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»So pünktlich bist du lange nicht gewesen«, sagte Elsie, als Williams sich am Tisch niederließ und sich ein Butterbrot bereitete. »Hast du vielleicht das Geheimnis des Glaspuzzles gelöst?«
»Nicht ganz, aber ich glaube, ich bin auf dem besten Wege, Ordnung in die Dinge zu bringen«, antwortete Williams und biß in ein Radieschen. »Es scheint sich um eine lange Kette zu handeln, die vom Torsplatz bis zum Blockhauskap reicht. Sie beginnt mit einem Mord und schließt mit einem Mord, und die Ereignisse, die dazwischen liegen, bilden die Glieder. Ein anonymer Brief, Anklage und Drohung zugleich, unerklärliche Fingerabdrücke, ein verschwundenes Testament, eine als Mann verkleidete Frau und geheimnisvolle Zusammenkünfte auf einem ausrangierten Schiff – das alles sind Ingredienzen, die in die Welt der Kriminalromane gehören. Nun, es ist ja oft so, daß die Wirklichkeit wunderbarer ist als die Dichtung.
Aber ich muß mich mit dem Essen beeilen, denn ich habe mich mit Regierungsdirektor Ahlvar verabredet. Ich habe versprochen, in einer Stunde bei ihm zu sein, und möchte ihn nicht warten lassen. Im übrigen bin ich an der Verabredung ebenso interessiert, wie ich glaube, daß er es ist. Für ihn bedeutet es wahrscheinlich, daß er eine sichere Spur bekommt, die zu einem anscheinend unlösbaren Mordfall führt. Wenn nicht, ja, dann muß ich für meine Person meines Lebens größte Enttäuschung buchen, denn dann fallen alle Glieder in meiner so gut zusammengefügten Kette auseinander. Alles hängt an einem kleinen Stückchen Haar! Wird es halten?«
Williams ließ es sich schmecken, und behielt sogar noch etwas Zeit übrig für eine Tasse Kaffee und eine Zigarre in der Bibliothek. Wenn irgend möglich, hielt er nach dem Essen gern eine kurze Siesta in einem bequemen Sessel. Diese Entspannung gab ihm neue Kraft und Energie für die weitere Arbeit des Tages, die sich oft bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages hinein erstreckte. Seit er angefangen hatte, sich mit dem Fall Ranten zu beschäftigen, hatte er für diese Ruhepause nach dem Essen nicht allzu oft Zeit gehabt. Aber er nahm sich vor, den Schaden wieder gut zu machen, sobald er seine Aufgabe zu Ende geführt hatte.
Williams sah auf seine Armbanduhr. Es fehlten nur noch zehn Minuten an der festgesetzten Zeit.
»Ringe wollte um acht Uhr anrufen. Bestelle ihm doch bitte, er möchte hieher kommen und auf mich warten«, sagte er und erhob sich. »Es ist möglich, daß ich heute abend noch Arbeit für ihn habe. Du kannst ihm ja Gesellschaft leisten und dafür sorgen, daß er nicht so trocken dasitzt. Also, lebe wohl solange.« Damit verschwand er. Fünf Minuten später hielt er vor dem Polizeipräsidium und sprang aus dem Wagen.
»Der Herr Regierungsdirektor erwartet Sie in seinem Zimmer«, sagte der wachhabende Polizist, als Williams ins Wachtzimmer kam. »Bitte sehr, Herr Advokat, diesen Weg.«
Immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, eilte Williams zum zweiten Stockwerk hinauf. Seine Schritte hallten laut in dem leeren Korridor wider, als er an den vielen Türen vorbeiging, hinter denen man das Schreibmaschinengeklapper hörte. Trotz der verhältnismäßig späten Stunde war in dieser Abteilung, wo der Achtstundentag ein ebenso unbekannter Begriff war wie auf einer Zeitungsredaktion, noch alles an der Arbeit.
In dem Vorzimmer des Chefs befand sich niemand, weshalb Williams ohne weiteres bis zur Tür des Direktors ging und anklopfte.
Sofort wurde die Tür von innen geöffnet. Regierungsdirektor Ahlvar stand auf der Schwelle.
»Willkommen«, sagte er und gab Williams die Hand zur Begrüßung. »Du gehörst wirklich zu den pünktlichen Leuten, das muß man sagen. Komm, setze dich und mache es dir bequem. Darf ich dir eine Zigarette anbieten?« Der Regierungsdirektor reichte ihm sein schweres Silberetui.
»Danke dir, aber wenn du gestattest, ziehe ich meine Pfeife vor«, sagte Williams und setzte sich. »Du weißt, ich habe meine kleine Schwäche.«
»Natürlich, mein Lieber«, sagte der Regierungsdirektor lachend.
Er zündete sich eine Zigarette an und sog den Rauch tief ein.
Der Chef der Stockholmer Kriminalpolizei war noch ein recht junger Mann, kaum fünfunddreißig Jahre alt. Er hatte, dank seinen besonderen Fähigkeiten, schnelle Karriere bei der Polizei gemacht. Daß er eine Menge älterer Kollegen übersprungen hatte, als ihm der Posten als Chef der Kriminalpolizei in der Hauptstadt anvertraut wurde, war zum Teil dem Erfolg zuzuschreiben, den er bei der Aufdeckung des großen Sparkassenschwindels gehabt hatte. Das war eine Meisterprobe, die ihn mit einem Schlag über seine Kameraden erhöht hatte. Wegen seines freundlichen, aber doch bestimmten Wesens war er bei seinen Untergebenen sehr beliebt; er wurde von den älteren ebenso respektiert wie von den jüngeren.
Williams, der mit dem Kriminalchef persönlich gut bekannt war, schätzte den sympathischen jungen Mann sehr, der bei vielen Gelegenheiten wirklich hervorragende Detektiveigenschaften gezeigt hatte. Er nahm es niemals für sich selbst in Anspruch, wenn es der Kriminalabteilung geglückt war, eine schwierige Aufgabe zu lösen, sondern stellte stets seinen Mitarbeiterstab in den Vordergrund. Deshalb wußten die meisten Außenstehenden auch nicht, daß die Lösung vieler Fälle in der Initiative, dem Kombinationsvermögen und in der Kunst des Schlüsseziehens bei Regierungsdirektor Ahlvars zu suchen und zu finden war.
Williams hatte seine Pfeife angezündet und es sich in dem Sessel bequem gemacht.
»Interessant, deine Mitteilung«, sagte Ahlvar. »Du hast anscheinend einen wertvollen Fund gemacht. Aber ich will nicht neugierig sein, jedenfalls im Augenblick noch nicht. Das kleine Haarfragment habe ich selbst untersucht, und ich glaube, es hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Haarprobe der Frau vom Torsplatz. Der Kommissär Gärdin bearbeitet den Fall. Er soll nach der mikroskopischen Untersuchung mit dem Befund hieherkommen.
Natürlich ließen wir auch eine Blutgruppenuntersuchung von der ermordeten Frau Save machen, so daß die Gerichtsmedizinische Anstalt wohl bald die blutigen Lappen anfordern wird. Zeigt es sich dann, daß dieses Blut zu der Blutgruppe der Frau Save gehört und das Haarfragment von ihrem Kopfe stammt, kann man annehmen, daß es ihr Blut ist, das den Leinenstreifen getränkt hat. Wenn dem so ist, so hast du uns auf eine wertvolle Spur gebracht. Ob wir den Fall so aufklären können, daß der Täter verhaftet werden kann, ist eine andere Sache. In diesem Falle verlasse ich mich ganz auf dich. Wir haben ja schon vorher mit gutem Erfolg zusammengearbeitet.«
»Ich will mich über den Fall nicht äußern, bevor ich nicht Bescheid bekommen habe, ob das Haarfragment wirklich von Frau Saves Kopf stammt«, sagte Williams. »Und es kann sein, daß ich mich vielleicht auch dann noch ein wenig geheimnisvoll benehme. Zumindest noch eine kleine Weile. Ich bearbeite da nämlich einen Kriminalfall, den du wohl erst später in die Hände bekommen wirst. Aber noch ist alles auf Theorien und Indizien aufgebaut. Ihr professionellen Kriminalisten verlangt ja Tatsachen.«
Es klopfte, und Ahlvar rief »Herein!«
Kommissär Gärdin erschien in der Tür, zögerte jedoch, als er sah, daß sein Chef Besuch hatte.
»Treten Sie nur näher«, forderte Ahlvar ihn auf. »Wir sind schon sehr gespannt auf das Ergebnis der Untersuchung. Na, was gibt es?«
Kommissar Gärdin reichte seinem Chef einige Photographien.
»Wollen Sie sich das bitte ansehen, Herr Regierungsdirektor«, sagte er. »Nach meinen Feststellungen muß das kleine Stückchen Haar auf demselben Kopf gewachsen sein wie das andere Haar hier, stammt also offenbar von der ermordeten Frau Save. Daß die Struktur genau die gleiche ist, geht deutlich aus den Abzügen hervor. Der Durchmesser ist derselbe und die Farbe ebenfalls. Wenn ich nur wüßte, ob das Blut vom Hammer derselben Gruppe wie Frau Saves Blut angehört, würde ich nicht einen Augenblick zögern, zu beschwören, daß das Haarfragment von Frau Save stammt.«
»Ist gut, Herr Kommissär«, erwiderte Regierungsdirektor Ahlvar. »Ich behalte die Kopien einstweilen hier. Bitte, sorgen Sie dafür, daß wir die Blutgruppenbestimmung schnellstens bekommen.«
Der Kommissär verneigte sich und verschwand.
Williams hatte sich von seinem Sessel erhoben. Er nahm eine der Kopien in die Hand und trat ans Fenster, um besser sehen zu können.
Nachdem er ein paar Minuten lang das vergrößerte Abbild der beiden Haare verglichen hatte, gab er die Kopie zurück.
»Kommissär Gärdin hat recht«, sagte er. »Es kann kein Zweifel herrschen: Die beiden Haarstückchen hier sind auf demselben Kopfe gewachsen.«
Mit zufriedener Miene sah er Ahlvar an.
»Ich habe die Mordwaffe gefunden«, setzte er mit Nachdruck hinzu. »Gunhild Maria Save wurde mit einem Hammer ermordet, dessen Kopf mit den Putzlappen umwickelt war, die du von mir bekamst. In einem der getrockneten Blutflecke fand ich das kleine Haarfragment, das du hier auf dem Bilde siehst.«
Ahlvar erhob sich. Sein Gesicht strahlte vor Freude.
»Du hast das Mordinstrument, sagst du! Ein Hammer mit umwickeltem Kopf erklärt verschiedenes. Wenn du wüßtest, wie wir uns die Köpfe über die Wunden der Ermordeten zerbrochen haben. Wir haben auf alle möglichen Gegenstände getippt, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Ich bin dir wirklich dankbar, mein Lieber, für den Dienst, den du uns geleistet hast. Nun können wir dieses Drama vielleicht doch aufklären. Wo hast du das Mordinstrument gefunden?«
»Ich will dir gegenüber nicht allzu geheimnisvoll sein, Ahlvar«, sagte Williams. »Aber etwas muß ich doch für mich behalten, bis ich der Lösung der Aufgabe, mit der ich beschäftigt bin, etwas näher gekommen bin. Ich kann dir nur soviel sagen, daß ich den Hammer, zusammen mit ein paar Glasscherben in Zeitungspapier gewickelt, unter einem Strauch im Tiergarten gefunden habe. Es war übrigens mein Freund und Kollege Ringe, der das Paket entdeckte. Daß wir die Glasstückchen dort finden würden, hatte ich erwartet, der Hammer hingegen war eine Überraschung. An sich könnte ich dir den Mörder jetzt überlassen oder zumindest eine Person, die stark im Verdacht steht, Frau Saves Tod auf dem Gewissen zu haben. Aber wenn ich das tue, kann ich wahrscheinlich meine eigene Sache nicht aufklären. Die Einmischung der Polizei und die Verhaftung des Betreffenden in einem allzu zeitigen Stadium würde sicher alles verderben.«
»Das klingt ja recht geheimnisvoll. Und wenn nicht du es wärst, der diese Äußerung tut, würde ich vielleicht verärgert sein«, sagte Ahlvar und zeigte seine weißen Zähne. »Aber ich vertraue dir und weiß, daß du stets nach einem bestimmten Plan handelst. Wann glaubst du, wird die Sache soweit gediehen sein, daß ich Näheres erfahren kann?«
»Vielleicht in einigen Tagen, vielleicht auch etwas später«, antwortete Williams. »Ich erwarte ein Telegramm aus Amerika, und erhalte ich da die entsprechenden Aufklärungen, dann platzt die Bombe sofort. Aber ohne diese Angaben muß ich sehr vorsichtig zu Werke gehen. Das ist der Unterschied zwischen Beweis und Indizien, verstehst du?«
Der Regierungsdirektor nickte bekräftigend. »Aber glaubst du nicht, daß die Kriminalpolizei schon jetzt etwas ausrichten könnte?«
»Das ist sehr leicht möglich«, entgegnete Williams. »Aber ihr könnt noch mehr verderben. Nein, mißverstehe mich nun nicht, alter Freund. Ich meinte nicht, daß ihr euch blamieren würdet. Daß ihr eure Sache gründlich versteht, weiß ich. Aber höre zu, Ahlvar. Was würdest du sagen, wenn du jetzt eine große Überraschung zu hören bekommst?«
»Was für eine Überraschung?«
»Ich präsentiere dir zwei Mörder statt einem.«
»Sind an dem Mord am Torsplatz zwei beteiligt? Zu dem Schlußsatz haben unsere Untersuchungen nicht geführt«, sagte der Regierungsdirektor und machte ein zweifelndes Gesicht.
»Nein, bei diesem Fall handelt es sich nur um einen Mörder«, sagte Williams.
»Das setzt ja aber voraus, daß hier in der Stadt noch ein Mord begangen worden ist, ohne daß ich eine Ahnung davon hatte«, rief Ahlvar.
»Die Kriminalpolizei kann schließlich nicht allwissend sein«, sagte Williams und machte ein verschmitztes Gesicht. »Jetzt muß ich aber gehen. Ich lasse wieder von mir hören, sobald die Sache spruchreif ist. Eins mußt du mir jedoch versprechen.«
»Und das wäre?«
»Daß du mich nicht etwa beobachten läßt. Dann ist es aus mit unserer Freundschaft und Zusammenarbeit.«
»Du weißt ganz genau, daß ich nicht zu den Leuten gehöre, die so etwas tun«, sagte Ahlvar. »Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß das, was du mir erzählt hast, unter uns bleibt, bis die Zeit zum Eingreifen für mich gekommen ist. Hier – meine Hand darauf.«
»Ich danke dir, mein Lieber«, sagte Williams. »Ich habe auch nicht an dir gezweifelt. Du wirst deine Mörder ausgeliefert erhalten.«