Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

X

Am nächsten Vormittag stand Gerd wirklich hinter der Gardine verborgen am Fenster auf der Lauer und sah wartend auf die Straße hinab. Frau Gertrud leistete ihm dabei Gesellschaft und saß am andern Fenster.

Gleich nach elf Uhr fuhr ein eleganter Dogcart vorüber, den Dolf Falkner kutschierte.

»Das war dein Bruder Dolf!« rief Frau Gertrud hastig.

Gerd nickte. Er hatte Dolf sofort erkannt an dem weißen Gesicht und der rotgoldenen Haarfarbe.

»Ja, Tante Gertrud -- und nun will ich mich sofort auf den Weg machen. Auf Wiedersehen.«

»Adieu, Gerd -- und viel Glück auf den Weg.«

Als Gerd zum Ausgehen fertig die Treppe herabkam, begegnete er Lotti.

»Willst du ausgehen, Vetter?«

»Ja, Lotti, ein wenig Luft schnappen im Stadtwald.«

»Ach, dann nimm mich bitte mit. Ich möchte mich schrecklich gern um deine Gesellschaft beneiden lassen.«

Er faßte bittend ihre Hand.

»Sei nicht böse, Lotti -- ich kann dich jetzt nicht gebrauchen.«

»Ach, du -- sehr galant bist du gerade nicht«, schmollte sie.

»Sei gut, Blondchen. Heute nachmittag hole ich es nach. So gern ich deine Gesellschaft genießen möchte -- jetzt geht es wirklich nicht, ich muß mal eine Stunde allein sein -- ich habe so allerhand zu überlegen. Also, verzeihe mir.«

»Na -- dann nicht. Aber heute nachmittag entkommst du mir nicht.«

»Will ich auch gar nicht. Ich verspreche sogar, mit dir einen Marktbummel zu unternehmen, wo uns alle Menschen sehen können. Und bei Frohne kaufe ich dir dann die größte Bonbonniere, die aufzutreiben ist, mit der herrlichsten Füllung.«

»Hm! Fein! Wird dankend akzeptiert. Aber Wort halten.«

»Das tue ich stets, Lotti.«

Er grüßte lächelnd und ging davon. Tante Gertrud hatte ihm genau beschrieben, wo seines Bruders Villa lag. Ohne einen besonderen Plan zu machen, hatte er beschlossen, den Zufall walten zu lassen.

Als er die Lessingstraße hinter sich hatte, sah er den Stadtwald schon vor sich liegen und ging nun am Rande desselben auf dem gutgepflegten Promenadenweg dahin. Nur an einer Seite der breiten Straße befanden sich Gebäude. Es waren lauter herrschaftliche Villen, von großen Gärten umgeben. Eine dieser Villen gehörte jetzt seinem Bruder. Langsam verfolgte er seinen Weg, in tiefe Gedanken versunken.

Auf alle Fälle hatte er ein Briefchen für Tina zu sich gesteckt.

Dieses Briefchen lautete:

 

»Liebe Tina!

Kann ich dich für kurze Zeit sehen und sprechen? Ich habe dir manches zu sagen. Wenn es dir jetzt gleich paßt, so werde ich eine Stunde auf dich im Stadtwald warten -- auf der Rundbank an der großen Eiche. Sonst schicke mir eine Botschaft zu Horsts, wo und wann ich dich heute oder morgen treffen kann.

Gerd.«

 

Diesen Brief steckte er sich nun in die Tasche seines Rockes.

Als er dann wieder aufsah, erblickte er auf dem sonst so menschenleeren Promenadenweg eine weibliche Gestalt, die ihm entgegenkam. Es war eine junge, elegant gekleidete Dame.

Sie trug ein weißes Leinenkleid, dazu ein weißes Hütchen und einen ebensolchen gestickten Sonnenschirm.

Gerds Blicke wurden gefesselt durch die anmutigen Bewegungen der schlanken Gestalt, die elastisch und graziös ausschritt. Als sie näherkam und er ihr Gesicht erblickte, fiel ihm zunächst das bräunliche Kolorit des Teints auf, und dann sah er auch, daß das Angesicht der Dame von großer Schönheit und holdem Liebreiz war. Erst als er dicht herbeigekommen war, hob sie aufschreckend die Augen und sah ihn an. Es waren wundervolle, dunkle Frauenaugen, die er erblickte. Wie magnetisch angezogen ruhten die Blicke der beiden Menschen einen Moment ineinander -- wie in atemlosem Staunen. Es war, als ob sich beider Schritte unwillkürlich verlangsamten. Gerd hatte ein seltsames Empfinden, als die dunklen Frauenaugen in den seinen ruhten, ein Empfinden, als habe er diesen Moment schon einmal erlebt.

Ganz deutlich bemerkte er, daß diese Augen sich weiteten wie in einer jähen Überraschung, er sah sogar, daß das Blut in die bräunlichen Wangen der schönen Frau stieg, und empfand es instinktiv, daß sie, gleich ihm, zögernd den Schritt verhielt.

Aber dann war sie doch vorübergegangen, und er blieb stehen und sah ihr nach, obwohl das sonst seine Art nicht war.

Sie blickte nicht zurück, aber sie ging entschieden langsamer als zuvor. Sinnend ruhte sein Blick auf der Fülle des blauschwarzen Haares, das unter dem Hütchen hervorquoll. Und plötzlich schoß eine Frage durch seinen Kopf.

Wäre es nicht möglich, daß diese Dame Juanita ist?

Und es war ein Gefühl in ihm, als habe er ein besonderes Erlebnis gehabt, obwohl nichts geschehen war, als daß ihn zwei schöne, dunkle Frauenaugen angesehen hatten. Langsam und sinnend setzte er seinen Weg fort, und er konnte seine Gedanken nicht von dieser Begegnung losreißen. So hatte er die Villa seines Bruders schneller erreicht, als er gedacht hatte. Und der Zufall war ihm günstig. Von der anderen Seite kam ein Schlächterbursche mit einer Fleischmulde auf der Schulter und zog den Messingknopf der Klingel, über der der Name »Falkner« eingraviert war. Gerd trat rasch auf ihn zu.

»Wollen Sie bitte in der Küche diesen Brief an die Köchin Tina abgeben?«

Da er dem Burschen zugleich ein ansehnliches Trinkgeld hinhielt, War dieser voll erfreuter Bereitwilligkeit. Er nickte vergnügt.

»Wird prompt besorgt, gnädiger Herr.«

Gerd dankte und ging davon.

Der Bursche begegnete Tina im Flur des Eingangs für die Dienerschaft.

»Da ist ein Liebesbriefchen, Jungfer Köchin -- noch dazu von einem sehr noblen Herrn, der kaum halb so alt ist wie Sie. Das hätte ich auch nicht von Ihnen gedacht«, neckte er.

Tina griff verdutzt nach dem Brief.

»Bürschchen, mach keinen solchen dummen Scherz mit einer alten Frau«, drohte sie halb lachend, halb ärgerlich.

Aber sie blieb stehen und öffnete das Schreiben sogleich. Und als sie gelesen hatte, wurde ihr frisches Gesicht ganz blaß. Schnell schob sie den Brief in die Tasche und sah sich forschend um. Aber sie war ganz allein.

Da lief sie in ihr Zimmerchen und nahm ein Tuch um die Schultern. Ungesehen huschte sie dann aus dem Haus. Sie konnte ruhig wegkommen, und vielleicht merkte niemand, daß sie fortging. Die gnädige Frau war eben ausgegangen, und der gnädige Herr kam auch erst zu Tisch wieder heim. Also paßte es sehr gut. Mit schnellen Schritten, die ihr Alter Lügen straften, eilte sie den Promenadenweg entlang und bog dann am nächsten Kreuzweg in den Stadtwald ein. Wenige Minuten später hatte sie die große Eiche erreicht, und da erhob sich auch schon von der Rundbark, die diese umgab, ein elegant gekleideter, schlanker Herr, der ihr schnell entgegentrat.

Nur einen Augenblick stutzte Tina und sah ihn forschend an.

Dann flog ein Leuchten über ihr gutes altes Gesicht.

»Herr Gerd! Ach, Herr Gerd!« rief sie, und ihre Augen standen voll Tränen.

Mit einem guten, warmen Lächeln nahm er ihre Hand in die seine.

»Liebe Tina, liebe gute Tina -- endlich sehe ich dich einmal wieder, alte treue Seele.«

Sie schluchzte auf, und es war gut, daß der Stadtwald um diese Zeit menschenleer war, sonst wäre dies sonderbare Pärchen wohl aufgefallen.

»Ach, Herr Gerd, das habe ich mir nicht träumen lassen, daß mir heute eine so große Freude zuteil würde! Ach, guter Gott! Und so ein stattlicher, schöner Herr sind Sie geworden. Aber die Augen, ja -- daran hätte ich Sie doch gleich erkannt, unter Tausenden.«

Er zog sie ein Stück Wegs mit sich fort, tiefer in den Wald hinein.

»Hast du denn gleich fortgekonnt, Tina?«

Sie nickte eifrig.

»Ja, es ging ganz leicht. Ich koche doch jetzt nicht mehr, weil Herr Dolf einen neumodischen Koch haben wollte. Da kann ich schon mal abkommen. Und die Herrschaft ist nicht zu Hause. Herr Dolf ist in der Fabrik, und Nitachen -- ich meine die gnädige Frau -- ist erst vorhin ausgegangen.«

Gerd lauschte interessiert.

»Tina -- was trug sie denn für ein Kleid? War es ein weißes?

»Ja, ja, ein weißes Kleid, einen weißen Hut und einen weißen Schirm.«

Er atmete tief auf und wischte sich über die Stirn.

»Also war es doch Juanita! Ich ahnte es«, sagte er leise, mehr zu sich selbst.

»Ach, Sie haben die gnädige Frau gesehen, Herr Gerd?«

»Ja -- ich begegnete ihr, aber ich wußte nicht, daß sie es war. Also das war Juanita.«

In tiefes Sinnen verloren, schritt er neben Tina langsam dahin. Aber dann strich er wieder über die Stirn und richtete sich hastig empor.

»Du wirst nicht viel Zeit haben, Tina. Also laß dir schnell sagen, was ich dir mitteilen wollte. Deinen Brief, in dem du mir schriebst, daß sich mein Bruder mit Nita verlobt hatte, und in dem du mich batest, zu kommen und zu helfen -- den habe ich erst vor kurzer Zeit erhalten.«

Die Alte nickte und sah immerfort in sein Gesicht, als könne sie sich nicht sattsehen.

»Ja, das habe ich mir wohl gedacht, Herr Gerd, als ich hörte, dass Sie so eine weite, weite Reise angetreten hatten. Es hat wohl nicht sein sollen.«

»Ja, Tina -- und ich hätte wohl auch schwerlich helfen können. Aber nun ist mir doch, als hätte ich eine Verantwortung zu tragen, und ich habe dich gebeten, hierherzukommen, weil ich dich fragen wollte, wie es nun bei den jungen Leuten geht. Du kannst mir sicher am besten Auskunft geben. Sag, Tina, ist Nita glücklich geworden mit meinem Bruder?

Es lag eine brennende Ungeduld in dieser Frage, als könne er die Antwort nicht erwarten. Und dabei mußte er an Juanitas Blick von vorhin denken. Warum hatte sich ihr Auge so seltsam forschend in das seine gesenkt? Sollte sie ihn erkannt haben? Aber das war doch wohl kaum möglich. Sie war ja noch ein Kind gewesen, als er von ihr gegangen war.

Tina schüttelte betrübt den Kopf.

»Ach nein, Herr Gerd, glücklich ist sie nicht, sondern sehr unglücklich. Eine ganz kurze Zeit ist sie wohl glücklich gewesen, ehe sie dahinterkam, wie, nun -- wie der Herr Dolf eigentlich beschaffen ist. Und jetzt ist sie immer so still und traurig und lebt wieder ganz einsam vor sich hin. Keinen Menschen hat sie als mich alte, einfältige Person, na -- und das ist doch nicht das Richtige für eine so feine, junge Dame. Ich kann mir nicht helfen, Herr Gerd, man hat sich an dem armen Kind arg versündigt, jawohl -- das muß ich sagen, wenn Sie es mir auch vielleicht verdenken, daß ich so über meine Herrschaft spreche. Akkurat so, wie man sich damals an Ihnen versündigt hat. Aber Sie sind doch ein Mann und haben sich selbst helfen können. Aber das arme Nitachen -- sie ist so ein sanftes, stilles Lamm und kann sich nicht wehren und sitzt nun da und guckt traurig um sich, daß einem das Herz in Stücke gehen kann.«

Gerd nahm seinen Hut ab und fuhr sich durchs Haar. Die Stirn war ihm heiß geworden.

»Tut er ihr etwas zuleide, Tina?« stieß er mit heiserer Stimme hervor.

Sie zuckte seufzend die Achseln.

»Beklagen tut sie sich nicht -- und jetzt geht sie ihm schon lange aus dem Wege, wo sie nur kann. Und des Nachts schließt sie sich ein, weil er doch oft so -- na ja --, so betrunken nach Hause kommt. Ich muß dann früh immer an ihre Tür klopfen, wenn ich sehe, daß er wieder vernünftig ist. Dann kommt sie erst zum Vorschein. Aber blaß und elend sieht sie dann immer aus, wenn sie zu ihm ins Frühstückszimmer muß. Ich möchte jedesmal laut heulen, wenn ich das sehe. Ach Gott, Herr Gerd, es ist mir eine richtige Wohltat, daß ich mich mal mit einem Menschen aussprechen kann, der es gut mit ihr meint.«

Gerd sah finster vor sich hin.

»Was sagt denn mein Vater zu alledem, Tina?«

Sie zuckte die Achseln.

»Ja -- das weiß ich selbst nicht so recht, Herr Gerd. Aber da muß es in letzter Zeit etwas gegeben haben, es ist nicht mehr wie früher zwischen den alten Herrschaften. Und auch zu Herrn Dolf ist der alte gnädige Herr jetzt ganz anders. So etwas fühlt man doch, wenn man so lange im Haus ist. Und zu Nitachen, ich meine zur jungen Gnädigen -- da ist der Herr Vater jetzt immer so, wie soll ich nur sagen, so wie zu einem kranken Kind -- so sanft und freundlich. Aber desto unfreundlicher ist die gnädige Frau Schwiegermutter, die steht auf Herrn Dolfs Seite, dem sieht sie ja alles nach. Na -- und da hilft die Freundlichkeit des alten gnädigen Herrn auch nicht viel, das wissen Sie ja, Herr Gerd.«

Gerd war zumute, als müsse er vor seinen Bruder hintreten und ihn ins Gesicht schlagen oder als müsse er Juanita vor ihm in Sicherheit bringen. Er fühlte seine Ohnmacht wie einen körperlichen Schmerz.

»Tina«, sagte er erregt, »du mußt Juanita eine Botschaft von mir ausrichten, denn ich werde sie kaum selbst sprechen können. Willst du das tun?«

»Aber ja, Herr Gerd, das will ich gern tun. Und sie wird sich sehr freuen, weil Sie sich um sie sorgen. Als ich ihr neulich erzählte, daß ich Ihnen habe schreiben müssen, wie es ihr ginge, da sind ihr die Tränen gekommen, so gerührt war sie, daß sich jemand um ihr Wohl bekümmert hat.«

»Du hast mit ihr von mir gesprochen?« fragte er hastig.

»Na freilich, Herr Gerd, oft genug, von Kind auf bis jetzt. Und zumal in der letzten Zeit, wo wir Ihr Bild in der Zeitung gesehen haben.«

Er sah überrascht auf und dachte: So ist es doch möglich, daß Juanita mich vorhin erkannt hat. Laut aber sagte er:

»Mein Bild habt ihr gesehen?«

Tina nickte eifrig.

»Freilich, Herr Gerd. Nitachen gibt mir auch immer all die Artikel aus den Zeitungen, und was ich nicht verstehe, das erklärt sie mir. Und Ihre Bücher, die liest Nitachen auch. Da kriegt sie rote Backen und so große Augen, und sie sagt dann zu mir: ›Tina, wenn ich jetzt die Bücher von Gerd nicht hätte, dann hätte ich gar keine Freude mehr am Leben.‹«

Gerd schoß das Blut plötzlich in die Stirn, und sein Herz klopfte laut und stark. Ein heißes Freuen war in ihm, daß Juanita sich für seine Arbeit interessierte. So hatte ihn noch keine Anerkennung gefreut. Seine ganzen übrigen Erfolge hätte er in diesem Moment für diese Nachricht hingegeben. Er gab sich keine Rechenschaft darüber, warum das so war, hatte auch jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Nach einem tiefen Aufatmen sagte er so ruhig er konnte:

»Also höre, Tina, sage Juanita, daß ich sie herzlich grüßen lasse, und wenn sie je eines treuen, aufopferungsfähigen Freundes bedarf, so soll sie sich an mich wenden. Ich gehe jetzt vorläufig nicht wieder ins Ausland. Bei Horsts erfahrt ihr immer meine Adresse. Ein bleibendes Domizil werde ich wohl später in Berlin aufschlagen, wenn ich meine Vorträge abgeschlossen habe. Dann sorge ich, daß du meine Adresse erfährst. Also hast du behalten, was du ihr sagen sollst?«

Tina nickte und wiederholte ziemlich genau und fuhr dann fort:

»Ich will ihr alles sagen, Herr Gerd, und sie wird weinen vor Freude, das Sie sich so treulich um sie kümmern.«

»Danke dir, gute Tina. Und daß du so treu und anhänglich bist -- gegen die arme Nita und mich, das möchte ich dir gern lohnen. Sag, Tina -- hast du nicht irgendeinen großen Wunsch, den ich dir erfüllen kann? Ich möchte so gern etwas für dich tun, denn ich stehe tief in deiner Schuld.«

Sie wischte sich hastig mit dem Schürzenzipfel die Augen.

»Ach, Herr Gerd, davon wollen wir gar nicht reden. Und einen Wunsch habe ich auch nicht außer dem, daß mein armes Nitachen noch recht glücklich wird. Für mich ist ja gesorgt, ich habe es so gut bei meiner jungen Gnädigen. Sie läßt mich auch nicht von sich, und ich führe jetzt ein reines Schlaraffenleben. Aber ich danke recht schön für den guten Willen, Herr Gerd.«

»Nun, dann muß ich weiter dein Schuldner bleiben, bis sich mir eine Gelegenheit bietet, dir zu vergelten, was du für mich getan hast. Und nun will ich dich nicht länger aufhalten, damit du keine Unannehmlichkeiten hast.«

»Ja, ja, Herr Gerd, ich gehe nun schnell wieder nach Hause. Aber sagen Sie mir nur, wie lange Sie noch hierbleiben?

»Bis übermorgen, Tina.«

»So, so -- na, daran will ich diese Tage über denken. Es wird mir ein schönes Gefühl sein, daß Sie so nahe sind. Und daß Sie nun nicht wieder zu den wilden Völkern gehen und in die schreckliche Kälte, wovon mir Nitachen vorgelesen hat, darüber bin ich sehr froh. Oh, lieber Herrgott -- was habe ich mich um Sie gesorgt, Herr Gerd. Sie sollten das Herumreisen ganz aufstecken und sich eine liebe, junge Frau anschaffen.«

Er drückte ihr lächelnd die Hand.

»Ich glaube, ich tauge nicht zum Heiraten, Tina, ich habe so unruhiges Blut.«

»Ach, das findet sich alles, Herr Gerd, da bin ich nicht bange. Und nicht wahr, Herr Gerd, wenn Sie mal wieder bei Ihren Verwandten sind, dann lassen Sie mich das wissen, ja?«

»Das soll geschehen, Tina. Und wenn du weißt, daß ich hier bin, dann findet sich wohl auch eine Gelegenheit, daß wir uns wieder einmal sprechen.«

»Das wird sich schon machen, Herr Gerd. Aber nun will ich gehen. Leben Sie wohl, Herr Gerd, und Gott mit Ihnen.«

»Leb wohl, gute alte Tina, und vergiß meinen Auftrag nicht.«

»Ih wo, Herr Gerd, den richte ich gleich aus.«

Sie sah ihn mit den guten alten Augen ganz zärtlich an, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Hastig nickte sie ihm noch einmal zu und eilte davon.

Gerd sah ihr nach, bis sie verschwunden war. Dann wandte er sich mit einem tiefen Atemzug um und ging noch weiter in den Stadtwald hinein. Er mußte noch eine Weile mit sich allein sein, um die seltsame Unruhe zu bezwingen, die in ihm war seit der Begegnung mit Juanita.

 

Juanita hatte Gerd, als sie ihm begegnete, sofort erkannt. Sie war aber vor Schrecken über sein unerwartetes Erscheinen nicht mit sich ins klare gekommen, ob sie ihn ansprechen wollte oder nicht. Auch hielt sie eine echt weibliche Scheu zurück.

Langsam setzte sie ihren Weg fort -- mit unsicheren Schritten. Ihr war, als müsse sie zurückkehren zu ihm, als dürfe sie ihn nicht fremd an sich vorübergehen lassen, ihn den einzigen Freund, den sie hier im fremden Land gefunden hatte.

Sie malte sich aus, was er wohl gesagt haben würde, wenn sie mit diesen Worten vor ihn hingetreten wäre: »Ich bin deines Bruders Frau, laß uns nicht fremd aneinander vorübergehen, ich habe so wenig Freunde auf der Welt.«

Aber sie ging doch weiter und weiter von ihm fort, nur ihre Gedanken blieben bei ihm zurück.

Ob er noch immer eine so warme, weiche Stimme hat? dachte Sie.

Und dann wollte sie sich wieder einreden, daß er es am Ende gar nicht gewesen sei, daß sie nur eine Ähnlichkeit getäuscht hätte.

Aber es war doch ein wehes Gefühl in ihr, so, als habe sie etwas Köstliches versäumt, etwas Unwiederbringliches verloren.

Sie hatte Einkäufe machen wollen und hatte bei dem schönen Wetter vorgezogen, zu Fuß zu gehen. Nun war ihr die Lust vergangen, die Geschäfte aufzusuchen. Es lockte sie plötzlich, einen einsamen Gang durch den jetzt sehr ruhigen Stadtwald zu machen.

So bog sie nach einer Weile von ihrem Weg ab in den Stadtwald ein.

Am Kinderspielplatz saßen einige Kindermädchen und bewachten die im gelben Sand spielenden Kinder. Sonst begegnete ihr niemand. Es war eine köstliche Ruhe und Stille um sie her, und sie konnte ungestört ihren Gedanken nachhängen.

Schließlich erreichte sie den großen Parkteich, über den an seiner schmalsten Stelle eine zierliche, gewölbte Brücke führte.

Unweit dieser Brücke ließ sie sich, müde von dem Gang durch den warmen Sommermorgen, auf einer Bank nieder.

Hier saß sie eine ganze Weile. Die tiefe Stille ringsum spann sie ein in träumerisches Sinnen. Gedankenverloren malte sie mit ihrem Schirm rätselhafte Zeichen in den Kies, und dabei vergaß sie Zeit und Ort.

Nahende Schritte, die auf den hölzernen Brückenweg laut aufschlugen, schreckten sie empor. Sie hob den Kopf und wandte ihn zu der Brücke. Und da schrak sie heftig zusammen.

Mit einem bangen, unruhigen Blick sah sie in zwei strahlende Männeraugen, die aufleuchtend ihre Erscheinung umfaßten.

Vor ihr stand Gerd Falkner.

Auch er war bei ihrem unerwarteten Anblick zusammengezuckt. Nun stand er wie gebannt. Ihre Augen hingen ineinander, waren es Minuten oder Ewigkeiten -- sie wußten es nicht.

Und dieses selbstvergessene Ineinandertauchen ihrer Blicke entschied das Schicksal dieser beiden Menschen.

Gerd raffte sich zuerst auf und trat, den Hut ziehend, einige Schritte näher.

»Juanita? Juanita Falkner?« fragte er hastig.

Ein wundersames süßes Lächeln, das ihn bis in die tiefste Seele hinein erregte, umspielte ihren feinen, roten Mund.

»Ich bin es -- Gerd Falkner«, antwortete sie mit einem tiefen Atemzug. Er trat schnell zu ihr heran, ergriff ihre Hand und zog sie mit einer ritterlichen Gebärde an seine Lippen.

»Nita -- liebe Nita --, Sie haben mich erkannt?«

»Ja«, sagte sie bewegt, »schon vorhin, als ich Ihnen begegnete.«

»Und Sie ließen mich vorübergehen?«

Wieder huschte das süße Lächeln um ihren Mund, ein Lächeln, das ihm das Blut rasch und ungestüm durch die Adern trieb.

»Ich war zu feige, Sie anzureden, Gerd.«

»Und ich erkannte Sie nicht gleich -- erst nachher kam mir eine Ahnung und dann, dann habe ich Tina gesprochen, die gab mir Gewißheit, als ich Ihren Anzug beschrieb. Da wußte ich, daß Sie es gewesen sind, nein -- du, Nita, du. Nicht wahr, ich darf dich du nennen, du wirst mir dieses Recht nicht streitig machen?«

Sie schüttelte in reizender Verwirrung den Kopf.

»Nein, Gerd, natürlich nicht, es ist ja Unsinn, daß wir uns so förmlich anreden. Du -- du bist doch mein Schwager.«

Er sah in ihre Augen hinein. Ein Schatten war plötzlich darin, die Freudigkeit darin schien erloschen. Ihr Gesichtchen sah leidvoll und traurig aus.

»Nicht auf das Recht des Schwagers poche ich, Nita, sondern auf das des alten Freundes. Ich ließ dich einst schweren Herzens zurück in einer Umgebung, deren erdrückenden und kalten Einfluß ich an mir selbst erfahren hatte. Ach, Nita -- wie froh bin ich, daß ich dir nochmals begegnet bin. Ich habe Tina schon einen Auftrag an dich übergeben. Nun kann ich noch selbst mit dir sprechen. Das ist mir eine große, innige Freude. Darf ich mich ein Weilchen zu dir setzen?«

Sie rückte zur Seite und machte ihm Platz. Und es war ihr, als sei das, was sie jetzt erlebte, zu schön, um Wirklichkeit zu sein, als sei alles nur ein Traum.

»Wie ist es dir ergangen, Nita?« fragte Gerd leise.

Ihr Gesicht wurde noch trauriger.

»Frage mich nicht danach, Gerd! Du weißt, ich wurde deines Bruders Weib, und niemand stand mir nahe genug, um mich vor diesem übereilten Schritt zu behüten. Dir gegenüber will keine konventionelle Lüge über meine Lippen. Ich bin in diese Ehe hineingetaumelt, ohne mich nur einmal auf mich selbst besinnen zu können. Es ging alles so schnell -- und ich griff hastig und unüberlegt nach einem Herzen, das, wie ich glaubte, mir gehören sollte. Ich brauche dir wohl nichts weiter zu sagen. Tina sagte mir, daß du deinen Bruder Dolf genauer kennst als andere Menschen. Nun -- ich kenne ihn jetzt auch.«

Es lag ein tiefes, bitteres Weh in ihren Worten. Sein brennender Blick ruhte schmerzlich bewegt auf ihrem leidvollen, jungen Gesicht. Er nahm ihre Hand.

»Nita -- daß ich dich davor nicht bewahren konnte! Nun ist es zu spät.«

»Ja --zu spät«, sagte sie tonlos.

Sie sahen sich an mit dunklen, brennenden Blicken. Ihre Seelen begegneten sich in diesen Blicken.

Nita empfand es als einen süßen Trost, daß er teilnahm an ihrem Leid. Sie ergab sich froh der Gewißheit, daß er bei ihr war, er, der Freund und Helfer, den sie einst in kindlicher Not gefunden und der wie ein unsichtbarer Schutzgeist über ihrer Jugend geschwebt hatte. Sie wurde sich nicht bewußt, daß zugleich ein wärmeres Gefühl für ihn erwachte, vielleicht weil es schon immer unbewußt in ihr geschlummert hatte. Nur darüber wurde sie sich klar, daß seine Gegenwart wie die Erfüllung eines schönen Traumes für sie war.

Anders sah es in Gerd aus. Er erkannte in dieser Stunde, daß er Nita liebte, und sein ungestümer Sinn lehnte sich trotzig dagegen auf, daß diese Gewißheit zugleich ewigen Verzicht in sich barg. Sein rasches, heißes Blut strömte wild und fordernd durch seine Adern, er fühlte sich stark genug, dieses holde, süße Geschöpf einer ganzen Welt abzutrotzen. Da richtete sich Nita seufzend auf und preßte die Hände zusammen.

»Und nun bin ich deines Bruders Weib und habe zu spät erkannt, daß wir nicht zueinanderpassen.«

Er schrak empor.

»Deines Bruders Weib!«

Wie in Flammenschrift stand es plötzlich vor ihm: Du sollst nicht begehren -- deines Bruders Weib.

Er sprang auf und trat von ihr zurück, jäh erblassend und die Hände fest zusammenballend. Alle Muskeln seines Gesichts schienen gespannt, und mühsam rang er um Ruhe und Fassung: Seines Bruders Weib! Ach, jedem andern hätte er sie abgerungen, mit jedem andern um sie gekämpft -- nur mit seinem Bruder durfte er das nicht. War ihm dieser auch noch so fremd geworden -- er war seines Vaters Sohn wie er selbst. Das machte ihn wehrlos gegen Dolf.

Nita sah bang und unruhig in sein zuckendes Gesicht. Und unter diesem Blick kam ihm die Kraft zurück, sich selbst zu bezwingen. Sie durfte um keinen Preis beunruhigt werden, durfte nicht auch noch an ihm irre werden. Nicht neues Leid, neue Kämpfe durfte er auf ihre schmalen Schultern laden. Und wenn ihm auch ihre reinen, unschuldsvollen Augen verrieten, daß auch in ihrer Seele in dieser schicksalsvollen Stunde ein tieferes, wärmeres Gefühl für ihn erwacht war, er durfte es nicht sehen, nicht bemerken, er mußte stark und ruhig sein für sie und für sich.

Aufatmend ließ er sich wieder neben ihr nieder.

»Verzeih mein ungestümes Benehmen, Nita! Aber da ist eine Saite in mir, die gibt grellen Mißklang, wenn der Name meines Bruders dagegentönt. Er ist dein Gatte -- wir wollen uns nicht diese Stunde dadurch trüben, daß wir von ihm sprechen. Ich glaube, ich kann dir alles nachfühlen, was du gelitten hast, die tiefsten Regungen deiner Seele klingen in der meinen wieder. Ich glaube, wir verstehen uns auch ohne Worte. Mir ist immer gewesen in all den langen Jahren, als gehörtest du zu mir, von dem Moment an, als du an meiner Hand die Schwelle meines Vaterhauses überschrittest. Dein Vater hatte dich zu meiner Mutter geschickt, sie sollte ihre Hände über dich breiten. Er wußte nicht, das meine Mutter tot war. Als du jammernd nach der guten Tante Maria riefst, da erschienst du mir zugehörig wie eine kleine hilflose Schwester. Weißt du noch, wie ich des Abends zu dir kam, um dich zu trösten?«

Sie nickte verträumt lächelnd.

»Ja, Gerd, die Erinnerung daran hat mir über viel Schweres hinweggeholfen, ich habe immer daran denken müssen.«

»Weißt du auch, weshalb dein Vater dich gerade meiner Mutter anvertrauen wollte?«

Sie atmete auf.

»Er muß sie sehr geachtet haben.«

Gerd sah sie ernst und groß an.

»Mehr als das, Nita. Dein Vater hat meine Mutter einst geliebt, so sehr geliebt, daß er die Heimat verließ, als sie meinem Vater die Hand reichte und ihm die Hoffnung nahm, sie zu besitzen.«

Nitas Augen leuchteten strahlend auf und blickten so glücklich in die seinen, daß er alle Kraft brauchte, um ruhig neben ihr sitzen zu bleiben.

»Oh, so weiß ich doch, wie es kommt, daß ich dich gleich so liebhatte und daß meine Seele sich der deinen so verwandt fühlt!«

Ergriffen von der unbewußten Reinheit ihres Empfindens nahm er ihre Hand, legte sie an seine brennenden Augen und küßte sie dann verehrungsvoll.

»Kleine Nita -- wie sinnig du sprichst. Ja, unsere Seelen sind verwandt, es macht mich sehr glücklich, daß du das empfindest und aussprichst. Und ich bin so froh, daß dich heute das Geschick auf meinen Weg führte. Wenn ich nun auch bald wieder von dir scheiden muß, so weiß ich doch, daß du meiner gedenkst wie eines treuen Bruders -- wie deines ergebensten Freundes. Nicht wahr, Nita -- das wirst du tun?«

Sie ließ ihren Blick in dem seinen ruhen, obwohl ihr das Blut in die Wangen stieg unter seinen bittenden Augen.

»Ja, Gerd, das werde ich tun, und wir wollen uns nun nie mehr ganz verlieren, das versprich mir. Es wird mich so froh und stark machen, wenn ich weiß: da draußen in der Welt lebt dir ein treuer Freund, ein Bruder, eine Seele, die dich versteht und zu dir gehört. Ach, Gerd -- hätte ich das doch schon früher so bestimmt gewußt, vielleicht wäre dann manches anders geworden, vielleicht hätte ich dann nicht so unbesonnen und hastig nach einer Hand gegriffen, die mich halten sollte und die ich für stark und rein hielt. Ach Gerd, wenn ich doch gewußt hätte, daß du … daß -- ach nein, nein, ich will gar nicht mehr daran denken, will nur so recht im tiefsten Herzen froh sein, daß ich dich nun doch noch gefunden habe.«

Es lagen bei aller Gefühlstiefe so viel Reinheit und Unschuld in ihrem Blick, daß er nur zu gut merkte, daß sie sich gar nicht bewußt war, welches Gefühl ihre Herzen zueinanderzog. Und er wollte ihr um jeden Preis diese Unbefangenheit erhalten.

»Ja, meine liebe, kleine Nita, daran wollen wir uns halten, und wir wollen dem Geschick dankbar sein für diese Stunde.«

Sie nickte froh, und dann plauderten sie noch eine Weile über seine Reisen und seine Pläne für die Zukunft. Er hatte viel Material gesammelt auf seinen Reisen und wollte das nun erst in Ruhe verarbeiten, ehe er neue Forschungsreisen unternahm. Jahre konnten bis dahin vergehen.

Er freute sich, wie genau Nita in seinen beiden bisher erschienenen Werken Bescheid wußte. Sie wurde sehr eifrig dabei, und ein heißer Schmerz durchzuckte ihn, daß er sie nicht halten durfte an seiner Seite. Was für eine kluge, verständnisvolle Lebensgefährtin hätte sie ihm sein können! Und wie hold und schön sie war. Das süße Gesicht würde er nun im Wachen und im Traum vor sich sehen.

Er nahm den Hut ab, als sei ihm zu heiß, und sagte wie auf der Flucht vor sich selbst:

»Nun müssen wir uns aber trennen, Nita -- meine Zeit ist abgelaufen.«

Sie sah ihn erschrocken an. Ihre Lippen zuckten schmerzlich, und seufzend zog sie ihre Uhr aus dem Gürtel.

»Mein Gott, schon so spät -- wo ist die Zeit geblieben? Ich muß auch nach Hause. Dolf soll doch wohl nicht wissen, daß du hier bist?«

»Nein -- wenn du es verschweigen kannst, sag es ihm nicht, meines Vaters wegen, Nita. Vielleicht würde es diesen doch kränken, daß ich hier gewesen bin und ihn nicht aufgesucht habe.«

»Wie du willst, Gerd. Dein Vater ist jetzt oft leidend und sehr niedergedrückt. Sei nicht unversöhnlich -- damit du einst nichts zu bereuen haben wirst.«

Er küßte ihre Hand.

»Ihm gegenüber bin ich nicht unversöhnlich, Nita, ich stehe ja im steten, wenn auch seltenen Briefwechsel mit ihm. Aber zwischen uns steht trennend meine Stiefmutter. Doch davon nichts mehr -- nicht daran rühren. Leb wohl, Nita -- und vergiß nicht, wenn du jemanden brauchst, der mit Gut und Blut für dich eintritt, dann rufe mich.«

Mit leuchtenden Augen sah sie in sein beherrschtes, energisches Gesicht. Und das Blut wallte ihr jäh zum Herzen.

»Leb wohl, Gerd -- jetzt werde ich wohl wieder lange warten müssen, bis ich dich wiedersehe. Aber ich weiß doch, daß meine Seele dich immer finden wird. So froh macht mich das. Ich werde nun nie mehr ganz allein sein.«

Es lag eine so große Innigkeit in ihren Worten, daß er bis ins tiefste Herz erschüttert war. Das heiße, starke Gefühl, das in dieser Stunde jäh in ihm erwacht war, trieb ihm das Blut in wilden Schlägen zum Herzen. Sehr bleich sah er aus, und sein Gesicht zuckte. Er hätte vor ihr niedersinken, sie umfassen und bitten mögen, daß sie nicht von ihm ginge. Aber er blieb stark und Herr seiner selbst. Nur seinen Augen konnte er nicht ganz gebieten, und sein Blick verriet die Qual seines Herzens.

Hand in Hand standen sie eine Weile -- und Auge in Auge.

Und da lief ein Zittern über Nitas Gestalt, und ihre Augen strahlten auf in einem wundersamen Glanz. Sie wußten beide, daß diese Stunde ihnen etwas gebracht hatte, das nie vergehen würde, wußten, daß nun ihre Seelen einander immer in Sehnsucht suchen würden. Aber nur Gerd war sich bewußt, welcher Art das Gefühl war, das sie beide beherrschte. Sie gab sich willenlos dem Zauber dieser Stunde hin, ohne zu grübeln, ohne zu deuten. Aber Gerd kämpfte gegen sich selbst und gegen die Macht dieses Gefühls. Er erkannte die Gefahr.

»Leb wohl, Gerd!«

»Leb wohl, Nita!«

Noch ein fester Händedruck -- dann wandte sie sich schnell zum Gehen. Er blieb stehen und sah ihr nach, und der Atem kam mühsam und schwer aus seiner Brust. Ihm war, als scheide die Sonne aus seinem Leben, nachdem sie ihm zum ersten Male im vollen Glanz geschienen hatte.

Am Kreuzweg wandte sich Nita noch einmal um. Von hellem Sonnenlicht umflossen stand ihre schlanke, weiße Gestalt. Sie winkte mit der Hand zurück, und er zog den Hut -- dann war sie hinter dem Gebüsch verschwunden.

Gerd rührte sich noch immer nicht vom Fleck. Sein Blick wurde trübe und düster, und in schmerzliches Sinnen verloren sagte er leise vor sich hin:

»Du sollst nicht begehren -- deines Bruders Weib.«

Aufstöhnend sank er auf die Bank zurück und preßte seine heißen Lippen auf die Stelle der Lehne, wo ihre Hand geruht hatte.

Bisher hatte Gerd Falkner nie einer Frau Macht über sich eingeräumt. Trotz seines heißen, raschen Blutes war noch keine seiner Ruhe gefährlich geworden. Und jetzt schien es ihm, als sei er nur deshalb teilnahmslos an den Frauen vorbeigegangen, weil seine Seele vorahnend empfunden hatte, daß Juanita die Ergänzung seines Wesens sein würde, Juanita, die nun durch ein unglückseliges Geschick seines Bruders Weib und für ihn unerreichbar geworden war.

Bisher hatte er nie geglaubt, daß einmal eine Frau eine große Rolle in seinem Leben spielen könnte. Noch vor einer Stunde, als Tina davon sprach, daß er sich eine Frau nehmen solle, hatte er überlegen gelächelt. Und jetzt? Jetzt schien sein ganzes Sein erfüllt von der namenlosen Sehnsucht nach dem Besitz eines jungen Weibes, das ihm nie angehören würde, das seinem Bruder angetraut war, der schwerlich eine Ahnung hatte von dem vollen Wert dieser Frau, die er in Egoismus und Berechnung an sich gefesselt hatte.

Daß Dolf Nita unmöglich lieben konnte, so lieben, wie sie es verdiente, das ging deutlich genug daraus hervor, daß er mit anderen Frauen liebäugelte und ein ausschweifendes Leben führte.

Ironie des Schicksals -- das Kleinod, wofür er alles freudig hingegeben hätte, ließ ein anderer achtlos liegen. Aber dieser andere war sein Bruder -- und der rechtmäßige Besitzer des Kleinods.

In düsteres Sinnen verloren ging Gerd langsam zur Lessingstraße zurück -- ein anderer, als er vorher gewesen war, einer, der das höchste Glück und das tiefste Leid in einer Stunde gefunden hatte.


 << zurück weiter >>