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Dolf hatte, als sich Juanita ihm entrissen und er sich von seiner Überraschung erholt hatte, versucht, ihr zu folgen. Aber er mußte einsehen, daß sie ihm entwischt war. Und der Schlag, den sie ihm versetzt hatte, brannte in seinem Gesicht. Eine sinnlose Wut packte den noch halb betrunkenen Mann. Wild und unsinnig schlug er um sich, warf krachend die Möbel durcheinander und machte seiner Wut auf die lärmendste Weise Luft.
Die Dienerschaft, Tina an der Spitze, kam erschrocken herbeigeeilt und lauschte an der Tür. Niemand wagte sich hinein zu dem Wütenden. Aber Tina glaubte, daß Nita bei ihm sei, und in ihrer Angst und Sorge um das Kind faßte sie sich ein Herz und trat ein.
Dolf empfing sie mit gemeinen Schimpfreden und empfahl ihr schreiend, sich zum Teufel zu scheren, wenn sie nicht einen Stuhl an den Kopf haben wolle. Tina rief jammernd nach ihrer jungen Herrin, als sie sah, welch eine Verwüstung der Betrunkene angerichtet hatte.
Er äffte erst ihren Ruf nach und schrie dann wild:
»Die hat der Teufel geholt, dahin kannst du ihr folgen, alte Schraube.«
Trotzdem rannte Tina durch alle Zimmer Juanitas und suchte sie, ohne sie zu finden.
Das konnte sich die alte Dienerin gar nicht erklären. Sie wußte doch, das Nita heimgekehrt war. Hut und Mantel waren zur Stelle, aber von Nita keine Spur.
Zu Dolf wagte sie sich nicht noch einmal hinein. Sie wollte Nitas Zimmer abschließen. Da merkte sie, daß die Schlösser nicht in Ordnung waren. Mit angstvollem Herzen durchsuchte sie nochmals das ganze Haus und dann auch den Garten.
Dolf wütete noch eine ganze Weile weiter und dann rief er nach Wein. Davon trank er hastig mehrere Gläser und stierte dann mit blutunterlaufenen Augen boshaft und tückisch vor sich hin.
Als eine Stunde später ein Diener sich ins Zimmer geschlichen hatte, kam er wieder heraus und berichtete den andern, daß der Herr schlafend und schnarchend auf dem Diwan liege.
»Ganz greulich sieht es drinnen aus«, sagte er, »alle Nippsachen sind zerschlagen. Von dem einen Sessel ist ein Bein abgebrochen, das hat er in den Spiegel geschleudert, der ganz zersplittert ist. Der kaputte Sessel liegt auf dem Tisch zwischen der umgestürzten Blumenvase und der Weinflasche. Das Wasser ist aus der zerbrochenen Vase über die Tischplatte und den Teppich geflossen, und die Blumen schwimmen darin herum. Der gnädige Herr muß einen Mordsrausch haben.«
Niemand wagte es, Dolf zu wecken und Ordnung zu schaffen. Man war froh, daß der Wüterich schlief. Die Domestiken lachten und machten ihre Witze. Nur Tina lief in heißer Seelenangst hin und her und wartete, daß Nita wieder auftauchen sollte. Jeden Winkel durchsuchte sie nach ihr.
Endlich hielt sie es vor Unruhe nicht mehr aus. Entschlossen band sie sich ein Tuch um und machte sich auf den Weg zu Gerd. Der mußte wissen, was hier geschehen war und warum Nita im ganzen Haus nicht zu finden war.
Gerd war soeben wieder nach Hause zurückgekehrt, als es draußen klingelte. Er lauschte unruhig und nervös, als müsse dieses Klingeln von besonderer Bedeutung sein. Gleich darauf meldete ihm sein Diener, die Köchin Tina sei da und wünsche den Herrn Professor in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen.
Gerd ließ Tina sofort in sein Arbeitszimmer kommen. Der Diener sah erstaunt, daß sein Herr die alte Frau an beiden Händen ins Zimmer zog.
»Was bringst du, Tina?« fragte Gerd hastig, als der Diener die Tür geschlossen hatte.
»Ach, du mein lieber Gott, Herr Gerd, ich bin in tausend Ängsten um das Kind, das Nitachen. Es hat etwas gegeben bei uns, ich weiß nur nicht, was. Der gnädige Herr hat alles kurz und klein geschlagen und hat wie ein Wüterich getobt. Und nun ist er inmitten der Wüstenei, die er angerichtet hat, eingeschlafen. Aber Nitachen ist verschwunden. Ich habe sie im ganzen Hause und im Garten gesucht und nirgends gefunden. Ach, du mein lieber Gott, wenn sich das Kind man kein Leid angetan hat, Herr Gerd«, jammerte Tina, und die Tränen liefen ihr über das Gesicht.
Gerd streichelte ihr die harten, verarbeiteten Hände.
»Sei ruhig, Tina. Nita ist in Sicherheit bei meiner Tante Horst. Ich habe sie soeben selbst dahin gebracht. Sie kam in heller Angst zu mir gelaufen, um mich um Hilfe zu bitten. Aber das darf niemand wissen, nur du, Tina, hörst du?«
Tina atmete erleichtert auf und wischte sich die Tränen ab.
»Ach, gottlob, Herr Gerd, daß ich nun weiß, wo sie ist. Von mir erfährt kein Mensch ein Wort, da können Sie ruhig sein. Er wird ihr ja schön mitgespielt haben, der -- na, es ist Ihr Bruder, Herr Gerd, ich will lieber still sein. Sie hat schon all die Zeit so eine heimliche Angst vor ihm gehabt, und gestern erst hat sie zu mir gesagt: ›Tina, ich fürchte mich so nachts, du kannst jetzt lieber im Vorzimmer schlafen.‹ Wissen Sie, Herr Gerd, sie soll sich man lieber scheiden lassen von ihm, die beiden passen im Leben nicht zueinander, und eine rechte Ehe ist das schon lange nicht mehr. Sie ist todunglücklich mit ihm, er ist ein roher Patron -- verzeihen Sie man, daß ich es ausspreche, aber die Galle läuft mir mal über. Als ich ihn vorhin fragte, wo die gnädige Frau ist, sagte er mir wütend: ›Die hat der Teufel geholt.‹ So ein Unmensch! Was hat sie um ihn gelitten, wie hat sie erst geweint und gejammert, als sie erkannte, wie er in Wirklichkeit war. Und nun, da sie ein bißchen ruhig und wieder froh geworden ist, nun treibt er eine neue Teufelei mit ihr und ängstigt sie. Ich glaube, er hat mal zum Zeitvertreib wieder eine verliebte Laune auf sie gekriegt, denn er tut ihr in letzter Zeit immer schön und läßt sie nicht zufrieden. Sie hat sich kaum mehr aus ihren Zimmern gewagt und hat sich immer eingeschlossen. Aber heute habe ich nun gesehen, als ich vorhin nach ihr suchte, daß die ganzen Schlösser an ihren Türen demoliert sind. Wer weiß, was er angestellt hat, daß sie so kopflos davongelaufen ist. Und wütend ist er darüber gewesen -- wie ein wilder Stier hat er gebrüllt. Nein, Herr Gerd -- und wenn er zehnmal Ihr Bruder ist, und wenn ich auf der Stelle mein Brot verliere --, ich mußte mir das mal vom Herzen reden, ich ersticke sonst daran!«
Tina schwieg erschöpft. Sie hatte das alles in großer Erregung hervorgesprudelt und wischte sich nun den Schweiß von der Stirn.
Gerd hatte mit zusammengepreßten Lippen und finsterer Stirn zugehört. Aus Tinas Worten hörte er, was er längst geahnt hatte, daß zwischen Dolf und Nita gar keine Gemeinschaft mehr bestand. Und seine Vermutung, was heute zwischen den beiden vorgefallen war, kam der Wahrheit sehr nahe. Er konnte sich denken, warum Nita vor Dolf geflohen war. Und er hatte alle Selbstbeherrschung nötig, um ruhig zu bleiben. Die Hand auf Tinas Schultern legend, sagte er ernst:
»Nun, geh jetzt nach Haus zurück, Tina, und sieh zu, daß du einige notwendige Sachen für deine junge Herrin zusammenpacken kannst. Wirst du das unbemerkt tun können?«
Tina nickte.
»Das wird sich schon machen lassen, Herr Gerd. Ich denke, er schläft jetzt bis zum hellen Morgen. Da kann ich schon noch einmal fortlaufen. Ich packe den großen Handkoffer mit allem, was das Kind nötig hat, und schleppe den gleich heute abend fort. Wo soll ich ihn denn hinbringen?«
»Bringe den Koffer zu mir, da hast du es näher, Tina. Ich lasse ihn dann von meinem Diener zu Horsts bringen.«
»Gut, Herr Gerd. Aber es wird wohl ein bißchen spät werden. Ich muß doch dafür sorgen, daß die Dienerschaft nichts merkt.«
»Ja, ja, Tina, sei nur vorsichtig. Und wenn es spät wird, schadet es nichts. Ich bleibe wach, bis du kommst. Du brauchst dann unten nur in die Hände zu klatschen, wenn das Haustor geschlossen ist. Dann komme ich selbst hinunter.«
»Also gut, Herr Gerd -- nein, Herr Professor sollte ich wohl eigentlich sagen. Ich kann nur immer noch nicht vergessen, daß Sie der Herr Gerd sind.«
Er lächelte.
»Das will ich auch für dich bleiben, Tina, sonst muß ich dich doch auch mit Titulaturen drangsalieren.«
»Ach, guter Gott, nein, Herr Gerd, ich bin ja so stolz, daß Sie noch du zu mir sagen wie als kleiner Junge. Das Nitachen tut es ja auch, und ich bin stolz darauf, wie auf einen Orden.«
»Den hättest du auch verdient, alte treue Seele. Aber nun geh, Tina, und bringe mir die Sachen.«
Tina eilte nach Hause zurück, und es war schon gegen zwölf Uhr, als Gerd das verabredete Signal hörte. Tina hatte einen mächtigen Koffer so voll wie möglich gepackt.
Diese Sachen schickte Gerd am nächsten Morgen zu Horsts mit einigen Zeilen, die erklärten, wie er dazu gekommen war.
Gerd hatte in dieser Nacht sehr wenig geschlafen. Er hatte gegrübelt und nachgedacht, wie er Nita helfen könne, und war doch zu keinem befriedigenden Resultat gekommen. Gerade er konnte wenig für sie tun. Und er fürchtete sich auch vor seinen eigenen Wünschen. Konnte er Nitas Sache unparteiisch führen? Würde nicht alles, was er tat, den Wunsch in sich bergen, sie für sich selbst frei zu machen? Er war doch auch nur ein Mensch.
Was sollte er tun, um ohne Schuld zu bleiben, um nicht in dieser Sache nur seinen Vorteil zu suchen? Mußte es nicht überhaupt am Ende Nita bloßstellen, wenn er ihre Sache führte? Würde Dolf nicht mißtrauisch sein ihm gegenüber, wenn er Nitas Freiheit von ihm forderte?
Er sann hin und her, und endlich kam er zu dem Resultat, daß es besser sei, wenn er ganz aus dem Spiel blieb. Zu seinem Vater wollte er gleich am frühen Morgen gehen und ihm alles sagen. Nichts wollte er ihm verschweigen. Und der Vater sollte dann entscheiden, was geschehen sollte. Dieser Gedanke beruhigte ihn endlich.
Bernhard Falkner war, nachdem ihn Dolf verlassen hatte, seelisch und körperlich so gebrochen gewesen, daß er sich nicht mehr hatte aufrechthalten können. Er hatte sich hinlegen müssen. Deshalb konnte er Juanita nicht empfangen, die er bestellt hatte, weil er, sobald er mit Dolf allein gesprochen hatte, auch ihr die Mitteilung darüber machen wollte, daß sie mit Dolf in Gütertrennung leben sollte.
Als sich am nächsten Morgen Gerd schon in aller Frühe bei ihm melden ließ, sah er erstaunt auf. Aber Gerd kam ihm sehr gelegen. Er hatte ihn ohnedies aufsuchen wollen, um sich mit ihm über den letzten Brief seiner Mutter auszusprechen.
Er ließ Gerd bitten, in seinem Arbeitszimmer auf ihn zu warten, und beeilte sich mit seiner Morgentoilette, so gut es ging.
Sehr wohl fühlte sich der alte Herr auch heute noch nicht, aber im Bett hatte es ihn nicht mehr gelitten.
Frau Helene war noch nicht zu sehen. Gerd brauchte sie nicht zu begrüßen, und das war ihm lieb. Sie wußte übrigens noch nichts davon, was zwischen ihrem Gatten und ihrem Sohn vorgegangen war, denn sie hatte mit beiden noch nicht sprechen können und befand sich auch in unruhiger Erwartung, da sie wußte, daß gestern die Entscheidung über Nitas Vermögen hatte fallen sollen.
Gerd mußte einige Minuten warten, bis sein Vater kam, und als dieser dann erschien, erschrak er über sein bleiches, verfallenes Aussehen.
»Du bist doch nicht ernstlich krank, lieber Vater?« fragte er besorgt und herzlich. Der alte Herr atmete tief auf und sank in seinen Sessel, Gerd durch eine Handbewegung ebenfalls zum Sitzen auffordernd.
»Körperlich bin ich nicht krank, mein Sohn. Aber ich hatte gestern eine so furchtbare seelische Erschütterung, daß ich völlig niedergeworfen wurde. Wer hat dir gesagt, daß ich krank war?«
»Juanita.«
»Ach ja -- ich mußte das Kind abweisen lassen, obwohl ich Wichtiges mit ihr zu besprechen hatte. Aber wie gesagt, ich war in einer furchtbaren Verfassung.«
»Ist dir etwas Schlimmes widerfahren, lieber Vater?« fragte Gerd besorgt, seine eigene Angelegenheit zurückhaltend. Sein Vater sah ihn lange mit einem seltsamen Blick an, dann sagte er leise:
»Ich glaube nicht, das mich nach diesem Vorfall noch etwas Schlimmeres treffen kann. Aber du sollst es selbst beurteilen. Sieh, was ich hier habe.«
Er nahm aus seinem Schreibtisch den Brief Maria Falkners und gab ihn seinem Sohn.
Als Gerd den Brief öffnete und ihn wiedererkannte, wurde er sehr blaß und starrte darauf, als traue er seinen Augen nicht. Unwillkürlich fühlte er nach seiner Brieftasche, die wohlverwahrt am alten Platz steckte.
»Vater, wie kommst du zu diesem Brief?« rief er entsetzt.
»Du hast ihn vorgestern in Dolfs Wohnung verloren, als deine Brieftasche herabfiel.«
Gerd war fassungslos.
»Ja, ja, ich erinnere mich -- aber ich habe noch gar nicht bemerkt, daß mir dieser Brief fehlt. Wie aber kommt er in deine Hände -- gerade in deine Hände?« fragte er außer sich.
Der Vater stützte seinen Kopf in die Hand.
»Wie lange besitzt du diesen Brief schon, Gerd?« fragte er, die Antwort auf Gerds Frage umgehend.
Dieser sah voll Mitleid und Sorge in des Vaters Gesicht.
»Es ist schon lange her, Vater. Schon ehe ich damals dein Haus verließ, hatte ihn mir Tante Gertrud auf meine Bitte hin geschenkt. Ich trug ihn immer bei mir, als teures Andenken an meine Mutter. Aber du siehst mich erschüttert, daß ein unseliger Zufall den Brief in deine Hände gespielt hat. Nach meinem Willen solltest du ihn nie, niemals zu sehen bekommen. Ich wollte es dir ersparen, die traurige Wahrheit über das Ende meiner Mutter zu erfahren.«
Bernhard Falkner bedeckte die Augen mit der Hand.
»Du bist deiner Mutter Sohn, du hast ihr edles, gutes Herz geerbt. Auch sie hat ja noch ein Wort der Verzeihung für mich gehabt. Ich habe sie in den Tod getrieben, und sie hat kein Wort der Anklage gegen mich erhoben -- sie verzeiht mir alles. Mein Sohn -- Gott mag dich bewahren, daß du nicht einst so vor deinen Kindern stehen mußt wie ich vor den meinen.«
Es lag ein verzweifelter Schmerz in diesen Worten des alten Herrn. Gerd nahm seine Hand.
»Vater, lieber Vater, wir sind alle arme, irrende Menschen. Nimm es nicht so schwer. Wenn ich dich doch vor dieser Erkenntnis hätte bewahren können. Wie kam nur der Brief in deine Hände?«
Der alte Herr sah bitter und trübe in seine Augen.
»Dein Bruder Dolf brachte ihn mir«, sagte er dumpf und schwer.
Gerd zuckte zusammen.
»Dolf? Aber er wußte nicht, was dieser Brief enthielt -- nicht wahr, Vater, das wußte er nicht?« fragte er hastig, unruhig.
Bernhard Falkner bedeckte schweigend die Augen mit der Hand. Gerd beugte sich vor.
»Sprich doch, Vater! Dolf brachte dir den Brief, daß du ihn mir zurückgeben solltest -- er kannte den Inhalt nicht -- und nur zufällig nahmst du Einblick in denselben?« fragte Gerd beschwörend.
Da ließ der alte Herr die Hand von seinem Gesicht herabgleiten und sah ihn mit erloschenen Augen an.
»Nein, nein! Mein zweiter Sohn ist weniger edel als du -- weniger zartfühlend. Er hielt mir diesen Brief im Triumph entgegen, um sich einen Vermögensvorteil damit zu erringen. Ich weigerte ihm die Auszahlung von Nitas Vermögen, weil er ausschweifend und würdelos gelebt hatte und ich ihm nicht mehr vertrauen kann. Da spielte er diesen Trumpf gegen mich aus mit der Behauptung, ich habe ihm keinen Vorwurf zu machen wegen der Laster, die ich selbst auf ihn vererbt habe.«
Gerd sprang mit einem Aufschrei empor. Die Zornesader an seiner Stirn schwoll dick an.
»Dieser Kerl!« rief er, seiner selbst nicht mächtig.
Bernhard Falkner sah trübe zu ihm auf.
»Ereifere dich nicht, Gerd. Vielleicht hat er gar nicht so unrecht mit seiner Behauptung -- vielleicht haben ihm seine Eltern wirklich ein böses Erbteil in ihrem Blut gegeben. Ich weiß ja selbst nicht mehr, was gut und böse in mir ist. Und seine Mutter -- doch lassen wir das. Die Gewißheit, die mir dieser Brief brachte, dass deine Mutter aus dem Leben floh, weil ich es ihr unerträglich machte -- die wird nun immer auf mir lasten. Und daß mir mein eigener Sohn in niedriger Berechnung diese Gewißheit brachte -- das ist eine gerechte Vergeltung. Dir, mein Gerd, danke ich aus tiefstem Herzen, daß du mich schonen wolltest -- und daß du trotz der Gewißheit, was ich an deiner Mutter gefrevelt habe, nicht vergessen hast, daß ich dein Vater bin. Und wenn der Segen eines schuldbeladenen Vaters noch Kraft hat -- dann wird dir dafür gelohnt werden.«
Gerd war tief ergriffen.
»Vater, lieber Vater, wieviel schwerer hast du büßen müssen, als du je gefehlt hast.«
Bernhard Falkner richtete sich auf und strich sich über die Stirn.
»Darüber habe ich ganz vergessen, dich zu fragen, was dich so früh zu mir führt. Du bist doch sicher in einer besonderen Angelegenheit zu mir gekommen?«
Gerd sah ihn groß und ernst an.
»Ja, Vater -- und ich bringe dir leider noch mehr Unglück. Eine große, ernste Sorge treibt mich zu dir. Und vielleicht ist es in deine Hand gegeben, mich vor Leid und Schuld zu bewahren -- mich und Juanita.«
Der alte Herr hob betroffen das Haupt.
»Mein Sohn, was ist das? Leid und Schuld -- du und Juanita?«
Gerd hielt seinen forschenden Blick ruhig aus.
»Ja, Vater. Ich liebe Juanita -- und sie liebt mich wieder, wenn sie sich dessen auch bisher nicht bewußt geworden war. Erschrick nicht, noch ist kein Wort von Liebe zwischen uns gesprochen worden. Wir sind beide rein und schuldlos geblieben, und ich habe nicht einen Augenblick vergessen, daß Nita meines Bruders Weib war. Kein unreiner Wunsch hat sie gestreift, und sie ist sich überhaupt nicht bewußt geworden, daß ihr Gefühl für mich ernster und tiefer ist als das einer Schwester. Ich hätte nie meinen Gefühlen Ausdruck gegeben, Vater, um ihren Frieden nicht zu stören. Auch dir hätte ich nichts gesagt, wenn nicht gestern etwas geschehen wäre, was mich in einen Zwiespalt mit mir selbst bringt. Und nun bin ich zu dir gekommen, um dich zu bitten: Hilf mir, hilf Nita daß wir nicht schuldig werden.«
Bernhard Falkner faßte seine beiden Hände.
»Sprich, Gerd -- sprich. Und wenn mir der Himmel noch eine Gnade erweisen will, dann mag er helfen, daß ich dies verhüten kann.«
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Gerd erzählte nun freimütig und ausführlich alles, was geschehen war, soweit er es selbst wußte. Und als er zu Ende war, sagte er erregt:
»Du siehst, Vater, Nita kam gestern abend in ihrer Herzensreinheit und Unschuld zu mir wie zu ihrem besten, treuesten Freund. Sie suchte Schutz und Hilfe bei mir, weil sie dich krank wußte, als sei es das Natürlichste auf der Welt. Erst als wir uns dann, erregt von der ungewöhnlichen Situation, gegenüber standen, als ich wohl meine Blicke einen Moment nicht in der Gewalt hatte, da sah ich, daß die Erkenntnis ihrer selbst und dessen, was in mir für sie lebt, in ihr aufging. Ihre Unbefangenheit war dahin, sie zitterte und bebte und stand hilflos und bangend vor mir. Und so habe ich sie schnell fortgeführt zu Tante Gertrud, deren Schutz ich sie vorläufig übergeben habe. Und weil ich mir nicht selbst ein unbefangenes Urteil zutraue in ihrer Angelegenheit mit Dolf, so lege ich alles in deine Hände. Sie will lieber sterben als zu ihm zurückkehren, und sie will ihm gern ihr ganzes Vermögen ausliefern, wenn er sie freigibt. Nun sieh zu, ob du einen Ausweg findest, ob du dieses Band, das wohl übereilt geschlossen wurde, lösen kannst oder was sonst geschehen soll. Ganz unabhängig von dem Gedanken an mich soll dir einzig Nitas Wohl maßgebend sein für deine Entschlüsse. Hilf, daß sie ihren Frieden wiederfindet, daß ihr junges Leben nicht für immer zerstört wird. Vielleicht kannst du mit Dolf eine Einigung erzielen. Vielleicht ist er bereit, sich von ihr zu trennen, wenn er mit einer großen Summe abgefunden wird. Du kannst ja mit ihm darüber reden.«
Bernhard Falkner erhob sich mit entschlossener Gebärde und legte die Hände auf Gerds Schulter.
»Hab Dank für dein Vertrauen, mein Sohn, und was ich tun kann, werde ich tun. Ich klage mich an, daß ich mich nicht ernstlich genug um Nitas Wohl gekümmert habe. An eine Scheidung habe ich freilich schon oft gedacht -- aber da Nita nicht an eine solche Möglichkeit rührte, tat ich es auch nicht. Nun ist das etwas anderes. Eine Lösung dieser Ehe scheint mir nun nach allem dringend geboten. Aber Nita soll durch Dolf nicht an ihrem Vermögen geschädigt werden. Ich muß mir das alles erst überlegen. Und dann will ich mit Dolf reden und ihn fragen, was er Nita angetan hat, wie er überhaupt zu ihr steht. Dann werde ich sehen, wie dies alles zu lösen ist. Sei unbesorgt, Gerd -- Nitas Sache kann jetzt nicht gewissenhafter geführt werden als durch mich.«
»Ich danke dir, lieber Vater, danke dir von Herzen. Nun bin ich um vieles ruhiger.«
Der alte Herr zog ihn in seine Arme und sah ihm ernst und tief in die Augen. Dann ließ er ihn los.
»Nun geh, mein Sohn -- ich muß jetzt allein sein. Es ist am besten, Nita bleibt jetzt, wo sie ist, wenn Horsts sie bei sich behalten wollen.«
»Daran ist kein Zweifel, Vater.«
»Nun gut -- wenn du Nita siehst, so grüße sie herzlich von mir -- und sie soll ruhig sein und mir vertrauen. Niemand wird sie zwingen, zu Dolf zurückzukehren. Vor allen Dingen soll aber jetzt erst einmal ihr Aufenthalt unser Geheimnis bleiben.«
»Ja, Vater, darum wollte ich dich bitten.«
Sie reichten sich die Hände mit warmem, festem Druck, und Gerd entfernte sich.
Von seinem Vater ging Gerd direkt zu Horsts. Er fand Juanita mit Tante Gertrud und Lotti im Wohnzimmer. Schüchtern und sichtlich befangen, aber ungemein lieblich trat sie ihm entgegen. Sie sah noch sehr bleich aus, und in ihren Augen brannten tausend unruhige Fragen.
Und dann waren sie eine Weile allein. Frau Gertrud hatte Lotti hinausgeschickt und war dann selbst verschwunden, weil sie meinte, das Gerd Nita von ihrem Gatten berichten wollte. Feinfühlig sagte sie sich, daß hierbei jeder Zeuge zuviel war.
Nita saß in einem Sessel. Gerd stand vor ihr und sah auf sie herab. Mit gesenktem Haupt hörte sie seinen Bericht an. Als sie hörte, daß Gerd ihre Sache seinem Vater übergeben hatte, da hob sie den Kopf und sah ihn schmerzlich an mit ihren wundersamen Augen.
»Es ist gut so, Gerd -- ich danke dir. Ich hätte gleich zu deinem Vater gehen sollen -- auch wenn er krank war. Dich hätte ich nicht belästigen sollen. Ach, das ist alles so schwer, so schwer, Gerd -- ich finde mich nicht mehr zurecht im Leben -- ich möchte sterben«, sagte sie mit herzzerreißendem Ausdruck.
»Juanita!« rief er außer sich und senkte seine Augen flehend und beschwörend in die ihren.
Da errötete sie jäh, und ein wundersamer Glanz trat in ihre Augen, die nicht von den seinen lassen konnten.
»Bist du mir böse, Gerd?« fragte sie atemlos.
Ihre Blicke hingen gebannt ineinander. So sahen sie sich an, stumm, atemlos, erschauernd vor der Gewalt ihrer Liebe. Endlich sagte er leise, mit gepreßter Stimme:
»Dir böse sein, Nita? Dir -- dir -- niemals! Kind -- Kind -- weißt du nicht, was du mir bist? Wie kannst du nur denken, daß ich dir böse bin, daß du mich, wie du sagst, belästigt hast?«
Sie seufzte tief auf.
»Weil du meine Sache nicht selbst führen willst, Gerd, weil du sie deinem Vater übergeben hast.«
Wie auf der Flucht vor sich selbst trat er von ihr zurück und lehnte sich an den Kamin. Dann sagte er mit verhaltener Stimme:
»Warum ich das getan habe, Nita, muß ich dir das erst sagen? Du bist meines Bruders Weib, ich kann deine Sache gegen ihn nicht unparteiisch führen. Ich würde immer gelähmt sein von dem Gedanken, daß ich mit deiner -- auch die meine führe. Ich würde immer unsicher sein, ob ich nicht viel mehr für mich kämpfte -- als für dich. Verstehst du mich?«
Wieder schlug dunkle Glut in ihr Antlitz. Aber ihre Augen strahlten innig in die seinen. Sie drückte die Hände ans Herz.
»Ja, Gerd -- ja, jetzt verstehe ich dich -- und du hast recht, du darfst nichts für mich tun. Es ist gut so, wie du es bestimmt hast. Papa soll meine Sache führen.«
Er atmete tief auf.
»Und er wird es gewissenhaft tun, Nita, vertraue auf ihn. Er weiß alles -- alles. Ich habe dein Geschick in seine Hände gelegt. Und vorläufig bist du hier in Ruhe und Sicherheit. Hast du alles, was du brauchst, hat Tina dir alles Nötige eingepackt?« fragte er, ein ruhiges Thema anschlagend.
Sie nickte.
»Ja, Gerd, vorläufig komme ich aus. Später kann mir Tina wohl noch einiges besorgen. Kann ich sie nicht einmal sehen?«
»Ich will versuchen, es ihr mitzuteilen. Sie muß vorsichtig sein. Dolf darf vorläufig nicht erfahren, wo du bist. Ich möchte Onkel und Tante nicht Unannehmlichkeiten bereiten lassen.«
»Ja natürlich, Gerd, das muß vermieden werden. Man ist hier so gut zu mir. Deine Tante Gertrud ist ein Engel an Güte. Wenn man so eine Mutter hätte -- wie leicht wäre dann alles. Und Lotti ist ein liebes, reizendes Geschöpf. Ich glaube, wir werden Freundinnen, Gerd. Ich habe noch nie eine Freundin gehabt.«
»Das soll mich freuen, für euch beide. Lotti schwärmt schon lange für dich. Und nun sag mir, ob du noch Wünsche hast.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Keinen, außer dem, daß du recht oft hierherkommst, ich -- ach Gerd --, ich bange so um mich, wenn du nicht bei mir bist.«
Das sagte sie mit kindlicher Verzagtheit und zugleich mit der tiefen Sehnsucht des liebenden Weibes.
Er biß die Zähne aufeinander und ballte die Hände fest zusammen.
»So oft ich kann, Nita, aber allein dürfen wie nie mehr sein -- ich bin auch nur ein Mensch«, stieß er rauh hervor.
Und dann lief er zur Tür und öffnete sie.
»Lotti, wo steckst du denn? Komm doch herein!« rief er laut.
Und als Lotti herbeikam, sprach er gleich so lebhaft auf sie ein, daß Nita Zeit hatte, sich zu fassen. In einem süßen Erschrecken war sie zusammengezuckt bei seinen letzten Worten, die ihr enthüllten, welch schweren Kampf er mit sich selbst führte.
Eine heiße, tiefe Seligkeit erfüllte sie. Sie kämpfte nicht mit dem Gefühl, das sie nun in sich selbst erkannt hatte. Ohne Scheu, ohne Gewissensbisse gab sie sich der beseligenden Gewißheit hin, ihn zu lieben und von ihm geliebt zu werden. Sie fühlte sich innerlich frei und berechtigt, ihr Herz einem andern zu schenken. Ihr Mann hatte es wie wertloses Gut beiseite geworfen und mit Füßen getreten. Und ihre Liebe zu Gerd war noch wunschlos. Sie war so reinen Herzens, daß sie sich keinen Vorwurf machen konnte. Gott selbst hatte ihr diese Liebe ins Herz gelegt, ihr und Gerd. Sie nahm das hin wie eine Fügung des Himmels, gegen die sie nicht ankämpfen konnte und wollte. Nun, da sie sah, wie Gerd dagegen kämpfte, kam ihr ein Zagen um ihn in die Seele. Sie fühlte, daß er litt, daß er anders empfand als sie, daß er die Liebe zu ihr als ein Unrecht empfand. Das machte sie traurig. Aber zugleich erwachte ein starkes, heiliges Gefühl in ihr, als wenn sie ihm beistehen, ihm helfen müsse, stark und ruhig zu bleiben. Die Erkenntnis kam ihr, daß es in ihre Hand gegeben war, ihm Kämpfe zu ersparen. Und das löste ein Verantwortlichkeitsgefühl in ihr aus, wie sie es noch nie empfunden hatte in ihrem jungen Leben.
So nahm sie tapfer ihr Herz in beide Hände, und von dieser Stunde an achtete sie auf sich selbst, daß sie ihm keinen Anlaß zur Unruhe gab.
Es wurde nun wieder zwischen ihnen ein ruhiger, freundschaftlicher Ton eingeführt, und Nita sorgte stets selbst dafür, daß sie mit Gerd nie mehr allein war, wenn er kam.
Nita fühlte sich bald sehr heimisch bei Horsts. Frau Gertruds mütterliche Sorgsamkeit und Lottis fröhliches Geplauder machten ihr das Herz frei und leichter. Und Albert Horst sorgte in seiner frischen, munteren Art dafür, daß sie sich als seinem Hause zugehörig betrachtete und auch vor ihm alle Scheu verlor.