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19

Als Williams von seinem Besuch bei dem Chef der Kriminalpolizei nach Hause kam, saß Ringe schon in der Bibliothek und wartete auf ihn. Er hatte früher angerufen, als verabredet war, und da er hörte, daß Williams am Abend vielleicht Arbeit für ihn haben würde, war er sofort in die Wohnung seines Freundes geeilt, um sogleich zur Hand zu sein, wenn dieser zurückkam. Mit dem Studium der Abendzeitungen beschäftigt, saß er bequem zurückgelehnt in einem Sessel. Als Williams hereinkam, legte er das Blatt aus der Hand und erhob sich.

»Etwas Neues?« fragte Williams sofort.

»Zumindest nicht in den Zeitungen«, antwortete Ringe. »Es steht weder etwas über den Mord am Torsplatz noch über den Fall Ranten drin. Dagegen habe ich eine Neuigkeit, die dich vielleicht interessieren dürfte.«

»Ach, hatte Fräulein Ranten dir wieder etwas mitzuteilen? Ich muß gestehen, ich bin neugierig, was das sein kann. Hat sie unseren Freund Smith vielleicht wieder auf verbotenen Wegen gesehen?«

»Du hast recht, mein Lieber«, sagte Ringe. »Dieser Smith scheint ein ziemlich ungenierter Herr zu sein, wenn es sich um Frau Ranten handelt. Er geht bei ihr aus und ein, wie er gerade Lust hat.«

»Bist du fest davon überzeugt?« fragte Williams. »Aber erzähle nun, damit ich höre, ob Fräulein Rantens Beobachtungen für uns von Interesse sind!«

 

Ringe wiederholte wortgetreu die Unterhaltung mit Annie Ranten. Er gab ihren Bericht genau mit den Worten wieder, die sie gebraucht hatte, und vergaß auch nicht, die Fragen zu erwähnen, die er selbst während der Unterhaltung an sie gestellt hatte.

»Annie kann beschwören, daß es der Chauffeur Smith war, der sich zu Frau Ranten schlich«, sagte er und unterstrich seine Worte mit einem kräftigen Schlag auf den Tisch. »Und sie weiß auch ganz bestimmt, daß er das Zimmer ihrer Stiefmutter nicht wieder verlassen hat, wenigstens nicht vor sechs Uhr morgens. Wann er später gegangen ist, weiß sie allerdings nicht, denn das arme Mädel konnte sich nicht länger wachhalten, was ja nicht zu verwundern ist. Sie mußte ja wegen dieses Kerls von Chauffeur den Schlaf fast einer ganzen Nacht opfern. Eigentlich sollte er aus dem Hause fliegen. Und die feine Stiefmutter mit, so wie sie sich aufführt.«

Ringe machte eine Pause und blickte seinen Freund an.

»Sie streitet aber alles ab und behauptet, daß Annie geträumt hat«, fuhr er dann fort. »Und nachher sagt sie, sie schwört, daß Smith niemals in ihrem Zimmer gewesen ist, weder in dieser noch in einer anderen Nacht. Zuchthaus müßte sie bekommen wegen eines solchen Meineides.«

»Wie spät war es, als Annie Ranten den Chauffeur sah?« fragte Williams.

»Sie hatte erst längere Zeit in ihrem Zimmer gesessen, da sie ja nicht wußte, was sie anfangen sollte«, antwortete Ringe. »Als sie dann auf die Uhr sah, war es fünf Minuten nach eins. Aber allzu lange hat sie sicher nicht so unschlüssig dagesessen, wenn es ihr auch wie eine Ewigkeit vorgekommen ist. Wahrscheinlich schlug die Uhr gerade eins, als sie draußen im Korridor war.«

»Man könnte demnach also davon ausgehen, daß der Herr Chauffeur seinen Besuch bei Frau Ranten kurz vor ein Uhr gemacht hat. Sicher nicht später, da ja Fräulein Ranten, wie sie sagt, eine ganze Weile in ihrem Zimmer gesessen hat, ehe sie auf die Uhr schaute und sah, daß es fünf Minuten nach eins war.«

»Nein, es war sicher noch nicht ein Uhr, als er kam«, sagte Ringe.

»Dann kann es nicht Smith gewesen sein, den deine Annie zu Frau Ranten schleichen sah.«

»Kann nicht Smith gewesen sein? Warum nicht?« Ringe sah erstaunt seinen Freund an. »Du glaubst doch nicht etwa auch, daß Annie schlafgewandelt oder die ganze Geschichte erfunden hat?«

»Ihre Wahrnehmungen sind schon richtig, aber der, den sie sah, war nicht Chauffeur Smith. Als die Uhr eins schlug, war Smith mit einem Ruderboot auf dem Rückwege von der ›Gamba‹. Er kann also kurz davor unmöglich in der Villa gewesen sein. Denn da war er nämlich an Bord des Schiffes, stand an der Reling und rauchte in aller Ruhe eine Zigarette.«

»Aber wer schlich sich dann bei Frau Ranten ein?« fragte Ringe.

»Niemand anders als sie selbst, mein Lieber«, antwortete Williams.

»Zum Teufel auch, was für ein Idiot kann man doch sein«, rief Ringe. »Die Lippenschminke an den Zigarettenresten und das Haar, das du fandest. Die Frau in der Chauffeurskleidung, von der du annahmst, daß es Annie Ranten sei, ehe du Beweise dafür bekamst, daß sie weder raucht noch Schminke anwendet! Der Chauffeur ist also dann niemand anderes als …«

»Frau Sylvia Ranten, ja«, fiel Williams ein. »Sie selbst in höchst eigener Person vergnügt sich damit, hier und da Chauffeur zu spielen, um zu verbergen, daß sie heimliche Zusammenkünfte mit dem richtigen Chauffeur hat. Sie hat sich genau solche Kleidung verschafft, wie Smith sie trägt, und da sie ungefähr ebenso groß ist wie er, hat sie sich wahrscheinlich nur eine von seinen Uniformen zu leihen brauchen.

Wenn jemand sie auf ihren Ruderfahrten zur ›Gamba‹ beobachtet hat, hat der Betreffende natürlich geglaubt, es sei Smith. Deshalb war auch der Diener Gustafsson so erstaunt über Smiths Ruderfertigkeiten. Er hatte doch beobachtet, wie der Chauffeur mit dem Boot zur ›Gamba‹ ruderte, und als er nach einigen Augenblicken nochmals auf die Bucht hinausschaute, sah er ihn schon wieder auf dem Wege zu dem alten Fahrzeug. Nachdem ich mich selbst davon überzeugt hatte, daß Smith kein Meisterruderer ist, im Gegenteil eine ziemlich traurige Figur auf der Ruderbank abgibt, und der Diener mir gleich darauf von der fabelhaften Geschicklichkeit Smiths erzählte, tauchte der Verdacht in mir auf, daß nicht nur der Chauffeur sich auf die ›Gamba‹ begab, sondern auch eine andere Person, die sich mit ihm dort traf. Zuerst glaubte ich, daß es sich um irgendeinen Kollegen handelte, mit dem zusammen er einen Streich plante.«

»In der Tat interessant.«

»Als ich gestern abend zu den Schiffswracks hinausruderte, um hinter die heimlichen Zusammenkünfte auf der ›Gamba‹ zu kommen, war ich davon überzeugt, daß Smith, falls man ihm Rantens Tod zur Last legen kann, einen männlichen Komplicen gehabt hat. Noch als ich die in Chauffeursuniform gekleidete Person da draußen beobachtete, war ich in dem Glauben, daß es sich um einen Mann handelte. Ich hatte ja keine Gelegenheit, das Gesicht zu sehen. Sonst hätte ich Frau Ranten wahrscheinlich trotz ihrer Verkleidung erkannt. Das heißt, wenn nicht auch das Gesicht irgendwie künstlich verändert war. Sie sind ja beide dunkel, und mit ein wenig Schminke und einem schwarzen Schnurrbart sollte es ihr nicht schwerfallen, sich ein Smith ähnliches Gesicht zuzulegen, so daß man zumindest bei schwacher Beleuchtung die beiden verwechseln könnte.

Als ich das Haar auf dem gelben Seidenkissen entdeckte, kam mir zuerst der Verdacht, daß ich es mit einer als Mann verkleideten Frau zu tun hatte. Von den roten Flecken auf den Zigarettenstummeln nahm ich anfangs an, daß sie von Blut herrührten. Als ich dann bei meinen Untersuchungen feststellte, daß es sich nicht um Blut, sondern um Lippenschminke handelte, wurde mir alles klar. Die Person in der Chauffeurskleidung war eine Frau. Aber wer konnte es sein?

Auf diese Frage konnte ich am Anfang keine Antwort finden. Die Fingerabdrücke von Fräulein Ranten auf dem Brief der Rächer und auf dem Bogen, der sich in dem Umschlag befand, in dem das Testament sein sollte, veranlaßten mich zu dem schwachen Verdacht, daß sie in der Todesnacht ihres Vaters den Chauffeur zu später Stunde Rantens Zimmer hatte verlassen sehen, aber diese Behauptung könnte dazu gedient haben, das Ganze noch zu verwirren. Aber da du mit aller Kraft eine Lanze für sie brachst und mit Bestimmtheit versichertest, daß sie weder Lippenschminke benutzte noch Zigaretten rauchte, schwand mein Verdacht. Wenn man soviel mit einer Frau zusammen gewesen ist wie du mit Annie Ranten, muß man wohl beurteilen können, ob sie Rot auflegt oder nicht. Ich mußte also meine Fühler nach einer anderen Richtung hin ausstrecken. Von der anscheinend tiefen und aufrichtigen Trauer Frau Rantens über den Tod ihres Gatten ließ ich mich täuschen. Sie scheint in jeder Hinsicht eine ausgezeichnete Schauspielerin zu sein, die es versteht, ihre Rolle zu spielen – nicht nur als trauernde Witwe, sondern auch als Chauffeur. Sicher ist es ihr gelungen, großen Einfluß auf Smith zu gewinnen, der sich anscheinend in seine schöne Herrin verliebt hat. Andererseits ist auch möglich, daß ihr der elegante Chauffeur besonders gut gefallen hat. Er scheint mir ein Frauenjäger zu sein. Er glaubt, vornehmer als die anderen Bedienten zu sein, und hat weder mit Gustafsson noch mit dem weiblichen Teil des Personals Umgang. Gustafsson selbst erzählte mir, daß Smith nicht besonders beliebt ist, weil er sich so für sich hält.

Man könnte meinen, daß die Zusammenkünfte auf der ›Gamba‹ Schäferstündchen zweier Liebenden sind. Vielleicht ist es auch so. Zumindest ist es am Anfang sicher so gewesen. Ich für meinen Teil hege jetzt jedoch den Verdacht, daß diese Zusammenkünfte noch einen ernsthaften Hintergrund besitzen. Denke nur an die Schreibmaschine, die ich fand und auf der der Brief der Rächer geschrieben worden ist. Der Beweis ist erbracht, daß jene Personen, die sich im Achtersalon der ›Gamba‹ aufhalten, Rantens Tod nicht ganz fernstehen. Es ist ja möglich, daß Smith allein den Brief geschrieben und ihn in den Papierkorb gelegt hat. Er kann Ranten, ehe er mit ihm ausfuhr, ein Betäubungsmittel beigebracht haben, und er kann den Mord nach einem von ihm ausgearbeiteten Plan verübt haben, der den Anschein erwecken soll, daß es sich um Selbstmord handelt. Für einen Mann, der eine so schöne und reiche Frau, wie Frau Ranten, gewinnen will, war Ranten nur das große Hindernis, das beseitigt werden mußte.«

Williams erhob sich und fing an, im Zimmer hin- und herzuwandern und blieb dann vor seinem Freunde stehen. »Wir haben eine Menge Indizien. Aber was haben wir für Beweise? Keine, die ein Gericht anerkennen würde. Wir wissen, daß der Chauffeur Smith und Frau Ranten heimliche Zusammenkünfte auf der ›Gamba‹ haben, aber wir können es nicht beweisen. Ebensowenig können wir beweisen, daß die trauernde Witwe hie und da in Chauffeurkleidung auftritt. Wir kommen zu nichts, wenn wir die beiden nicht entlarven können. Und wie wir das fertigbringen sollen, weiß der Teufel. Wir müssen ausklügeln, wie wir den beiden zuleibe rücken können, ohne daß sie eine Ahnung davon haben, daß wir die Zusammenhänge betreffend Rantens Tod kennen. Deshalb schlage ich vor, wir warten erst mal ab. Vielleicht findet sich bald eine Möglichkeit, daß wir zuschlagen können.«

»Könnte man die Villa nicht nachts bewachen lassen?« fragte Ringe. »Vielleicht setzen sie ihre Ausflüge auf die ›Gamba‹ fort. Wir beide können uns zum Beispiel auch an Bord verstecken und in dem Augenblick auftauchen, wenn das edle Paar aus dem Salon kommt. Ein Aufblitzen unserer Taschenlampen, und wir würden …«

»Uns unsterblich blamieren«, fiel Williams ein. »Nein, mein Lieber, so geht das nicht. Da wäre es vielleicht besser, Fräulein Ranten in unser Geheimnis einzuweihen. Wir beide können uns ja auf die ›Gamba‹ hinausbegeben. Und wenn Frau Ranten in die Villa zurückkehrt und auf ihr Zimmer geht, könnte Fräulein Ranten aus ihrem Zimmer hervortreten und überrascht tun, Smith oben im Korridor zu begegnen. Es wäre interessant, das Gesicht zu sehen, das Frau Ranten dann macht.«

»Das ist ja alles ganz schön«, sagte Ringe, »aber es geht leider nicht. Dein Vorschlag kommt zu spät.«

»Wieso?« fragte Williams.

 

»Ach ja, ich habe vergessen, dir zu erzählen, daß Annie morgen fortreist«, antwortete Ringe. »Sie fährt auf meinen Vorschlag hin nach Norrland. Das arme Mädel ist ja ganz herunter. Besonders das Auftreten ihrer Stiefmutter scheint sie sehr mitgenommen zu haben. Gestern war sie ganz verzweifelt. Wir haben schon die Fahrkarte besorgt. Sie reist nach Kolasen in Jämtland. Im Reisebüro wurde ihr dieser Ort als besonders ruhig empfohlen. Um diese Jahreszeit gibt es da kaum Gäste.«

»Das verändert natürlich die Sache«, sagte Williams. »Da müssen wir einen anderen Ausweg suchen. Wann reist Annie?«

 

»Morgen abend mit dem Nachtexpreß«, antwortete Ringe. »Ich wünschte, ich könnte mitfahren. Das sagte ich ihr auch, allerdings mehr scherzhaft. Und da huschte wirklich die Andeutung eines Lächelns über ihre Züge. Übrigens das einzige Mal während der ganzen Zeit.«

»Wir haben in den nächsten Tagen anderes zu tun, lieber Ringe«, sagte Williams. »Zwei Morde sind aufzuklären.«

»Zwei Morde?«

»Hast du den Mord am Torsplatz schon vergessen?« sagte Williams. »Der ist auch für uns bedeutsam geworden.«

»Wieso?«

»Gunhild Maria Save ist mit dem Hammer getötet worden, den wir zusammen mit den Glasscherben fanden«, sagte Williams.

»Teufel noch mal!«

 

»Ich schlage deshalb vor, daß du in das Haus am Torsplatz gehst und dich bei den Mietern erkundigst, ob jemand Frau Save mit einem Mann zusammen gesehen hat, und wie der aussah. Gegebenenfalls gibst du eine Beschreibung von Chauffeur Smith. Es ist leicht möglich, daß du jemand findest, der dir Auskunft geben kann. Vergiß auch nicht, das Normallokal unten in dem Haus zu besuchen. Serviermädchen pflegen die Augen offen zu halten. Sie beobachten ihre Gäste, besonders wenn es sich um gutaussehende Männer handelt, und zu diesen muß man Smith ja rechnen. Er gehört zu den Typen, die die Frauen nicht so leicht vergessen. Wenn Smith nun Frau Save wirklich gekannt hat, ist es möglich, daß er vor oder nach seinem Besuch bei ihr noch schnell bei Norma ein Pilsener getrunken hat. Wenn wir nur eine Photographie von ihm hätten, das würde die Angelegenheit bedeutend vereinfachen. Aber du hast auf jeden Fall einen großen Vorsprung vor der Kriminalpolizei, die natürlich jede Menschenseele in dem Hause ausgefragt hat. Du kannst wenigstens die Beschreibung einer gewissen Person geben. Und falls jemand den Gesuchten wirklich beobachtet hat, bekommt er dadurch einen Anstoß.«

»Die Uhr ist erst acht«, sagte Ringe, »so daß ich noch eine ganze Stunde Zeit habe, bis die Haustür geschlossen wird. Soll ich dich anrufen, falls ich etwas Wichtiges erfahre?«

»Arbeite nur in aller Ruhe, wir treffen uns dann morgen früh um neun wieder hier«, sagte Williams. »Ich bin nicht neugierig. Entweder es beißt jemand an, oder du wirfst deinen Angelhaken vergebens aus. Sollten Damen von der leichteren Sorte in dem Hause wohnen, mußt du sie besonders ins Gebet nehmen. Hole den Wagen und bewaffne dich für alle Fälle mit ein paar Flaschen Wein. Findest du ein passendes Opfer, d. h. jemand, der unseren Don Juan gesehen hat, dann nur hervor mit dem Alkohol. Und wie es dann weitergeht – na, du wirst schon sehen.«

»Wie der Herr Chef befehlen«, sagte Ringe lächelnd und schlug die Hacken zusammen. »Aber was für Wein soll ich nehmen?«

»Nimm ein paar Flaschen Champagner, der pflegt die Zungen zu lösen«, antwortete Williams.


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