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21

»Hatte ich nicht recht, als ich sagte, daß der Sekt die Zungen lösen würde? Ohne ihn wäre Fräulein Smedby ganz sicher nicht so mitteilsam gewesen.«

Mit diesen Worten begrüßte Williams seinen Freund Ringe am folgenden Morgen. Es war noch nicht halb neun Uhr. Ringe pflegte sonst später ins Kontor zu kommen.

»Du hast recht«, antwortete Ringe. »Ein Glückszufall war es, daß ich Fräulein Smedby unten im Hausflur traf. Hätte ich das Haus nur eine Minute früher verlassen, so wüßten wir jetzt nicht, was wir wissen. Denke nur diese Überraschung: Charlie Smith und Frau Save waren Mann und Frau!«

»Das Schicksal eines Menschen hängt oft von einer einzigen Minute ab«, sagte Williams. »Frau Rantens Lebensgeschichte bestätigt mir dies. Wäre Ranten vor etwa sechs, sieben Jahren nur eine Minute später in ein gewisses Warenhaus in New York gekommen, brauchten wir uns niemals mit der Aufklärung seines Mordes zu beschäftigen. Dann würde vieles anders sein. Aber vielleicht ist Frau Rantens gefühlvolle Geschichte von der armen Verkäuferin im New Yorker Warenhaus nur ein Märchen! Ich weiß nicht recht, ob man alles glauben kann, was sie sagt.«

»Sicher spielt sie Theater. Aber zunächst: Warum tötete Smith seine Frau, mit der er nicht zusammenlebte?«

»Natürlich um frei zu werden und sich mit der reichen Witwe verheiraten zu können«, antwortete Williams. »Das liegt klar auf der Hand. Gunhild Maria Save wollte nicht in die Scheidung willigen. Sie hatte es schwarz auf weiß, daß sie mit Smith verheiratet war. Darauf wollte sie sicher hinaus, als sie von Papieren sprach. Smith hätte sich der Bigamie schuldig gemacht, wenn er Frau Ranten geheiratet hätte. Ihm blieb also nur die Wahl, entweder von der Witwe und ihrem vielen Gelde zu lassen oder sich von seiner Frau freizumachen. Er wählte das letztere. Wie die Tat ausgeführt wurde, darüber brauchen wir uns nicht weiter zu unterhalten. Der Hammer, den wir im Tiergarten fanden, war das Mordinstrument, und das Ganze wurde so in Szene gesetzt, daß es aussah, als ob die arme Frau einem Lustmörder zum Opfer gefallen wäre. Die Kriminalpolizei stellte ihre Ermittlungen auch nach dieser Richtung hin an. Und das ist ja auch nicht verwunderlich, da man von einem falschen Motiv ausging. Du weißt, was ich dir von den ›sieben goldenen W‹ der Kriminalistik erzählte. Stimmt das nicht?«

Ringe wollte gerade antworten, als es klopfte.

Auf Williams' »Bitte« kam ein Angestellter herein.

»Draußen ist ein Herr, der Sie sucht, Herr Advokat«, sagte er. »Es ist anscheinend etwas Wichtiges, denn er macht einen sehr aufgeregten Eindruck. Sein Name ist Gustafsson, und er sagt, daß Sie ihn sehr gut kennen, Herr Advokat.«

»Bitten Sie ihn sofort hierher.« Williams erhob sich.

Der Angestellte verschwand.

»Das kann niemand anders als der Diener Gustafsson sein. Was mag da draußen wohl wieder passiert sein?« sagte Williams und blieb abwartend in der Nähe der Tür stehen.

Der Diener Gustafsson trat ein. Der alte Mann machte einen vollständig niedergebrochenen Eindruck. Seine Hände zitterten.

»Guten Tag, Gustafsson. Was ist geschehen?«

»Es ist entsetzlich! Unser armes, kleines Fräulein …«, stammelte der Diener mit vom Weinen verhaltener Stimme.

Ringe sprang auf und stürzte auf Gustafsson zu.

»Um Gottes willen, was ist geschehen, Gustafsson?« rief er, und seine Stimme klang ebenso kläglich wie die des Bedienten. »Sprechen Sie doch, Mann, aber schnell. Was ist mit Annie?«

Gustafsson zog ein großes Taschentuch hervor und trocknete sich die Stirn.

»Fräulein Ranten ist verschwunden, und man hat ihren Hut in der Bucht gefunden, ganz in der Nähe von der Yacht«, sagte Gustafsson schluchzend. »Sie hat sich bestimmt … bestimmt … etwas angetan«, jammerte er und führte das Taschentuch an die Augen.

Ringe sank in einen Sessel nieder. Er beugte sich nach vorn, den Kopf in beide Hände gestützt. Der große, starke Mann zitterte am ganzen Körper.

»Annie, meine geliebte Annie«, stöhnte er. »Das kann nicht wahr sein, das wäre zu furchtbar.«

Stumm legte Williams die Arme um die Schultern des Freundes und wandte sich dem Diener zu: »Erzählen Sie uns alles ganz genau, was Sie über Fräulein Rantens Verschwinden wissen.«

»Es ist nicht viel, was ich berichten kann«, sagte Gustafsson. »Aber es ist so traurig. Ach, das arme, arme Fräulein Ranten! Sie war immer so froh und so freundlich zu uns Angestellten. Nun ist sie für alle Zeit fort!«

»Nehmen Sie sich zusammen, Gustafsson«, sagte Williams streng. »Für Klagelieder ist jetzt keine Zeit. Wie entdeckten Sie es?«

»Als ich heute morgen ins Eßzimmer des Personals kam, um Kaffee zu trinken, saß das eine Hausmädchen da und tuschelte verlegen mit ihrer Schwester. Dann sagte sie zu mir: ›Können Sie sich denken, Gustafsson, das gnädige Fräulein ist die ganze Nacht über nicht zu Hause gewesen. Als ich heute früh, wie immer, mit dem Frühstückstablett zu ihr ging, war das Zimmer leer und das Bett unberührt. Das ist doch merkwürdig. Sie, die sonst nie später als elf Uhr nach Hause kommt.‹

›Vielleicht ist sie verreist‹, antwortete ich. ›Frau Ranten wird uns sicher so etwas noch mitteilen. Vielleicht hat sie es gestern abend vergessen.‹

›Die gnädige Frau weiß von nichts. Sie ist ebenso überrascht wie ich‹, sagte das Hausmädchen. ›Und im übrigen hat Fräulein Ranten keinen Handkoffer mitgenommen.‹ In diesem Augenblick kam einer von der Besatzung der ›Sea Song‹ ins Eßzimmer, mit einem Hut mit Schleier in der Hand. Der war so naß, daß das Wasser auf den Boden rann.

›Fräulein Annies Hut!‹ rief das Hausmädchen erschrocken.

Svensson berichtete, daß er den Hut im Wasser treibend gefunden habe, als er mit der Jolle ans Land ruderte. Er habe ihn herausgefischt, da es ja ein feiner Hut sei und so gut wie neu.

Das Hausmädchen eilte mit dem Funde gleich zu Frau Ranten, und ich nahm mir ein Auto und fuhr hierher, denn ich dachte mir, es ist am besten, den Herrn Advokaten so schnell wie möglich zu unterrichten.«

»Das war sehr verständig von Ihnen, Gustafsson«, sagte Williams und klopfte dem alten Manne auf die Schulter. »Weiß jemand, daß Sie zu mir gefahren sind?«

»Keine Menschenseele! Ich machte mich heimlich davon.«

»Sagen Sie, Gustafsson, der Chauffeur Smith, war der auch im Eßzimmer, als Svensson mit seinem Funde ankam?« fragte Williams.

»Nein, den habe ich den ganzen Morgen nicht gesehen«, antwortete Gustafsson. »Er pflegt nicht so früh aufzustehen, wenn nicht gerade etwas Besonderes vorliegt. Er scheint am liebsten nachts in der Garage zu arbeiten. Wenigstens macht er abends die Wagen rein, die am Tage gebraucht werden.«

»Gut so, Gustafsson«, sagte Williams. »Fahren Sie jetzt zurück in die Villa. Aber sagen Sie niemand ein Sterbenswörtchen davon, daß Sie bei mir gewesen sind. Mein Freund und ich kommen in einer Stunde nach. Wir werden so tun, als ob wir von Fräulein Rantens Verschwinden nichts wüßten, Sie verstehen, Gustafsson.« Der alte Diener erhob sich mühsam, verbeugte sich und ging.

Williams und Ringe waren allein. Bange Augenblicke schlichen langsam dahin. Keiner der beiden Freunde sprach ein Wort.

Endlich unterbrach Williams das Schweigen.

»Fräulein Ranten ist verschwunden. Man hat ihren Hut draußen in der Bucht gefunden. Das könnte aussehen, als ob sie sich das Leben genommen hat. Aber ich glaube nicht an Selbstmord. Eine innere Stimme sagt mir, daß Fräulein Ranten noch am Leben ist.«

»Wenn es nur so wäre«, meinte Ringe leise. »Aber sagte Annie mir nicht selber, das Leben sei nicht wert, gelebt zu werden? Wenn ein Mensch so am Ende seiner Kräfte steht wie Annie, ist er nicht immer Herr seiner Entschlüsse. In einem Anfall von Verzweiflung wird sie sich von der Brücke ins Wasser gestürzt haben.«

Williams widersprach. »Ich glaube nicht an Selbstmord. Du weißt, ich irre mich nicht oft. In diesem Falle hier sage ich wie der ungläubige Thomas: ›Bevor ich Annie Ranten nicht kalt und steif vor mir liegen sehe, glaube ich es nicht.‹ Aber ich denke, es ist das beste, sich in das Rantensche Haus zu begeben und Fräulein Rantens Verschwinden etwas näher zu untersuchen.«

Williams sah auf seine Armbanduhr.

»Jetzt muß Gustafsson schon eine ganze Weile dort sein«, fuhr er fort. »Ein ungewöhnlich verständiger Kerl, dieser Diener, trotzdem er ein wenig erregt war über die traurige Neuigkeit, die er uns mitgeteilt hat. Aber er lebt natürlich in dem Wahn, daß das arme Fräulein sich das Leben genommen hat. Ich dagegen nicht. Mach nun ein freundliches Gesicht, mein Alter. Denke an deinen Wahlspruch, den du anzuwenden pflegst, wenn es am dunkelsten aussieht. Erinnerst du dich noch, als wir in der Grunewaldvilla mit gebundenen Händen und Füßen auf unseren Stühlen saßen und auf das Telephonsignal warteten, das uns in die Ewigkeit befördern sollte? Da hatten wir Ursache, verzweifelt zu sein. ›Solange Leben ist, ist Hoffnung‹, sagtest du damals, und gleich darauf tauchte Detektiv Schulze hinter einem Ölgemälde auf.«

»Ja, aber hier ist kein Leben mehr, und das ist ein großer Unterschied«, sagte Ringe traurig. »Wenn ich das nur gestern geahnt hätte, würde ich Annie nicht von meiner Seite gelassen haben.«

»Also jetzt fahren wir auf jeden Fall los«, sagte Williams. »Du wirst sehen, es dauert nicht allzulange, bis du deine Herzliebste wiederhast.«

Ein paar Minuten später stiegen die beiden Freunde in Williams' Lasalle.

»Setze dich ans Steuer, Ringe«, sagte Williams. »Autofahren beruhigt die Nerven, wie du weißt. Nimm den Weg über die Tiergartenbrücke, so dauert es ein paar Minuten länger. Das sieht dann nicht so verdächtig aus. Wir dürfen das werte Paar nicht beunruhigen.«

Ringe setzte den schweren Wagen in Bewegung. Williams lehnte sich zufrieden in seine Ecke zurück und zündete sich eine Zigarette an.

Wer würde recht behalten? Er oder Ringe?


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