sie bedrückten Herzens zu mir davon gesprochen, daß Justus Trebin ihretwegen freudlos hinauszog in die Welt. Wenn sie erlebt hätte, das er ihr sein Kind gesandt und ihren Händen übergeben hätte -- welch eine treue, liebevolle Mutter hätte die arme Kleine in ihr gefunden. Das ist freilich ein großer Unterschied -- deine Mutter -- und Frau Helene Falkner. Das arme kleine Ding wird sich nicht sehr wohl fühlen in ihrer Nähe. Und wenn Justus Trebin gewußt hätte, daß er sein Kind den Händen der Frau übergibt, die Maria zum Verderben geworden ist, ach -- nie hätte er sie in das Haus deines Vaters geschickt.«
Gerd stützte den Kopf in die Hand.
»Das glaube ich nun auch. Ich kann das Kind nicht ohne inniges Mitleid ansehen. Und es ist ein so süßes, reizendes Geschöpfchen. Ich wollte, ich könnte sie zu dir bringen, Tante Gertrud. Meine Stiefmutter überläßt sie vollständig den Dienstboten. Wenn sich unsere gute alte Tina noch um sie kümmern könnte! Aber die steckt den ganzen Tag unten in der Küche. Die andern sind leichtsinnige junge Dinger, die nicht wissen, was einem Kinde nötig ist. Mir ist die Kleine in ihrer Hilflosigkeit ans Herz gewachsen wie eine kleine Schwester. Bei meiner Stiefmutter hat sie sich außerdem gleich dadurch schlecht eingeführt, daß sie nach der guten Tante Maria sehnlichst verlangte.«
»Das arme, arme Kind -- es wird nicht viel Liebe finden in der neuen Heimat«, sagte Frau Gertrud mitleidig.