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Gerd Falkner hatte eine arbeitsreiche Zeit hinter sich. Albert Horst bedrängte ihn um den neuen in Arbeit befindlichen Band seiner Werke. Dazwischen hatte er überall Vorträge gehalten und war sehr gefeiert worden. Seine Zeit war voll ausgefüllt.
Das war ihm aber gerade recht, denn er brauchte Ablenkung von seinen sehnsüchtigen Gedanken. Er konnte Nita nicht vergessen, und seine Sehnsucht nach ihrem Anblick verblaßte nicht, sondern wurde stärker und stärker, je länger er von ihr entfernt war. Oft ertappte er sich bei dem Gedanken, was sie wohl tun und sagen würde, wenn er eines Tages wieder vor ihr stünde. Zu gern hätte er gewußt, ob sie an ihn dachte -- ob ihre Gedanken ihn suchten.
Mannhaft bekämpfte er wieder und wieder das Verlangen, alles stehen- und liegenzulassen und zu ihr zu eilen, sie wiederzusehen, wenn auch nur von fern.
Aber nun war er schon so weit, sich Zugeständnisse zu machen, für seine Sehnsucht eine Befriedigung zu suchen. War es nicht an der Zeit, nun endlich das Versprechen einzulösen, das er seinem Vater gegeben hatte? Bat der Vater nicht wieder und wieder in seinen Briefen, daß er bald kommen möge? Und schrieb ihm Albert Horst nicht, daß er gern persönlich mit ihm über einen neuen Vertrag verhandeln wolle? Hatte Tante Gertrud nicht immer wieder um seinen Besuch gebeten? Wahrhaftig, an Gründen fehlte es ihm nicht, seine Sehnsucht zu erfüllen.
Und dann sagte er sich beruhigend, daß es doch keine Sünde sei, Nita zu sehen und zu sprechen. Er trachtete ja nicht nach ihrem Besitz, er wußte, daß sie ihm unerreichbar war, daß seine Wünsche sie nicht streifen durften. Er wollte sie ja nur einmal wiedersehen, nur ihre Stimme hören, ihr ins Auge blicken. Das konnte doch kein Unrecht sein. Und heimlich brauchte er ihr nicht zu begegnen. Wenn er wieder in seines Vaters Haus ging, dann konnte es doch nicht schwer sein, sie dort zu sehen. Ganz brüderlich und freundschaftlich wollte er ihr begegnen, damit sie nicht beunruhigt würde. Er wollte sich schon in der Gewalt haben.
Gerd hatte sein Domizil in Berlin aufgeschlagen. Er bewohnte eine hübsche, elegant möblierte Wohnung in der Kantstraße im Westen Berlins bei einer verwitweten Rechnungsrätin, die diese Wohnung sehr behaglich eingerichtet hatte, um sie an vermögende Junggesellen zu vermieten. Er verfügte über ein großes Arbeitszimmer, einen Wohnraum und ein Eßzimmerchen. Außerdem hatte er ein luftiges, helles Schlafzimmer und ein Zimmer für seinen Diener. Dieser Diener half ihm beim Aufstellen und Auszeichnen seiner Sammlungen und ging ihm auch sonst in manchen Sachen zur Hand.
Es war wenige Tage nach jenem Sonntag, an dem Bernhard Falkner und Nita das Gespräch zwischen Mutter und Sohn belauscht hatten. Gerd saß beim Frühstück und sah die eingelaufene Post durch. Er hatte immer sehr viel Korrespondenzen zu erledigen und erwog schon den Gedanken, sich einen Sekretär zu engagieren, der ihm allerlei Schreibereien abnehmen sollte.
Bei dieser Postsendung befand sich ein Schreiben, auf das Gerd lange mit nachdenklicher Miene herabsah. Schließlich sprang er erregt auf und lief unruhig im Zimmer auf und ab.
Nach einer Weile setzte er sich wieder und las das Schreiben nochmals durch. Es enthielt seine Berufung als Professor an die Universität seiner Vaterstadt.
Wie ihn das lockte! Jetzt, da er sich mit seinem Vater ausgesöhnt und sein Nomadenleben vorläufig aufgegeben hatte, kam ihm dieses ehrenvolle Anerbieten durchaus nicht ungelegen. Und dann der Gedanke, ständig mit Juanita in einer Stadt zu leben. -- Es wurde ihm heiß bei diesem Gedanken. Alle künstlich zurückgehaltene Sehnsucht brach hervor und drängte ihn, dieses Angebot anzunehmen.
Mußte es nicht schön und herrlich sein, in ihrer Nähe weilen zu dürfen, brüderlich über ihr Wohl zu wachen, ihr Leben freundlicher und erträglicher zu gestalten? Seiner selbst konnte er unbedingt sicher sein. Er hatte sie viel zu lieb, um ihr durch seine Gefühle Unruhe zu bereiten. Ob sie sich freuen würde, wenn sie hörte, daß er für immer nach L… kam? Sein Herz klopfte in lauten, freudigen Schlägen. Ja, ja -- sie würde sich freuen, würde ihm zulächeln mit dem lieben, süßen Lächeln, das er nicht vergessen konnte. Und sein Vater? Was würde er dazu sagen? Ob er sich freute, den Sohn für immer in der Nähe zu haben? Tausend Fragen stellte sich Gerd selbst, und obwohl es ihn lockte, die Professur anzunehmen, obwohl er am liebsten sofort seine Zusage hätte abgehen lassen, legte er sich selbst eine Bedenkzeit auf. Und dann vereinbarte er mit sich selbst, daß er seinem Vater mitteilen wollte, welch ehrenvoller Ruf an ihn ergangen war. Der Vater sollte ihm dann schreiben, ob er annehmen oder ablehnen sollte. Was der Vater vorschlug, das sollte ihm wie ein Fingerzeig des Schicksals sein, danach wollte er handeln. Er mußte fast darüber lächeln, daß er sich so vor sich selbst verschanzte. Sein sonst so energischer und selbständiger Charakter brauchte in dieser Frage einen Wegweiser. Gerade weil ihn alles drängte, dem Ruf zu folgen, baute er sich nun noch ein Hindernis auf. Aber im tiefsten Herzen hoffte er, daß dieses Hindernis schnell beseitigt sein würde.
Und so setzte er sich an seinen Schreibtisch und schrieb:
»Lieber Vater!
Heute ist mir eine Professur an der Universität zu L… unter den glänzendsten Bedingungen angetragen worden. Die Annahme dieser Professur würde meinen Wünschen sehr entsprechen. Ein ideales Feld der Betätigung würde mir damit eröffnet. Ehe ich mich aber für oder wider die Berufung entscheide, möchte ich Deine Ansicht hören. Bitte teile mir möglichst umgehend mit, ob es Dich unangenehm berühren würde, wenn ich mein bleibendes Domizil in L… aufschlagen würde. In Deinem Hause würde ich natürlich nicht wohnen können, ich würde mir in der Nähe der Universität eine Junggesellenwohnung einrichten. Aber der Umgang in Deinem Hause ließe sich nicht vermeiden, wenn wir vermeiden wollen, daß unser Verhältnis zu Redereien Anlaß gibt. Bitte, sage mir ganz offen, ob Du wünschst, daß ich annehme oder ablehne, ich will Deine Entscheidung für mich maßgebend sein lassen. Daß ich mit meiner Stiefmutter nur einen konventionellen Umgang pflegen kann, will ich gleich vorher bemerken. Ich werde ihr aber natürlich mit aller Höflichkeit begegnen, die ich Deiner Frau schuldig bin. Diesen Punkt will ich brieflich erledigen, damit wir nicht darüber zu sprechen brauchen. Ich bitte Dich also um Deinen umgehenden Bescheid und grüße Dich herzlich als
Dein getreuer Sohn Gerd
Auf diesen Brief erhielt Gerd postwendend folgende Antwort:
»Mein lieber Gerd!
Seit langen Jahren hat mich nichts so sehr gefreut wie der Inhalt Deines Briefes. Daß Du noch zweifeln konntest, ob mir Deine Übersiedlung nach hier angenehm sei oder nicht, hat mich sehr beschämt. Aber ich muß wohl erst noch manches tun, um Dir zu beweisen, daß meine Liebe zu Dir wohl von allerlei schlimmem Unkraut überwuchert war, aber doch nie gestorben ist. Also nimm diese ehrenvolle Berufung an -- und komme bald. Ich fühle mich recht elend und schwach, und vielleicht bleibt mir nicht mehr viel Zeit, gutzumachen an Dir, was ich gesündigt habe in einem verhängnisvollen Irrwahn meiner Seele. Ich zähle die Tage bis zu Deiner Heimkehr, mein geliebter Sohn.
Dein treuer Vater.«
Nun war Gerd voll Freude, und schnell entschlossen sandte er seine Zusage ab.
Aus seines Vaters Brief klang zwischen den Zeilen viel mehr heraus als aus seinen Worten selbst. Und da sich Gerd dieser Art von Gottesurteil unterworfen hatte und das Schicksal sich für seine Übersiedlung nach L… entschieden hatte, war ihm zumute, als sprängen alle Tore des Lebens vor ihm auf, die lange verschlossen geblieben waren. Ohne Zaudern begann er seine Vorbereitungen zu treffen. Der Zeitpunkt, wann er sein neues Amt antreten wolle, war ihm freigestellt worden; man hatte ihn nur gebeten, möglichst bald zu kommen, da der Lehrstuhl für ihn offen stand.
Und so beschloß Gerd, schon vor Ostern noch nach L… überzusiedeln. Er schrieb seiner Tante Gertrud und bat sie, ihm eine geeignete Wohnung zu suchen. Den Auftrag, diese Wohnung nach seinen Wünschen einzurichten, gab er einem bekannten Innenarchitekten. Er wollte sich ein behagliches und schönes Heim schaffen, da er doch voraussichtlich für Jahre in L… bleiben würde.
Tante Gertrud beeilte sich seinen Wunsch zu erfüllen.
Und dann schrieb sie ihm eines Tages:
»Wie ist es, Gerd, Du mußt doch eine Haushälterin haben, wenn Du als Junggeselle hier hausen willst. Möchtest Du Dir nicht die alte Tina ins Haus nehmen? Sie wäre doch die geeignetste Person und ist Dir treu ergeben.«
Diese Frage beantwortete Gerd umgehend:
»Nein, liebe Tante, Tina ist dort, wo sie jetzt ist, viel zu notwendig, als daß ich sie egoistisch für mich in Anspruch nehmen möchte. Ich darf der armen Juanita diese treue, ergebene Dienerin nicht nehmen. Tina würde auch ihren Posten gar nicht aufgeben, denn sie weiß, daß sie ihrer jungen Herrin unentbehrlicher ist als mir. Für mich tut es schon eine brauchbare, tüchtige Person. Meinen Diener bringe ich mit, er ist mir wegen meiner Sammlungen unentbehrlich, da er sich gut eingearbeitet hat und sehr anstellig ist.«
So engagierte Frau Horst eine ihr empfohlene, vertrauenerweckende Frau, die schon vor Gerds Ankunft ihre Stellung antrat, damit sie alles behaglich einrichten konnte. Der Innenarchitekt lieferte pünktlich und hatte Gerds Wünsche genau befolgt. Die Wohnung lag an einem stillen Teil der Promenade, nicht weit von der Lessingstraße entfernt und in nächster Nähe der Universität. Vor den Fenstern lagen hübsche Promenadenanlagen mit einem Springbrunnen. Die Wohnung befand sich in einem ruhigen, vornehmen Haus, in dem nur noch zwei kinderlose Familien wohnten, und bestand aus fünf Zimmern für Gerd, einem Zimmer für die Haushälterin, einem Raum für den Diener und einer Küche mit den üblichen Wirtschaftsräumen. Alles war hell und geräumig und mit allem Komfort versehen.
Als die Wohnung fertig eingerichtet war, ging Frau Gertrud befriedigt durch die Räume.
Am Morgen des Tages, an dem Gerd erwartet wurde, es war ein Donnerstag, kam Frau Gertrud mit Lotti noch einmal in die neue Wohnung. Beide trugen die Arme voller Blumen, womit sie alle Vasen füllten.
»Er muß es doch gleich so recht behaglich haben und sehen, das sich Frauenhände um ihn gemüht haben«, sagte Frau Gertrud mütterlich besorgt.
Lotti nickte.
»Weißt du, Mutti, eigentlich ist es so hübsch und behaglich hier, daß eine junge Frau mit hereingehörte. Gerd sollte doch nun endlich einmal heiraten.«
Frau Gertrud sah ihr Töchterchen lächelnd an.
»Nun, nun, Lotti -- warum plädierst du denn so sehr dafür, daß Gerd heiraten soll?«
»Weil er doch das Alter dazu hat und weil es die Pflicht eines jeden gesunden Mannes ist, sich eine Frau zu nehmen, wenn er mal über die Dreißig hinaus ist.«
Frau Horst lachte herzlich auf.
»Ach, du kleine Weisheit, wie kommst du dazu, dich mit solchen Problemen zu beschäftigen?
Lotti rückte eifrig an einer mit Blumen gefüllten Vase, und ein leises Rot stieg in ihre Wangen.
»Nun -- man denkt doch über das Leben nach, Mutti! Ich bin doch kein Kind mehr mit meinen achtzehn Jahren. Und zuweilen beschäftige ich mich wirklich mit ganz ernsthaften Fragen. Siehst du, da ist Gerd -- und noch viele andere Männer in seinem Alter, zum Beispiel Dr. Bruckner --, die könnten es sich leisten, einen Hausstand zu gründen -- und doch laufen sie als Junggesellen herum, obwohl es so viele Frauen und Mädchen gibt, die gern heiraten möchten. Wäre es da nicht geradezu die Pflicht solcher Männer, zu heiraten?«
Frau Horst sah ihr Tochter verstohlen forschend an. Dann sagte sie scheinbar unbefangen und scherzend:
»Nun, Lotti, ich schlage dir vor, du hältst einmal diesen Herren eine kleine Vorlesung über ihre Pflichten als Staatsbürger. Natürlich nur denen, die für dich erreichbar sind, also Gerd und Dr. Bruckner. Vielleicht hast du Erfolg.«
Lotti nahm das aber ganz ernsthaft und schüttelte den Kopf.
»Ach nein, Mutti, das hätte doch keinen Erfolg. Sie würden sagen, ich sei noch zu jung, um über solche Fragen ein Urteil abzugeben. ›Zu jung‹ -- damit werde ich von Dr. Bruckner immer abgekanzelt, wenn ich ein ernstes Thema aufgreife. ›Belasten Sie Ihr Köpfchen nicht mit so ernsten Dingen, Fräulein Lotti, das überlassen Sie älteren Leuten. Sie sollen lachen und fröhlich sein und anderen Menschen den Sonnenschein bringen, den sie so nötig haben.‹ So hat er neulich zu mir gesagt, als ich ernsthaft mit ihm debattieren wollte. Aber ich mag nicht ewig lachen und vergnügt sein, und ich bin kein dummes Kind mehr.«
Frau Horst nahm sie in ihre Arme und küßte sie herzlich.
»Meine kleine Lotti, das ist nur gut gemeint von Bruckner. Er hat dich viel zu lieb, um nicht zu wünschen, daß du deinen goldnen Frohsinn behalten mögest.«
Lotti sah mit großen Augen zur Mutter auf.
»Meinst du wirklich, daß -- daß Bruckner mich ein wenig gern hat?«
Die Mutter strich zärtlich über ihr Haar.
»Nicht nur wenig, Lotti, sondern sehr gern, das weiß ich ganz gewiß. Und du solltest in deiner Ungeduld nicht immer gegen ihn murren -- später tut dir das dann gewiß sehr leid. Er meint es so herzlich gut mit dir -- fast so gut wie Vater und Mutter.!
Lotti drückte ihr heißes Gesicht an die Schulter der Mutter.
»Ach Mutti, ich bin so ein Wildfang. Aber ich meine es nicht böse, wenn ich auf Bruckner zanke.«
Frau Gertrud lächelte.
»Davon bin ich überzeugt. Und nun komm, Lotti, wir haben noch allerlei zu besorgen, und in zwei Stunden wird Gerd schon hier sein.«
Bernhard Falkner hatte mit keinem seiner Angehörigen darüber gesprochen, das Gerd nach L… übersiedeln würde. Mit Dolf und seiner Mutter hatte er seit jenem Sonntag überhaupt nur das Nötigste gesprochen. Durch das, was er erlauscht hatte, war in ihm der letzte Rest von Vertrauen zu ihnen gestorben.
Er konnte nur mit Anstrengung seine Ruhe bewahren und ihnen ein unbewegtes Gesicht zeigen. Aber mit keinem Wort verriet er ihnen, was er gehört hatte.
Auch Juanita hatte nichts von Gerds Berufung an die Universität zu L… gewußt, bis sie vor einiger Zeit in der Zeitung eine Notiz darüber fand. Ein heißer, freudiger Schreck durchzuckte sie bei dieser Nachricht. Gerd in L…, für Jahre, vielleicht für immer in ihrer Nähe! Diese Gewißheit durchdrang sie mit einem köstlichen Gefühl voll Wärme und Glückseligkeit. Sie grübelte nicht darüber nach, was in ihrer Seele erwachte an scheuem, frohem Hoffen bei dem Gedanken, daß er nun in ihrer Nähe leben, daß sie ihn nun oft sehen würde. Sie gab sich dieser heißen Freude ohne Vorbehalt hin.
Am Nachmittag desselben Tages hatte sie ihr Schwiegervater zu einem Plauderstündchen besucht. Die beiden Menschen suchten jetzt öfter als früher nach einer Stunde des Alleinseins, weil sie wußten, daß sie einander innerlich viel zu geben hatten. Und da legte Nita schweigend die Zeitungsnotiz vor ihren Schwiegervater hin.
Er sah lächelnd in ihr erwartungsvolles Gesicht.
»Ich wußte es schon lange, Nita, Gerd hat es mir selbst geschrieben.«
»Und das hast du mir verschwiegen, Papa?« fragte sie vorwurfsvoll.
»Kind, ich wußte doch nicht, daß dir das so wissenswert ist. Du kennst zwar Gerds Werke, aber seine Person ist dir doch ganz fremd.«
Nita errötete, aber ihre Augen blickten aufleuchtend in die seinen.
»Ich möchte dir etwas erzählen, Papa, dir allein. Gerd ist mir gar nicht so fremd, wie du glaubst, wie ihr alle annehmt. Er hat in meinem Leben eine gewisse Rolle gespielt, von der ihr keine Ahnung habt. Bisher habe ich nie davon gesprochen -- auch zu dir nicht. Ich wußte ja bis vor kurzem nicht, wie du Gerd innerlich gegenüberstehst. Ich glaubte, es stünde etwas Schlimmes zwischen euch. Aber nun weiß ich, daß eure Entfremdung, wenn sie wirklich bestanden hat, völlig beseitigt ist. Und nun kann ich zu dir von Gerd sprechen und dir offenbaren, was er mir bedeutet. Ihm danke ich so viel Gutes, so viel Liebes. Wie ein unsichtbarer Schutzgeist hat er über meinem Leben gewacht, soweit es in seiner Macht stand.«
Bernhard Falkner sah mit großen, erstaunten Augen in ihr leuchtendes Gesicht.
»Erzähle, Kind!«
»Ja, Papa. Aber gib mir dein Wort, daß dies alles unter uns bleibt. Nur du sollst wissen, was mir Gerd war. Ich möchte nicht kalte, kritische Augen hineinsehen lassen in das, was ich bisher wie ein Heiligtum gehütet habe.«
Er reichte ihr die Hand.
»Sprich nur, mein Kind; was du mir sagst, bleibt unter uns. Du weißt, wir haben manches Geheimnis miteinander, du kannst mir überhaupt in allen Dingen vertrauen, denn nie bin ich so sehr von dem Wunsch durchdrungen gewesen, dir ein treuer Vater zu sein, wie jetzt.«
Nita setzte sich an seine Seite, nahm seine Hand in die ihre und erzählte ihm alles. Wie Gerd damals, als sie allein in ihrem Jammer in ihrem Zimmerchen lag, zu ihr gekommen war, um sie zu trösten, wie sie ihr vereinsamtes Herz gleich voll Innigkeit an ihn gehängt hatte und wie liebevoll er zu ihr gewesen war, so daß sie ihn nie vergessen konnte. Und wie er ihr dann die gute alte Tina gebracht und sie ihrem liebevollen Schutz übergeben hatte. Auch daß Tina Gerd über ihr Ergehen hatte berichten müssen, offenbarte sie ihm. Und dann berichtete sie getreulich von ihrem Zusammentreffen mit Gerd im Stadtwald und wie Gerd sie gebeten hatte, nicht darüber zu sprechen, damit sich der Vater nicht gekränkt fühlen sollte, wenn er erfuhr, daß Gerd in L… gewesen war.
»Daher wußte ich ja so genau, daß er dich liebte und verehrte und Sehnsucht nach dir hatte, lieber Papa«, sagte sie lächelnd.
Und dann sagte sie ihm ganz offen und unbefangen, wie sehr sie Gerd liebe und verehre, daß sie ihn für den besten, edelsten Menschen halte und wie sie sich freue, daß er nun nach L… komme, und wie sehr es sie beruhige, zu wissen, daß er mit dem Vater versöhnt war.
Mit seltsamen Gefühlen hörte der alte Herr diesen Bericht. Keine Ahnung kam ihm, daß seit jenem Wiedersehen im Stadtwald zwischen Nita und Gerd ein Gefühl emporkeimte, das, aus inniger Seelenharmonie geboren, doch zum Verhängnis werden konnte für die beiden Menschen, wenn sie es nicht unter ihrer Kontrolle behielten.
Juanita gab sich viel zu unbefangen und harmlos in der Schilderung dessen, was sie zu Gerd zog, als das Bernhard Falkner hätte beunruhigt werden können. Er war tief bewegt, daß sein junger Sohn mehr Verständnis für das verwaiste Kind gehabt hatte als er selbst. Und das Verständnis ging ihm auf, daß Gerd aus seinem eigenen darbenden Herzen heraus gefühlt hatte, was Nita in dem Hause ihres Vormundes fehlte, und daß er sie deshalb so gut verstanden hatte in ihrer Herzensnot. Schmerzlich wurde er sich bewußt, daß er weder für seinen Sohn noch für das ihm anvertraute Kind das rechte Verständnis gehabt hatte. Das war alles untergegangen in der Liebe für Dolf und seine Mutter, denen er blindlings vertraut hatte. Auch Juanitas verfehltes Leben mußte er nun noch auf das große Schuldkonto seines Lebens setzen. Sein ganzes Wesen war nur noch von dem Wunsch durchdrungen, gutzumachen, was er versäumt hatte, soweit es in seiner Macht stand.
Dolf und seine Mutter waren ihm jetzt im Herzen fast fremd geworden. Seiner Gattin stand er mit kühlen, kritischen Blicken gegenüber, und er verstand es selbst nicht mehr, daß er sich so lange Jahre von ihr hatte betören lassen. Die Liebe zu Dolf war freilich noch nicht ganz erloschen in seinem Herzen, er war ja sein Kind, trotz allem, genauso wie Gerd. Und daß er so ganz anders geartet war wie Gerd, das war nicht allein seine Schuld. Als Vater hätte er früher die Auswüchse in seinem Charakter erkennen und beschneiden müssen. Er hätte die Mutter nicht so unumschränkt in der Erziehung ihres Sohnes gewähren lassen dürfen, hätte sich selbst mehr um ihn kümmern müssen. Dolf war seiner Mutter Ebenbild, innerlich und äußerlich. Ihre Fehler hatten sich auf ihn vererbt und waren durch die verständnislose Erziehung nicht gemildert, sondern verstärkt worden. Man konnte ihn nicht allein dafür verantwortlich machen. Dolf war das Produkt seiner Anlagen und seiner Erziehung, und es erschien Bernhard Falkner als eine wohlverdiente Strafe, daß ihm dieser Sohn tausend Schmerzen bereitete. Das mußte er nun ertragen. Aber er konnte nicht dulden, das Nita noch mehr als bisher unter den Untugenden seines Sohnes litt. Auf keinen Fall durfte er Nitas Vermögen in die Hände bekommen; denn wenn das geschah, war sie seiner Willkür ganz preisgegeben, und es war dann nicht abzusehen, wie weit ihn seine Genußsucht und Verschwendungssucht trieb.
Im stillen hatte der alte Herr auch schon den Gedanken an eine Scheidung des jungen Paares erwogen. Aber solange Nita nicht selbst danach verlangte, durfte er nicht davon sprechen. An einem Grund zur Scheidung würde es kaum fehlen. Dolf hatte Nita oft genug Gelegenheit gegeben, einen solchen Grund zu finden. Jedenfalls war es nicht ausgeschlossen, daß Nita eines Tages eine Scheidung verlangen würde, und dann sollten ihre Vermögensverhältnisse so geregelt sein, daß sie sich jederzeit von Dolf lösen konnte.
Als Nita ihm nun alles von ihren heimlichen Beziehungen zu Gerd erzählt hatte, berichtete er ihr auch von seinem Zusammentreffen mit Gerd in der Bahnhofstraße und von seiner heimlichen Sehnsucht, daß Gerd den Weg ins Vaterhaus zurückfinden möge.
Nur darüber, was sein Leben mit Schuld beladen hatte, sprach er auch jetzt noch nicht. Er wollte Nitas junge Seele nicht mit so düsteren Bildern belasten, obwohl es für ihn eine Wohltat gewesen wäre, einmal einem Menschen sein Herz zu öffnen und alle seine Sünden und Fehler zu beichten. Er wußte auch, daß dieses junge Weib ihn verstanden und voll echt weiblicher Güte und Milde getröstet haben würde. Aber diese Wohltat mußte er sich versagen, aus Rücksicht auf Nita selbst. Er wußte ja nicht, daß sie das Drama seines Lebens schon kannte.