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Nachdem Williams Ringe ausführliche Anweisungen für seinen Ausflug nach dem Schiffsfriedhof gegeben hatte, wandte er sich seinen eigenen Arbeiten zu. Zuerst galt es, den Chef der Kriminalpolizei einzuweihen. Williams kam mit Regierungsdirektor Ahlvar überein, durch ein paar zuverlässige Beamte die Villa Ranten bewachen zu lassen. Die Leute sollten den Auftrag bekommen, nur dann einzugreifen, wenn jemand versuchen würde, im Auto zu entkommen. Ahlvar selbst versprach, um ein Uhr draußen zu sein, aber nichts zu unternehmen, bevor er nicht das verabredete Zeichen von Williams erhielt. Falls er bis halb drei kein Signal erhalten hatte, sollte er sofort eine Haussuchung in der Villa vornehmen. Von dem Ausflug Ringes auf die »Gamba« etwas zu erwähnen, hielt Williams nicht für notwendig.
Nachdem der Advokat sich mit einem ausgiebigen Abendessen gestärkt hatte, setzte er sich in seinen Wagen und fuhr zum Tiergarten hinaus. Die Uhr zeigte viertel nach elf, als er über die Tiergartenbrücke fuhr. Kurz danach parkte er und ging das Stückchen zur Villa zu Fuß. Als er an den Querweg nach Bellmansruh kam, von wo aus man einen guten Überblick über den Gitterzaun der Villa Ranten hatte, unterschied er im Dunkel ein paar Gestalten auf der anderen Seite des Weges. Das waren anscheinend die beiden Kriminalbeamten, die Ahlvar mit der Wache betraut hatte.
Williams pfiff die ersten Takte vom »Soldatenchor« aus »Margarethe«, das verabredete Signal. Einer der beiden Leute kam sofort auf ihn zu.
»Alles ruhig, Herr Advokat«, flüsterte der Mann. »Man scheint sich drinnen schon zur Ruhe begeben zu haben. Seit wir hier sind, ist niemand gekommen oder gegangen. Ist also bisher ein ziemlich langweiliger Dienst gewesen.«
»Es ist gut, Herr Dahle«, sagte Williams. »Ich werde versuchen, auf das Grundstück zu gelangen, um ein wenig zu spionieren. Sollten Sie das Signal hören oder das Klirren zerbrochener Fensterscheiben, dann ist Gefahr im Verzuge. Dann müssen Sie augenblicklich eingreifen. Ich lasse das Portal offen.«
Williams schlich sich vorsichtig an die Villa heran und blieb abwartend im Schutze eines Marmorpfeilers stehen. Er nahm Rantens Schlüsselbund hervor, den er seit dem Tage, an dem er den Umschlag mit dem Testament öffnete, stets bei sich trug. Der richtige Schlüssel war bald gefunden. Williams öffnete das Portal, ohne daß das geringste Geräusch entstand. Mit vorsichtigen Schritten schlich er sich an den Strand und faßte auf seinem alten Platz in der Nähe der Brücke Posten. Zufrieden stellte er fest, daß eines der Ruderboote fehlte. Anscheinend war Smith zur »Gamba« gerudert. Es bestand also Aussicht, daß auch Frau Ranten sich dorthin begeben würde.
Es wurde eine lange Wartezeit. Der leise niederrieselnde Regen machte die Wartezeit noch unangenehmer. Williams sah auf die Uhr. Es war viertel vor eins.
Plötzlich hörte er von der Villa her Schritte. Eine Gestalt in Chauffeurskleidung kam näher. An der Gangart konnte Williams feststellen, daß es sich nicht um einen Mann, sondern um eine verkleidete Frau handelte. Es war Frau Ranten. Sie setzte sich in das Ruderboot und stieß von der Brücke ab. Mit kräftigen Schlägen ruderte sie auf die Bucht hinaus, während Williams zur Villa eilte. Er hatte zu allen Türen Schlüssel. Gustafsson war teilweise in Williams' Vorhaben eingeweiht.
Williams eilte, mehrere Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf. Er wußte, daß diese keine Geräusche verursachte. Der einer Halle gleichende Korridor war bei der Treppe schwach beleuchtet. Weiter hinten herrschte tiefste Dunkelheit.
Vorsichtig schlich Williams den Flur entlang und lauschte immer wieder. Kein Laut war zu hören. Leise öffnete er die Tür zu Frau Rantens Salon und schloß sie vorsichtig hinter sich. Dann knipste er die Taschenlampe an und ließ den Lichtkegel spielen.
Vor dem offenen Kamin prunkte ein großes Tigerfell, das anscheinend als Ruheplatz von der Herrin des Hauses benutzt wurde, denn neben dem wütend grinsenden Haupt mit dem aufgesperrten Maul stand eine Lampe. Auf dem Fell lag aufgeschlagen ein Buch, was darauf hindeutete, daß vor nicht allzu langer Zeit dort jemand geruht hatte.
Am Fenster stand ein Palisandersekretär. Die Klappe war offen, und auf der Platte lagen einige Papiere. Williams untersuchte sie Stück für Stück. Seine besondere Aufmerksamkeit richtete sich auf die Schreibgarnitur aus getriebenem Silber. Da lagen ein paar Bleistifte, ein Federhalter, einige gebrauchte Stahlfedern und ein goldener Füllfederhalter. Williams schraubte die Hülse ab. Es war ein sogenannter Tintenkuli. Fräulein Rantens Abschiedszeilen konnten also sehr wohl mit diesem Halter geschrieben worden sein. Der Graphologe Pyhlman war ja der Ansicht, daß der Brief mit einem Tintenkuli geschrieben worden war.
Williams schrieb einige Zeilen auf einen Bogen und ließ die Schrift trocknen, während er die Schubladen des Sekretärs untersuchte. Er entdeckte jedoch nichts Verdächtiges. Er fand ein paar nichtssagende Briefe und andere Kleinigkeiten von der Art, wie sie Damen zu sammeln pflegen: Theaterprogramme, Dinereinladungen und einen Packen Visitenkarten. Dann steckte er den eben beschriebenen Bogen in die Tasche und hielt die Untersuchung im Salon für beendet.
An den beiden Schmalseiten des Raumes befand sich eine Tür. Führte sie in Frau Rantens Schlafzimmer? Williams öffnete sie vorsichtig und leuchtete hinein.
»What do you want, Sir?« hörte er eine scharfe, schrille Stimme aus dem Dunkel.
Williams drehte die Taschenlampe aus und blieb unbeweglich stehen. Es war so still, daß er das Ticken einer Uhr vernahm.
»Ist dort jemand?« fragte er zurück.
Keine Antwort.
Williams trat über die Schwelle und knipste seine Taschenlampe wieder an.
»What do you want, Sir?« rief die Stimme wieder, diesmal weniger grell.
Williams leuchtete nach der Seite, aus der die Worte gekommen waren, und lachte gedämpft. In einem Bauer saß ein großer, grüner Papagei und blinzelte in das starke Licht hinein. Er war anscheinend in seiner Nachtruhe gestört worden, als Williams das erste Mal die Lampe aufleuchten ließ. Jetzt begann er, leise glucksend, seinen prachtvollen Federschmuck zu putzen. Um jedes unnötige Sprechen des Vogels zu vermeiden, war es am besten, das Bauer zuzudecken. Auf dem Stuhl lag eine schwarze Kappe, die wohl zu diesem Zweck diente. Williams deckte sie über den Käfig, und gleich darauf wurde es still. Er konnte jetzt seine Aufmerksamkeit auf das Schlafzimmer richten.
Der Raum war bedeutend größer als der Salon. Zwischen den beiden Fenstern, die mit schweren Brokatstoffen verhangen waren, stand ein großes französisches Bett. Auf der einen Seite befand sich ein niedriger Nachttisch mit einer schwach rosa getönten Porzellanlampe in Globenform. Unordentlich über die Stühle geworfen lagen ein paar Damenkleider. Offenbar hatte Frau Ranten es sehr eilig gehabt, als sie die Chauffeurkleidung anzog. Auf dem Fußboden lagen ein paar Damenschuhe mit den Sohlen nach oben. Williams nahm einen auf und wog ihn in der Hand. Er war federleicht. Es war nur ein Vierunddreißiger, wie er feststellte. Frau Ranten lebte anscheinend auf sehr kleinem Fuße.
Williams warf den Schuh an seinen Platz zurück und begann, das Schlafzimmer zu untersuchen. In der einen Wand war ein Kleiderschrank eingelassen, dessen Tür nur angelehnt war. Williams öffnete sie und untersuchte die ganze Reihe Kleider, die wohlgeordnet auf ihren Bügeln hingen. Er befühlte sie von oben nach unten. Plötzlich war es ihm, als höre er bei der Berührung ein knisterndes Geräusch, wie von einem Papier. Williams steckte die Hand von unten hinein und ergriff ein Kuvert, das anscheinend mit einer Sicherheitsnadel am Rock befestigt war. Ein brauner Umschlag mittlerer Größe. Williams öffnete ihn und zog einen Bogen Büttenpapier heraus. Es war das verschwundene Testament Herrn Rantens.
Hastig überflog er den Inhalt. Das also waren die Bestimmungen, die Ranten getroffen hatte, bevor ihn sein furchtbares Schicksal erreichte. Oder war das Schicksal vielleicht eine Folge der Bestimmungen? Der Fund trug entscheidend zur Aufklärung des Falles Ranten bei. Da das Testament in einem von Frau Rantens Kleidern versteckt war, konnte man fast mit Sicherheit annehmen, daß sie oder Smith es gestohlen hatte. Und dieser Diebstahl mußte vor Rantens Tod stattgefunden haben. Es konnte für Frau Ranten nicht allzuschwer gewesen sein, sich in einem unbewachten Augenblick die Schlüssel zum Safe anzueignen, das Kuvert zu stehlen und es mit einem neuen Inhalt zurückzulegen. Anscheinend hatte sie befürchtet, daß das Testament ihres Mannes nicht zu ihren Gunsten ausfiel. Als sie ihre Ahnung bestätigt fand, war der Plan in ihr aufgetaucht, ihren Gatten aus dem Wege zu räumen.
Das Motiv des Mordes lag also klar. Es war nicht so sehr ein Liebesdrama, wie Williams bisher geglaubt hatte, sondern mehr ein Mord aus schnöder Gewinnsucht. Aber war es dann so sicher, daß der Chauffeur der Mörder war?
Williams barg das Testament in seiner inneren Rocktasche. Dann ging er in den Salon hinüber, nahm einen leeren Bogen vom Schreibtisch und legte ihn in den Umschlag.
»Gleiches mit Gleichem«, sagte er halblaut, indem er den Umschlag wieder an dem Kleid befestigte, wo er ihn gefunden hatte.
Williams lehnte die Tür der Garderobe so an, wie sie gewesen war, als er seine Untersuchung begann. Dann ging er an den Vogelkäfig, nahm die Kappe ab und warf sie auf den Stuhl. Nichts sollte verändert sein, wenn Frau Ranten zurückkam. Wenn die Kappe auf dem Bauer saß, würde sie sofort wissen, daß jemand ihrem Zimmer einen Besuch abgestattet hatte, während sie auf der »Gamba« war. Und da würde sie sich sehr in acht nehmen. Dieses schlaue Weib mußte man überrumpeln, wenn man sie überführen wollte. Wenn ihr Mißtrauen erst geweckt war, würde sie sich bei dem Schauspielertalent, das sie besaß, bestimmt nicht verraten. Wie ausgezeichnet hatte sie nicht bisher ihre Rolle als trauernde Witwe gespielt! Und welch überzeugenden Kummer hatte sie nicht über das Verschwinden ihrer Stieftochter gezeigt, trotzdem sie selbst ihre Hand dabei im Spiel gehabt hatte!
Williams sah auf seine Uhr. Eine halbe Stunde hatte die Untersuchung gedauert. Frau Ranten konnte jeden Augenblick zurückkehren. Deshalb war es am besten, zu verschwinden und ihre Rückkehr an einem sicheren Ort abzuwarten.
Er ging in Fräulein Rantens Salon und zog die Tür soweit hinter sich zu, daß nur ein kleiner Spalt offen blieb, der es ihm ermöglichte, den Korridor zu beobachten und die Tür zu Frau Rantens Schlafzimmer im Auge zu behalten.
Es wurde eine lange Wartezeit. Williams stand unbeweglich, die Hand auf der Klinke, angestrengt lauschend im Dunkeln. Eine Uhr in Fräulein Rantens Schlafzimmer schlug einmal. Es war anscheinend die Standuhr, von der Annie Ranten in ihren Berichten über die Chauffeurbesuche bei ihrer Stiefmutter gesprochen hatte. Es war also schon halb zwei.
Gegen zwei Uhr glaubte Williams vom Erdgeschoß her das schwache Geräusch einer zuschlagenden Tür zu hören. Jetzt hörte er Schritte auf der Treppe. Eine Gestalt wurde vor Frau Rantens Tür sichtbar, die Türe geöffnet, das Licht angedreht. In der erleuchteten Türöffnung zeichnete sich die Silhouette eines Chauffeurs ab.
Williams schlich in den Korridor hinaus und horchte an der Tür. Im Zimmer hörte er Schritte und leises Trällern. Er öffnete die Tür mit einem Ruck und trat ein.
Der Chauffeur stand, ihm den Rücken zuwendend, am Sekretär, fuhr herum und starrte erschreckt Williams an – es war Frau Ranten.
»Herr Advokat, Sie hier, mitten in der Nacht?« stammelte sie.
Dann raffte sie sich auf.
»Wie können Sie sich unterstehen, bei einer Dame auf diese Art und Weise einzudringen?« fuhr sie fort. Jetzt zitterte ihre Stimme vor Wut.
»Ich glaubte eher, ich hätte mich geirrt und wäre zu Chauffeur Smith gekommen«, sagte Williams spöttisch.
»Chauffeur Smith – was meinen Sie nur?«
»Verzeihen Sie, Frau Ranten, aber vielleicht haben Sie vergessen, daß Sie als Chauffeur Smith verkleidet sind«, antwortete Williams. »Waren Sie auf einem Kostümfest, oder diente die Verkleidung vielleicht anderen Zwecken?«
»Was wollen Sie eigentlich von mir? Wie kommen Sie dazu, nachts um zwei bei mir einzudringen?« Der zornige Klang in Frau Rantens Stimme war ganz verschwunden.
»Was ich will? Ja, das sollen Sie sofort erfahren«, antwortete Williams.
Er trat einige Schritte näher und blickte sie eine Weile ruhig an.
Frau Ranten konnte seinen Blick nicht aushalten und schlug die Augen nieder.
»What do you want, Sir?« gluckste der Papagei aus dem Schlafzimmer.
Einige Sekunden herrschte Stille im Salon.
Dann trat Williams noch einen Schritt näher an Frau Ranten heran und sagte langsam:
»Sie sind erkannt, meine Gnädige. Die Komödie ist zu Ende.«