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16

»Blut, wie ist das möglich?« sagte Ringe fragend. »Wenn der Hammer nur angewendet wurde, um die Fensterscheibe zu zertrümmern, können doch auf dem Lappen keine Blutflecke sein.«

»Dafür könnte es eine ganz natürliche Erklärung geben«, antwortete Williams. »Der Hammer kann zum Beispiel in die Blutlache gefallen sein, die sich auf der Gummimatte gebildet hatte. Was das anbetrifft, brauchen wir uns nicht den Kopf zu zerbrechen. Die Fingerverletzungen sind Ranten unter keinen Umständen mit dem Hammer zugefügt worden, und auch an anderen Körperstellen hat er keine Verletzungen davongetragen, die auf Hammerschläge zurückzuführen sind. An seinem Körper war nicht das geringste Zeichen äußerer Gewalt zu entdecken. Die Obduktion ergab klar und eindeutig, daß er den Tod durch Ertrinken gefunden hat. Der Hammer spielt in diesem Drama wohl kaum eine andere Rolle als die, das Werkzeug gewesen zu sein, um die Scheibe zu zertrümmern. Aber trage unseren Fund nun ins Auto. Wir fahren jetzt direkt zum Blockhauskap.«

Williams setzte sich nun selbst ans Steuer und fuhr den Weg geradeaus, bis er an die Hauptchaussee kam, die zum Blockhauskap führte.

»Jetzt sind es kaum noch zweihundert Meter bis zur Brücke, wo der Wagen im Wasser landete«, sagte er. »Einbahnverkehr ist auch, so daß der Betreffende nicht zu riskieren brauchte, einem Auto auf dieser kleinen Strecke zu begegnen. Das hat er mit in Berechnung gezogen. Hier hat derjenige, der den Mord beging, sein unheimliches Werk begonnen. Wie du siehst, neigt sich der Weg hier. Nicht bedeutend, doch immerhin soviel, daß ein Wagen mit Freikoppelung so starke Fahrt erhält, daß der dritte Gang eingeschaltet werden kann. Als das getan war, hat der Mörder das Handgas verstärkt, sich auf das Trittbrett des Wagens gestellt und von außen durch die zerschlagene Fensterscheibe das Steuerrad bedient, so daß der Wagen sich auf dem Wege hielt.«

Williams steuerte den Wagen noch etwas näher an die Brücke heran. Es fehlten jetzt nur noch etwa fünfzig Meter. Die Brücke lag hinter einer Biegung versteckt und war nicht sichtbar.

»Bis hierher ist der Betreffende so langsam gefahren, wie es im dem dritten Gang überhaupt möglich ist, und mit wenig Handgas«, sagte Williams, gerade als der Wagen um die Ecke bog und die Brücke vor ihnen lag. »Und hier« – sie hatten die Brücke jetzt linker Hand vor sich – »hat er dem Steuerrad einen kräftigen Schwung gegeben, das Handgas voll aufgedreht und ist abgesprungen. Der Wagen hat die Richtung auf die Brücke zu erhalten und ist mit mindestens vierzig Kilometer Geschwindigkeit über den Brückenrand in die Tiefe gesaust. Es sind von hier aus fast fünfzehn Meter bis dorthin, und außerdem ist der Weg abschüssig. Ein teuflisch angelegtes Verbrechen, das kann man sagen. Ja, mein Lieber, auf diese Weise ist wohl der Mord an Ranten ausgeführt worden. Man könnte kaum eine einfachere und zuverlässigere Methode finden.«

»Aber wohin, glaubst du, hat der Mörder sich nach vollbrachter Tat gewandt?« fragte Ringe. »Ist er ganz einfach in die Stadt zurückgegangen, als ob nichts geschehen wäre?«

»Wenn ich auf diese Frage antworten könnte, würde es nicht so schwer sein, das Problem zu lösen«, entgegnete Williams. »Aber in diesem Falle hier kann man nur Vermutungen aussprechen. Man könnte sich indessen denken, daß der oder die Helfer hier in der Nähe in einem Boot gewartet haben, bis sie das Aufklatschen des Wagens hörten. Dann ruderten sie schnell an eine bestimmte Stelle des Ufers, wo sie den Mörder ins Boot nahmen. Draußen auf dem Wasser waren sie dann ziemlich sicher. So lange hinterher hier noch nach Spuren zu suchen, ist ein hoffnungsloses Beginnen. Wenn ein Boot auf die Steine am Ufer aufgelaufen ist, ist es ja möglich, daß etwas Farbe abgeschrammt wurde. Aber selbst wenn wir eine solche Spur finden würden, würde uns das nicht viel helfen, denn wir können nicht mit Bestimmtheit feststellen, ob die Farbe von dem Boot herstammt, das wir suchen. Ich fürchte, wir müssen die Lösung in einer anderen Richtung suchen. Eine kleine Spur mehr oder weniger bedeutet nicht allzu viel für das große Ganze. Aber wir können jetzt ruhig in die Stadt zurückkehren. Ich bin mehr als zufrieden mit dem heutigen Tage.«

Williams setzte seinen Lasalle in Bewegung, und nach zehn Minuten waren sie wieder daheim.

Ein Angestellter kam ihnen entgegen.

»Um zwölf Uhr rief eine Dame an. Sie bat mich, Ihnen zu bestellen, daß Sie um vier Uhr im Royal sein möchten.«

»Sagte sie ihren Namen nicht?« fragte Ringe.

»Nein, das tat sie nicht«, antwortete der Kontorist. »Als ich fragte, von wem ich Grüße bestellen dürfe, antwortete sie, das spiele keine Rolle. Und da konnte ich natürlich nicht weiterfragen.«

»Das war ganz bestimmt Annie Ranten«, sagte Ringe zu Williams. »Höchst eigenartig. Als wir draußen im Tiergarten unsere Zigarettenpause hatten, saß ich und dachte an sie und nahm mir vor, sie morgen bestimmt anzurufen. Ungefähr zur gleichen Zeit telephonierte sie hier an. Es war wohl um zwölf herum, als wir die kleine Pause machten. Das kann man wirklich Sympathie der Seelen nennen, oder vielleicht war es Gedankenübertragung. Wie spät ist es jetzt?« Ringe zog seine alte Silberzwiebel. »Ach, erst zwei Uhr. Na, da habe ich ja noch viel Zeit.«

»Wenn du Annie Ranten im Royal siehst, dann mußt du mir eins versprechen, Ringe«, sagte Williams, seinen Freund ernst anblickend. »Du darfst nicht das geringste darüber verlauten lassen, was wir entdeckt haben. Schweige vor allem über die Glasscherben und den Hammer. Du kannst ja erzählen, daß wir uns draußen anläßlich der Dynamiteinbrüche etwas umgesehen haben, an denen du heute früh so interessiert schienst. Das ist keine so dumme Idee. Darüber kannst du dich des Weiten und Breiten auslassen.«

Ringe eilte in seine kleine Junggesellenwohnung am Norr Mälarstrand und warf sich in einen dunklen Anzug. Da er reichlich Zeit hatte, nahm er den Autobus bis zum Tegelbacken und promenierte dann langsam weiter. Gerade als er am Karlsdenkmal vorbeiging, erklangen von der nahen Jakobskirche vier Schläge. Ein paar Minuten später stand er in der eleganten Vorhalle des Royal. Er ging suchend durch den Wintergarten und fand Annie Ranten in einer Sofaecke in der Nähe der Musik. Sie sah ihn erst, als er dicht vor ihr stand. Bei seinem Anblick erschien ein schwaches Lächeln auf ihren bleichen Zügen.

»Wie nett von dir, Gustav, daß du kommst«, sagte sie, als Ringe die ihm entgegengestreckte Hand herzlich drückte.

Die Musik spielte gerade einen lauten Jazz, und Ringe ließ sich auf dem Sofa neben Annie Ranten nieder. Er bestellte einen Tee und zündete sich eine Zigarette an.

»Du hast so blasse Lippen, Annie«, sagte er und sah das Mädchen an seiner Seite an. »Du müßtest wirklich etwas Rot auflegen.«

»Ich habe niemals einen Lippenstift angewendet und werde das auch in Zukunft nicht tun«, antwortete Annie Ranten. »Aber ich habe dich nicht gebeten, herzukommen, damit du mein Aussehen kritisierst.«

»Verzeih, Annie, ich hatte nicht die Absicht, dich zu kränken«, entgegnete Ringe. Es fiel ihm schwer, seine Freude zu verbergen, und er mußte sich abwenden, damit Annie Ranten sein zufriedenes Gesicht nicht sah. »War es etwas Besonderes, das du von mir wolltest?«

»Weißt du, Gustav, ich fühle mich so schrecklich unruhig.« Annie Ranten neigte sich etwas näher zu Ringe und fuhr flüsternd fort:

»Zu Hause in der Villa müssen Dinge vor sich gehen, von denen ich nichts erfahren soll. Meine Stiefmutter …«

Der Ober kam gerade mit dem Tee, und Annie Ranten zögerte, weiter zu reden.

Als der schöne Ganymed sich wieder entfernt hatte, sprach sie leise weiter:

»Erinnerst du dich, was ich dir erzählte von der Nacht … als das mit meinem Vater geschah?«

Ringe nickte.

»Ich habe …« Sie sah sich um und senkte die Stimme noch mehr. »… Ich habe den Chauffeur Smith wieder gesehen.«

»Oben, bei ihr?«

»Ja.«

»Wann?«

»Letzte Nacht.« Annie Ranten wandte den Kopf zur Seite. Eine leichte Röte überzog ihr Gesicht.

»Du mußt mir alles erzählen, Annie«, sagte Ringe. »Ich verstehe ja, daß es dir peinlich ist. Aber ich bin doch dein alter Freund aus den Kindertagen. Du mußt Vertrauen zu mir haben.«

»Ja, es ist wirklich mehr als peinlich, und ich schäme mich, selbst dir gegenüber davon zu sprechen. Aber ich glaube, es ist am besten, daß du und dein Freund von der Sache erfahren. Also: Ich hatte mich gegen elf Uhr zur Ruhe begeben, konnte aber nicht einschlafen. Ich lag wach und starrte ins Dunkel. Schließlich drehte ich die Lampe an, um ein wenig zu lesen. Da fiel mir ein, daß ich das Buch in der Bibliothek unten vergessen hatte; ich stand also auf, um es zu holen. Auf dem Rückweg hörte ich, wie eine Tür geöffnet wurde. Gleich darauf wurde Licht im Schlafzimmer meiner Stiefmutter eingeschaltet. In der Türöffnung zeichnete sich eine männliche Gestalt ab. Ich sah nur den Rücken, denn die Tür wurde sofort zugemacht, und es wurde wieder dunkel. Aber ich hatte auf jeden Fall Zeit genug, festzustellen, daß es ein Mann in Chauffeurskleidung war, und da kann es ja niemand anderes als Smith gewesen sein.

Die Knie fingen mir an zu zittern, und ich mußte mich am Treppengeländer festhalten, um nicht umzusinken. Ich stand mindestens ein paar Minuten unbeweglich auf der Treppe, ehe ich in mein Zimmer wanken konnte.

Da saß ich eine ganze Weile, ohne zu wissen, was ich beginnen sollte. Aber dann dachte ich an dich und gab mir Mühe, meine Erregung zu bekämpfen. Ich sah auf die Uhr. Es war fünf Minuten nach eins. Ich machte meine Tür einen Spalt weit auf, um zu kontrollieren, wie lange der Besuch des Chauffeurs dauerte. Stunde auf Stunde lag ich wach und lauschte. Um sechs Uhr – ich hatte inzwischen nicht das geringste gehört – war ich so müde, daß ich einschlummerte. Als das Hausmädchen am Morgen hereinkam, machte sie mich darauf aufmerksam, daß ich vergessen hatte, meine Tür zu schließen.«

»Das war wirklich interessant, was du erzählt hast, Annie«, sagte Ringe. »Aber glaubst du nicht, daß du vielleicht doch zwischendurch ein wenig eingeschlummert bist und der Zufall gewollt hat, daß Smith sich gerade in dieser Zeit entfernte?«

»Nein, bestimmt nicht«, antwortete Annie Ranten. »Ich war ebenso wach, wie ich jetzt bin, das kann ich dir versichern. Nur über das, was nach sechs Uhr passierte, kann ich nichts aussagen. Ich habe dir aber noch nicht alles erzählt.«

»Was ist denn noch geschehen?«

»Als ich meine Stiefmutter heute früh traf, konnte ich es nicht unterlassen zu fragen, was der Chauffeur Smith in der Nacht bei ihr zu suchen gehabt hätte.«

»Und was antwortete sie da?«

»Sie schaute mich lange an, und dann sagte sie, ohne daß sich eine Miene in ihrem Gesicht veränderte, mit vollkommen ruhiger Stimme: ›Du mußt geträumt haben, meine Liebe. Ich kann beschwören, daß der Chauffeur weder in dieser Nacht noch in einer anderen seinen Fuß in mein Zimmer gesetzt hat.‹ Ich saß ganz stumm da und konnte kein einziges Wort hervorbringen. Ihr Selbstbewußtsein hatte mich ganz geschlagen, und doch wußte ich, daß meine Wahrnehmung richtig war. Ich würde das beschwören können. Das hat meine Nerven mehr mitgenommen, als du ahnen kannst, Gustav. Ich fühle mich so verzweifelt, so allein, seitdem ich meinen Vater verloren habe. Ich habe gar keinen Lebensmut mehr.«

»Annie, Liebste, sprich nicht so.« Ringe nahm die Hand des Mädchens unter dem Tisch und drückte sie zart. »Ein paar Freunde hast du doch. Du darfst nicht den Mut verlieren. Paß nur auf, zum Schluß wird alles gut. Die Zeit heilt alle Wunden.«

 

»Ja, so versuche ich auch zu denken. Und manchmal hilft es für den Augenblick«, sagte Annie Ranten. »Aber gleich darauf kommt diese nervöse Angst wieder über mich. Mein ruhiger Schlaf ist dahin, und wenn ich wirklich schlafe, dann träume ich die schrecklichsten Sachen. Und wenn ich wieder aufwache, ist die Angst mit verdoppelter Stärke da. Ich halte das nicht mehr aus!«

»Liebes, bitte, reise eine Weile von hier fort«, sagte Ringe. »Oben in Norrland gibt es herrliche Erholungsheime. Wir können uns hier nebenan im Reisebüro nach einem geeigneten Ort erkundigen.«

Ringe beglich die Rechnung und Annie Ranten ging inzwischen voraus in die Halle.

Sie traten auf die Straße hinaus und gingen langsam die Arsenalstraße entlang, um das im Opernhaus befindliche Reisebüro aufzusuchen.

Der Mann, der, in einem Hauseingang verborgen, die Drehtür des Royal nicht aus den Augen gelassen hatte, zog sich hastig zurück, als Annie Ranten und ihr Begleiter sichtbar wurden. Dann wagte er sich etwas vor und blickte sorgsam um. Mit schnellen Schritten eilte er an die Straßenecke und sah gerade noch, wie Annie Ranten und Ringe in die Arsenalstraße einbogen. In gutem Abstand folgte er dem Paar. Anscheinend war er kein Anfänger in der schwierigen Kunst des Nachspionierens.

Als der Mann Ringe und seine Begleiterin im Reisebüro verschwinden sah, bog er in den Kunghädgarden ab. Er ging in die nächste Fernsprechzelle und kramte mit fieberhafter Eile ein paar Zehnörestücke hervor. Als er die Verbindung bekommen hatte, sprach er hastig in den Apparat hinein.

Der Mann war kein anderer als der Chauffeur Smith.


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