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8

Im Wagen begann Annie zu sprechen.

»Hör mal, Gustav«, sagte sie und machte eine kleine Pause. »Was meinst du eigentlich mit deiner Äußerung vorhin?«

»Welche Äußerung?« antwortete der Gefragte und sah ein wenig verlegen aus.

»Handelt es sich um den Brief?« fragtest du. Anscheinend war dir das so herausgefahren. Ich sah deutlich den unwilligen Blick deines Freundes, trotzdem ich so tat, als ob ich nichts gemerkt hätte. Ich verstehe natürlich, daß es sich um etwas handelt, das mit dem Tod meines Vaters zusammenhängt, etwas, das ihr mir nicht sagen wollt. Gustav, ich versichere dir, du kannst fest auf mich vertrauen. Ich ahne, daß der Tod meines Vaters mit irgendeinem Geheimnis verknüpft ist, einem furchtbaren Geheimnis. Ihr wollt verhindern, daß ich es erfahre. Aber ich bin stark genug, alles zu hören. Was hat mein Vater getan, daß er sich das Leben genommen hat? Antworte mir, Gustav!«

 

»Meine liebe Annie«, sagte Ringe bedrückt. »Ich würde dir so gern die ganze Wahrheit sagen. Aber du mußt verstehen, ich kann das Vertrauen meines Freundes nicht mißbrauchen. Er hat mir das Versprechen abgenommen, niemals etwas über unsere Wahrnehmungen verlauten zu lassen, wenn wir uns mit einem kriminalistischen Problem beschäftigen. Ich kann dir deshalb wirklich nicht sagen, was es mit dem Brief auf sich hat.«

»Aha … kriminelles Problem«, wiederholte Annie Ranten. »Wenn mein Vater in einem Anfall geistiger Verwirrung Selbstmord begangen hat, ist das wohl kaum als ein kriminelles Problem anzusehen. Ich verstehe jetzt dein Schweigen und achte es. Aber, Gustav, Lieber, antworte mir auf eine einzige Frage. Nahm mein Vater sich wirklich das Leben?«

»Nein, Annie, er tat es nicht«, antwortete Ringe. Er machte eine lange Pause, dann sagte er leise:

»Dein Vater wurde ermordet.«

»Ich danke dir, Gustav, daß du mir die Wahrheit gesagt hast. Ich habe das die ganze Zeit über geahnt. Ich weiß selbst nicht, wieso. Eine innere Stimme sagte es mir. Mein Vater hätte niemals Selbstmord begehen können. Er hatte nicht die geringste Ursache dazu. So lebensbejahend wie er war, mit seinem noch jungen Herzen und dem frohen Sinn. Aber jetzt handelt es sich darum, seinen Mörder zu finden. Ist die Sache schon bei der Polizei angemeldet?«

»Nein, soweit sind wir noch nicht gekommen, daß wir die Kriminalpolizei benachrichtigen können. Wir haben noch keinen zuverlässigen Beweis. Aber ich kenne die Zähigkeit und Energie meines Freundes. Bisher ist ihm noch kein krimineller Fall mißglückt. Annie, versprich mir, keinem Menschen ein Wort von dem, was ich dir erzählt habe, zu sagen. Nicht einmal deiner Stiefmutter. Der Mörder, wer es auch sein mag, muß in dem Glauben leben, daß wir keinen Verdacht hegen. Erst wenn er in Sicherheit gewiegt ist, haben wir Aussicht, daß er sich irgendwie einmal verrät.«

 

»Ich verstehe«, antwortete Annie Ranten. »Du kannst mir vertrauen.«

Man war inzwischen ein gutes Stück über die Tiergartenbrücke hinausgekommen und fuhr gerade an der Rydbergschen Stiftung vorbei.

»Halte hier, Gustav«, sagte Annie Ranten. »Es ist besser, ich steige hier aus, als daß du mich bis vor die Villa fährst. Es braucht niemand zu wissen, daß ich Williams besucht habe und du mich nach Hause gebracht hast. Jemand könnte leicht neugierig werden und unbehagliche Fragen an mich stellen, die ich außerstande wäre, zu beantworten.«

Ringe hatte sofort den Wagen zum Stehen gebracht, und Annie Ranten stieg aus.

»Lebe wohl solange«, sagte sie und reichte ihm ihre kleine, behandschuhte Hand.

Ringe nahm sie und fühlte einen Druck, der ihm warm machte und ihm mehr sagte als alle Worte.

Er sah ihr noch nach, als sie um die Wegkreuzung verschwand, die zur Valdemarsbucht führte. Dann wendete er den Wagen und fuhr heiteren Sinnes zu Williams zurück.

Sein Freund befand sich im Laboratorium. Williams war anscheinend mit photographischen Arbeiten beschäftigt, denn es roch nach Spiritus, und vor dem elektrischen Ventilator hingen auch ein paar Kopien zum Trocknen.

»Gut, daß du kommst«, sagte William. »Ich bin gerade fertig.« Er zog den weißen Laboratoriumskittel aus und vertauschte ihn mit dem Jackett.

»Ich habe eine Überraschung für dich, Ringe«, sagte er und blinzelte verschmitzt seinem Freunde zu. »Sieh dir die Photographien hier an. Erkennst du die Fingerabdrücke?«

Ringe nahm die ihm gereichten Kopien und untersuchte sorgfältig die vergrößerten Abdrücke. Dann sah er fragend Williams an.

»Ich kann nichts anderes sehen, als daß es die gleichen Abdrücke sind, wie die auf den im Papierkorb gefundenen Schnitzeln«, sagte er. »Daß du dir die Mühe gemacht hast, noch mehr Vergrößerungen herzustellen! Ich finde, wir haben gestern schon genug fabriziert.«

»Diese Abdrücke hier«, sagte Williams und machte eine Pause, »habe ich auf Fräulein Rantens Brief an dich gefunden. Und sie sind identisch mit den Abdrücken auf dem Brief der ›Rächer‹.«

Ringe stand eine Weile wie erstarrt und sah seinen Freund an. Dann blickte er noch einmal auf die Photographien, die er in der Hand hielt.

»Was soll das bedeuten?« fragte er. Verzweiflung klang aus seiner Stimme. »Das – das ist doch nicht möglich!«

»Es bedeutet ganz einfach, daß die gleichen Hände, die den Anklagebrief an Ranten hielten, auch irgendwie mit Fräulein Rantens Brief zu tun hatten. Und da ich auf ihrem Brief keine anderen Abdrücke als diese hier und ein paar von dir habe finden können, muß man ja annehmen, daß die Abdrücke von Fräulein Ranten herrühren. Sie scheint uns demnach also nicht die volle Wahrheit gesagt zu haben. Ich nehme an, daß sie den Brief gelesen, zerrissen und in den Papierkorb geworfen hat.«

»Ich schwöre dir, daß Annie keine Ahnung von der Existenz dieses Briefes hat«, sagte Ringe mit scharfer Stimme. »Sie hat nichts mit dem Brief zu tun gehabt. Das weiß ich um so eher, als sie auf der Fahrt unbedingt wissen wollte, was ich mit meiner Äußerung in ihrer Gegenwart gemeint habe. Sie sah auch den unwilligen Blick, den du mir zuwarfst.«

»Was hast du ihr geantwortet?«

»Ich habe nichts davon verraten, was du entdeckt hast«, antwortete Ringe. »Aber ein Geheimnis mußte ich ihr doch offenbaren.«

»Was?«

»Daß ihr Vater ermordet worden ist«, antwortete Ringe und sah sehr niedergeschlagen aus. »Vielleicht habe ich eine Dummheit begangen, als ich ihr die Wahrheit über den Tod ihres Vaters sagte. Aber Annie ist auf jeden Fall ein Mensch, auf den man sich verlassen kann. Glaubst du das nicht auch, Sigurd?«

»Bei einer Frau weiß man niemals, woran man ist, mein Lieber«, antwortete Williams. »Man kann sich so leicht täuschen. Aber, Ringe, ich will dich nicht traurig machen. Was Annie Ranten betrifft, so glaube ich, wir brauchen uns nicht zu beunruhigen, auch wenn die Sache mit den Fingerabdrücken etwas sonderbar erscheint. Aber vielleicht finden wir eine ganz natürliche Lösung mit der Zeit. Da ist allerdings noch eine andere Sache, die von gewissem Interesse ist. Ich habe nämlich die beiden Briefe etwas näher untersucht und festgestellt, daß sie auf dem gleichen Briefpapier geschrieben sind.«

»Das kompliziert ja den Fall noch mehr«, sagte Ringe. »Du glaubst doch wohl nicht, daß Annie den ersten Brief auch geschrieben hat?«

»Nein, das glaube ich bestimmt nicht«, antwortete Williams, »und ich glaube auch nicht, daß das den Fall kompliziert, wie du sagst. Ich würde eher behaupten, daß das Problem sich dadurch vereinfacht. Da beide Briefe auf gewöhnlichem Papier geschrieben sind, ist es sicher nur ein Zufall, der da mitspielt.«

»Aber die Fingerabdrücke?« fragte Ringe. »Die können doch nicht rein zufällig dahin gekommen sein.«

»Nein, was die Fingerabdrücke anbetrifft, so handelt es sich hier bestimmt nicht um einen Zufall«, gab Williams zur Antwort.

»Ich kann nicht begreifen, wie Fräulein Rantens Fingerabdrücke auf den Drohbrief kommen können, wenn sie ihn gar nicht gelesen hat«, fuhr er fort. »Und da wir beide fest davon überzeugt sind, daß sie keine Ahnung von dem Brief hat, so gibt es nur eine Erklärung, die bei näherer Untersuchung stichhaltig sein kann.«

»Welche denn?« fiel Ringe ein, und seine Stimme zitterte von Interesse und Spannung.

»Die Fingerabdrücke sind früher auf das Papier gekommen als der Text«, antwortete Williams. »Also muß man annehmen, daß jemand, wer es nun auch sein mag, Fräulein Ranten diesen Briefbogen in die Hände gespielt hat. Und wenn dem so ist – weshalb? Ehe wir eine annehmbare Erklärung für diese Frage haben, ist es schwer, auf unseren Theorien über Rantens Tod weiterzubauen.«

»Aber wurde Ranten denn nicht ermordet?« fragte Ringe.

»Schwer zu sagen, mein Lieber! Alles sieht so merkwürdig aus. Heute früh war ich unten am Blockhauskap und machte Taucheruntersuchungen, nicht ich natürlich, sondern Taucher Fredriksson, der gestern den Wagen bergen half. Er ist ein paar Stunden lang unten an dem Platz gewesen, wo das Auto in die Tiefe sauste. Er hat jeden Quadratzentimeter des Bodens untersucht, von der Brücke ab etwa zehn Meter weit, ohne auch nur das kleinste Stückchen von der zerbrochenen Fensterscheibe zu finden. Im Auto waren keine Glassplitter, mit Ausnahme des Stückchens, das ich an mich nahm und das ich hier habe. Das führt zu der Schlußfolgerung, daß die Scheibe nicht zertrümmert wurde, während sich der Wagen unter Wasser befand, sondern früher an einer anderen Stelle. Man könnte auch annehmen, daß die Tür des Wagens offen war, als das geschah, weil sich im Wagen nicht ein Glassplitterchen fand.«

»Aber wer zertrümmerte die Scheibe? Ranten selbst oder jemand anders?«

Williams schwieg und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Er hatte die Hände tief in den Taschen vergraben und ging mit vornüber geneigtem Kopf.

Es war eine Eigentümlichkeit von ihm, so umherzuwandern, wenn sein Gedankenapparat ganz intensiv beschäftigt war. Er konnte Stunde auf Stunde so gehen, ohne ein einziges Wort zu äußern, und sich nur auf das Problem, mit dessen Lösung er beschäftigt war, konzentrieren. Und da lohnte es sich nicht für Ringe, zu versuchen, ein Gespräch in Gang zu bringen. Das wußte er aus alter Erfahrung, und darum schwieg er jetzt auch.

Von der Turmuhr der nahegelegenen Engelbrektskirche ertönten drei dumpfe Schläge.

Plötzlich verhielt Williams den Schritt und sah auf seine Armbanduhr.

»Du mußt entschuldigen, mein Lieber, daß ich dich solange auf Antwort warten ließ«, sagte er und lächelte. »Aber verschiedene Fragen beschäftigten mich ganz außerordentlich.

Hat Ranten die Scheibe selbst zertrümmert, muß man voraussetzen, daß er sich das Leben genommen hat, weil die Drohbriefe echt waren und die Anklage somit zu Recht bestand. Also er hätte dann dem Chauffeur befohlen, den Wagen zu verlassen, hätte die Scheibe zerschlagen, sich selbst die Hände dabei zerschnitten und dann elf Uhr vierzig den Wagen am Blockhauskap ins Wasser gesteuert. Daß der Tod durch Ertrinken verursacht wurde, hat die Obduktion ergeben, die der zweite Stadtarzt auf meinen Wunsch heute vorgenommen hat. Ranten war am Leben, als der Wagen unter Wasser ging. Das steht auf jeden Fall fest.

Was haben wir dann, das gegen die Annahme eines Selbstmordes spricht?

Erstens fehlen auf dem Drohbrief seine Fingerabdrücke. Statt dessen haben wir die von Fräulein Ranten gefunden. Er hat den Brief also nicht gelesen, es sei denn, er hätte Handschuhe angehabt, was ich für unwahrscheinlich halte.

Zweitens befinden sich auf der Gummimatte Spuren von geronnenem Blut. Das beweist, daß eine bedeutend längere Zeitperiode von der Entstehung der Verletzung an den Händen bis zum Untergang des Autos im Wasser verflossen ist, als die Uhr des Verunglückten anzeigt.

Von der Tatsache Nummer eins ausgehend, muß man den Schluß ziehen, daß der Brief eine Fälschung ist; von der Tatsache Nummer zwei ausgehend, daß Ranten seine Uhr um ein paar Stunden zurückgedreht hat. Daß Ranten den Brief nicht selbst gefälscht hat, kann man wohl als selbstverständlich ansehen.

 

Dadurch, daß die Voraussetzung für den Selbstmord fehlt, kann man, ohne sich eines Trugschlusses schuldig zu machen, annehmen, daß Ranten nicht selbst seine Uhr zurückgestellt hat, desgleichen sich nicht selbst die Verletzungen an den Händen zugefügt hat, um den Verdacht aufkommen zu lassen, sie seien bei dem Versuch, aus dem verunglückten Auto zu entkommen, entstanden.

Die Antwort auf die Frage lautet also:

Die Fensterscheibe wurde nicht von Ranten zertrümmert, sondern von dem, der ihn ermordet hat.«


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