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Im Hause des Verlegers Albert Horst herrschte eine freudige Aufregung -- Gerhard Falkner wurde nach langer Zeit wieder einmal zu Besuch erwartet. Frau Gertrud Horst, die im Lauf der Jahre etwas von ihrer eleganten Schlankheit eingebüßt hatte und eine stattliche Dame geworden war, stand wartend am Fenster und schaute hinaus. Neben ihr kniete Lotti Horst auf einem Sessel und blickte in erwartungsvoller Ungeduld die Straße entlang. Lotti war ein ganz reizender Backfisch geworden.
Sie pflegte zwar energisch gegen die Bezeichnung »Backfisch« zu protestieren und behauptete, mit »bald siebzehn Jahren« sei man eine richtige junge Dame und kein Backfisch mehr. Aber ihr Vater neckte sie gern damit und wollte ihre »Damenhaftigkeit« noch nicht gelten lassen.
»Ach, Mutti -- der Wagen ist noch immer nicht zu sehen, ich komme noch um vor Ungeduld, wenn Gerd nun nicht bald eintrifft. Sag, Mutti, ob er wirklich so schneidig aussieht, wie auf dem Bild in der Illustrierten Zeitung?«
Frau Gertrud lächelte.
»Warum soll er denn nicht, Lotti?«
»Na, weißt du, Muttchen. Fotografien sind manchmal mächtig geschmeichelt. Denk doch an meine letzte Aufnahme in dem blauen Kleid -- da hält mich doch jeder Mensch für eine Schönheit.«
Frau Gertrud dachte, daß ihre Lotti noch viel hübscher sei als ihre eben gerühmte Fotografie und strich zärtlich über das goldgelockte Haar ihres Töchterchens. Aber sie sagte nur neckend:
»Nun -- du kannst dich auch so zufriedengeben, wenn du auch keine ›Schönheit‹ bist. Aber horch -- da kommt der Wagen.«
Lotti sprang von dem Sessel herab und drückte das Näschen am Fenster platt.
»Sie sind es! Sie sind es! Da steigt eben Papa aus. Und nun Gerd! Herrgott, Muttchen -- nun sieh doch bloß, was er für eine interessante, schneidige Erscheinung ist! Wie elegant er sich kleidet -- gar nicht so, als käme er aus unkultivierten Ländern. Und so braungebrannt -- wie Bronze sieht sein Gesicht aus. Winke ihm doch, Muttchen! O -- da sieht er schon herauf zu uns und zieht den Hut.«
So plauderte Lotti aufgeregt. Und als nun unten die beiden Herren ins Haus traten, eilte sie zur Tür.
Wenige Minuten später hielt Tante Gertrud ihren berühmten Neffen umschlungen.
»Gerd, mein lieber, lieber Gerd! Mein berühmter Gerd!« rief sie zärtlich und stolz.
Gerd küßte sie herzlich auf den Mund, dann sagte er lachend:
»Tante Gertrud -- laß um Gottes willen den ›berühmten‹ Gerd aus dem Spiel, sonst gebe ich Fersengeld. Hier will ich endlich einmal weiter nichts sein als euer lieber Gerd.
Der Übermut stand ihm gut, das Lächeln gab seinen herben, ernsten Zügen einen weichen Ausdruck. Und nun richteten sich seine kühnblickenden Augen auf Lotti.
»Wen haben wir da? Ist das wirklich die kleine, wilde Lotti, die ich vor fünf Jahren, als ich das letztemal hier war, in kurzen Röcken und zerzausten Locken gesehen habe?«
Lotti knickste übermütig.
»Jawohl, liebster Vetter. Aber weißt du, eigentlich ist das garstig von dir, daß du uns nicht das Vergnügen gönnen willst, dir das Prädikat ›berühmt‹ zu geben.«
Er zog sie bei den Händen zu sich heran.
»Liebe, kleine Base -- ich bin in den letzten Wochen elend mit diesem gräßlichen Wort strapaziert worden. Habe Mitleid und Erbarmen -- mir wird übel, wenn ich es höre.«
»Ich wollte mich aber doch so gern ein bißchen dicktun mit dir.«
»Gib mir lieber einen Kuß, schönes Bäschen«, scherzte er und küßte sie herzlich auf den blühenden Mund.
Sie zog eine drollige Grimasse.
»Himmel -- das Küssen hast du wohl bei den Wilden gelernt. Und dein ›schönes‹ Bäschen bin ich nicht, das ›schön‹ verbitte ich mir noch energischer als du dir dein ›berühmt‹.«
Er küßte sie noch einmal, etwas sanfter.
»Also sagen wir ›reizend‹ statt schön. Das erlaubst du doch?«
»Na, meinetwegen, ich bin milde gestimmt zur Feier deiner Ankunft.«
»Nun leg aber erst einmal ab, lieber Gerd, und mache es dir bequem«, sagte Frau Gertrud, ihn stolz und wohlgefällig betrachtend.
»Das will ich tun, liebe Tante.«
»Wo ist denn dein Gepäck? Dieser Handkoffer ist doch hoffentlich nicht alles?
»Doch, ich kann ja nur drei Tage bleiben, Tante Gertrud.«
»Drei Tage nur? Das gilt nicht«, protestierte Lotti.
»Nein, wirklich, Lotti hat recht, das gilt nicht. Nach langen Jahren habe ich dich endlich einmal wieder, und da willst du nur drei Tage bleiben«, sagte Frau Gertrud vorwurfsvoll.
Albert Horst legte seine Hand auf ihren Arm.
»Gib dir keine Mühe, Gertrud, er bleibt nicht länger, am Sonnabend hat er in K… schon wieder einen Vortrag zu halten. Man zerreißt ihn fast. Und wenn er nicht mit mir wegen allerlei Verlagsangelegenheiten verhandeln müßte, wäre er vielleicht überhaupt nicht gekommen.«
»Das ist Verleumdung, Tante Gertrud, das glaubst du doch nicht? Ich hatte ehrliche große Sehnsucht nach euch. Aber meine Zeit ist jetzt knapp bemessen. Nur mit Mühe konnte ich mir drei Tage für euch reservieren.«
Frau Gertrud seufzte.
»Dann müssen wir uns wohl bescheiden. Aber nun komm, ich will dich auf dein Zimmer führen, damit du es dir behaglich machen kannst. Du wirst in den letzten Jahren wenig Gemütlichkeit gehabt haben.«
Damit führte sie ihn hinaus.
Als sie draußen allein waren, sagte Gerd bittend:
»Liebe Tante, ich möchte dich gerne mal ein Stündchen ganz für mich haben. Es ist da manches, was mir am Herzen liegt und was ich nur mit dir, meiner alten, lieben Vertrauten, besprechen möchte. Kannst du es wohl einrichten?«
»Gewiß, Gerd, gleich nach Tisch. Da geht Albert in sein Kontor, und Lotti werde ich entfernen.«
»Ich danke dir, liebe, beste Tante.«
Sie lächelte ihn liebevoll an und öffnete die Tür zu seinem Zimmer.
»So, Gerd -- da bist du zu Hause. Ich hatte gehofft, dich ein wenig länger für mich zu haben und habe dir sogar ein molliges Arbeitswinkelchen zurechtgemacht, wo du ungestört hättest arbeiten können.«
Er trat ein und blickte erfreut in den behaglich stimmungsvollen Raum. Mit einem tiefen Atemzug reichte er ihr die Hand.
»Wahrlich -- hier weht Heimatluft in diesem Raum -- da möchte ich mich wohl einmal eine Weile festsetzen. Ich behalte es mir für später vor, liebe Tante Gertrud, wenn ich meine Vortragstournee beendet haben werde. Jetzt geht es leider nicht.«
»Dann also später, Gerd, ich freue mich schon darauf«, antwortete Frau Gertrud und zog, ihm zunickend, die Tür hinter sich zu.
Sie begab sich in die Küche, um sich zu versichern, daß das Festmahl pünktlich bereit sein würde.
Albert Horst war inzwischen mit seinem Töchterchen allein geblieben.
Lotti schwärmte in den höchsten Tönen von ihrem schneidigen, interessanten Vetter.
»Was soll denn Dr. Bruckner dazu sagen, Lotti, daß du mit fliegenden Fahnen zu Gerd übergehst?« fragte der Vater neckend.
Lottis Gesicht rötete sich jäh, aber sie heuchelte kolossalen Gleichmut.
»Ach, weißt du, Papa, Dr. Bruckner ist es sehr gesund, wenn er mal merkt, daß es außer ihm noch andere berühmte Männer gibt. Er spielt sich ohnedies mir gegenüber auf.«
»Damit willst du ihn doch nicht als arrogant hinstellen? Das wäre ungerecht, Lotti, Bruckner ist sogar ein Mensch von großer Bescheidenheit, obwohl er es nicht nötig hat.«
»Ja doch! Arrogant ist er nicht. Aber weißt du -- mir gegenüber tut er immer, als sei ich ein Wickelkind und er ein alter Meergreis mit bergehohen Erfahrungen«, antwortete sie ärgerlich.
Albert Horst lachte.
»Ein Meergreis mit bergehohen Erfahrungen -- du -- das ist ein imposanter Vergleich. Das muß ich Bruckner wiedersagen.«
Sie umfaßte und schüttelte ihn.
»Untersteh dich -- du!«
»Na, was geschieht mir, wenn ich petze?«
»O Fürchterliches. Ich entziehe dir für acht Tage jede töchterliche Zärtlichkeit und behandle dich mit kalter Ehrfurcht -- dann wirst du schon klein beigeben.«
Er lachte herzlich.
»Um Gottes willen, Lotti! Wenn du diese Drohung ausführst, werde ich melancholisch. Schnell, gib mir einen Kuß.«
»Versprichst du mir auch, Dr. Bruckner nichts zu sagen?
»Ich schwöre es.«
»Und versprichst mir auch, mich nie mehr mit ihm zu necken?
»Auch das.«
»Na, dann will ich Gnade für Recht ergehen lassen. Hier hast du einen Kuß -- Dauerbrenner.«
Sie küßte ihn herzlich.
»Hm! Noch einen von der Sorte.«
»Sei nicht so anspruchsvoll. Aber sag mal ernsthaft, Vati, mußt du wirklich Bruckners letztes Buch in doppelt so großer Auflage herausgeben?«
»Ja, Lotti die Leute kaufen es wie toll. Die ersten Auflagen sind total vergriffen. Wenn ich nur solche Sachen zu verlegen hätte wie die schöngeistigen Werke Bruckners und die wissenschaftlichen von Gerd, dann wäre ich bald Millionär.«
Sie drehte an seinem Rockknopf.
»Gelt, Vati -- ein tüchtiger und ehrenhafter Mensch ist Bruckner außerdem?« fragte sie ernsthaft.
Er strich zärtlich über ihr goldflimmerndes Haar.
»Ja, Lotti, das ist er gewiß.«
»Und du und Mutti, ihr mögt ihn gern?«
»Sehr gern.«
Sie atmete auf.
Und dann sagte sie leise:
»Nun möchte ich dich noch etwas fragen, Vati, aber erst gib mir dein Ehrenwort, das du mir ganz ehrlich und ernsthaft antworten willst.«
»Also, Ehrenwort.«
»Wirkliches, großes Ehrenwort?«
»Ja doch, großes Ehrenwort.«
Sie zögerte noch ein Weilchen, dann sagte sie mit einem allerliebsten, schüchternen Ausdruck:
»Neulich hast du mal mit Bruckner über mich gesprochen, ich habe es gemerkt. Was hat er denn da über mich gesagt?«
Er machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Hm -- ja, mir ist so, als ob er etwas gesagt hätte.«
»Was denn, Vati, sag's doch schnell.«
Er blinzelte sie listig an.
»Aber nur unter Diskretion.«
»Na, selbstredend.«
»Also -- er hat gesagt: ›Ihr Fräulein Tochter ist wie ein sonniger Maientag. Wenn ich ihr begegnet bin, dann bin ich froh für den ganzen Tag.‹«
Lotti wurde dunkelrot und merkte in ihrer Verlegenheit gar nicht, wie scharf sie der Vater beobachtete.
»Und -- was hast du darauf erwidert, Vati?« fragte sie leise.
»Ich? Ach -- ich habe nur gesagt: ›Sie beurteilen unser Töchterchen sehr günstig, Herr Doktor, obgleich Ihnen der Wildfang in seinem Übermut manchmal hart zusetzt.‹ Und darauf antwortete er mir: ›Keine Rose ohne Dornen, Herr Horst, ich möchte diese Dornen nicht missen.‹ Na, Lotti -- ist das nicht ein hübscher Vergleich? Wie kommst du dir vor als Rose oder Maientag? Findest du nicht, daß Bruckner poetischere Vergleiche gewählt hat als den mit deinem alten Meergreis?«
Lotti spielte mit den blauen Schleifen an ihrem weißen Kleidchen und sah an dem Vater vorbei. Er sah, daß ihre Lippen zuckten.
»Ach, weißt du, Vati, das mit dem Meergreis war doch nur Scher z.«
Er zwang sich, ernsthaft auszusehen.
»Wirklich? Also ist er dir am Ende gar nicht so widerwärtig?«
Sie fuhr auf.
»Widerwärtig? Dr. Bruckner? Aber Papa, das habe ich doch nie gesagt!« rief sie entrüstet.
»Nicht? Na, dann habe ich mir das wohl nur eingebildet. Da habe ich mir am Ende ein ganz falsches Bild gemacht von deinen Gefühlen für Dr. Bruckner. Ich habe immer geglaubt, du kannst ihn nicht ausstehen, und habe dich nur deshalb geneckt«, sagte er ganz unschuldig.
Sie legte die Hände an die heißen Wangen.
»Gott, ist das eine Hitze heute! Und wo nur Mama bleibt«, meinte sie verlegen und eilte zur Tür.
Frau Gertrud öffnete diese gerade, als habe sie auf ihr Stichwort gewartet. Lotti sprach gleich auf sie ein und erwähnte Dr. Bruckner gar nicht mehr. Ihr Vater ging scheinbar unbefangen auf ein anderes Thema über, und da Gerd bald zurückkam, ging man zu Tisch.
Während der Mahlzeit herrschte eine sehr angeregte Unterhaltung zwischen den vier Personen. Gerd neckte sich mit dem reizenden Bäschen, das ihm sehr schlagfertige Antworten gab. Er fühlte sich entschieden sehr wohl im Kreise dieser lieben Menschen. Sein ganzes Wesen verriet, daß er im Lauf der Jahre gereift war. Wohl musste er auch jetzt gelegentlich sein heißes, rasches Blut zügeln, das noch immer ungestüm durch seine Adern rollte. Aber er hielt sich mit fester Hand im Zügel und war seiner selbst sicher. Seine Augen verrieten wohl, daß er das Leben sehr ernst auffaßte. Aber das Gedrückte, Gequälte, das in den Augen des Jünglings gelegen hatte, war verschwunden. Es konnte sogar froh und übermütig in seinen Augen aufblitzen. Frei und stolz blickten sie jetzt und voll warmer Freude am Leben und an befriedigender Tätigkeit. Alles in allem hatte man, wenn man ihm gegenüberstand, das Bewußtsein, eine bedeutende Persönlichkeit voll geistiger Reife vor sich zu haben.
Tante Gertrud blickte mit warmem Wohlgefallen auf ihren Neffen und gedachte wehmütig seiner toten Mutter, die nicht erleben durfte, daß ihr Sohn ein so tüchtiger Mann geworden war.
Gleich nach Tisch saß Gerd seiner Tante in deren kleinem, lauschigen Salon gegenüber. Sie waren allein.
»So, mein lieber Gerd, jetzt sind wir ungestört, und nun kannst du mir sagen, was du auf dem Herzen hast«, begann Frau Gertrud die Unterhaltung.
Gerd sah eine Weile sinnend vor sich hin, dann hob er den Kopf und sah in ihre Augen.
»Zunächst, liebe Tante, sollst du mir sagen, ob du weißt, wie es bei uns zu Hause steht. Hast du meinen Vater einmal gesehen?«
Sie nickte.
»Ja, Gerd, in der letzten Zeit sogar einige Male. Er ist sehr grau geworden, fast weiß, und ich weiß nicht, ob ich mir das nur einbilde, ich finde, er sieht recht trübe und bedrückt aus. Früher, wenn ich ihm einmal zufällig begegnete, dann sah er an mir vorüber. Aber die letzten Male blickte er mich so groß und seltsam an, und ich konnte nicht anders -- er hat mir leid getan.«
Gerd fuhr sich über die Stirn.
»Glaubst du, Tante, daß ich zuweilen eine ganz wahnsinnige Sehnsucht habe, ihn wiederzusehen?«
»Ja, Gerd, warum soll ich das nicht glauben, er ist doch dein Vater. Und wenn er menschlich gefehlt hat -- ich glaube, es war mehr sein Verhängnis als seine Schuld. Auch ich zürne ihm längst nicht mehr.«
Gerd machte eine hastige Bewegung.
»Nun etwas anderes, Tante Gertrud. Hast du eine Ahnung, wie es bei dem jungen Paar geht?«
»Ach, mein lieber Gerd, ich glaube, da ist nicht alles so, wie es sein soll. Über deinen Bruder hört man nichts Gutes, dafür recht viel Schlechtes. Er soll in sehr zweifelhafter Gesellschaft die wüstesten Gelage feiern. Neulich war Albert mit einem Geschäftsfreund und dem uns befreundeten Schriftsteller Dr. Bruckner noch spät in einem Weinrestaurant. Aus einem Séparée hörten sie wüsten Lärm, und als sie gerade aufbrechen wollten, kam dein Bruder Dolf heraus, an jedem Arm ein zweifelhaftes Dämchen und hinter ihm etliche Gesinnungsgenossen, ebenfalls in weiblicher Gesellschaft. Und alle waren total betrunken und haben sich skandalös betragen. In ähnlicher Verfassung haben ihn viele Bekannte gesehen, die uns das natürlich mit großer Befriedigung zutragen. Und die junge Frau? Lieber Gott -- ich sehe sie oft genug hier vorüberfahren oder gehen, sie bewohnen ja eine Villa am Stadtwald und müssen hier durch die Lessingstraße, wenn sie zur Innenstadt wollen -- und ich kann dir nur sagen, glücklich sieht sie nicht aus. Ein wunderschönes Geschöpf ist sie geworden, so ein reizendes, süßes Gesicht, aber traurig sieht sie fast immer aus, wenn sie sich unbeobachtet glaubt. Sieht sie aber jemanden an, dann macht sie ein stolzes, ruhiges Gesicht. Das arme junge Ding tut mir schrecklich leid.«
Gerd hatte mit finster zusammengezogener Stirn zugehört. Nun zog er seine Brieftasche heraus und entnahm ihr einen Brief.
»Es war vorauszusehen, daß Juanita mit einem Menschen wie Dolf nicht glücklich werden konnte. Ich war nicht wenig erschrocken, Tante Gertrud, als ich diesen Brief der alten Tina unter den euren fand, die mich nach meiner Rückkehr von der Expedition erwarteten. Dieser Brief hat mich sehr erregt. Die gute, alte Tina hat natürlich nicht gedacht, daß er erst so spät in meine Hände kam. Er ist gleich nach Juanitas Verlobung mit Dolf geschrieben worden. Tina verlangt darin allen Ernstes von mir, daß ich sofort kommen soll, um Juanita über den wahren Charakter meines Bruders die Augen zu öffnen und eine Vermählung der beiden nicht zulassen soll. Hier -- lies den Brief selbst.«
Frau Gertrud las und lächelte dann ein wenig.
»Die alte, treue Seele! Sie hat sich das so leicht und einfach gedacht in ihrer Einfalt. Was hättest du aber tun sollen, selbst wenn du diesen Brief sofort bekommen hättest und nicht am Ende der Welt gewesen wärst? Dolf ist ein äußerst bestrickender, schöner Mensch, man ist ganz frappiert, selbst wenn man ihm nur flüchtig begegnet. Es wird ihm leicht genug geworden sein, das arme junge Ding zu betören, und bevor sie nicht bittere Erfahrungen mit ihm gemacht hätte, hätten wohl auch die bestgemeintesten Mahnungen nicht geholfen.«
Gerd nickte.
»Das habe ich mir auch gesagt. Selbst wenn ich in der Nähe gewesen wäre, hätte ich sie schwerlich hindern können, Dolfs Frau zu werden. Ich bin der kleinen Juanita ein ganz Fremder geworden, sie wird sich meiner kaum noch erinnern. Aber trotzdem -- ich habe ein so unbehagliches Gefühl in mir, wenn ich an das arme junge Wesen denke -- als hätte ich etwas versäumt. Wer weiß, wie man sie zu dieser Heirat gebracht hat. Meine Stiefmutter hat wohl sicher die Hand im Spiel gehabt, und Juanita ist ihr ja leider völlig preisgegeben worden. In meinem Vater hat sie auch keinen rechten Schutz. Solange er blind ist, was den Charakter seiner Frau und seines Sohnes betrifft, ist er auch ihnen gegenüber machtlos. Das habe ich ja an mir selbst erfahren müssen. Und deshalb ist mir zumute, als sei ich mit der armen Juanita im Innersten verwandt. Ich hatte immer das Gefühl, als hätte ich ein liebes Schwesterchen in den Händen meiner Stiefmutter zurücklassen müssen. Ihr Vater hatte sie in das Haus meines Vaters gesandt, damit meine Mutter sie erziehen und behüten solle. Mir ist oft gewesen, als hätte ich es nicht zulassen dürfen, daß sie statt dessen meiner Stiefmutter ausgeliefert wurde.«
»Aber, Gerd, damit quäle dich nicht. Du bist noch immer ein Grübler. Was hättest du denn tun sollen, um es zu verhindern?«
Gerd seufzte.
»Ja, freilich, ich hätte es nicht ändern können. Aber das eine steht bei mir fest, ich muß in diesen Tagen meines Hierseins mit der alten Tina sprechen. Sie muß mir sagen, wie alles steht.«
»Nun, das wird sich wohl ermöglichen lassen. Tina ist mit in den Haushalt des jungen Paares übergesiedelt.«
»Oh -- das ist gut, das beruhigt mich schon etwas. So ist Juanita doch nicht ganz verlassen. Was meinst du, Tante, wie ich Tina eine Nachricht zukommen lassen kann, daß ich sie sprechen will?«
»Willst du nicht einfach einen Besuch im Hause deines Bruders machen?
»Nein -- auf keinen Fall, ich könnte nicht zu ihm gehen, ohne zugleich meinem Vater einen Besuch abzustatten. Und ich habe kein Verlangen, meiner Stiefmutter zu begegnen und mich unter ihren Augen von meinem Vater als verlorenen Sohn empfangen zu lassen. Aber Tina muß ich sprechen, ich muß Gewißheit haben über das Los der jungen Frau.«
»Du wirst aber kaum etwas daran ändern können.«
»Wahrscheinlich nicht. Aber sie soll wenigstens durch Tina erfahren, daß sie in mir einen treuen, ergebenen Freund hat, wenn sie einmal einen solchen brauchen sollte. Das ist für ein vereinsamtes Gemüt ein Trost. Sie scheint sehr sensitiv veranlagt zu sein, das habe ich aus Tinas gelegentlichen Berichten gelesen, wenn sich die gute Alte auch etwas unbeholfen ausdrückt. Also -- weißt du mir einen Rat, wie ich Tina sprechen kann?
Frau Gertrud überlegte eine Weile. Dann sagte sie nachdenklich:
»Du müßtest hier am Fenster auf der Lauer liegen, bis Dolf vorüberfährt. Gegen elf Uhr fährt er wohl in eure Fabrik hinaus. Dann bist du sicher, ihm nicht zu begegnen. Die junge Frau wird dich kaum erkennen, wenn sie dich zufällig sieht, und außer Tina ist wohl nur neue Dienerschaft in der Villa deines Bruders. Dann könntest du am besten selbst herausfinden, wie du Tina eine Nachricht zukommen lassen kannst.«
Gerd nickte.
»Ja, so wird es gehen -- es muß gehen.«
Tante und Neffe besprachen nun noch allerlei Vertrauliches, bis endlich Lotti ihren blonden Kopf durch die Tür steckte.
»Mutti! Vetter! Darf man herein? Oder störe ich?«
»Nein, schönes Bäschen, du störst nicht, im Gegenteil.«
Sie schlüpfte herein.
»Auf jedes ›schöne‹ Bäschen kommt ein ›berühmter‹ Vetter, also hüte dich«, neckte sie.
»Also -- mein reizendes Bäschen.«
Lotti zog ein Mäulchen.
»Laß uns lieber ganz vernünftig reden, ja?«
Er lachte.
»Gut, es soll gelten, Bäschen. Warst du aus?«
»Ja, ich habe für Mutti eine Besorgung gemacht. Du, Mutti -- bei dieser Gelegenheit habe ich dir sehr eigenmächtig einen Gast zur Teestunde eingeladen. Ich traf am Theaterplatz Dr. Bruckner und erzählte ihm, daß Gerd bei uns ist. Er machte mächtig verlangende Augen nach Gerds Bekanntschaft, und da habe ich ihm einfach gesagt, er solle zum Tee kommen.«
»Aber Lotti, du weißt doch, das Gerd keine fremden Menschen bei uns sehen will.«
»Ach, Mutti, Bruckner ist doch kein fremder Mensch, der gehört doch sozusagen ins Haus. Und ich habe es mir so fein gedacht, zwischen zwei berühmten Männern zu sitzen. Entschuldige, lieber Gerd, aber diesmal gilt das ›berühmt‹ nicht dir allein. Dr. Bruckner ist nämlich ein bekannter Schriftsteller, der Verfasser von wundervollen Romanen und Dramen. Nicht wahr, Gerd, du bist nicht böse, daß ich ihn eingeladen habe? Er ist nämlich wirklich ein sehr netter Mensch.«
Frau Gertrud lachte.
»Ei -- sonst hast du doch allerlei an ihm auszusetzen, sogar langweilig hast du ihn schon gescholten«, sagte sie neckend.
»Ach, Mutti, das ist doch nicht ernst gemeint. Im ganzen ist Bruckner doch ein sehr sympathischer Mensch.«
»Ja doch, mir ist er sehr sympathisch, und wenn Gerd nichts dagegen hat, soll es mir recht sein, wenn er kommt.«
»Gelt Gerd -- dir ist es recht«, bettelte Lotti.
Er lachte.
»Da darf ich doch kein Unmensch sein, Lotti. Aber nun will ich gleich erst dem Horstschen Verlag einen Besuch abstatten. Albert erwartet mich zu einer geschäftlichen Konferenz.«
»Aber seid pünktlich um fünf Uhr wieder hier, du und Papa.«
»Ja, Lotti, wir werden pünktlich sein.«
Gerd verabschiedete sich von den Damen und schritt gleich darauf über den großen Hof zu dem Verlagsgebäude.
Zur Teestunde stellte sich dann Dr. Bruckner wirklich ein. Er war ein hübscher, schlanker Mensch Anfang Dreißig, mit stahlblauen, energisch blickenden Augen, einer hohen Stirn, dunklem Haar und kurzgehaltenem Lippenbärtchen. Sein ganzes Wesen verriet den Mann von guter Erziehung, der die Formen beherrscht, aber sich nicht von ihnen beherrschen läßt.
»Meine verehrte, gnädige Frau, wenn ich ungelegen komme, setzen Sie mich bitte ungeniert vor die Türe«, sagte er scherzend, im Ton des vertrauten Freunds des Hauses.
»Das will ich mir doch erst überlegen, Herr Doktor. Jedenfalls sollen sie erst den Tee mit uns trinken«, erwiderte Frau Gertrud munter.
Lottis Eltern hatten sehr wohl bemerkt, daß, trotz Bruckners vorläufiger Zurückhaltung und Lottis lustiger Kriegsbereitschaft gegen ihn, zwischen den beiden jungen Menschen ein wärmeres Gefühl keimte. Bruckner fand in der Tat inniges Wohlgefallen an der reizenden, jugendlichen Lotti. Er hielt sich nur noch zurück, weil er sich sagte, das Lotti noch zu jung sei, um schon jetzt über sich selbst und ihre Gefühle für ihn im klaren zu sein. Er wollte diese köstliche Menschenblüte nicht im Sturm erobern, sondern die Frucht ausreifen lassen, ehe er die Hand danach ausstreckte. Lotti hatte bei Bruckners Eintritt ein gewollt gleichgültiges Gesicht gemacht und hantierte so eifrig mit dem Teegerät, daß sie ihn nur flüchtig begrüßen konnte. Aber ein feines Rot war in ihre Wangen gestiegen, und als sie ihm dann die gefüllte Tasse reichte, war die kleine Hand nicht ganz sicher.
Gerd und Albert Horst waren pünktlich herübergekommen, und Lotti neckte sich eifrig mit Gerd. Aber zuweilen flogen ihre Augen doch mit einem forschenden Blick in Dr. Bruckners Gesicht hinüber, und da dieser sie kaum aus den Augen ließ, trafen ihre Blicke immer zusammen.
Gerd und Bruckner fanden viel Gefallen aneinander und plauderten sehr angeregt. Lotti »fühlte« sich mächtig zwischen den beiden »Größen« und mußte sich immer bremsen, damit der Übermut nicht mit ihr durchging und ihr einen unangebrachten Jauchzer inniger Lebensfreude entlockte.