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Williams war sich nicht im klaren darüber, ob er recht daran getan hatte, auf dem Schiff zu bleiben, anstatt sich an Land zu begeben und zu versuchen, dem Unbekannten zu folgen. Er überlegte sich jedoch, daß die heutige Zusammenkunft bestimmt nicht die letzte der beiden Männer auf dem alten Schiffe war und daß er sicher später noch Gelegenheit finden würde, sich den Fremdling näher anzusehen. Wenn er etwas mit Rantens Tod zu tun hatte und in irgendeiner Weise mit Smith unter einer Decke steckte, war es notwendig, ganz besonders vorsichtig zu Werke zu gehen, um nicht das Mißtrauen der beiden zu erwecken. Falls Smith merkte, daß er, Williams, erkannt hatte, daß Herr Ranten nicht Selbstmord begangen hatte, sondern ermordet worden war, würde er natürlich sofort den Fremden warnen, und das mußte die weiteren Nachforschungen erschweren. Deshalb war es besser, ganz behutsam vorzugehen. Eine Untersuchung der »Gamba« konnte im übrigen nichts schaden.
Williams ging an die Tür, die Smith hinter sich verschlossen hatte. Es war kein kompliziertes Schloß. Williams probierte ein paar seiner Dietriche, und beim dritten Versuch ging die Tür auf. Er öffnete sie vorsichtig so weit, daß er hindurchschlüpfen konnte. Dann blieb er einen Augenblick lauschend im Dunkeln stehen, knipste seine Taschenlampe an und leuchtete umher. Eine steile Treppe mit einem Messinggeländer mündete in einen kleinen mit einer Tür versehenen Raum. Williams ging leise, Stufe für Stufe, die Treppe hinunter. Hier und da knarrte sie laut unter seinem Gewicht. Es waren im ganzen sechzehn Stufen, und mindestens vier davon hatten geknarrt.
»Es ist am besten, man macht seine Sache ordentlich«, sagte Williams halblaut und ging die Treppe wieder hinauf. Dann stieg er nochmals hinunter und rechnete »ein, zwei, vier, fünf, sechs, acht, neun, elf, zwölf, vierzehn, fünfzehn, sechzehn.
Es sind also die Stufen drei, sieben, zehn und dreizehn, vor denen man sich hüten muß, falls man einmal hierher kommt, wenn sich Leute im Salon befinden«, stellte er fest.
Dann öffnete er die nächste Tür und leuchtete umher. Er befand sich im Achtersalon. Der Duft von Zigarettenrauch hing schwer in der Luft. Vor den runden Ventilen hingen dunkle Stoffstreifen, um kein Licht hinausdringen zu lassen. An den Längswänden entlang befanden sich mit rotem Sammet bekleidete Sofas, an einigen Stellen so abgenutzt, daß das Polster herausschaute. Mit besonderem Interesse betrachtete Williams den Tisch. Hier hatten anscheinend die beiden Männer gesessen, denn es standen zwei Gläser da und eine leere Champagnerflasche.
Aus Rantens Weinkeller gestohlen, dachte Williams, als er das Etikett untersuchte.
»Veuve Cliquot Ponsardin, hm, das lasse ich mir gefallen. Sektkenner scheinen die Herren zu sein, auch wenn sie in Chauffeursuniform umhergehen. Und gute Zigaretten scheint man sich auch zu leisten.« Williams nahm einen der Stummel aus dem Aschenbecher. »Abdullah Nummer zweiundzwanzig, dick und prächtig. Die Einkaufsquelle ist wohl dieselbe wie für den Wein, nehme ich an. Der gute und treue Diener, der von seines Herrn Vorrat nimmt und seine Freunde bewirtet.«
Williams zählte die Stummel im Aschenbecher. Er fand sieben Stück und vier abgebrannte Streichhölzer. Anscheinend hatte jeder drei Zigaretten geraucht, und dann hatte Smith, der ein stärkerer Raucher zu sein schien als sein Kollege, sich noch eine vierte angezündet. Williams nahm sein Vergrößerungsglas hervor und begann die Stummel genau zu untersuchen und sie in zwei Gruppen zu teilen.
Die Stummel in dem größeren Haufen waren bedeutend kleiner als in dem andern. Der Raucher hatte anscheinend versucht, den Tabak so lange wie möglich zu genießen und den Stummel erst von sich gelegt, als er nahe daran war, sich die Finger zu verbrennen. Die vier Stummel waren nämlich kaum mehr als einen Zentimeter lang.
Williams legte sie in den Aschenbecher zurück. Sie interessierten ihn nämlich weniger als die andern drei, die nach seiner Annahme der Fremde geraucht hatte. Williams hatte guten Grund anzunehmen, daß dieser ein nicht so passionierter Raucher wie Smith war, sonst wäre er dem Beispiel des Chauffeurs gefolgt und hätte sich auch auf Deck eine Zigarette angezündet. Hier unten im Salon hatte er anscheinend mehr zur Gesellschaft geraucht als um des Genusses willen. Die drei Zigaretten waren kaum bis zur Hälfte aufgeraucht. Im Schein seiner Taschenlampe untersuchte Williams sie gründlich.
»Höchst sonderbar«, dachte er, als er den dritten Stummel, ihn zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, untersuchte. »Der Mann muß ungewöhnlich empfindliche Lippen haben. Er hat nicht eine einzige Zigarette rauchen können, ohne daß diese an der Lippe hängen geblieben ist und eine kleine Blutung verursacht hat. Es passiert eigentlich nur wirklich ungewohnten Rauchern, daß die Zigarette am Munde festklebt und ein Stückchen Haut mitreißt, so daß eine Wunde entsteht.«
Williams hatte nämlich bei allen drei Stummeln einen roten Fleck entdeckt, der auf eine kleine blutige Verwundung schließen ließ.
Williams ließ die Stummel liegen und beschäftigte sich damit, weitere Untersuchungen im Salon anzustellen. Wie gern hätte er die leere Champagnerflasche und die beiden Gläser mitgenommen, um den Fingerabdruck des Unbekannten feststellen zu können. Aber dann wäre Smith sofort dahinter gekommen, daß ein ungebetener Gast die »Gamba« besucht hatte und über die heimlichen Zusammenkünfte unterrichtet war. Wenn man nur sein Fingerabdruckmaterial bei sich gehabt hätte! Es wäre ein leichtes gewesen, die Fingerabdrücke der beiden Herren zu fixieren.
Mit einem Seufzer stellte Williams die Flasche an ihren Platz zurück und begann sich für einen Schrank zu interessieren, der, etwa einen Meter hoch, seinen Platz an der Schmalseite des Salons, rechts der Tür, hatte. Der Schrank war verschlossen, und erst nach vieler Mühe und nachdem Williams etwa ein halbes Dutzend Dietriche probiert hatte, gelang es ihm, ihn zu öffnen.
Im Schrank fand er einige Champagnerflaschen von genau derselben teuren Sorte wie auf dem Tisch, ein paar Gläser und eine Hunderterpackung Abdullah, von der mehr als die Hälfte fehlte. Was Williams aber am meisten interessierte, war eine Reiseschreibmaschine im Koffer mit einem Packen Papier daneben.
Williams nahm die Maschine aus dem Koffer. Es war eine Underwood, ziemlich altmodisch und verbraucht. Der dicke Staub deutete darauf hin, daß sie lange nicht benutzt worden war.
Was hatte das zu bedeuten? Eine Schreibmaschine auf einem außer Dienst gestellten Schiff, wo man heimliche Zusammenkünfte zu halten pflegt?
Williams spannte einen Bogen in die Maschine und schlug sämtliche Schriftzeichen von links nach rechts an, erst ohne und dann mit Umschalter. Auf diese Weise bekam er einen Abdruck der ganzen Tabulatur. Er untersuchte eingehend alle Buchstaben, Ziffern und Zeichen, und wenn er einen Defekt fand, schlug er die entsprechende Taste ein paarmal an, um festzustellen, ob der Schaden dauernd oder nur zufällig war. Er hatte ein ausgezeichnetes Vergleichsmaterial gefunden und steckte das Papier zufrieden in die Tasche. Seine Gedanken wanderten zu dem geheimnisvollen mit »Die Rächer« unterzeichneten Brief, den er in Rantens Papierkorb gefunden und auf welchem er Fräulein Rantens Fingerabdrücke festgestellt hatte.
Jetzt war es ein leichtes festzustellen, ob der Brief auf dieser Maschine geschrieben war oder nicht. Es gab mehrere Buchstaben auf der Maschine, die kleine charakteristische Fehler aufzeigten. Fanden sich diese auch auf dem Brief der Rächer, so konnte kein Zweifel mehr darüber herrschen, woher dieser stammte.
Williams legte die Maschine in den Koffer zurück und stellte diesen auf seinen Platz im Schrank. Dann verschloß er die Tür mit dem passenden Dietrich.
Als er auf die Uhr sah, war es fünf Minuten vor zwei. Er ließ noch einmal den Schein seiner Taschenlampe spielen und ihn dann auf einigen Kissen ruhen, die unordentlich auf einem der Wandsofas lagen. Williams ging hin und untersuchte sie genau. Das eine war ein rotes Sammetkissen, das anscheinend zur Einrichtung des Salons gehörte, während das andere aus gelber Seide war, gefüllt mit weichen Federn. Er roch daran und fühlte den schwachen Duft eines unbestimmbaren Parfüms. Er richtete den Lichtkegel seiner Taschenlampe auf die Oberseite und untersuchte sie Zoll für Zoll. Dann drehte er das Kissen um und tat das gleiche mit der Rückseite.
Beinahe hätte er einen Freudenschrei ausgestoßen. Vorsichtig griff er mit Daumen und Zeigefinger zwischen Kissen und Kantenstreifen und hielt triumphierend etwas vor das Licht der Taschenlampe. Es war ein schwarzes Haar, ein Frauenhaar.
Also hatte sich hier kürzlich auch ein weibliches Wesen an Bord der »Gamba« befunden. Wer konnte das wohl gewesen sein? Vielleicht ein Mädchen, das sich hier ein Stelldichein mit dem Chauffeur Smith gegeben hat? Oder … nein, das war unmöglich.
Williams ließ den Schein der Lampe noch einmal über die Tischplatte laufen. Er nahm sein Notizbuch hervor und fand nach vielem Suchen ein Visitenkartenkuvert. Er legte das Haar in den Umschlag und wollte ihn gerade in die Brieftasche zurücktun, als er mitten in der Bewegung innehielt.
»Man kann zuweilen im Begriff sein, eine Dummheit zu begehen«, murmelte er und legte die Brieftasche auf den Tisch. »So muß es sein.«
Er nahm den Stummel, der den größten roten Fleck zeigte, und legte ihn zu dem Haar in den Briefumschlag.
Dann löschte er die Taschenlampe, öffnete die Tür und schlich sich hinaus. Er stand einen Augenblick still und lauschte in die Dunkelheit. Alles war still. Kein Laut zu hören. Er verschloß die Tür, eilte mit einigen Sprüngen die Treppe hinauf und stand gleich darauf an Deck, tief die kühle Nachtluft einatmend. Der Morgen graute bereits.
Nachdem Williams auch die Außentür verschlossen hatte, schlich er sich zum Vorderdeck, glitt behende an der Ankerkette hinab und machte sein Boot los. Er setzte sich ans Ruder und erreichte mit raschen Schlägen das Land.