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Rantens Wohnsitz ähnelte einem Schloß und konnte sich gut mit dem ehemaligen fürstlichen Palais auf der anderen Seite des Weges messen. Mit großen Schwierigkeiten – niemand wußte das besser als Williams – war es Ranten gelungen, das Grundstück an der Waldemarsbucht zu erwerben. Die alten, ziemlich baufälligen Holzhäuser, die hier gestanden hatten, hatte er niederreißen lassen. An ihrer Stelle war nach dem Entwurf eines bekannten Architekten ein Bau entstanden, der von den Spaziergängern im Tiergarten allgemein bewundert wurde. Die weißen, glatten Flächen ohne jedwede Verzierung und das flache Dach – mit einer Balustrade versehen – gaben dem Ganzen einen einfachen, aber zugleich vornehmen Anstrich. Das Gebäude hätte ebensogut, ohne aus dem Rahmen zu fallen, an irgendeinem der italienischen Seen stehen können. Die Aussicht von der Villa war vielleicht nicht die allerbeste, besonders nicht, wenn man einen Blick auf die Bucht warf, wo ein beträchtlicher Teil der Handelsflotte den tiefen Schlaf der Nutzlosigkeit schlief. Diese ausrangierten Fahrzeuge, die meisten der großen Tule-Gesellschaft gehörig, waren Ranten immer ein Dorn im Auge gewesen, und er hatte mehrfach versucht, sie aus der Bucht wegzubekommen. In der letzten Zeit munkelte man, daß Ranten einen Teil der Fahrzeuge aufgekauft hätte. Aber Williams hatte keine Ahnung, ob an diesen Gerüchten etwas Wahres war. Eines der Fahrzeuge in der Bucht gehörte allerdings Ranten, nämlich die lange, schlanke, weiße Lustyacht mit dem gelben Schornstein und den weit zurückgebogenen Masten. In dem Augenblick, als Williams an der Villa klingelte, warf er einen Blick zur Bucht hinunter und sah, daß das Fahrzeug unter Dampf stand. Leichte Rauchwolken entwichen dem Schornstein.
»Ja, Ringe, so königlich sollte man eigentlich auch wohnen«, sagte Williams, während er und sein Freund darauf warteten, eingelassen zu werden. »Und doch geht der Mann hin und nimmt sich das Leben. Findest du nicht, daß die Menschen zuweilen wunderlich sind? An einem Tage ist man reich und unabhängig, hat eine entzückende Frau und eine vielleicht noch entzückendere Tochter, und anderntags liegt man kalt und steif auf dem Marmortisch des Leichenschauhauses. Daß Ranten einmal als Selbstmörder enden würde, hätte ich jedoch nie geglaubt. Ich hatte immer den Eindruck, als ob er vor Lebenslust übersprudelte. Aber der Schein kann trügen, wie du vielleicht weißt. Man vermag niemals bis in die Tiefe der menschlichen Seele und der Gedanken zu dringen, die hinter einer nach außen hin frohen und freien Stirn wohnen.«
»Ja, das Leben ist zuweilen merkwürdig«, antwortete Ringe nur.
Die Tür öffnete sich, und ein grauhaariger Diener in schwarzer Livree mit vergoldeten Knöpfen stand vor ihnen.
Williams stellte sich dem Bedienten vor. »Herr Ranten hat einen Unglücksfall gehabt, und ich muß sofort mit den Damen sprechen, wenn das möglich ist«, fügte er mit leiser Stimme hinzu.
»Frau Ranten und das junge Fräulein sind beide schon so nervös, weil Herr Ranten seit gestern abend mit dem Auto noch nicht zurückgekommen ist«, antwortete der Diener und sah fragend auf die beiden Herren. »Was ist denn geschehen?«
»Wann haben Sie Herrn Ranten zuletzt gesehen?« unterbrach ihn Williams, ohne auf die Frage des Dieners einzugehen.
»Ungefähr um halb elf gestern abend. Vielleicht auch etwas früher. Ich brachte ihm wie gewöhnlich Wisky und Soda in die Bibliothek, und da sagte er zu mir, er brauche mich nicht mehr. Ich ging dann auf mein Zimmer in der obersten Etage und legte mich schlafen.«
»Haben Sie noch ein Auto fortfahren hören, nachdem Sie auf Ihr Zimmer gegangen waren?« fragte Williams.
»Nein, ich schäme mich fast, es zu sagen, aber ich bin sofort eingeschlafen, was ich sonst nicht zu tun pflege. Das kam vielleicht daher, daß ich ein wenig müde war. Ich habe nämlich nachmittags das ganze Silber geputzt. Und das ist eine ziemlich mühselige Arbeit.«
»Wie heißen Sie?« fragte Williams.
»Gustafsson, Erik Gustafsson«, antwortete der Diener. »Darf ich Sie jetzt den Damen melden?«
»Wie lange sind Sie in Herrn Rantens Dienst gewesen?«
»Seitdem er in Schweden ist. Es werden jetzt zum Herbst drei Jahre.«
»Es kann sein, daß ich noch mehrere Fragen an Sie stellen muß, Gustafsson«, sagte Williams und klopfte dem Alten auf die Schulter. »Führen Sie uns jetzt zu den Damen.«
»Aber was ist eigentlich mit meinem Herrn geschehen?« fragte der Alte mit verzweiflungsvoller Stimme. »Er ist doch nicht etwa mit dem Auto verunglückt? Er fuhr gestern abend noch allein fort. Jedenfalls erzählte Smith das heute morgen.«
»Smith ist wohl der Chauffeur, nehme ich an?« fragte Williams.
Der Diener nickte nur und führte die Herren in die Halle.
»Es ist vielleicht am besten, wir sprechen mit den Damen in der Bibliothek«, sagte Williams und durchquerte, Ringe dicht hinter sich, ungebeten die Halle. »Sagen Sie den Damen, daß wir sie dort erwarten. Aber kein Wort davon, daß wir mit unangenehmen Nachrichten kommen. Haben Sie verstanden?«
»Jawohl, Sir, ich werde nichts sagen«, erwiderte der Diener und verschwand leise.
»Jetzt, mein lieber Ringe, müssen wir Mut fassen und die Damen so schonend wie möglich vorbereiten. Leider hatte ich bisher keine Gelegenheit, sie kennenzulernen. Aber du kennst ja auf jeden Fall Fräulein Ranten. Das ist wenigstens ein Trost.«
Eine Tür wurde geöffnet, und eine schlanke Gestalt trat ein. Es war ein Mädchen im Alter von etwa fünfundzwanzig Jahren. Sie hatte große, dunkle Augen mit langen, schwarzen Wimpern, was ihrem Blick eine gewisse Tiefe gab. Das dunkle Haar lag in weichen Wellen über einer hohen, weißen Stirn. Der Mund war klein und wohlgeformt, aber nicht geschminkt. Die Lippen hatten ihre natürliche Farbe, sie waren sogar etwas bleich.
Sie sah zuerst fragend Williams an und ließ dann ihren Blick auf Ringe ruhen, während ein leichtes Lächeln über ihre Züge glitt.
»Du hier, Gustaf?« fragte sie und eilte auf Ringe zu. »Das ist eine Überraschung.«
Sie drückte herzlich die ihr von Ringe entgegengestreckte Hand und wandte sich dann an Williams.
»Darf ich meinen Chef und Kompagnon, Herrn Advokaten Sigurd Williams, vorstellen«, sagte Ringe. »Ich habe ihm schon erzählt, daß wir uns kennen.«
»Ich hörte von Gustafsson, daß die Herren uns sprechen wollten«, sagte sie und sah unruhig bald auf Williams, bald auf Ringe. »Meine Stiefmutter kommt gleich. Sie ist auf ihrem Zimmer. Ist etwas mit meinem Vater geschehen, Gustaf? Er ist seit gestern abend fort. Er hat doch wohl keinen Autounfall gehabt? Antworte, Gustaf! Ich sehe dir an, daß irgend etwas geschehen ist.«
»Liebe, kleine Annie« – Ringe ging auf sie zu und nahm beide Hände des Mädchens in die seinen. »Du mußt versuchen, ruhig zu bleiben, auch wenn wir unangenehme Nachrichten bringen. Aber da kommt gewiß deine Stiefmutter.«
Vom Nebenzimmer her hörte man ein Geräusch, und gleich darauf trat eine Dame ein, die nicht viel älter wirkte als Fräulein Ranten. Auch sie war dunkel, aber mehr von südländischem Typ als Annie Ranten. Das kohlschwarze Haar lag schlicht zurückgekämmt und verbarg den größten Teil der Ohren, an denen ein paar erbsengroße Diamanten blitzten. Die Lippen waren stark geschminkt und bildeten einen scharfen Gegensatz zu der olivenblassen Haut des Gesichts. Ihre Figur war etwas voller als die Fräulein Rantens. Ein enganliegendes dunkelgrünes Seidenkleid ließ die Körperlinien besonders stark hervortreten.
Aber was Williams am meisten überraschte, war die unbestimmte Farbe der großen Augen. Sie schillerten vom tiefsten Schwarz ins Gelbliche hinüber, als sie Williams forschendem Blick begegneten. Mit einem liebenswürdigen Lächeln kam die Dame der kleinen Gruppe entgegen.
»Herr Advokat Williams, nehme ich an«, sagte sie und neigte leicht den Kopf gegen Williams.
»Und das ist mein alter Jugendfreund Gustaf Ringe«, beeilte sich Fräulein Ranten vorzustellen.
»Darf ich die Herren bitten, Platz zu nehmen«, sagte Frau Ranten mit starkem Akzent und deutete einladend auf einige bequeme Sessel. »Was verschafft uns die Ehre Ihres Besuches?«
»Ich bitte um Verzeihung, Frau Ranten, daß wir Sie so spät am Tage noch aufsuchen«, antwortete Williams. »Aber wir konnten unser Anliegen wirklich nicht hinausschieben. Wir sind nicht zum Vergnügen hergekommen, dessen versichere ich Sie. Wir bringen leider schlechte Nachrichten.«
»Schlechte Nachrichten«, wiederholte Frau Ranten und sah Williams fest an. »Sie erschrecken mich.«
Sie griff mit beiden Händen um die Lehne des Armsessels. Dann flüsterte sie kaum hörbar:
»Es handelt sich doch nicht etwa um meinen Mann?«
»Doch, liebe Frau Ranten«, – Williams legte eine seiner großen, wohlgeformten Hände auf die kleine, ringgeschmückte Rechte Frau Rantens, als ob er ihr damit Kraft geben wollte, den kommenden Schlag zu ertragen. »Ja, es handelt sich um Ihren Gatten. Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß ihm ein Unglück zugestoßen ist, ein großes Unglück. Er hat einen Autounfall gehabt.«
»Um Gottes willen, was ist passiert?« rief die arme Frau fast schreiend. »Er ist verunglückt? Ist er … ist er … tot?«
Williams nickte schweigend.
Frau Ranten sank in den Sessel zurück. Sie war ohnmächtig geworden.
Fräulein Ranten schluchzte, das Taschentuch an die Augen gepreßt, verzweifelt. Ringe versuchte auf seine etwas ungeschickte Weise, sie zu trösten.
Einen Augenblick betrachtete Williams die Szene vor sich. Dann bemühte er sich, Frau Ranten ins Bewußtsein zurückzurufen. Er goß ein Glas Wasser ein und legte ihr sein angefeuchtetes Seidentuch auf die Schläfen.
Frau Ranten schlug die Augen auf und starrte verwundert um sich.
»Was – was ist denn …?« fragte sie mit klangloser Stimme.
Dann ließ sie ihren Blick einige Sekunden auf Williams ruhen, als ob sie ihre Gedanken sammeln wollte.
»Ach, jetzt … erinnere ich mich …«, sagte sie leise. »Sie sagten, mein Mann sei tot. Wie ging das zu? Sie müssen mir die Wahrheit sagen. Ich glaube, ich bin stark genug, alles zu hören.«
Williams berichtete also von dem berittenen Polizisten, der das Auto im Wasser gesichtet und seine Wahrnehmungen dem Polizeirevier in Östermalm mitgeteilt hatte; von dem Taucher, den man niedergeschickt und der festgestellt hatte, daß Herr Ranten allein im Wagen saß. Das Auto sei vor einer Weile geborgen und der Tote in das städtische Leichenschauhaus gebracht worden. Auch daß Kommissar Cederqvist den Tascheninhalt des Verunglückten an sich genommen habe und daß man die Sachen Frau Ranten ausliefern würde, sobald sie es wünsche, erwähnte der Advokat.
Frau Ranten wand und drehte ihr Taschentuch zwischen den Händen und befeuchtete hie und da mit der Zungenspitze ihre Lippen, während sie Williams' Worten lauschte. Es machte den Eindruck, als ob sie mit aller Macht versuchte, ruhig zu bleiben, während Fräulein Ranten sich ganz ihrem Schmerz hingab und laut schluchzte.
»Das ist alles, was ich zu berichten habe, meine Damen«, schloß Williams. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, dann verfügen Sie bitte vollkommen über mich.«
»Das ist wirklich zu liebenswürdig von Ihnen, Herr Advokat«, sagte Frau Ranten. »Wir brauchen Ihre Hilfe in der Tat und wären Ihnen unendlich dankbar, wenn Sie die Nachlaßverteilung in die Hand nehmen würden. Ich weiß, daß mein Mann Sie schon früher geschäftlich in Anspruch genommen hat.«
Williams verbeugte sich stumm.
Frau Ranten saß einige Augenblicke still und schaute abwesend im Zimmer umher, als ob sie über etwas grübelte.
»Wie, glauben Sie, hat sich die Sache zugetragen, Herr Advokat?« fragte sie leise. »Es ist doch wohl ein Unglücksfall gewesen, denn mein Mann hat doch nicht etwa …« – sie machte eine lange Pause, als ob es ihr schwer fiele, weiterzusprechen – »mit Absicht … mit Absicht … ich meine … ich meine … das Auto ins Wasser gefahren«, schloß sie und sank in ihren Sessel zurück.
»Es ist schwer zu sagen, wie das Unglück geschehen ist. Man will natürlich nicht gern an Selbstmord glauben, wenn man Herrn Ranten so gut kennt wie ich. Oder haben Sie irgendwelche Gründe, etwas Derartiges anzunehmen, Frau Ranten?«
»Nein, im Gegenteil. Mein Mann war immer so lebenslustig und hatte keinen Grund, von uns zu gehen. Aber wenn ich jetzt nachdenke, so fällt mir ein, daß er in den letzten Tagen wohl ein wenig still und grüblerisch war. Finanzielle Sorgen kann er nicht gehabt haben. Es sei denn, er hat doch bereut, daß er die Fahrzeuge da unten in der Bucht gekauft hat.«
»Welche Fahrzeuge?« fragte Williams.
»Die sieben großen Tule-Schiffe, die der Villa hier am nächsten liegen«, sagte Frau Ranten. »Er konnte es nicht leiden, daß sie da so verkamen, so dicht am Haus, und die einzige Möglichkeit, sie fortzubekommen, war, sie zu kaufen. Er hatte sicher die Absicht, sie zu verschrotten, um den häßlichen Anblick endlich loszuwerden.«
»Aber wegen eines solchen Geschäfts nimmt man sich doch nicht das Leben, auch wenn es etwas übereilt zustande gekommen ist«, sagte Williams. »Herr Ranten besaß Geld genug, um die ganze Tule-Flotte aufzukaufen, wenn es ihm Spaß gemacht hätte.«
»Glauben Sie, daß mein armer Mann in der Todesstunde sehr gelitten hat?« fragte Frau Ranten leise. »Es muß entsetzlich sein, in einem Auto eingeschlossen zu sein und nicht herauszukönnen. Vielleicht hat er da unten in der Tiefe verzweifelt um sein Leben gekämpft.«
Williams sah Frau Ranten an, als ob er ihre innersten Gedanken lesen wollte. Dann sagte er langsam und mit ernster Stimme:
»Ich glaube, daß Herr Ranten schwer gekämpft, aber zum Schluß doch resigniert hat.«
»Wieso? Weshalb glauben Sie das, Herr Advokat?«
»Ja, Herr Ranten hat an den Händen schwere Verletzungen davongetragen, als er die Scheibe des Autos zertrümmert hat. Aber dessen ungeachtet lag eine gewisse Ruhe auf seinem Antlitz, als man ihn fand.«
»Mein armer, armer Mann«, flüsterte Frau Ranten. »Ich wünschte, ich hätte mit ihm sterben können …«