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Während der Heimfahrt saß Williams still auf seinem Platz. Er sah durch den Windschutz hinaus und schien über irgend etwas nachzugrübeln. Automatisch steuerte er den Wagen und schenkte weder dem Gang noch der Steuerung besondere Aufmerksamkeit.
Ringe wollte seinen Freund nicht mit Fragen stören, denn er wußte sehr wohl, daß, wenn Williams in dieser Stimmung war, es sich nicht lohnte, neugierig zu sein. Zu gegebener Zeit würde er schon mit seiner Entdeckung herausrücken, und darum schwieg Ringe. Als sie vor Williams' Haus in der Balder-Straße hielten, fragte er seinen Freund und Teilhaber:
»Was sollen wir mit der Gummimatte machen?«
»Du kannst sie solange in mein Laboratorium bringen. Aber ich glaube kaum, daß es sich nach meiner letzten Entdeckung noch lohnt, sie zu untersuchen«, sagte Williams und stieg aus dem Wagen.
Auch das bedeutend verspätete Mittagsmahl wurde unter größtem Stillschweigen eingenommen. Elsie versuchte mehrere Male, ein Gespräch in Gang zu bringen, gab aber ihre Bemühungen bald auf. Williams war kaum zu einer Antwort zu bewegen. Und den Appetit, von dem er gesprochen hatte, als sie sich zum Blockhauskap hinausbegaben, schien er auf dem Wege verloren zu haben. Zu Elsies größter Freude tat Ringe den Gerichten um so mehr Ehre an.
Als man sich in dem Bibliothekszimmer niedergelassen hatte, um den Kaffee einzunehmen, brach Williams endlich das Schweigen.
»Ich verstehe so gut, Ringe, daß du über mein verändertes Wesen verwundert warst, als du nach dem Abschied von Fräulein Ranten zurückkamst«, begann er und strich die Asche seiner Zigarre ab. »Und du, Elsie, hast dich natürlich auch über mein Schweigen gewundert. Nun gut, meine Lieben, ich werde euch in mein Geheimnis einweihen. Als du draußen warst, Ringe, nahm ich mir den Papierkorb vor und fand diese Teile eines Briefes.« Er nahm die vier Papierschnitzel aus der Tasche und legte sie auf seinen Arbeitstisch.
»Da dieser Brief anscheinend spätestens gestern zerrissen und in den Papierkorb geworfen wurde«, fuhr er fort, »müßte man noch Fingerabdrücke auf den Papierstückchen finden, vielleicht von beiden, vom Absender und vom Empfänger. Der letztere muß ja Herr Ranten gewesen sein, da der Text an ihn gerichtet ist. Deshalb ist es am besten, diese Fingerabdrücke festzuhalten, ehe wir in den Ermittlungen fortfahren. Ich schlage vor, daß wir uns beide in mein Laboratorium zurückziehen. Wir sind bald zurück, Elsie.«
In Williams' wohlgeordnetem Laboratorium gab es alles, was man für kriminaltechnische Untersuchungen brauchte. Wertvolle Mikroskope, unter blinkenden Glasglocken geschützt, standen in Reih und Glied auf einem Tisch. Eine große Mikrokamera mit vollständiger Ausrüstung und ein Photographenapparat mit ultravioletten Strahlen nahmen die kurze Wand zu beiden Seiten einer Tür ein, die in die Dunkelkammer führte. Proberöhren und Retorten lagen auf einem anderen Tisch, über welchem sich ein gut eingerichteter Chemikalienschrank befand.
Williams entnahm letzterem eine Flasche mit pulverisiertem, metallischem Antimon und streute das feine Pulver über eins der Papierstückchen.
»Hier haben wir einen Abdruck«, sagte er. »Wenn du das jetzt auf ein Berliner Folium überträgst, fahre ich inzwischen mit dem nächsten Papierstückchen fort.«
Die beiden Freunde arbeiteten rasch. Und nach einer kleinen Weile hatten sie nicht weniger als sechs Fingerabdrücke zutage befördert. Williams untersuchte sie einen nach dem andern genau und verglich sie dann miteinander.
»Soweit ich feststellen kann, scheinen die Fingerabdrücke, außer dem einen, der von mir stammt, alle von demselben Händepaar herzurühren. Sie gehören also anscheinend dem Absender des Briefes oder dem Empfänger, Herrn Ranten. Wir brauchen ja nur ins Leichenschauhaus zu gehen und Herrn Ranten Fingerabdrücke zu nehmen, so erhalten wir Klarheit, von wem sie stammen. Aber eine Sache erscheint mir etwas eigenartig. Vielleicht ist sie dir auch aufgefallen, Ringe?«
»Es sieht aus, als ob die Abdrücke von ziemlich schmalen Fingern herrührten, wenn du das meinst«, antwortete Ringe.
»Eben das ist mir auch aufgefallen«, sagte Williams, während er die Folioseiten mit den Abdrücken in einen Umschlag legte. »Wir werden sie nachher photographieren und vergrößern. Jetzt gehen wir aber erst zu Elsie zurück. Du hast natürlich schon heimlich auf den Text geschaut?«
»Nein, um die Wahrheit zu sagen, die Fingerabdrücke haben mich mehr interessiert, so daß ich nur einen ganz flüchtigen Blick auf den Text geworfen habe«, sagte Ringe. »Ich sah nur, daß er in englischer Sprache abgefaßt war, aber eine Ahnung vom Inhalt habe ich nicht.«
Als sie ins Arbeitszimmer zurückkamen, saß Elsie bereits dort und wartete. Williams klebte die vier Stückchen auf einen Bogen und las den Text laut vor. Übersetzt lautete er:
Mr. David Ranten!
Wir können auf Ihr Anerbieten nicht eingehen, denn Sie wissen ganz genau, daß wir nicht Ihr Geld wollen, sondern Sie selbst. Auch wenn Sie uns ein ganzes Vermögen anbieten, sollen Sie Ihrer wohlverdienten Strafe nicht entgehen. Rache ist süßer als alles Gold der Welt. Sie wurden auf unsere Kosten groß und reich. Nun ist unsere Zeit gekommen, und wir werden Sie wieder klein machen. Es ist Ihr Glück, daß Sie das Verbrechen nicht in Amerika begangen haben, denn da wäre der elektrische Stuhl Ihr letzter Ruheplatz auf dieser verdammten Welt gewesen. Die Polizei hat vergebens nach dem Mörder vom Torsplatz gesucht. Aber sie soll nicht länger mehr suchen. Wir werden die Meute auf die richtige Spur hetzen. Machen Sie keinen Fluchtversuch. Niemals werden Sie Ihrem wohlverdienten Schicksal entgehen.
Die Rächer.
Williams legte den Brief zur Seite und sah seine Zuhörer an. »Na, was sagt ihr nun?« fragte er. »Es war vielleicht gar nicht so merkwürdig, daß Herr Ranten am Blockhauskap mit seinem Auto verunglückte. Er hatte zu wählen zwischen dem Tod im Wasser oder als entehrter Strafgefangener auf Lebenszeit zu sterben. Daß er das erstere vorzog, ist erklärlich.«
Elsie blieb stumm, aber Ringe fuhr aus seinem Sessel empor.
»Niemals kann David Ranten so etwas getan haben«, rief er. »Er war ein guter und liebenswürdiger Mensch, jedenfalls war er als solcher bekannt, als er noch auf Blastorp wohnte. Er war beliebt bei seinen Untergebenen und hat sich niemals gegen irgend jemand vergangen. Er kann kein Mörder sein. Es muß hier ein entsetzlicher Irrtum vorliegen.«
»Auch ich würde das gern glauben wollen«, sagte Williams. »Aber wie soll man dann den Selbstmord erklären? Er bekommt diesen Brief, aus dem hervorgeht, daß er ein Geheimnis mit sich herumträgt, ein entsetzliches Geheimnis, das indessen auch anderen bekannt ist. Er hat sich Stillschweigen erkaufen wollen, wurde aber abgewiesen. Man nahm sein Angebot nicht an, man wollte Rache. Er wird angeklagt, der Mörder vom Torsplatz zu sein, Maria Saves Mörder. Als er seinen Wagen am Blockhauskap ins Wasser steuerte und das kalte Naß hineinzuströmen begann, vergaß er vielleicht für einige Sekunden, daß er schon ein zum Tode verurteilter Mann war. Der Selbsterhaltungstrieb ließ ihn um sein Leben kämpfen. Aber dann erinnerte er sich wieder an den Brief und gab es auf, sich zu retten.«
»Ich glaube das auf keinen Fall«, sagte Ringe. »Herr Ranten war kein Mörder. Das will mir niemals in den Sinn.«
»Hör mal, Sigurd«, sagte Elsie langsam, »hast du den Papierkorb auch gründlich untersucht?«
»Ja, das tat ich bestimmt«, antwortete Williams. »Aber warum fragst du?«
»Wenn Herr Ranten den Brief gelesen, ihn dann zerrissen und in den Papierkorb geworfen hat, wäre der Umschlag wohl denselben Weg gewandert. Fandest du kein Kuvert mit maschinengeschriebener Adresse, von dem man annehmen könnte, daß es zum Brief gehört?«
»Du bist gar nicht dumm, Elsie«, sagte Williams, trotz des Ernstes der Situation lachend. »Nein, ich fand keinen Umschlag zu dem Brief. Sonst hätte ich ihn an mich genommen. Aber dein Einwurf bringt mich auf einen anderen Gedanken.«
»Welchen?« fragte Ringe mit einem hoffnungsvollen Aufleuchten seiner Augen.
»Ja, wenn man ein solch entsetzliches Verbrechen begangen hat, wie es hier der Fall ist«, antwortete Williams langsam, »und den Entschluß faßt, aus dem Leben zu scheiden, damit das Verbrechen nicht ans Tageslicht kommt, so würde es im Interesse des Betreffenden liegen, alles aus der Welt zu schaffen, was als Beweis für sein Verbrechen dienen könnte. Ein Papierkorb ist kein passender Platz zur Aufbewahrung eines Geheimnisses, besonders wenn man, wie in diesem Fall, mit einer nachträglichen polizeilichen Untersuchung rechnen muß. Auch wenn der Brief in noch so kleine Stückchen zerrissen wurde, hätte er nicht in den Papierkorb geworfen zu werden brauchen, da es so leicht war, ihn in dem offenen Kamin in der Bibliothek zu vernichten. Herr Ranten muß ein merkwürdig gedankenloser Mann gewesen sein oder …« Williams brach plötzlich ab und betrachtete grübelnd den Brief vor sich.
»Oder Herr Ranten hat die Stückchen gar nicht selbst in den Papierkorb geworfen«, fuhr er fort. »Vielleicht hat er den Brief überhaupt nicht gelesen.«
»Weshalb dann der Selbstmord?« fragte Ringe. »Er muß doch wohl, wie du vorher ausgeführt hast, eine Folge des Briefinhalts sein. Du glaubst ja offenbar selbst, daß Ranten die Frau am Torsplatz ermordet hat.«
»Ich glaube nichts, solange ich keine Beweise habe«, entgegnete Williams. »Du weißt genau, wie es mit Indizienbeweisen oft gehen kann. Ich denke nur an eine gewisse Sache im Tiergarten vor zwölf Jahren. Da gab es auch Indizien gegen einen Unschuldigen, während nichts vorhanden war, was auf die Spur des wirklichen Täters führte. Wenigstens zu Anfang nicht.«
»Wenn wir nun annehmen würden, daß Ranten trotz des Briefes nichts mit dem Mord am Torsplatz zu schaffen hat, weshalb hat er sich dann das Leben genommen?« fragte Ringe.
»Ja, das wollen wir eben aufzuklären versuchen«, sagte Williams. »Aber, da fällt mir eben ein. Wo hast du die Gummimatte hingelegt?«
»Ins Laboratorium, wie du mich gebeten hast«, antwortete Ringe. »Ich verstehe jedoch nicht, was du in diesem Fall, der so klar liegt, damit willst. Selbstmord ist festgestellt. Wenn ich auch nicht glaube, daß Ranten ein Mörder ist, so muß er sich doch auf die eine oder andere Weise in bezug auf Frau Saves Tod bloßgestellt haben. Vielleicht hat er irgendwie mit ihr in Verbindung gestanden und war nicht in der Lage, ein Alibi für die Stunden am letzten April beizubringen, in denen, wie man annimmt, Frau Save ermordet worden ist. Der Chauffeur sagte ja, daß er um halb zwölf auf der Tiergartenbrücke Weisung bekam, den Wagen zu verlassen, und daß Ranten erst anderthalb Stunden später in die Villa zurückkam. Wenn diese Angaben stimmen! Ich traue dem Kerl nämlich nicht ganz.«
»Eine so lange Rede hast du lange nicht gehalten, mein Lieber«, sagte Williams lächelnd. »Deine Auffassung von dem Chauffeur Smith ist nicht so unrichtig. Ich selbst habe auch das Gefühl, daß er ein wenig unzuverlässig wirkt, trotzdem man an seinem Auftreten eigentlich nichts aussetzen kann. Das ist korrekt. Aber eine ganz gerissene Kanaille scheint er zu sein. Wie er gleich den richtigen Schlußsatz zog, daß mit Ranten etwas geschehen sein müsse, weil wir da waren und das Personal verhörten …«
»Vielleicht war er von der Sache schon unterrichtet, wenn er es auch nicht wahrhaben wollte«, sagte Ringe. »Der Diener Gustafsson könnte ihm einen Wink gegeben haben.«
»Oder auch Frau Ranten, nachdem sie uns verlassen hatte«, sagte Williams ein wenig ironisch. »Die eine Annahme kann so richtig wie die andere sein. Aber jetzt steck dir das Fingerabdrucketui in die Tasche, fahre zum Leichenschauhaus und nimm die Fingerabdrücke des Toten. Je schneller das geschieht, desto eher bekommen wir Klarheit in die Sache, inwieweit die Abdrücke auf den Papierschnitzeln von Rantens oder von den Fingern des Schreibers herrühren. Ich werde das Leichenschauhaus anrufen und sagen, daß du schon unterwegs seist, falls sie früher schließen. Du kannst meinen Wagen nehmen, dann geht es schneller.«
»Dann bringe ich Gustav hin«, entschied Elsie. »Ich bin den ganzen Tag über noch nicht draußen gewesen.«
»Noch eins, Ringe«, sagte Williams, »fahrt bei der Zentralgarage vorbei und sagt, sie sollen den Delage nach Hause bringen. Nicht in die Villa, sondern in die Garage. Es darf aber nichts daran gemacht werden, und niemand darf sich hineinsetzen. Ich werde solange im Laboratorium arbeiten.«