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Gerhard Falkner fuhr mit der Elektrischen wieder in das Innere der Stadt zurück, als er seinen Vater verlassen hatte. Aber er suchte noch nicht die väterliche Behausung auf, sondern begab sich in die Lessingstraße. Dort wohnte seine Tante Gertrud, die mit dem Verleger Albert Horst verheiratet war. Der Horstsche Verlag hatte einen sehr guten Ruf und war schon von Albert Horsts Großvater gegründet worden.
Albert Horst bewohnte mit seiner Familie, wie schon seine Eltern und Großeltern vor ihm, das zweistöckige Vorderhaus mit der schlichten, aber sehr vornehm wirkenden Fassade, während in den Hintergebäuden die Geschäftsräume und die Buchdruckerei untergebracht waren. Frau Gertrud Horst empfing den Neffen, den Sohn ihrer verstorbenen Schwester Maria, in ihrem kleinen, lauschigen Salon. Sie war eine sehr hübsche, sympathische Dame von ungefähr fünfunddreißig Jahren, hatte feine, anmutige Züge, blaue Augen und reiches, braunes Haar. Ihre große, schlanke Gestalt bewegte sich mit einer vornehmen, ruhigen Anmut. Ohne eigentlich schön zu sein, war sie doch eine so angenehme Erscheinung, das man sie gern und mit ästhetischem Behagen anschauen mußte. Maria Falkner hatte dieser Schwester sehr ähnlich gesehen, und Gerd liebte Tante Gertrud sehr. Sooft er konnte, war er heimlich in ihrem Hause gewesen, denn der Verkehr mit der Familie seiner Tante war ihm untersagt worden.
Gertrud Horst war zwanzig Jahre alt gewesen, als ihre Schwester Maria starb. Kurz vorher hatte sie sich mit Albert Horst verheiratet. Nach dem Tode der Schwester war zwischen Gertrud und Bernhard Falkner eine völlige Entfremdung eingetreten, obwohl Gertrud vor ihrer Verlobung einige Jahre im Hause ihres Schwagers gelebt hatte, denn sie und Maria waren Waisen gewesen. Seit dem Tage aber, da Bernhard Falkner Helene Alving zur Frau genommen hatte, war von Gertrud jeder Verkehr mit dem Hause ihres Schwagers abgebrochen worden. Sie konnte es nicht über sich bringen, Helene als Nachfolgerin ihrer Schwester in deren einstigem Heim zu sehen, denn sie wußte, was Maria wegen dieses falschen Geschöpfs gelitten hatte.
Trotzdem hatte Gertrud versucht, mit ihrem Neffen Fühlung zu behalten. Sie hatte Gerd sehr lieb und war sehr froh, wenn er zu ihr kam. Erst hatte Bernhard Falkner nichts dagegen gehabt, daß Gerd seine Tante besuchte. Aber Frau Helene waren diese Besuche ein Dorn im Auge gewesen, weil sie fühlte, das Gertrud Horst sie verachtete. Und da suggerierte sie ihrem Gatten die Meinung, daß Gerd im Hause seiner Tante nur in seiner Widerspenstigkeit bestärkt und gegen sie und den Vater aufgehetzt würde. Das war natürlich die Unwahrheit, aber Frau Helene kam es auf eine mehr oder weniger nicht an. Jedenfalls untersagte nun Bernhard Falkner seinem Sohne den Verkehr bei Horsts. Aber damit hatte er Gerd den einzigen Sonnenstrahl, der sein Leben erhellte und erwärmte, genommen, und deshalb trotzte dieser dem Verbot und ging heimlich in das Horstsche Haus. Vielleicht wußte sein Vater aber doch von diesen Besuchen. Er erwähnte jedoch nie etwas davon.
Gerd hätte sie auch nicht abgeleugnet, wenn er darum gefragt worden wäre. Er wußte nur, daß er sich diesem Verbot nicht fügen konnte, wenn er innerlich nicht verbittern und verkümmern sollte.
Und er wurde stets mit großer Liebe und Herzlichkeit aufgenommen. Auch heute empfing Tante Gertrud den jungen Mann mit großer Wärme.
»Da bist du endlich einmal wieder, lieber Gerd. Seit vierzehn Tagen warst du nicht bei uns. Lotti hat schon eifrig nach dir gefragt. Komm, setz dich zu mir, ein Viertelstündchen haben wir Ruhe, ehe mein Wildfang mit seiner Bonne heimkommt«, sagte sie und zog ihn neben sich auf den Diwan nieder.
»Ich konnte nicht eher kommen, Tante Gertrud, sonst weißt du doch, daß es geschehen wäre.«
»Ja, ja, mein Junge. Aber nun erzähle, wie ist es dir ergangen?«
Gerd strich sich das Haar zurück.
»Viel Neues habe ich dir nicht zu berichten, Tante. Nur das wollte ich dir sagen, daß es nun bei mir feststeht, daß ich zuerst nach H… gehe, um meine Studien fortzusetzen. In vier Wochen reise ich ab.«
Frau Gertrud sah ihn mütterlich forschend an.
»Bist du darüber mit deinem Vater ins reine gekommen?«
»Nun -- jedenfalls legt er mir nichts in den Weg. Und mein Vermögen bekomme ich auch ausbezahlt. Dann habe ich wohl kaum noch etwas im Vaterhause zu suchen«, sagte Gerd bitter.
Sie streichelte seine Hand.
»Nicht so bitter, Gerd. Halte dir das Herz frei von Bitterkeit -- es tut nicht gut. Und nicht wahr -- uns besuchst du doch, wenn du Ferien hast?
»Gewiß, Tante. Sie brauchen ja zu Hause nicht zu wissen, wenn ich hier bin. Und wenn auch -- es ist ja doch gleich. Was meine Stiefmutter darüber denkt, ist mir gleich, und Vater nun -- mit ihm komme ich doch nie mehr auf einen guten Weg, solange sie mich bei ihm anschwärzt wie bisher.«
Frau Gertrud sah ihren Neffen besorgt an.
»Gerd -- du kommst mir heute so besonders bedrückt vor. Hat es etwas gegeben?«
Er atmete auf und rückte die Schultern zurück, als würfe er eine Last von sich.
»Erst hatte ich mit ›ihr‹ eine Szene, und dann war ich bei Vater draußen in der Fabrik wegen der Geldangelegenheit. Und siehst du, Tante -- da bin ich von ihm fortgegangen mit dem fürchterlichen Gefühl, das mich stets zu Boden drückt, das ich nicht beim Namen nennen kann. Es peinigt mich dann immer ein Zweifel, ob ich nicht dennoch meinem Vater unrecht getan habe mit meinem Mißtrauen, daß er schuld ist am Tode meiner Mutter. Dadurch stehen wir uns fremd und kalt gegenüber, denn wenn ich Vertrauen zu meinem Vater hätte, würde ich doch ruhig mit ihm darüber sprechen, daß die Stiefmutter mich bei ihm anschwärzt, und würde meine Sache führen und um meines Vaters Liebe kämpfen. Aber dieses Mißtrauen lähmt mich. Und zugleich quäle ich mich mit der Angst, daß ich Vater damit unrecht tue. Vielleicht war es doch nur ein schlimmer Zufall, das meine Mutter starb, vielleicht hat mein Vater ihr die Treue gehalten bis zum Tode und hat sich erst nachher meiner Stiefmutter genähert. Ich habe doch keine Beweise, habe nur als Kind so allerlei Dienstbotentratsch gehört und mich vielleicht in diese Gedanken verrannt.«
Tante Gertrud fasste seine Hände.
»Gerd, lieber Gerd, quäle dich doch nicht damit, laß die Vergangenheit ruhen«, bat sie herzlich.
Er schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, Tante, ich muß immer daran denken, immer darüber grübeln. Je älter ich werde, desto schlimmer wird das. Und ich sehne mich doch so sehr nach Ruhe und Klarheit.«
Sie sah ihn forschend an.
»Würdest du ruhig werden, wenn du genau wüßtest, wie und warum deine Mutter gestorben ist? Wenn sich nun dann dein schlimmster Verdacht bestätigte, würde sich deine Pein nicht noch vergrößern?«
»Nein. Die Gewißheit brächte mir Ruhe. Hätte ich meinem Vater Unrecht getan, könnte ich es ihm abbitten, und wäre mein Verdacht begründet, so wüßte ich wenigstens, daß ich ihm nicht unrecht getan habe und könnte mein Gewissen beruhigen. Du glaubst gar nicht, Tante, wie mich diese Unsicherheit quält.«
Frau Gertrud hob entschlossen den Kopf und legte ihre Hand auf seine Schulter. Dann sagte sie ernst: »Mein lieber Gerd, du sollst diese Gewißheit haben. Warte einen Augenblick -- ich hole dir etwas herbei. Diese Zweifel bedrücken dein Gemüt und sind imstande, dich krank zu machen. Das soll nicht sein. So will ich heute mit dir ein Geheimnis teilen -- und dir zugleich einen letzten Gruß deiner Mutter bringen. Ihre eigenen Worte sollen dir Ruhe und Frieden zurückgeben. Aber dann versprich mir auch, nicht mehr über Vergangenes zu grübeln und zu lernen, großmütig zu verzeihen, wo Schuld und Fehler einen Menschen vom rechten Wege drängten. Deine Mutter selbst wird dich lehren, zu verzeihen.«
Damit verließ sie schnell das Zimmer. Gerd sah ihr betroffen und voll Unruhe nach. Was sollte er erfahren?
Und dann ließ er den Blick verloren in dem hübschen, traulichen Zimmer umherschweifen. Wie oft hatte er sein volles, schweres Herz hierhergetragen und es hier erleichtert. Wie lieb und verständnisvoll war Tante Gertrud auf alle seine Leiden und Schmerzen eingegangen. Und immer hatte sie ein gutes, kluges Wort für ihn gehabt. Zu ihr war er geflohen aus der kalten, liebeleeren Atmosphäre seines Elternhauses. Gewiß wäre er längst verbittert und verhärtet, wenn die Tante ihn nicht davor bewahrt hätte.
Und sollte er auch nun durch sie von der heimlichen Seelenpein erlöst werden, von der Angst, dem Vater Unrecht getan, die Stiefmutter grundlos mit seinem Haß verfolgt zu haben? Tante Gertrud hatte recht, der Zweifel machte ihn krank -- nur die Gewißheit konnte ihn wieder klar und ruhig ins Leben sehen lassen. Nach einer kleinen Weile kam Gertrud Horst zurück. Sie hielt einen Brief in der Hand und setzte sich wieder zu ihm.
»Mein lieber Gerd, diesen Brief erhielt ich am Todestag deiner Mutter, in derselben Stunde, da man sie daheim tot auf ihrem Lager fand. Er wurde mir durch die Post gebracht. Du weißt, daß deine Mutter acht Jahre älter war als ich. Wir liebten uns sehr, und da wir unsere Eltern sehr früh verloren hatten, nahm mich deine Mutter mit in ihr Haus, als sie sich verheiratete. Dort lebte ich, bis ich mich mit meinem Mann verlobte. Dann verlangten Alberts Eltern, daß ich bis zu meiner Heirat zu ihnen kam. Schon als ich Maria verließ, hatte sie in ihrer gütigen Weise deiner Stiefmutter in ihr Haus Einlaß gewährt. Sie wollte sie auf ihre Kosten als Sängerin ausbilden lassen. Ich mußte zu meinem Schrecken bemerken, wie Helene Alving deinen Vater durch allerlei Koketterien an sich zu ziehen versuchte und ihn immerfort mit ihren seltsamen Augen verfolgte. In meiner Angst und Sorge um das Glück deiner Eltern warnte ich schließlich deine Mutter eines Tages. Da sagte sie traurig zu mir: ›Ich weiß alles, Trudi, und ich bin sehr unglücklich, aber sprich nicht davon -- ich kann es nicht hören.‹
Und siehst du, Gerd, so ging es weiter, bis jenes undankbare, falsche Geschöpf so weit gekommen war, wie es wollte. Meine arme Schwester muß namenlos gelitten haben -- sonst wäre sie nicht aus dem Leben geflohen, denn sie liebte dich so innig, wie nur eine Mutter ihr Kind geliebt hat. Aber ihre stille, feine Seele war dem Kampf nicht gewachsen. Hier, mein Gerd, nun sollst du lesen, was mir deine Mutter schrieb -- ehe sie in den Tod ging.
Gerd faßte hastig nach dem Brief.
»Tante Gertrud!« rief er in tiefer Erregung.
»Ja, mein Gerd -- sie ging freiwillig, weil sie das Leben nicht mehr tragen konnte.«
»Warum hast du mir das bisher verschwiegen, Tante?«
»Weil ich dein junges Gemüt nicht belasten wollte. Aber da ich nun sehe, wie du unter der Unklarheit leidest, sage ich mir, daß es besser ist, wenn du die Wahrheit erfährst.«
Mit bewegtem Herzen drückte Gerd den Brief seiner Mutter an die Lippen und dann las er:
»Meine liebe Schwester!
Nun kann ich nicht mehr -- ich habe gekämpft und gerungen solange ich konnte, aber jetzt weiß ich gewiß, daß mein Glück nie wieder aus den Trümmern erstehen kann. Und nun habe ich keine Kraft, keinen Mut mehr, das Leben weiter zu tragen.
Lange stand ich am Bettchen meines lieben, kleinen Gerd und fragte mich, ob ich ihn mit mir nehmen sollte auf den dunklen Weg, den zu gehen ich fest entschlossen bin. Aber er schlief so sanft und ruhig, und auf seiner Stirn und um den Mund lag ein so jungenhaft trotziger Ausdruck, als träume er von Kampf und Sieg. Er wird eines Tages ein Mann sein, und das Leben meistern. Wäre er ein Mädchen -- ich nähme es mit, denn es wäre dann wohl zum Leiden geboren wie seine Mutter.
Eines Tages wirst Du meinem Sohn sagen, daß ihn seine Mutter innig geliebt hat, und daß nur der Gedanke an ihn sie zwei Jahre lang einen verzweifelten Kampf um ihr Glück führen ließ. Wäre das Kind nicht gewesen -- dann hätte ich schon längst ein Ende gemacht. Aber nun kann ich nicht mehr. Mit eigenen Ohren habe ich heute hören müssen, daß mein Mann zu Helene Alving sagte: ›Wenn ich doch der Fesseln ledig wäre, die mich an eine andere binden, dann würdest du mein Weib und ich wäre namenlos glücklich. Glaube mir, ich bin unsagbar elend, daß du mir nicht angehören kannst.‹
Damit hat er mir das Todesurteil gesprochen. Dieses unselige Geschöpf hat mir sein Herz für immer gestohlen, und ich mußte hören, wie sie in ihn drang, sich von mir scheiden zu lassen. Und siehst Du, meine Trudi, darauf will ich nicht warten, denn ohne Bernhard leben, von ihm verstoßen und verlassen -- das kann ich nicht. Und so soll er frei sein.
Du bist noch so jung, meine Trudi, und hast Dein Glück gefunden -- mögest Du nie begreifen lernen, wie mir zumute ist. In mir ist alles zerbrochen, alles tot und leer.
Sage keinem Menschen, daß ich Dir diesen Brief geschrieben habe, meine liebe Schwester. Nur Du allein sollst wissen, daß ich freiwillig aus dem Leben gehe. Halte es geheim. Bernhards Leben soll nicht zerstört werden, er soll nicht niedergedrückt werden von dem Bewußtsein der Schuld. Und wenn Du kannst, so sei meinem Sohne eine Stütze, eine Trösterin. Ob Du ihm einst, wenn er gereift ist und das Leben verstehen kann, enthüllen willst, daß ich selbst aus seinem Leben schied, das überlasse ich Dir. Aber dann sage ihm mit meinem letzten, innigen Gruß, daß er seinem Vater verzeihen soll, wie ich es tue, und daß er ihm nie einen Vorwurf machen soll.
Nun lebe wohl, meine liebe, liebe Schwester. Ganz schmerzlos und ruhig werde ich einschlafen, und es wird wie ein Zufall aussehen. Kein Mensch wird wissen, daß ich mit Absicht eine große Dosis des schmerzstillenden Giftes nahm, das ich mir schon seit langer Zeit zusammensparte für alle Fälle. Nach dem Leid der vergangenen beiden Jahre wird mir der Tod eine Erlösung sein. Ich grüße und küsse Dich ein letztes Mal. Wenn ich diesen Brief selbst in den Postkasten getragen habe, will ich meinen lieben, kleinen Gerd noch einmal küssen und dann soll es geschehen. Nimm Dich meines Sohnes an und vergiß nicht
Deine unglückliche MariaGerd hatte zu Ende gelesen. Nun bedeckte er das Gesicht mit den Händen und warf sich auf die Lehne des Diwans.
Regungslos lag er, und sein Herz war eine Beute des tiefsten Wehs. Er ließ die Worte seiner Mutter in sich nachklingen. Also war es doch Wahrheit, was wie ein ewig wacher Argwohn in ihm gelebt hatte? Berechtigter Haß war es, der sein Herz gegen die Stiefmutter füllte, berechtigter Groll, der in seiner Seele gegen den Vater aufstand. Die ganze Bitterkeit über seine liebeleere Jugend brach wieder hervor. Und ein heißer Schmerz war in ihm, daß er den Vater schuldig sprechen mußte. Arme Mutter! Wie mochte sie gelitten haben, ehe sie sich zu dem letzten, verzweifelten Schritt entschlossen hatte! Sein Herz zuckte schmerzlich unter der vollen Erkenntnis der Wahrheit. Nun hatte er freilich Gewißheit, daß er mit seinem Argwohn dem Vater und der Stiefmutter nicht unrecht getan hatte. Aber diese Gewißheit tat weher, als er geglaubt hatte. Und weil er trotzdem die Liebe für seinen Vater nicht unterdrücken konnte, so warf er seinen ganzen Haß auf die Stiefmutter.
Nach einer Weile sprang er ungestüm auf. Frau Gertrud hatte ihn ruhig gewähren lassen. Nun stand er mit blassem Gesicht vor ihr.
»Tante Gertrud, ich danke dir, daß du mir diesen Brief gegeben hast. Nun wird mir der Abschied von daheim noch viel leichter werden. Ich habe nichts mehr zu suchen im Vaterhaus. Und daß ich nun endlich klar sehe, das ist gut. Nun brauche ich mich nicht mehr mit Zweifeln herumzuplagen. Jetzt gibt es reinen Tisch zwischen mir und den andern.«
Frau Gertrud nahm seine beiden Hände. »Ich weiß, mein lieber Gerd, daß es jetzt noch in dir gärt und wühlt -- aber du wirst ruhig werden. Sieh, als ich damals diesen Brief erhielt und gleich darauf die Nachricht von dem Tode deiner Mutter eintraf -- da wollte ich im ersten heißen Schmerz und Groll zu deinem Vater gehen und ihm diesen Brief zeigen in wilder Anklage. Mein Mann, der ihn auch gelesen hatte, hielt mich zurück mit dem Hinweis auf den letzten Wunsch deiner Mutter. Ich habe es ihm später, als ich ruhiger wurde, gedankt. Glaube mir, dein Vater ist nicht im vollen Maße verantwortlich zu machen. Er ist niemals ein schlechter, gewissenloser Mensch gewesen. Deine Stiefmutter hat eine unbegreifliche Macht über ihn gehabt, so daß er nicht wußte, was recht und unrecht war. Sie hat überhaupt eine unerklärliche Macht über die Menschen, das habe ich beobachten müssen. Selbst ich, die ich ihr von Anfang an mißtraute, habe mich nur schwer ihrem Einfluß entziehen können. Wer kann ergründen, wo in einem Menschenherzen das Verhängnis aufhört und die Schuld beginnt?«
Gerd küßte ihre Hand.
»Wenn ich dich nicht gehabt hätte, Tante Gertrud, was wäre dann wohl aus mir für ein wilder, verbitterter Mensch geworden. Du bist so gut, so klug und milde -- so wie du war wohl auch meine Mutter in ihrem ganzen Wesen?«
Sie streichelte ihm die Hand und lächelte mütterlich zärtlich zu ihm auf.
»Deine Mutter war viel besser, viel klüger als ich. Sie war eine seltene Frau und hätte ein reiches, schönes Glück verdient. Aber ich habe mir immer Mühe gegeben, in ihrem Sinne auf dich einzuwirken, und, nicht wahr, du hast es immer gefühlt, daß ich dich geliebt habe, als wärst du mein eigener Sohn?«
»Ja, liebste Tante -- und ich bin dir so von Herzen dankbar und habe dich auch sehr lieb. Und nun habe ich eine sehr große Bitte an dich -- laß mir diesen Brief meiner Mutter, es wird mir sein, als hätte ich einen Talisman bei mir.«
Sie nickte Gewährung.
»Du sollst ihn behalten, Gerd. Aber hüte ihn sorglich, damit ihn nicht unberufene Augen lesen.«
Gerd steckte den Brief in seine Brieftasche. »Ich werde ihn nie von mir lassen, Tante Gertrud, das glaube mir.« --
Jetzt hörte man draußen ein lustig plauderndes Kinderstimmen. Frau Gertrud lächelte, und Gerd hob lauschend den Kopf.
»Da kommt mein kleiner Wildfang heim -- gerade zur rechten Zeit, um dir die trüben Gedanken fortzuplaudern«, sagte sie, zur Tür schreitend.
»Lotti! Komm schnell herein und sieh, wer hier auf dich wartet!« rief sie lächelnd.
Gleich darauf wirbelte ein zierliches, weißgekleidetes Persönchen herein, das fünfjährige Töchterchen Frau Gertruds, das ihr der Himmel erst nach zehnjähriger Ehe beschert hatte. Lotti Horst hatte die schönen blauen Augen der Mutter geerbt, aber dazu das blonde Haar des Vaters und seinen lustigen Sinn.
»Wer ist denn da, Mami? Ach, Gerd! Gerd! Bist du endlich mal wieder da!« jubelte Lotti und strebte jauchzend an dem großen Vetter empor.
Der hob sie mit seinen jungen, starken Armen hoch und ließ sie in der Luft schweben, so daß die drallen Beinchen in weißen Wadenstrümpfchen und weißen Schuhen vergnügt strampelten. »Tag, Blondchen! Na -- gefällt dir die Welt von da oben?« fragte er, froh in das lachende Kindergesicht schauend.
»O fein, Gerd! Halt mich mal doll lange hoch -- solange du kannst. Weißt du -- Papa hält mich manchmal 'ne ganze Stunde.«
»Es wird doch wohl nicht eine ganze Stunde gewesen sein, Lotti, denn du bist schon ein recht gewichtiges Persönchen.«
»Doch! Papa ist stark -- und 'ne Stunde ist gar nicht lang, gelt Mami?«
Frau Gertrud lachte.
»Deine Stunden sind kürzer als die anderer Leute, du Wildfang.«
Gerd hielt Lotti hoch, solange er konnte. Dann sagte er lachend:
»Nun kann ich aber nicht mehr!«
»Hm! Na -- dann laß mich nur herunter. Vielleicht war ich auch schon 'ne Stunde oben.«
Er drückte sie fest an sich und hielt sie so noch ein Weilchen, sie auf den roten Plaudermund küssend. Sie schüttelte die blonden Locken.
»Puh! Du bist gerade so stachlig wie Papa.«
Seine Augen sahen warm und zärtlich in das reizende Kindergesicht. Er sah ganz verändert aus. Verschwunden waren die herbe, harte Linie um Mund und Kinn und der düstere Ausdruck der Augen. Um Jahre sah er jünger aus, nun da sich die scharfen Züge in Weichheit auflösten.
Etwa eine halbe Stunde lang widmete er sich seiner kleinen Base und scherzte und lachte mir ihr in fast jungenhaftem Übermut. Frau Gertrud hörte lächelnd zu und freute sich, daß ihre kleine Lotti ein wenig Sonnenschein in die vereinsamte Seele ihres Neffen zauberte.
Dann aber mußte Gerd an den Aufbruch denken. Gerade, als er sich verabschieden wollte, kam Albert Horst von einem Geschäftsgang nach Hause. Er hielt Gerd noch ein Weilchen fest. Der hübsche, stattliche Mann mit dem blonden, kurzgeschnittenen Lippenbart und dem lebensfrohen Gesicht schüttelte dem Neffen herzlich die Hand.
»Tag, mein Junge! Na -- wie geht es dir? Alles in Ordnung? Ich bin eben deinem Vater begegnet, er stieg aus der Elektrischen an eurer Straßenecke. Er hat mich aber nicht gesehen.«
Gerd sah erstaunt auf.
»Mein Vater? Und jetzt um diese Zeit? Er pflegt doch sonst viel später heimzukommen -- und läßt sich doch immer den Wagen kommen.«
»Eben. Es fiel mir auch auf, daß er aus der Elektrischen stieg.«
Gerd strich sich durchs Haar.
»Wer weiß -- da muß ihn wohl etwas Besonderes nach Hause getrieben haben. Jedenfalls will ich mich eilen, heim zukommen. Vater könnte nach mir verlangen, und ich möchte nicht gefragt werden, wo ich war.«
Albert Horst nickte.
»Sehr richtig Gerd. Wenn man nicht recht mit der Wahrheit heraus kann, ist schlecht Bescheid geben auf eine Frage.«
Gerd verabschiedete sich nun hastig und ging. --
Aber es fragte zu Hause niemand nach ihm. Nur sein Bruder Dolf trat kurz nach seiner Heimkehr in sein Zimmer. Er räkelte sich, die Hände in den Taschen, in einem Sessel und schlug die Beine übereinander. Dabei qualmte er sehr ungeniert eine Zigarette und stieß den Rauch zwischen den Zähnen hervor.
Gerd sah ihn eine Weile stumm und mit ironischer Überlegenheit an.
»Was willst du eigentlich hier in meinem Zimmer?« fragte er dann. Dolf paffte den Rauch von sich und lächelte mit frecher Miene.
»Von der Tugend der Deutschen, Gastfreundschaft zu üben, hast du wohl keinen Schimmer? Na also -- ich bin hier bei dir, um zu rauchen. Es ist nicht nötig, das man in meinem Zimmer riecht, daß ich rauche. Na, und so nebenbei wollte ich dich mal fragen, ob du pumpfähig bist und mir zwanzig Märker vorschießen kannst.«
In Gerds Gesicht zuckte der Arger über Dolfs unverschämtes Benehmen.
»Ich könnte wohl -- aber ich tue es nicht.«
»Alter Knauser! Warum denn nicht?«
»Weil ich dich nicht noch bei deinen Streichen unterstützen will. Den Eltern kannst du wohl Sand in die Augen streuen aber mir nicht. Ich weiß, daß du schon oft genug des Nachts ausgekniffen bist, um dich mit Gesinnungsgenossen in Kneipen herumzudrücken. Wenn ich dich auch nicht angebe, so widerstrebt es mir doch, dir auch noch Geld zu solchen Sachen vorzuschießen. Du solltest dich schämen. Wenn das der Vater wüßte -- er wäre außer sich.«
»Ach was -- der alte Herr ist ja auch mal jung gewesen und war hoffentlich nicht so ein langweiliger Moralfatzke wie du. Spare dir deine sittliche Entrüstung. Wenn du mir nichts pumpen willst, dann kannst du auch deine Weisheitssprüche für dich behalten«, sagte Dolf frech und warf die Asche von seiner Zigarette mitten ins Zimmer. Gerd schwoll die Zornesader auf der Stirn.
»Schön! Dann mache aber auch schleunigst, daß du aus meinem Zimmer kommst, sonst helfe ich dir auf die Beine.«
»Sollst du nur wagen!«
Gerd trat rasch und energisch an den Sessel heran, über dessen Armlehnen Dolf seine Füße baumeln ließ. Verächtlich sah er herab in das freche Gesicht des Bruders, und dann sagte er mit verhaltener Stimme und drohend blitzenden Augen:
»Ich zähle bis drei! Bist du bei drei nicht draußen, dann setze ich dich selbst hinaus -- aber sehr unsanft, mein Bürschchen.«
Dolf sah ihm an, daß es ihm ernst war mit seiner Drohung.
Und daß Gerd über große Körperkräfte verfügte, wußte er. Feig duckte er sich zusammen und erhob sich dann langsam.
»Na warte nur, ich sage es Mama und Papa, wie unverschämt du mich behandelst«, drohte er boshaft.
»Bitte, lege dir keinen Zwang auf«, stieß Gerd zornig hervor.
Dolf schob sich langsam zur Tür.
»Du Ekel -- ich bin froh, daß du aus dem Hause kommst!« rief er giftig.
Gerd zuckte die Achseln.
»Das weiß ich ohne deine Versicherung.«
»Mama ist auch froh, daß sie dich loswird«, trumpfte Dolf auf, vorsichtigerweise schon die Türklinke in der Hand.
Gerd antwortete nicht.
»Und Papa auch!« behauptete Dolf, um den letzten Trumpf auszuspielen.
Da übermannte Gerd sein heißes, rasches Blut, das er bisher gezügelt hatte. Er sprang auf den tückischen Bengel zu, um ihn hinauszuwerfen. Aber Dolf ergriff nun die Flucht und war draußen, ehe ihn Gerd erreichte.
Der schlug in dumpfem Zorn mit der Faust gegen die Tür. Aber dann riß er sich zusammen und schloß die Türe ab.
»Der Sohn seiner Mutter!« sagte er mit heiserer Stimme vor sich hin.
Und dann warf er sich in einen Sessel und zog den Brief seiner Mutter hervor, um ihn nochmals durchzulesen.