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Von Eilhard Erich Pauls.
Ein Fischerstädtchen träumt hinter den Deichen. Die Strohdächer seiner niedrigen Hütten sind von der grünen Patina dichten Mooses überzogen. Und wo ein stattlicheres Haus am Markte steht, da ist sein Ziegeldach braun vom Alter und schwer eingebogen. Seine Fenster sind niedrig, und eine große Steintreppe vor seiner Tür hat ausgetretene Fliesen. Mächtige, zackige Eisenketten schwingen sich von Pfeiler zu Pfeiler das Haus entlang. Ein Flachskopf schaukelt sich auf der Kette. Dann springt er ab und klappert in schweren Holzschuhen die Straße hinunter. Im Hafen liegen Torfmutts und Fischerboote träg auf der Seite im silbernen Schlick. Die Segel sind fest gerollt, und die kahlen Masten ragen in die Höhe. Die Möwen kreischen, aber die Menschen schlafen.
Am Abend wird die Flut kommen, dann trotten die Fischer in schenkelhohen Stiefeln, die mit Stroh ausgestopft sind, in Friesjacken und Ölrock, das dicke blaue Tuch um den Hals dreimal geschlungen, herbei und ziehen die Segel auf. Aber sie lärmen nicht, sie singen nicht, und sie reden nicht. Dann fahren sie hinaus. Und der Hafen schläft wieder. Leise nur schlagen bei steigender Flut die Wellen an das Bollwerk. In dem Städtchen ist nie Bewegung gewesen.
Und der flachshaarige Junge trollt wieder nach Hause, schaukelt noch einmal auf der eisernen Kette. Dann klappert er die Steinfliesen hinauf, aber ehe er die Türklinke berührt, nimmt er die Holzschuhe von den Füßen und hält sie in der Hand, wenn er die Tür öffnet. In dem stillen Hause darf nur die Türglocke Lärm machen, die schrill durch die weite Diele gellt. Die Mutter drückt dem Knaben ein großes Brot in die Hand und zieht ihm die wollene Mütze von dem Blondkopf. Aber dann geht der Junge zur Mö.
Antjemö ist uralt, älter als alles, älter als Vater und Mutter. Antjemö ist nur Magd im Hause, aber sie weiß alles. Sie weiß, was der Vater gesagt hat, als er von seinem Vater Prügel bekam, und als er die Mutter heiratete. Aber sie weiß auch, wer vor vielen hundert Jahren in dem Hause gewohnt hat, und was die Fischer draußen gesehen haben. Antjemö weiß alles und erzählt alle die Geschichten, die ein stilles Knabenherz mit großer Sehnsucht erfüllen.
Antjemö arbeitet immer. Antjemö schabt Rüben für den kommenden Mittag. Da geht der Knabe zu ihr.
»Gib her, Antjemö!«
Und die alte Magd gibt dem Knaben. Der setzt sich vor sie hin auf den Küchentisch. Die Lampe steht neben ihm und beleuchtet sein rundes Gesicht scharf von der Seite. Sein Flachshaar leuchtet wie Gold, wie feine goldene Seide.
»Erzähl', Antjemö!«
Und Antjemö erzählt, erzählt von Ubben Ubbena. Da werden des Knaben Augen groß und glänzen. Er kennt die Geschichten von Ubben Ubbena alle, aber seine Erwartung ist jedesmal neu und gewaltig, und die Sehnsucht mächtig in seinem stillen Leben. Denn Ubben Ubbena ist der große Seeräuber, ist größer noch als Gödecke Micheel, der bei der Springflut sein Schiff an dem goldenen Knauf des Kirchturms vertäute, ist größer noch als Klaus Störtebecker, dessen Masten mit reinem Golde ausgefüllt waren. Ubben Ubbena ist der Held des stillen Städtchens und der Gott seiner stillen Knaben. Ubben Ubbena lebte vor vielen, vielen Jahren.
Und Antjemö schabt Rüben, und Antjemö erzählt.
Da war Ubben Ubbena auf See und war an der ganzen Küste gefürchtet. Auf seinem Mast wehte eine große purpurne Flagge, darin war mit silbernen Fäden ein weißes Roß eingenäht, das sprang hoch auf. Und darunter stand mit goldenen Buchstaben: »Höde di!« Und alle Menschen an der friesischen Küste von Texel bis Spiekeroog hüteten sich, mit Ubben Ubbena irgend etwas zu tun zu haben. Nur der neue Amtmann, der in unserer Stadt am Markte wohnte, fürchtete sich nicht vor ihm. Der war aber auch noch nicht lange in unserer Gegend. Der hatte gesagt, er wolle den Seeräuber hinrichten lassen, und er werde ihn kriegen. Dieser Amtmann hieß Tönding und war ein strenger Mann. Aber er hatte ein feines Töchterchen, das war fünf Jahre alt und war das zierlichste Ding, das es auf der Welt gab. Es hieß Engel, und alle Leute sagten, wenn sie auf dem Markte vorbeikamen und das Mädchen spielte auf der Steintreppe: »Es ist wirklich ein Engel!«
Und sogar der Scharfrichter, als er einmal vorüber kam, sah er das kleine Mädchen spielen. Da ging er hin und hob es auf und küßte es auf das seidene blonde Lockenhaar. Aber das hatte die Frau Amtmännin gesehen: Die kam rasch herbeigelaufen und riß das Kind entsetzt an sich. Da sagte der Scharfrichter: »Frau Amtmännin, wenn ich auch sonst nicht gern wieder herausrücke, was ich einmal unter den Händen habe, solch ein Engel ist auch bei mir sicher.«
Aber man weiß doch nie, wie das Ende an einen Menschen kommt.
Einmal spielte Engel auf dem Deiche hinter dem Hafen und warf Hände voll Sand in das Meer. Es war Flut, und die Wellen schlugen hoch auf, und der Wind flog in Engels Blondhaar.
Und an diesem Abend warteten sie zu Hause umsonst auf Engels Heimkehr. Die Mutter weinte, und der Amtmann ging mit seinen Knechten hinaus. Sie gingen an den Hafen und auf den Deich. Sie warteten die Ebbe ab, und alle Männer, die in der Stadt waren, gingen hinaus und wateten durch den Schlick und suchten Klein-Engel. Sie suchten in den Booten und in den Torfmutts, sie schrien nach ihr auf den Deichen und auf den Wiesen, sie tasteten mit langen Stecken nach ihr in allen Gräben. Da kam ein Fischer und sagte: »Ich sah das silberne Pferd auf der purpurnen Flagge.«
Da sagten alle Männer leise: »Ubben Ubbena!« und gingen alle nach Hause. Auch die Knechte des Amtmanns gingen nach Hause und erzählten der Mutter, daß Ubben Ubbena Klein-Engel geraubt habe. Da wurde die Mutter ohnmächtig. Aber der Amtmann suchte weiter. Er ging auf den Deichen und auf den Wiesen entlang und wußte nicht, wo er war. Bald rief er »Klein-Engel!« in die Nacht hinaus und weinte und betete, und seine Hände zitterten und seine Lippen bebten.
Und bald schrie er: »Ubben Ubbena!« in die Nacht und in den Wind hinaus, und die Ader an seiner Schläfe schwoll mächtig an, und er fluchte gräßlich und wimmerte leise. Und die Möwen schrien.
Als es Tag geworden war, schickte die Amtmännin wieder die Knechte aus, aber nicht nach Klein-Engel sollten sie suchen. Klein-Engel war verloren. Die Knechte fanden den Amtmann auf dem Deiche sitzen und Hände voll Sand in die Wogen der See werfend, denn es war Flut.
Und es vergingen viele Jahre. Der Amtmann war alt geworden und grausam und hart. Er rüstete Schiffe aus mit tapferen, starken Männern und mit Kanonen. Und wenn er einen Seeräuber gefangen hatte, dann ließ er ihn und alle seine Matrosen gleich am nächsten Tage hinrichten. Aber alle Frauen, die er auf den Seeräuberschiffen gefangen nahm, ließ er frei. Aber Engel war nicht darunter. Und Ubben Ubbena fing er nicht.
Zehn Jahre vergingen so. Da kam ein großer Tag. Der Amtmann kehrte heim mit seinen Schiffen, und am Mast des vordersten Schiffes wehte die purpurne Flagge mit dem weißen Pferde. Ubben Ubbena war gefangen und ein junger Matrose. Die andern waren entkommen.
Und am andern Mittag standen Ubben Ubbena und der gefangene junge Seeräuber auf dem Richtplatz, und der Henker stand vor ihnen, und der Amtmann saß vor ihnen und war bleich in hartem Grimm.
Da sagte Ubben Ubbena zu dem Amtmann: »Gib meinen Matrosen frei! Er ist unschuldig. Er tat nur, was ich ihm befahl.«
Da sahen der Amtmann und alle Menschen, die versammelt waren, auf den jungen Seeräuber. Und sie waren betroffen von so viel Schönheit. Es war eine edle, schlanke Figur und ein feines weißes Gesicht. Und die großen, hellen, blauen Augen sahen unverwandt auf Ubben Ubbena.
Aber in des Amtmanns Augen war der Haß.
»Ubben Ubbena,« sagte er, »du weißt, was du mir getan hast. Dein Knabe stirbt, damit ich dir vergelte.«
Da warf sich der mächtige, große, gewaltige Ubben Ubbena dem Amtmann vor die Füße und flehte ihn an um das Leben seines Matrosen.
Da ward des Amtmanns Gesicht verzerrt.
»Hast du ihn lieb?« fragte er.
»Ja!« schrie Ubbena. »Ich habe ihn lieb!« Und es war der Schrei eines gequälten Herzens. Aber der Schrei erstickte unter den Küssen des Matrosen, der Ubben Ubbenas Hals mit seinen schlanken Armen umfaßte.
»Wenn du ihn so lieb hast,« sagte der Amtmann, und er war aufgestanden und sprach es voll Haß, »so soll er vor dir sterben. Daß ich vergelte, was du mir getan hast.«
Da arbeitete wilde Erregung in Ubben Ubbenas mächtigem Körper. Aber er richtete sich hoch auf und sprach: »So höre, Amtmann! Es ist – –«
Aber da küßte ihn der Matrose von neuem mitten auf den Mund und sprach – hell klang die Stimme und süß: »Du sollst nicht demütig sein, Stolzer, ich will mit dir sterben!«
Da schwieg Ubben Ubbena.
Der Amtmann winkte.
Und als des jungen Matrosen feines Haupt in den Sand rollte, sprang Ubben Ubbena wild herzu, hob das Haupt auf und küßte es mit toller Inbrunst und bedeckte es mit seinen Tränen.
Er ließ das Haupt, das feine, junge, geliebte, nicht aus den Händen, als er selbst niederkniete.
Aber ehe des Henkers Schwert seinen Nacken traf, rief er dem Amtmann zu: »Es war Engel, deine Tochter!«
Aus: Eilhard Erich Pauls, Vom Leid. Novellen. (Hamburg, E. Schloeßmann.)