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20

Ringe ließ den Wagen in einer Seitenstraße in der Nähe des Torsplatzes stehen und begab sich in das Haus, in dem Gunhild Maria Save im dritten Stockwerk ihre kleine Wohnung gehabt hatte. Das Namensschild befand sich noch an der Tür, die von der Kriminalpolizei versiegelt worden war.

Ringe klingelte bei dem Nachbarn.

Nach einer Weile wurde die Tür von einer etwas ältlichen Frau mit ungemachtem Haar und in unordentlicher Kleidung geöffnet.

»Kommt nun schon wieder die Polizei«, sagte sie und glotzte Ringe wütend an. »Hört denn die Rennerei überhaupt nicht mehr auf? Ich habe alles gesagt, was ich weiß.«

Die Frau wollte die Tür wieder zuschlagen, aber mit einem kräftigen Griff hielt Ringe sie zurück.

»Ich verstehe vollkommen, daß die Rennerei der Polizei hier im Hause Ihnen lästig ist«, sagte er und lächelte die Frau freundlich an. »Aber die Sache ist nun die« – Ringe senkte die Stimme und trat etwas näher an die Frau heran – »wir haben jetzt eine Spur gefunden, die vielleicht zu etwas führen kann. Wir suchen einen Mann von ungefähr Ihrer Größe, schlank und geschmeidig, schmales Gesicht mit ziemlich kräftigem Kinn, dunklen Augen, schwarzem Haar. Es ist möglich, daß er in Chauffeurskleidung war, aber ganz sicher ist das natürlich nicht.«

Ringe sah sich verstohlen im Treppenflur um, als wolle er feststellen, daß kein Lauscher in der Nähe sei. Dann fuhr er mit leiser Stimme fort:

»Es ist eine Belohnung von hundert Kronen ausgesetzt worden für denjenigen, der uns Auskünfte geben kann, die es ermöglichen, den Mann zu finden. Sie haben ihn wohl nicht gelegentlich hier im Hause gesehen?«

»Ja, Sie haben eine andere Art zu fragen als Ihre Kollegen«, sagte die Frau und öffnete die Tür ganz. »Kommen Sie doch einen Augenblick auf den Korridor. Drinnen ist leider nicht aufgeräumt, so daß ich so feine Gäste wie den Herrn Kriminalbeamten im Zimmer nicht empfangen kann.«

Ringe trat in den dunklen Vorraum, in dem der Dunst von gebratenen Fischkoteletts stand. Die Düfte strömten ihm richtig von den Wänden und der Decke entgegen.

»Vielleicht kann ich Ihnen gar nicht viel sagen«, meinte die Frau zögernd. »Aber Sie haben nach einer gewissen Person gefragt und diese so genau beschrieben, daß man sich kaum irren kann. Ihre Kollegen dagegen, die sind nur gekommen und haben gefragt, ob man nicht etwas gesehen oder etwas gehört hat, das man in Verbindung mit ihr nebenan bringen könnte. Natürlich habe ich gehört, daß sie hie und da nach Mitternacht Besuch hatte, aber da ich niemals habe jemanden aus ihrer Wohnung kommen sehen, kann ich auch natürlich nicht sagen, wie ihre Bekannten aussahen. Ich kann ja schließlich nicht jeden Menschen, dem ich auf der Treppe begegnete, verdächtigen, daß er zu ihr wollte. Und dann achtet man ja auch in einer Mietskaserne wie hier, wo Hunderte von Menschen wohnen, nicht so genau auf den einzelnen.«

»Nein, Sie haben ganz recht.« Ringe nickte zustimmend. »Es ist ja ganz unmöglich, jeden Menschen zu beschreiben, den man auf der Treppe trifft. Das würde nicht einmal der geschickteste Detektiv der Welt fertigbringen. Nein, man muß natürlich ungefähr wissen, wie die Person aussieht, wenn man sich erinnern soll, ob man eine solche getroffen hat oder nicht. Ist es nicht so, Frau … ja, wie war Ihr Name doch gleich?«

»Frau Karlsson, Ona Kristina Karlsson.«

»Ja, ja, natürlich, gewiß. Entschuldigen Sie meine Unaufmerksamkeit«, sagte Ringe und verbeugte sich. »Haben Sie nun einen solchen Mann gesehen, wie ich ihn beschrieben habe, meine liebe Frau Karlsson?«

»Ende vorigen Monats, es war ein paar Tage vor dem Mord, ich war abends im Vanadiskino gewesen, zur letzten Vorstellung. Es war wohl kurz vor halb zwölf, als ich nach Hause kam. Ich hatte gerade die Tür aufgeschlossen und die Treppenbeleuchtung eingeschaltet, als mir ein Mann entgegenkam. Ich wunderte mich, was das für ein Kauz war, der da im Dunkeln die Treppen runterging, und sah ihn mir deshalb etwas genauer an. Er ging mit schnellen Schritten an mir vorbei zur Haustür hinaus. Da Sie Detektiv sind, mein Herr, finden Sie es vielleicht merkwürdig, daß ich das nicht früher erzählt habe. Aber, mein Gott, in diesem Hause läuft so viel komisches Volk umher. Wenn ich alles erzählen wollte, was ich in den letzten Jahren hier gesehen und gehört habe, würde ich eine ganze Woche dazu brauchen.«

»Sie glauben also, daß der Mann, den Sie trafen, Ähnlichkeit hatte mit dem, den ich Ihnen beschrieben habe?«

»Ich glaube, Sie haben ihn selbst gesehen, so gut haben Sie ihn beschrieben«, antwortete die Frau. »Genau so sah er aus. Ich fand, er sah flott aus, und dachte deshalb, daß er bei einem der Mädels hier oben gewesen sei. Die haben ja eine Masse feine Bekannte, Grafen und Barone, habe ich erzählen hören.«

 

»Sehr interessant, was Sie mir da mitteilen«, sagte Ringe. »Nach allem zu urteilen, ist der Mann, den wir suchen, hier im Hause gewesen. Ob er bei Frau Save gewesen ist, ist eine andere Sache. Fassen wir ihn, haben Sie Ihren Hunderter so gut wie sicher, Frau Karlsson. Ich werde Ihre Adresse nicht vergessen. Aber sprechen Sie vorläufig mit keinem Menschen hierüber. Das würde nur alles verderben.«

Ringe verabschiedete sich und ging ins nächste Stockwerk. Er klingelte hier und dort. Entweder war niemand zu Hause, oder falls jemand öffnete und Ringe versuchte, etwas zu erfahren, war das Ergebnis negativ. Nicht einer von den Mietern, die er antraf, hatte den Mann gesehen, den Ringe beschrieb.

Frau Saves rechte Nachbarin war anscheinend nicht zu Hause. Ringe drückte mehrmals auf den Klingelknopf, aber es kam niemand und öffnete.

»Greta Smedby, Manikure«, stand auf der Visitenkarte. Ringe hätte gern mit der jungen Dame gesprochen. Die Polizei hatte sie natürlich schon endlos ausgefragt. Aber das hatte sie ja auch mit Frau Karlsson getan, und trotzdem hatte er so wichtige Neuigkeiten erfahren.

Er ging langsam die drei Treppen abwärts, blieb einen Augenblick stehen und zündete sich eine Zigarette an, als die Haustür geöffnet wurde und eine junge Dame hereinkam. Sie war ziemlich auffallend gekleidet, und Puder und Schminke schienen zu ihrem täglichen Bedarf zu gehören. Mit einem lockenden Augenaufschlag ging sie an Ringe vorbei.

»Fräulein Smedby?« Ringe zog den Hut und verneigte sich vor der jungen Dame, die bei dem Anruf stehen geblieben war und sich umwandte.

»Ja, das bin ich. Sind Sie oben gewesen bei mir und haben Sie mich wegen einer Behandlung gesucht? Aber ich nehme Kunden nur zwischen zehn und sechs Uhr an. Man hat doch schließlich auch ein Privatleben, auch wenn man nur Manikure ist.«

»Ich bitte um Verzeihung, daß ich Ihre Zeit in Anspruch nehme, Fräulein Smedby«, sagte Ringe und lächelte. »Aber ich bin wirklich nicht gekommen, um mich von Ihnen behandeln zu lassen. Ich möchte mich mit Ihnen nur über Ihre frühere Nachbarin, Frau Save, unterhalten.«

»Ach so, Sie sind Detektiv«, sagte Fräulein Smedby gedehnt.

»Nein, mein Fräulein, Detektiv bin ich nicht«, erwiderte Ringe, »aber ich möchte auf jeden Fall gern ein wenig mit Ihnen plaudern. Ich habe draußen im Auto eine Flasche Champagner. Wir können uns vielleicht besser unterhalten, wenn wir etwas Trinkbares haben. Zigaretten, glaube ich, habe ich auch bei mir.«

»Dann sind Sie wohl Privatdetektiv«, sagte Fräulein Smedby bedeutend nachgiebiger. »Das ist natürlich etwas anderes. Diese Laffen, die einen hier dauernd mit ihren Fragen belästigen, stören mich nur. Ich habe alles gesagt, was ich von der Frau weiß, die neben mir wohnte. An dem Mordtage habe ich nichts gehört. Welches Mädel sitzt in der Walpurgisnacht zu Hause und bläst Trübsal? Das habe ich denen schon beim ersten Male gesagt, als sie hier waren. Trotzdem sind noch mindestens zehn Stück hier gewesen, die aber nicht das geringste mehr erfahren haben.«

»Soll ich meinen Champagner holen?« fragte Ringe.

»Ein Schluck Sekt so um die Abendzeit herum kann ja nichts schaden«, antwortete Fräulein Smedby lachend. »Aber beeilen Sie sich. Ich warte hier so lange und halte die Haustür offen. Es ist nämlich schon neun durch.«

Nach ein paar Augenblicken kam Ringe zurück und folgte dem Fräulein in die Wohnung.

Man holte Gläser und füllte sie mit dem perlenden Getränk.

»Ah, das schmeckt wirklich gut«, sagte Fräulein Smedby. »Das passiert nicht alle Tage, daß eine arme Manikure zu so einem feinen Getränk eingeladen wird. Aber wie war das mit den Zigaretten, wenn ich so frei sein darf und fragen?«

»Verzeihen Sie meine Unaufmerksamkeit!« Ringe zog sein Etui hervor und reichte es der jungen Dame. »Bitte, bedienen Sie sich.«

Fräulein Smedby nahm eine Zigarette, und Ringe gab ihr Feuer. Dann schlug sie ein Bein über das andere und lehnte sich kokett in die Kissen der Diwanecke zurück.

»Na, was wollte der kleine Privatdetektiv nun schon wissen?«

»Haben Sie hier im Hause mal einen flotten Kerl gesehen, der ungefähr so aussah?« Und dann beschrieb Ringe wohl zum zwanzigsten Male den Chauffeur Smith so genau wie möglich.

Fräulein Smedby überlegte eine ganze Weile, das Gesicht zur Decke gewandt.

»Nein, ich glaube, so einen Mann habe ich hier im Hause nie gesehen. Aber das Aussehen kommt mir doch etwas bekannt vor«, setzte sie nachdenklich hinzu. »Wo könnte ich ihm begegnet sein?«

»Nachdem Sie ihn nicht gesehen haben, weiß ich nicht recht, was ich da sagen soll«, antwortete Ringe. »Ich würde ja gern nähere Erklärungen geben, denn es könnte ja sein, daß Sie, gerade weil Sie doch oft unterwegs sind, ihm irgendwo anders begegnet sind, aber …«

»Ja, darüber denke ich gerade nach«, sagte Fräulein Smedby. »Sicher habe ich so einen Harlekin getroffen, wie Sie ihn eben beschrieben haben. Das müßte in irgendeinem Nachtklub gewesen sein. Ich glaube, es war im Embassy im vorigen Monat. Ich bin seitdem nicht wieder da gewesen. Es ist ja möglich, daß er dort noch verkehrt. Aber man bekommt Durst von dem vielen Reden.«

Fräulein Smedby reichte ihr Glas, und Ringe füllte es bis zum Rande. Um sein eigenes Glas bekümmerte er sich nicht.

»Ich denke gerade über eine Sache nach, der ich vorher keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt habe«, fuhr Fräulein Smedby fort. »Der Mann, mit dem ich im Embassy tanzte, hat sich mir nicht einmal vorgestellt, und als ich ihn während des Tanzens fragte, wie er eigentlich heiße, antwortete er lachend: ›Nenne mich Charlie, kleine Maus, so sagen alle schönen Mädchen.‹ Ein solcher Stiesel, was, eine anständige junge Dame so zu behandeln, als ob man ein Straßenmädel wäre. Aber dem hab ich's gegeben, das können Sie glauben. Mit dem habe ich den ganzen Abend nicht wieder getanzt. Greta Smedby läßt sich nicht von dem ersten besten Flegel in einem Nachtklub beleidigen, auch wenn er noch soviel Geld hat.«

»Charlie hieß er, sagten Sie? Das ist interessant.« Ringe streifte die Asche von der Zigarette.

»Ja, und das Ulkigste ist, daß ich ein paar Tage später wieder den Namen hörte. Ich saß hier, wo ich jetzt sitze, und trank mit einem Herrn Sekt. Genau so wie jetzt«, sagte Fräulein Smedby.

»Und da –?«

»Da hörte ich nebenan diesen Namen nennen.« Sie wies mit dem Daumen auf die Wand. »Sie pflegte hier und da Herrenbesuch zu haben. Und das Haus ist ziemlich hellhörig. Man darf nicht allzulaut sprechen.«

»Aha, Ihr Charlie kannte also Frau Save?« fragte Ringe und versuchte so uninteressiert wie möglich auszusehen. Aber innerlich zersprang er fast vor Freude. Die Sache war klar. Charlie Smith hatte Frau Save gekannt.

»Darf ich mir erlauben, noch etwas Sekt nachzufüllen?« Ringe wartete die Antwort nicht erst ab, sondern goß Fräulein Smedbys Glas wieder voll. »Na, worüber wurde denn nebenan gesprochen?«

»Das weiß ich nicht, denn ich habe nicht viel gehört«, antwortete Fräulein Smedby. »Aber die Herrschaften schienen uneinig geworden zu sein. Es geschah übrigens öfter, daß man nebenan Zank hörte. Sie hatte verschiedene Herrenbekanntschaften. Aber auf jeden Fall, den Abend, als Charlie bei ihr war, saß ich hier mit dem Grafen … hm« – Fräulein Smedby hüstelte leicht – »keine Namen nach elf Uhr« – und trank von ihrem Sekt, »und da hörte ich sie schreien: ›Charlie, du weißt, daß ich die Papiere habe, vergiß nicht, daß du verheiratet bist!‹ Eine Minute später hörten der Graf und ich, wie draußen eine Tür zugeschlagen wurde, und dann Schritte auf der Treppe. Anscheinend war es Charlie, der sich verzog.«

»Wie spät war es denn, als Charlie ging?« fragte Ringe.

»Das kann ich Ihnen genau sagen, denn der Graf schaute gerade auf seine Armbanduhr. Es war zwanzig Minuten nach elf«, antwortete Fräulein Smedby. »Der Graf ging ein paar Minuten später, denn er wollte noch vor Schluß im Anglais sein, wo eine Gesellschaft saß und auf ihn wartete. Auf den Tag kann ich mich allerdings nicht besinnen, aber es muß Ende vorigen Monats gewesen sein.«

»Haben Sie das der Polizei auch erzählt, Fräulein Smedby?«

»Nein, das habe ich nicht getan«, antwortete die junge Dame. »Das geschah ja ein paar Tage vor dem Mord, und wenn es sich um einen feinen Herrn handelt, der bei ihr war, so will ich ihn doch nicht in Unannehmlichkeiten verwickeln. Jetzt, da Sie kommen und nach Charlie fragen, ist das natürlich eine andere Sache. Denn nach Ihrer Beschreibung kann es sich um keinen andern als um diesen Affen vom Nachtklub handeln. Aber ob das derselbe Charlie war, der bei ihr nebenan war, das weiß ich natürlich nicht.«

»Lassen Sie mich Ihnen recht herzlich danken, Fräulein Smedby«, sagte Ringe und erhob sich. »Ihre Mitteilungen waren äußerst wertvoll, und Sie werden sicher noch etwas Gutes von dieser Champagnerstunde haben.«

»Wenn auch nichts anderes, so doch auf jeden Fall einen Kater morgen«, erwiderte die junge Dame und lachte. »Aber es freut mich, daß ich Ihnen behilflich sein konnte.«

Ringe verabschiedete sich und ging die Treppen hinunter.

Als er auf die Straße kam, blieb er einen Augenblick stehen und sog mit tiefen Zügen die milde Abendluft in die Lungen.

»Charlie Smith und Gunhild Maria Save Mann und Frau?« kombinierte er halblaut. »Dann ist das Motiv ja klar. Williams hatte recht. Das war kein Lustmord. Ich werde ihn sofort anrufen.«

Ringe ging zum nächsten Fernsprechautomaten.

Ein langes Gespräch wurde auf Englisch geführt.


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