Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

23

Die Nacht eignete sich besonders gut für Ringes Unternehmen. Dunkle, regenschwere Wolken waren am Himmel aufgezogen, der schwarz über dem bergigen, südlichen Stadtteil Stockholms hing. Als Ringe zur Brücke am Allmännagränd kam, blieb er einen Augenblick stehen und schaute, in Gedanken versunken, auf die Hafeneinfahrt.

Sollte es wirklich möglich sein, daß sich Annie Ranten an Bord eines der abgewrackten Schiffe in der Valdemarsbucht, also noch am Leben war? Williams war ja überzeugt davon. Aber konnte er sich nicht doch irren? Die Zeilen, die Annie Ranten geschrieben hatte, ehe sie verschwand, waren auf jeden Fall echt. Das hatte der Schriftsachverständige festgestellt. »Ich weiß alles, lebe wohl für immer.« War das nicht ein endgültiger Abschied vom Leben? Und ihr Hut, den man in der Nähe der »Sea Song« gefunden hatte? Und der Schrei und der Plumps ins Wasser, den ein Matrose in der Nacht, als Annie verschwand, gehört hatte? Wies das alles nicht auf den Freitod hin?

Arme, kleine Annie!

Ringe unterdrückte ein Schluchzen. Das arme Mädchen hatte ihre Sorgen nicht mehr tragen können. Zuerst der Tod ihres Vaters und dann die Entdeckung der geheimnisvollen Beziehungen zwischen ihrer Stiefmutter und dem Chauffeur. Alles zusammen hatte die Bürde für das empfindliche Mädchen zu schwer gemacht. Sie hatte einfach nicht mehr gekonnt, und so war sie aus dem Leben gegangen, einem Leben, das Ringe mit ihr zu teilen gedacht hatte.

»Williams mußte sich geirrt haben. Und doch, bei Gott, ich wünschte, er hätte recht!« murmelte er, als er den Kahn losmachte. Vorsichtig stieg er in das wacklige Fahrzeug und setzte sich auf die Mittelbank. Mit einem Ruder stieß er das Boot von der Brücke ab, worauf er mit hastigen Schlägen auf Beckholmen zuruderte. Ein leichter Regen rieselte nieder. Ringe schlug den Mantelkragen hoch und zog die Mütze herunter, um das Gesicht zu verbergen. Nach ungefähr zwanzig Minuten erreichte er die Valdemarsbucht. Nun galt es, vorsichtig zu sein. Lautlos tauchte er die Ruder in das schwarze Wasser und ließ das Boot nach jedem Ruderschlag gleiten.

In der Ferne gab ein Dampfer Signal. Das war der einzige Laut, der die tiefe Stille störte. Ringe steuerte das Boot in die Rinne zwischen den beiden äußersten Fahrzeugen und befestigte die Fangleine. Dann saß er eine Weile still und lauschte, aber nichts Verdächtiges war zu hören. Geschmeidig kletterte er die Falltreppe hinauf und schwang sich an Bord. Er hockte hinter der Ankerwinde und spähte durch das Dunkel. Dann schlich er vorsichtig weiter und kletterte auf das nächste Schiff hinüber. Seine Augen hatten sich nun an das Dunkel gewöhnt, und er konnte die Gegenstände auf Deck schwach unterscheiden. Alles war ruhig. Er konnte also vorrücken, ohne befürchten zu müssen, überrascht zu werden.

 

Die anderen vier Schiffe lagen kaum einen halben Meter voneinander entfernt, weshalb es für Ringe keine besondere Kunst war, von einem auf das andere zu gelangen. Jetzt befand er sich an Bord der »Svecco«, des Schiffes, das der »Gamba«, auf der nach Williams Ansicht Annie Ranten gefangen gehalten wurde, am nächsten lag. Er vergewisserte sich, daß der Bund mit den Dietrichen in der einen und die Taschenlampe in der anderen Manteltasche lag.

Der Revolver!

Ringe stieß einen halblauten Fluch aus. Den hatte er natürlich in der Eile vergessen.

»Schlimmstenfalls muß ich mich mit meinen Fäusten verteidigen«, murmelte er und kroch vorsichtig auf die andere Seite des Decks. Nur ein kurzer Sprung trennte ihn noch von der »Gamba«. Jetzt galt es, kein Geräusch zu verursachen.

Ringe spähte über die Reling zu dem anderen Boot hinüber. Er ging noch ein paar Meter vorwärts bis an eine Stelle, wo es leichter schien, hinüberzukommen. Dann kletterte er auf die Reling.

Er wagte den Sprung. Fast wäre er mißglückt, denn der Abstand zwischen den beiden Booten war größer, als er berechnet hatte. Im letzten Augenblick konnte er eine Wand ergreifen und so das Gleichgewicht halten.

Ringe lag eine Weile unbeweglich und horchte intensiv. Kein Laut war zu hören. Es sah nicht so aus, als ob Leben an Bord wäre, ebenso wenig wie auf den anderen sechs Schiffen, die er passiert hatte. Ein scharfer Schmerz durchzuckte seine Brust. Er preßte die Lippen hart aufeinander.

»Nur nicht daran denken, daß Williams sich geirrt haben könnte!«

Wenn das der Fall wäre, so lag Annie Ranten, wie er selbst die ganze Zeit über geglaubt hatte, jetzt steif und kalt auf dem Grunde der Valdemarsbucht. Oder ihr Körper war von der Strömung bereits hinweggeführt worden. Und einmal würde er irgendwo auftauchen, bis zur Unkenntlichkeit aufgedunsen …

Ringe versuchte, die unbehagliche Stimmung abzuschütteln und sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren.

Er befand sich jetzt an Bord der »Gamba«. Hier sollte er nach Williams Ansicht seine geliebte Jugendfreundin finden.

Ringe schlich vorsichtig achterwärts. Bei jedem zweiten Schritt blieb er stehen und lauschte. Befand sich jemand an Bord, so hätte er wohl schon längst Alarm geschlagen. Aber überall herrschte tiefste Stille, und Ringe erreichte die Treppe zum Achtersalon, ohne daß das kleinste verdächtige Geräusch zu hören gewesen wäre. Er tastete vorsichtig an der Tür herum. Zu seiner größten Verwunderung war sie nicht geschlossen. Er stieg die Treppe hinunter, die unter seinem Gewicht leise knarrte. Unten angekommen, machte er einen Augenblick halt und leuchtete mit der Taschenlampe umher. Ringe tat die paar Schritte im Dunkeln und griff vorsichtig nach der Türklinke. Er drückte sie langsam nieder und fühlte, daß die Tür sich öffnen ließ. Zoll für Zoll ließ er sie zurückgleiten. Schwere, keuchende Atemzüge durchschnitten die Finsternis. Hier befand sich also ein menschliches Wesen.

»Annie«, flüsterte Ringe.

Er lauschte, aber es kam keine Antwort.

»Annie«, flüsterte er noch einmal, aber etwas lauter.

Die keuchenden Atemzüge waren immer noch zu hören.

Ringe ließ seine Taschenlampe aufleuchten. In ihrem Schein sah er ein weibliches Wesen auf einer Matratze auf dem Fußboden liegen. Es war Annie Ranten. Ihre großen, dunklen Augen waren dem Licht zugewendet. Ringe verstand sofort, weshalb er keine Antwort erhalten hatte: zwischen ihren Lippen steckte ein Knebel, und Arme und Beine waren mit Stricken umwunden.

»Annie, geliebte Annie!« rief er und stürzte auf das hilflose Geschöpf zu. »Du lebst, du bist also nicht ertrunken. Sofort bist du frei!«

Mit nervösen Händen begann er, die Knoten des Knebels zu lösen. Annies Augen starrten ihn schreckerfüllt an.

»Fürchte dich nicht, mein Liebling«, flüsterte er. »Ich bin ja bei dir. Erkennst du mich nicht? Ich bin doch Gustaf, Gustaf Ringe. So, nun bist du das furchtbare Ding los«, sagte er und warf den Knebel zur Seite.

»Gustaf, paß auf!« schrie Annie verzweifelt, so schnell sie konnte.

Doch die Warnung kam zu spät.

Ringe fühlte einen furchtbaren Schlag auf den Hinterkopf. Er biß die Zähne zusammen und versuchte, sich zu erheben. Aber tiefe Finsternis breitete sich vor seinen Augen aus. Die Taschenlampe fiel auf den Boden. Er griff mit den Armen in die Luft und sank dann zusammen. Er hatte das Bewußtsein verloren.

*

Langsam kam Ringe wieder zu sich. Sein Kopf schmerzte unerträglich. Seine Sinne waren so umnebelt, daß es einige Minuten dauerte, ehe es ihm klar wurde, wo er sich befand und was geschehen war. Jetzt erinnerte er sich. Er hatte Annie gefunden und sie eben von ihren Fesseln befreit, als er den harten Schlag auf den Hinterkopf erhielt.

Wer mochte ihn überfallen haben? Ringe schloß die Augen und versuchte, nachzudenken. Konnte es jemand anders als Smith gewesen sein? Vielleicht waren mehrere an dem Überfall beteiligt?

»Was mag wohl mit Annie geschehen sein?« war sein nächster Gedanke. »Ist sie noch hier, oder haben diejenigen, die mich überfielen, sie fortgeschafft?«

»A…A.«

Ringe versuchte, Annies Namen zu rufen. Aber kein Laut drang über seine Lippen. Erst da kam es ihm zum Bewußtsein, daß er hilflos dalag, an Händen und Füßen gebunden und mit einem Knebel im Munde. Welch ein Tor war er gewesen, sich so leicht überfallen zu lassen! Wenn er nicht so voreilig gewesen wäre, sondern sich ein wenig umgesehen hätte, ehe er auf Annie zustürzte, würde an seiner Stelle der Chauffeur Smith hier liegen, und Annie wäre in Sicherheit. Sigurd würde schön mit ihm schelten, wenn er ihn wiedertraf.

Aber war es denn so sicher, daß er ihn wiedersehen würde, den langjährigen Teilhaber und treuen Kameraden? Sein Besieger würde kurzen Prozeß machen, denn sonst war ja das Spiel für ihn verloren. Wie einfach würde es sein, ihn mit einigen Zentnern Eisen beschwert zwischen den Schiffen im Wasser verschwinden zu lassen. Ein solches Opfer würde die See niemals herausgeben.

»Wo Leben ist, ist Hoffnung«, dachte Ringe. Das war sein Wahlspruch, und er hatte ihm in vielen schweren Lagen geholfen. Man soll nicht die Hoffnung aufgeben, bevor man den Geist aufgibt, und auch dann noch nicht, pflegte er scherzhaft zu sagen, wenn es am trostlosesten aussah.

Ringe lag und starrte ins Dunkel.

Was war das?

 

Hörte er nicht wieder diese keuchenden Atemzüge, die er vernommen hatte, bevor er Annie Ranten entdeckte? Sie mußte also noch hier sein, das war ein schwacher Trost.

Von draußen kam ein Geräusch.

Ringe lauschte angestrengt. Anscheinend knarrte eine Treppe. Schleichende Schritte näherten sich. Ein Schlüssel wurde ins Schloß gesteckt und umgedreht. Die Tür sprang auf. Ein Lichtkegel fiel in den Salon, und Ringe schloß die Augen, er lag ganz unbeweglich, als ob er noch besinnungslos wäre. Er blinzelte vorsichtig durch die fast geschlossenen Augenlider. Dann hörte er das Kratzen eines Streichholzes und sah gleich darauf eine Flamme. An der Wand vor Ringe zeichnete sich der Schatten eines Mannes ab. Der Lichtschein wurde größer, anscheinend wurde eine Kerze angezündet. Mit dem Leuchter in der Hand trat der Mann zu Ringe, der die Augen wieder schloß und den Atem anhielt, beugte sich über ihn und hielt die Kerze dicht vor sein Gesicht. Auf der einen Wange fühlte er ein Brennen. Es war ein Tropfen Wachs, der auf ihn niedergefallen war.

»Gut. Erledigt«, hörte Ringe ihn murmeln.

Dann wurde es wieder finster. Der Mann hatte sich anscheinend von ihm zurückgezogen. Ringe hörte, wie er den Leuchter abstellte, und wagte nun, die Augen ein wenig zu öffnen. Kaum drei Meter von ihm entfernt lag Annie, immer noch gebunden und wieder mit einem Knebel versehen. Der Mann ging zu ihr, und nun sah Ringe, daß es der Chauffeur Smith war. Er beugte sich über das junge Mädchen und beschäftigte sich mit ihr.

»So, Fräulein Ranten«, sagte er und richtete sich auf. »Jetzt können wir weitersprechen. Ich finde, es ist schade, daß Sie hier so gebunden liegen, wenn Sie es gar nicht nötig haben. Können Sie nicht auf meinen Vorschlag eingehen?«

»Niemals, Sie Schuft!« hörte Ringe Fräulein Ranten antworten.

»Aber denken Sie daran, was ich Ihnen biete, liebes Fräulein Ranten«, fuhr Smith fort. »Sie brauchen nur ja zu sagen, und Sie sind im Augenblick frei. Ich habe ein Rennboot in der Bucht liegen und werde Sie an einen sicheren Platz bringen, wo Sie sich aufhalten können, bis ich meine Beziehungen zu Frau Ranten gelöst habe. Begreifen Sie nicht, daß es nur Sie sind, die ich liebe, nur Sie, Fräulein Annie?! Sie sind die Frau, nach der mein Herz sich sehnt. Was bedeutet mir Sylvia, Ihre Stiefmutter? Verstehen Sie denn nicht, daß ich Sie haben will, Sie und keine andere!«

»Ich soll mich freikaufen, indem ich mich Ihnen, dem Mörder meines Vaters, verkaufe? Niemals! Dann nehmen Sie lieber mein Leben. Das ist nicht mehr viel wert.«

»Ich tötete Ihren Vater nicht, Fräulein Ranten. Das schwöre ich Ihnen. Es war …«

Ehe Smith zu Ende sprechen konnte, flog die Tür mit lautem Krach auf.

Ringe hörte das höhnische Lachen einer grellen Frauenstimme. An der Wand zeichnete sich ein Schatten ab. Es war der Schatten eines Mannes.

Neben Smith tauchte eine Gestalt auf. Ringe schloß für einen Augenblick die Augen, öffnete sie aber gleich darauf wieder. Sah er doppelt? Oder was war das? Die eben angekommene Person hatte die gleiche Chauffeurskleidung an wie Smith.

»Aha, finde ich dich wieder einmal hier, Charlie?« Es war eine Frauenstimme, die sprach.

»Du glaubst wohl, du könntest mich an der Nase herumführen und dich mit ihr davonmachen«, fuhr die Stimme fort. »Ich hörte deinen schönen Vorschlag und die Liebesworte, die du ihr zuflüstertest. Aber denke daran, Charlie, du und ich, wir sitzen im selben Boot. Soll ich untergehen, so folgst du mir. Hast du vielleicht die Frau am Torsplatz vergessen, deine geliebte Ehefrau, die du mit dem Hammer für immer zum Schweigen gebracht hast? Das hast du wirklich schlau angefangen, Charlie. Du hast die Polizei gut irregeführt. Aber, Charlie, wenn du glaubst, du kannst Sylvia Farina so leicht betrügen wie die Detektive, dann hast du dich geirrt, mein Junge! Wo hast du den Lumpen überhaupt?«

»Er liegt dort, Sylvia«, antwortete Smith unterwürfig. »Er scheint immer noch besinnungslos zu sein. Ich fürchte, ich schlug ein wenig zu hart zu.«

Ringe hörte eilige Schritte sich dem Platz nähern, wo er lag, und schloß schnell die Augen. Er fühlte einen kräftigen Fußtritt in die rechte Seite und biß die Zähne fest in den Knebel. Ein Glück, daß er den im Munde hatte, sonst hätte er wohl einen Schmerzensschrei ausgestoßen.

»Das junge Paar wird zusammen auf die Reise gehen«, sagt Frau Ranten und lachte zynisch.‹ »Das stolze Fräulein Ranten soll auf die Reise ins unbekannte Jenseits einen stattlichen Kavalier mitbekommen.«

Damit verschwand sie durch die Tür. Ringe hörte, wie die Treppe knarrte, als sie an Deck ging.

Smith versah Annie Ranten wieder mit dem Knebel. Dann löschte er das Licht und verschwand ebenfalls. Er verschloß die Türe von außen.

Die beiden Gefangenen waren allein.


 << zurück weiter >>