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Professor Reimers.

Von C. N. Schnittger.

Wer früher den Schleswiger Pferdemarkt besuchte, konnte sicher sein, dort eine Schaubude zu finden mit der Überschrift: »Neuestes Zaubertheater von W. Reimers, Professor der natürlichen Magie, ägyptischen Zauberei und griechischen Phänomene, Mitglied der magischen Fakultät in Athen.«

Vor der Bude stand ein Mann in einem abgetragenen Anzuge von schwarzem Samt, wie denn seine ganze Erscheinung etwas Verwittertes hatte. Sein Gesicht war scharf geschnitten, die Farbe gelb, Haar und Bart waren pechschwarz, die Haltung zeugte von großem Selbstbewußtsein; kurz, alles deutete auf eine südliche Abstammung, vielleicht auf eine spanische. Allerdings hätte er auch wohl ein Italiener sein können, aber seine Grandezza schien darauf hinzudeuten, daß seine Wiege am Fuße der Pyrenäen gestanden hatte.

Es tut mir nun leid, daß ich, als wahrheitsliebender Erzähler, sogleich wieder alle Illusionen bei dem Leser zerstören muß; denn der Mann, von dem hier die Rede ist, stammte nicht aus Spanien sondern aus Dithmarschen und zwar aus der Stadt Heide. Es war der berühmte Professor Wilhelm Reimers.

Zuerst trat Reimers als Orgeldreher auf. Die originelle und fremdartige Erscheinung dieses Mannes erregte die allgemeine Aufmerksamkeit, und ich erinnere, daß er schon in meinen frühesten Kinderjahren für mich mit einem Nimbus des Geheimnisvollromantischen umgeben war. Unter den Orgeldrehern nahm er einen hervorragenden Rang ein, da er immer die schönsten Schilder und die schrecklichsten Mordgeschichten hatte. Ganz und gar aber gewann er meine Gunst, als er als Policinellospieler auftrat, denn hierin war er Virtuos. Wie oft bin ich seinem Policinellokasten nachgelaufen; bald konnte ich seine sämtlichen Dramen Wort für Wort rezitieren, und der Beruf eines solchen Dramatikers schien mir wahrhaft beneidenswert zu sein. Aber auch Reimers fühlte sich ganz und gar in seinem Beruf. Als er einst in Schleswig in einem vornehmen Bürgerhause sammelte, und die Frau des Hauses, die aus Heide stammte und mit Reimers, »als er noch im Flügelkleide in die Mädchenschule ging«, auf einer Bank gesessen hatte, ihn bedauern wollte, sagte er: »Min gude Deern, bedur mi nich! Ick bin de glücklichste Minsch, denn ick bin in min richtige Beruf kamen, un dat kann nich jeder von sick segg'n. Ick lev awer ok ganz vör min Beruf.« So kehrte Reimers jedes Jahr zu den Märkten wieder, und wenn er einmal nicht erschien, so fehlte dem Markte etwas an seiner Vollständigkeit. Was war denn aber seine Abstammung, und was war sein früherer Beruf gewesen? Ja, das wußte niemand, und so war auch seine Vergangenheit sagenhaft. Ich habe darüber nichts weiter erfahren, als was mir in einem Briefe mitgeteilt wurde. Die betreffende Stelle lautet: »Ich stand als kleiner Junge mit vielen Genossen auf der Straße und lauschte den Klängen einer Drehorgel. Aber nicht allein Ohren- sondern auch Augenweide gab es dabei. Neben der Orgel stand, an einer Latte befestigt, ein großes, nach unserem Geschmack wunderschön gemaltes Schild. Es zeigte in verschiedenen Feldern einzelne Episoden einer Mordgeschichte und zu allerletzt natürlich eine Enthauptung mit unmäßig viel Blut. Vor dem Schilde stand ein Mann von mittlerer Statur mit zigeunerartig gebräuntem Gesicht, schwarzem Haar, dunklen, kurz blickenden Augen, der während des Singens die betreffenden Abbildungen, kräftig mit einem Retstock darauf schlagend, bezeichnete. Das war Wilhelm Reimers und die Geschichte, die er heruntersang, war Bürgers »Leonore«. »Wer ist dieser Orgeldreher?« fragte man sich. »Ein verbummelter Student« hieß es. »Nein,« sagte ein anderer, »er war Buchbinder. Er hängte sein Geschäft, als er einen ihm zugefallenen Lotteriegewinn verjubelt hatte, an den Nagel und warf sich auf »die freien Künste«. Die letzte Lesart ist wohl die richtige.«

Klaus Groth läßt Reimers in seinem »Quickborn« sagen: Siehe das Gedicht »Orgeldreier«.

»Ick sprung noch inne Kinnerbüx,
do weer ick all en Daugenix;«

und weiter:

»Min Vader schick mi hen na Schol,
ick hal mi oft en Pockel vull
und mak den Rekter splitterdull;
min Lex, den wuß ich slech.
Sum sus – dat wull der gar nich 'rin;
ick flök den Kram tum Döwel hin,
en Prester steek der doch nich in!
Mi stun dat Swart in'n Weg.«

So zog denn unser Reimers mit seinem Policinellokasten von Stadt zu Stadt, und es mag wohl kaum eine Persönlichkeit in Schleswig-Holstein gegeben haben, die bekannter war als er. Mit der Zeit stieg er eine Stufe höher, indem er Besitzer einer Schaubude wurde, worin er ein förmliches Kasperletheater einrichtete. Aber alles hat seine Zeit, und so verlor auch das Kasperletheater nach und nach an Reiz. Nun assoziierte Reimers sich mit einem Zauberer und früheren Zirkusbesitzer, namens Karl Pötau aus Hamburg.

Pötaus Wiege hatte beim roten Sood in Hamburg, der Heimstätte so manchen fahrenden Künstlers, gestanden. Auf seinem wechselvollen Lebenswege war ihm sein Zirkus abhanden gekommen, und so hatte er sich wie Faust aus Verzweiflung der Magie ergeben. Reimers als gewandter Geschäftsmann ernannte ihn sofort zum »Professor Charles de Pötau aus Paris«. Und nun kam neues Leben in die Bude. Die von Reimers mittels eines Sprachrohres angekündigten Vorstellungen hatten drei Abteilungen. In der ersten Abteilung trat der Zauberer auf und machte seine magischen Künste. Die zweite Abteilung zeigte die unverbrennbare Dame. Diese war Reimers' Gemahlin, eine mit der Zeit durch die Sonne zur Brünetten gewordene Blondine, die von einer brennenden Fackel mit einer Gabel Stücke ablöste und diese brennend in den Mund steckte. In der dritten Abteilung wurde die Enthauptung eines lebenden Menschen dargestellt. Hier trat Reimers mit einer schauerlichen Würde als Scharfrichter auf. Mittels eines ungeheuren Richtschwertes aus Blech schlug er einem großen Jungen mehrmals am Tage den Kopf ab und setzte ihn wieder an.

Aber keine Rose ohne Dornen! Ob die Frau Professor Reimers sich schließlich in Feuer leid gegessen hatte, oder ob die Seelenharmonie des Paares nicht mehr die frühere war, genug, sie trennte sich von ihrem Gemahl, indem sie ein eigenes Geschäft gründete und mit dem »kleinen schwarzen Mann von Amsterdam« (dem kartesianischen Teufel) umherreiste. Da saß sie denn auf den Märkten neben ihrem Wahrsagerapparat und rauchte den ganzen Tag aus einer kurzen Pfeife. Reimers dagegen führte dem Publikum als zweite Gemahlin »Die fliegende Dame« vor, eine kleine Person, angeblich dem klassischen Boden Griechenlands entstammend, die auf der Bühne in ruhender Stellung in der Luft schwebte. Auffallend war die Leichtigkeit, mit der sie sich bei ihrer griechischen Abstammung die plattdeutsche Sprache angeeignet hatte. So durchzog denn auch dies Paar noch jahrelang das Land, bis es alt und grau wurde, und dann – war es verschwunden. – Wohin? Niemand hat es erfahren. Jedenfalls wandelt es längst nicht mehr auf Erden. Den Ruhm möge Wilhelm Reimers mitnehmen, daß er ein ausgezeichneter Policinellospieler war, doch – »dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze!«

 

Anmerkung des Herausgebers:

Klaus Groth und Reimers sollen Schulkameraden gewesen sein. Von beiden erzählte man sich früher die folgende Anekdote, deren Wahrheit freilich nicht verbürgt werden kann: – Einst trafen sich die Genannten zufällig in Kiel, und Reimers erkundigte sich sofort nach dem Befinden des Dichters. Dieser, wenig erfreut über die Teilnahme seines einstigen Jugendgenossen, suchte ihm auszuweichen. Aber Reimers hielt ihn fest, indem er sagte: »Loop man nich glik von mi, ick bin ebenso veel wie du, ick bin ock Professor.« »Das ist ja schön, lieber Reimers,« antwortete der Dichter, »ich habe dich auch in meinem ›Quickborn‹ verewigt.« – »Ick heff ock för di sorgt, Klaas, denn ick heff di in min Putschenelekasten bröcht!« –

Im »Quickborn« bezieht sich sicherlich folgende Stelle aus »De Heisterkroog« auf Reimers, sie lautet:

... dar kumt en Hexenmeister,
de Künsten kann, wo Een de Hut bi schudert.
De hett al unnerwegens Dinger makt
mit Halsafsnieden un mit Koppopsetten,
un hett Dukaten kloppt ut Höhnereier!

Der Nachfolger von Reimers auf dem Gebiet der höheren Magie wurde »Professor Lorgie«, ein geborener Hamburger, aber bei weitem ein vornehmerer Mann als sein Vorgänger. Lorgies Paradestück war »eine Schreckensszene«, die der Künstler einst die Ehre hatte, im Berliner Schloß vor dem Kaiser Wilhelm I. und der kaiserlichen Familie aufführen zu dürfen. Lorgie erschien hierin mit einem Eimer trüben Wassers auf der Bühne und goß den Inhalt auf die Kleider der vor ihm sitzenden Damen. Die Flüssigkeit hatte sich aber plötzlich verwandelt. Anstatt mit unreinem Wasser waren die Damen mit den schönsten Rosen überschüttet. – Der Künstler, der sein Vermögen durch eine verfehlte Spekulation verlor, war gezwungen, in den letzten Jahren seines Lebens wieder zum Zauberstab zu greifen. Seine Leistungen hatten aber inzwischen ihre frühere Zugkraft verloren; im Jahre 1891 traf ihn in seinem Wohnwagen ein Herzschlag.

Hier soll noch auf folgende Marktgestalten, die unserem »Pferdemarkt« einst ein spezifisch heimatliches Kolorit gaben und groß und klein Jahrzehnte hindurch erfreuten, hingewiesen werden.

Da war zunächst der würdige Weißbart Grawehl, der unübertroffene Interpret schauerlicher »Mori-Taten«. Seine Reckengestalt überragte die ihn umstehende Menschenmenge um Haupteslänge; ein in ungleiche Felder geteiltes, bemaltes Schild zur Seite seiner Orgel belebte den Vortrag, und andächtig lauschte das Auditorium, wenn er die Erklärung seines Bildes begann und darauf mit etwas verschleiertem Bariton einsetzte:

»Schrecklich ist es, wenn das Leben
jäh entrafft der kalte Tod« – usw.

Grawehl wanderte nicht über Schleswig-Holstein hinaus, dazu war er zu sehr Partikularist. Wie Lorgie so ist auch er »in den Sielen« gestorben. Der Tod erschien ihm plötzlich, inmitten des Markttrubels, als er gerade mit seinem langen Stecken in gewohnter Weise demonstrierend auf die Leinewand schlagen wollte, und führte ihn hinweg aus dem irdischen Leben, dessen Nachtseiten er stets dargestellt und sich zum Brotstudium zu machen verstanden hatte.

Ein weiterer Skalde war der Invalide Stolz. Ihm, der auf Idstedts Flur für Recht und Vaterland geblutet, wandte sich die Gunst des Publikums in besonderem Maße zu. Auch er sang nicht von Lenz und Liebe, Helden- und Vaterlandslieder allein schwellten seine Sängerbrust, und was an Patriotismus sein Inneres bewegte, das ließ er ausströmen in den beliebten Weisen: »Schleswig-Holstein meerumschlungen«; »Es war auf Jütlands Auen«; »Blau wie der Himmel« usw.

Den Beschluß dieser Skizze mag jener Mann bilden, der im kräftigsten Monolog von erhabenem Stand seine verschiedenartigen Waren »mit Schaden verschleuderte« – Jakob aus Amerika. Hier ist aber der »wahre« Jakob gemeint, den uns der Israelit Jakob Mehlhausen aus Hamburg zuerst brachte. Mehlhausen war, bevor er unter die fahrenden Leute ging, in Amerika gewesen, wo er seine Studien gemacht hatte. Seinen bald zahlreich erscheinenden Konkurrenten, deren Epigonencharakter deutlich erkennbar war, mußte der »Wahre« schließlich das Feld räumen. Seit reichlich einem Jahrzehnt deckt auch ihn das Grab.

Aus: C. N. Schnittgers Erinnerungen eines alten Schleswigers.
(Schleswig, Johs. Ibbeken.)


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