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III. Volksart und Volkssitte.

Hamburger Jungen.

Von Gustav Falke.

Was ist ein Jahr für einen stillen Winkel wie Ohlsens Gang! Vorne, an der Straße, ging kein Jahr spurlos vorüber. Ihr Aussehen änderte sich rastlos. Hier ein neuer Anstrich, da eine neue Fassade, dort ein ganzer Neubau. Gleichgültige bemerkten es erst spät, Aufmerksame folgten der steten Verwandlung und ärgerten oder freuten sich.

An Ohlsens Gang, schien es, gingen selbst zehn Jahre spurlos vorüber. Ein paar Schritte nur, und jenseits des Torweges trug der Strom die Fülle brausenden Lebens hinaus ins Meer. Dort begrüßten sich die Länder aller Erdteile mit ihren Flaggen und ihren Erzeugnissen. Hier, hinter diesem dunklen Torweg, schien das Leben stillzustehen. Es blieben immer dieselben alten Häuser mit denselben alten Fenstern, denselben alten Gardinen, denselben alten Blumentöpfen vor den kleinen Scheiben. Standen auch vorübergehend mal Nelken vor dem Fenster der Cyriaks, im allgemeinen hielt sie sich doch an Goldlack, und die Schulzen über ihr zog Geranien.

Jeden Morgen öffnete die Cyriaks ihr Fenster und warf die Brotkrumen von ihrem Frühstück den Sperlingen hin, die sich pünktlich auf diesem Futterplatz einfanden. Und jeden Sonnabend roch es nach Seife in Ohlsens Gang, und lief Seifenwasser in der Mitte im Rinnstein, denn alle Haustüren und Fenster wurden da einer gründlichen Reinigung unterzogen. Es hatte alles seinen geregelten, eintönigen, schleppenden Gang hier im Winkel.

Und in diesen greisenhaften, hinträumenden Häusern, waren es nicht immer dieselben Leute? Es starb mal einer, machte Platz. Aber wer an seine Stelle kam, sah er nicht aus wie er? Sie trugen alle die Kleider der Armut, hatten alle die Gewohnheiten und Hantierungen der kleinen, abseits lebenden, in die Ecke gedrängten Stiefkinder des Lebens. Etwas Altes, Müdes, Graues wie ihre Häuser. Auch die Jungen, auch die Kinder, Ja, auch diese.

Hugo Winsemann und Mariechen Mau, hatten sie nicht beide diese suchenden Augen, als ob sie immer nach etwas aussähen, nach einem Stückchen Himmel, nach einem bißchen Glück, nach ein bißchen Sonnenschein auf den gegenüberliegenden Dächern, nach einem einzigen Stern an dem schmalen Himmelsband, das von den schiefen, schmutzigen Giebeln von Ohlsens Gang eingefaßt wurde, oder nach St. Michaels grüner Spitze, die da so hoch und einsam über allem Dächergewirr in die Luft ragte?

Und Anton Krautsch, hatte der nicht so offene, helle Augen, die alles mit einem großen, flinken Blick zu umfassen schienen? Augen, vor denen die ganze Welt ausgebreitet lag? Sie brauchten nicht zu suchen, sie öffneten sich und sahen alles. Tausend Sterne mit einem Blick, den Strom mit all seinen Schiffen, seinen Masten und Segeln, das brausende Leben auf der Straße, das auf dem Wasser und im Winde, und das geräuschvolle drüben auf den Werften, dessen heißer Atem durch hundert Schlote in den weiten Ozean der Luft hinaufströmte.

Hugo, der jetzt endlich aufzuleben und ein Junge zu werden schien und sich viel mit Anton und anderen Kameraden umhertrieb, behielt trotzdem diesen suchenden, etwas ängstlichen, verkümmerten Blick, wenn ihn nicht besondere Knabenfreude mit fortriß.

*

Sie waren jetzt alle vier Jahre älter. Große Bengels von zwölf und dreizehn Jahren, rechte Hamburger Jungens von der Wasserkante, die nicht nur auf der Straße zu Hause waren sondern auch auf dem Strom. Sie konnten rudern wie ein richtiger Jollenführer, kannten alle Schiffe und bewegten sich in Ausdrücken, die meist nach Seewasser und Tabak rochen. Den Ton gab Fritz Kleesand an. Der hatte die Schule schon verlassen und sollte im Sommer auf See gehen. Er sprach schon wie ein Matrose und priemte. In der Schenke seines Vaters verkehrten genug Lehrmeister, die seine Erziehung in dieser Hinsicht übernahmen, ohne daß sie etwas mehr taten, als ihn durch Beispiele zu leiten, indem sie tranken, fluchten, aufschnitten, Karten spielten und kauten und schnupften.

Den anderen imponierte sein seemännisches Wesen. Nur das Kauen flößte ihnen Ekel ein, und Anton, der etwas auf sein Zeug hielt, sagte einfach »Du Schwein!« als Fritz Kleesand ihm einmal aus Versehen – wer will das feststellen – auf den Stiefel spuckte. Das fand Fritz Kleesand so komisch, daß er laut auflachte.

Im allgemeinen vertrugen sie sich gut. Sie waren in den Jahren, wo die Phantasie, immer mit abenteuerlichen Plänen beschäftigt, die ersten praktischen Versuche macht, sich in der Welt zurechtzufinden, sich in diesen schäumenden und brausenden Wassern des Lebens eine Insel zu suchen, wo sie ihr Königreich gründen könnte. Fritz Kleesand träumte seines irgendwo in Indien oder Kalifornien, ohne bestimmte Vorstellung; nur erst einmal hinaus, weit weg, in die Freiheit!

Hugos Phantasie war mehr an Büchern genährt. Ihm lagen Robinson und Lederstrumpf im Kopf. Anton war wohl auch für Lederstrumpf aber weniger aus Lust am Abenteuerlichen und Phantastischen als aus dem gesunden Drang heraus, sich auszutoben, seinen jungen, wachsenden Kräften ein Bett zu finden, in dem sie sich austoben konnten. Das mütterliche Erbteil in ihm war mehr überwiegend. Er war mehr für Land als für Wasser, und da er auch die große Überredungsgabe von ihr hatte – Junge, konnte er schwätzen, wenn er in Eifer kam – so heckte er meistens die Touren aus und setzte seine Pläne durch. Heute aber, es war ein freier Sonnabendnachmittag, hatten sie Fritz Kleesand die Führung überlassen. Der sollte in vierzehn Tagen als Schiffsjunge mit Käpt'n Krüzfeld von der »Alaska« in See stechen. Es war das letztemal heute, daß er mit ihnen zusammen war. Da erwiesen sie ihm allerlei Ehre und taten nach seinem Willen. Der war natürlich aufs Wasser gerichtet, und recht famos, das heißt, recht abenteuerlich sollte es zu guter Letzt noch werden.

Sie wollten ein Boot nehmen und nach der Insel Roß hinüber rudern und Eroberer spielen. Sehr kriegerisch waren ihre Vorbereitungen nicht aber nicht ohne Umsicht und Einsicht. Krieg oder Frieden, der Magen will seine Rechte. Wer weiß, ob man am fremden Strande genügend Nahrungsmittel findet, ob die Eingeborenen gastliche Leute sind. Eine Erbswurst kann bei allen Unternehmungen gute Dienste tun. Ein Praktikus läßt sie nie außer Rechnung, und so stand bei allen Beteiligten schon wochenlang vorher fest, daß sie eine Erbswurst auf jeden Fall mitnehmen wollten. Sie wurde auf gemeinschaftliche Kosten angeschafft; Fritz Kleesand hatte den Einkauf übernommen. Dann war man übereingekommen, daß jeder für seinen Teil Proviant nach Wahl und Geschmack und in genügender Menge mitbringen solle. Anton sorgte für rote Wurzeln, Äpfel und Johannisbrot. Sein anderes Brot sollte jeder beistecken. Fritz Kleesand war für gemeinschaftlichen Einkauf von Schnecken oder Hörnchen oder so etwas Süßem; er war lecker. Aber Anton fragte ihn, ob er meine, daß Pizarro oder Kolumbus mit Apfelschnitten oder Vanilletorten auf die Entdeckung von Amerika ausgezogen wären. Und ob er glaube, daß er nachher bei Käpt'n Krüzfeld Schnecken zum Kaffee kriegen würde.

»Nu quatsch man nich erst wieder solang um so'n Dreck,« wehrte Fritz Kleesand ab, und dann brachte er nachher, um Anton zu beschämen, Schiffszwieback mit, richtigen, harten Schiffszwieback.

»Donnerwetter, Schiffszwieback!« rief Anton. »Wo hast du die her? Das ist famos. Da hatte ich auch an denken sollen.«

»Ja, nachher! Was wißt ihr, was zu einer Seereise gehört,« sagte Kleesand großartig und machte ein Gesicht, als hätte er noch etwas ganz Besonderes im Hinterhalt. Die drei Flaschen »Elbschloß« waren es nicht, denn davon hatte er eine unterm Arm, und die andern steckte jede ihren Hals aus seinen Seitentaschen heraus, von Anton gleichfalls mit einem vielsagenden »Donnerwetter!« begrüßt. Und die »Schweden«, die Fritz Kleesand vorzeigte, waren es wohl auch nicht.

»Dein Flintstein wird mal wieder keinen Funken hergeben,« sagte er zu Anton. »Besser ist besser.«

»So?« entgegnete Anton. »Wie fein brannte es neulich; das ist nur 'n Kleinigkeit,« -

Hugo war der stille Handlanger wie immer. Er hatte nicht über viel Barmittel zu verfügen und hatte keinen Vater, dem man Flaschenbier ausführen, und keine Mutter, der man Wurzeln und Apfel unter Einkaufspreis abluchsen konnte. Er hing von der Großmut der anderen ab und konnte sich nur mit einer Stange Lakritzen und einem Stück Schokolade im Gesamtwert von zehn Pfennigen, die er seiner Mutter mühsam abgebeftelt hatte, am »Freßdepot« beteiligen, das seiner Obhut anvertraut wurde, nachdem man es wohl verstaut hatte.

Anton setzte sich ans Steuer, und Fritz Kleesand legte sich in die Riemen. Natürlich hatte er vorher in die Hände gespuckt und sich die Mütze in den Nacken geschoben, und Anton, der sonst nicht so war, ließ das Steuer noch mal schnell fahren und machte es ihm nach. Die Anmusterung auf der »Alaska« hatte Fritz Kleesand mit einem Nimbus umgeben. Alles, was er sagte und tat, bekam dadurch einen Nachdruck, eine höhere Weihe.

Hugo hätte sich auch gerne in die Hände gespuckt, aber er hatte ja nichts anzufassen. So begnügte er sich damit, sich die trockenen Hände kräftig zu reiben, ließ aber die Mütze sitzen, wie sie saß. Verwegenheit lag so wenig in seiner Natur, daß die besten Beispiele hier nichts ausrichteten.

Anton, der für alle Kraftleistungen ein bewunderndes Auge hatte, staunte Fritz Kleesand an, der sich mächtig ins Zeug legte, und freute sich auf den Augenblick, wo sie die Plätze tauschen würden. Hugo war nur schwach, der konnte höchstens steuern. Und dann mußte man ihm auch noch auf die Finger passen.

Offenes Auge und sichere Hand mußte man freilich haben, wollte man durch dieses Gewirre von Booten, Ewern, Fährdampfern, Schleppern, Barkassen, um nur das Kleinzeug zu nennen, was da auf dem Strom durcheinander hastete, ohne Havarie hindurchkommen. Mancher warnende Pfiff der Dampfpfeife galt ihnen und führte Hugo, dessen Gedanken meist bei der Erbswurst verweilten, zu Gemüte, wie unsicher alles in diesem Leben ist, und daß man nur die schon genossenen Freuden zählen darf.

Die Insel Roß lag wie ein Stück vergessene Wildnis, umrauscht von dem Strom des großen Weltgetriebes. Ein paar Krähen flogen lautlos auf, als das Boot an den Strand stieß. Fritz Kleesand vertaute es kunstgerecht, während die anderen unternehmend wie rechte Eroberer ihre Blicke umherwandern ließen. Dann warfen sie sich in den Sand und ruhten von den Anstrengungen des Ruderns aus. Hugo wollte sofort Feuer machen. Sein Appetit war zu rege geworden. Aber Anton fragte ihn ruhig und freundlich: »Bist du eigentlich verrückt?« Eine Frage, die nicht beantwortet wurde, aber doch den Ausschlag gab.

Aber »Einen aus dem Buddel« wollte Fritz Kleesand doch erst mal nehmen. Er wäre verdammt heiß geworden. Und als Hugo den Proviantsack öffnete, verlangte Fritz auch gleich Schiffszwieback, Anton protestierte umsonst.

»Du kannst ja meinetwegen erst 'n Büffel jagen oder 'n paar Indianer skalpieren,« meinte Fritz Kleesand gemütlich. »Ich bin hungrig.«

»Meinst, ich will allein jagen?« gab Anton zurück und sah Hugo auffordernd an. Aber Hugo hätte es nicht übers Herz gebracht, Fritz Kleesand ohne Aufsicht beim Proviant zu lassen. Da warf sich, Anton wieder hin und fügte sich. Und so nahmen sie erst alle einen aus dem Buddel und knapperten Schiffszwieback.

Vor ihnen lag das belebte Strombild im Glanz der langsam sich neigenden Sonne. Die weißen Segel der kleinen Fahrzeuge leuchteten auf und blitzten aus dem spiegelnden Wasser zurück. Die dunkleren Segel brannten förmlich in der Abendglut. Der Rauch aus den Schornsteinen der Dampfschiffe wiegte sich hier gemächlich auf den Flügeln des leisen Windes, flog dort in hastigen zerrissenen Flocken, da die kleine Barkasse ihn höchst eilig ausstieß und wie ein Hecht auf Raub stromabwärts schoß. Auf den jenseitigen Höhen leuchteten alle Fenster des Seemannshauses und der Navigationsschule wie flüssiges Gold, und der Turm von St. Michael stieg feurig über die dunkle Masse der beschatteten Dächer in den frühen Abendhimmel. Dem Lärm vom Strom her, den Dampfpfeifen, dem Rufen, dem Kreischen einer Ankerwinde, einte sich die vom Köhlbrand unablässig herüberklingende an- und abschwellende Musik der Arbeit: das hämmernde, kreischende Geräusch von den Werften her, wo riesige Schiffsgerippe unter der Wucht der Schläge erzitterten, die sie fertigen und festen sollten für die Stürme, die da draußen im Ozean auf sie lauerten, und für die Wogen, die mit ihnen Fangball spielen wollten. Man hörte das Dröhnen und Klingen der Eisenplatten, hörte das Gerassel von Ketten.

Und hart neben dieser rastlosen Werkstatt tätigen, schaffenden Menschenlebens diese kleine, unbewohnte Wildnis, diese kleine noch jungfräuliche Insel, wo das grüne Gras sich leise vom Wind streicheln ließ, der auch die langhaarigen Perücken der alten Weiden kämmte. Über dem Strom und den Köpfen der Stranderoberer hinweg schossen die leuchtenden Möwen hin und her, fielen blitzschnell auf den Wasserspiegel nieder, flatterten suchend darüber hin und erhoben sich wieder, ab und an einen kurzen, schrillen Schrei ausstoßend.

Kauend sahen die Jungens auf den Strom hinaus. Fritz Kleesand fuhr mit jedem Segel, das elbabwärts glitt, in die Welt. Eigentlich war es doch nett von ihm, daß er sich mit diesen beiden Schulfritzen noch abgab, eigentlich gegen seine Würde. Na, er wollte ihnen nachher noch zeigen, daß er mehr war als sie. Sie sollten noch Augen machen.

Anton war mit seinen Augen und Sinnen überall. Der rastlose Lärm der Arbeit, der von überallher sich über dies stille Fleckchen Erde ergoß, berauschte ihn förmlich. Er hörte es gern, das Hämmern und Schmieden und Feilen. Er war mit seinen Gedanken mehr in den mächtigen Fabriken und Werftanlagen als auf dem Wasser. Und er sprang kauend auf und lief nach dem Fischerkutter, der weiterhin schief auf dem Sand lag und gereinigt wurde, und sah nach dem Kohlenhafen hinüber, wo schwarze Gestalten bei der Arbeit waren. Hugo aber verfiel in ein traumhaftes Genießen des blitzenden Strombildes und fühlte sich wohlig beim Kauen des Zwiebackes und unter der leise einschläfernden Wirkung des Bieres.

Als Anton von den Kohlenschiffen zurückkam, war Fritz faul geworden und wollte überhaupt nicht ausstehen.

»Dein dummes Rumrennen,« sagte er gähnend. »Jetzt machen wir Feuer. Und dann kommt die Erbswurst dran.«

Hugo erwachte sofort aus seinem Hinträumen und stimmte lebhaft zu. Und bald flammte ein Feuer, das sie nicht ohne Mühe unterhielten, denn sie hatten wohl an Schweden und Flintstein gedacht aber nicht an Brennmaterial. Und was sie am Strande fanden, war nicht viel und wollte nicht recht brennen. Aber es ging doch. Und die Erbswurst schmeckte auch. Und alles war jetzt köstlich.

»Und nu paßt auf,« sagte Fritz Kleesand und schleuderte die leeren Bierflaschen mit gutem Wurf weithin in den Strom. »Das Zeug mag ich nun nicht mehr.« Und dann zog er mit verschmitztem Lachen eine andere Flasche aus seiner Brusttasche. Sie war klein und flach, und die beiden erkannten sofort, was sie enthielt, schon bevor Fritz Kleesand sie gegen die Sonne hielt und mit einem Auge durch die braune Flüssigkeit blinzelte.

»So sieht die Welt gleich ganz anders aus,« sagte er und steckte die Flasche wieder in die Tasche.

»Donnerwetter! Kognak?« rief Anton überrascht. Hugo aber war entsetzt.

»Mensch, was 'n Unsinn!« rief er.

»Hätte dir gern 'n Schnullerbuddel mitgebracht, wenn du es mir nur gesagt hättest,« höhnte Fritz Kleesand. Dann holte er mit großer Gebärde die Flasche wieder heraus und entkorkte sie.

»Matrosenmilch,« sagte er. »Prost!« Und der erste Schluck rann ihm durch die Kehle, ohne daß er das Gesicht verzog.

Anton langte etwas zögernd nach der Flasche, setzte aber mutig an. »Brennt das Zeug,« sagte er und schüttelte sich. Hugo aber spuckte das Zeug wieder aus.

»Lappen,« sagte Fritz verächtlich und nahm noch einen Schluck.

»Mensch, du kriegst 'n Brand,« warnte Anton.

»Von dem Fingerhut voll? Dein Vater ist doch auch Käpt'n, solltest doch 'n halben Kognak vertragen können.«

»Kann ich auch,« antwortete Anton, der nicht gern zurückstand, aber Hugo riß ihm die Flasche aus der Hand.

»Wir sollen doch man wieder heil' nach Hause,« schalt er.

»Du büst 'n Bangbüx,« höhnte Fritz Kleesand. »Da ist dein Alter doch ein andrer Kerl. Der fürchtet sich nicht vorm Kognak!« Er lachte roh auf.

»Hör mal!« rief Anton scharf. »So was mußt du nicht sagen!«

Hugo aber war blutrot geworden.

»Laß meinen Vater zufrieden.«

»Wer tut ihm was?«

»Du hast ihn beschimpft!«

»Wer hat geschimpft?«

»Du!«

»Weil ich gesagt hab', daß er sich vorm Kognak nicht fürchtet und manchmal duhn ist? Das ist er doch?«

»Gemeinheit!« rief Anton empört. »Nun schweigst du aber!«

»Gemeinheit?« Fritz Kleesand sprang auf.

Aber er sah sich beiden gegenüber und legte sich wieder hin, lang auf den Rücken, und pfiff.

»Das ist langweilig,« sagte Anton. »Ich mein, wir wollten spielen.«

»Ach du mit deinem Spielen! – Und wenn ihr alles gleich krumm nehmt – man kann doch mal 'n Wort sagen,« meinte Fritz Kleesand und warf sich auf die Seite.

»Na ja! 'n Wort,« sagte Hugo halb nachgiebig.

»Also!« triumphierte Fritz und richtete sich auf. »Du solltest uns übrigens lieber die Indianergeschichte zu Ende erzählen, sie wollten grade die Prinzessin skalpieren.«

»Die Gräfin,« verbesserte Hugo.

»Deern ist Deern,« entschied Fritz.

Anton stand mit den Händen in den Hosentaschen und sah auf den Strom hinaus. Er war unzufrieden. Er hatte sich das anders gedacht. Den alten Kognakgeschmack konnte er auch nicht loswerden, soviel er auch ausspuckte. Nun setzte er sich schnell an Hugos Seite und hörte gespannt zu.

»Der weiße Bär hatte gerade ihre goldenen Locken um seine Hand gewickelt und schwang in der Rechten das drohende Messer, als ein langgezogener Pfiff den Mordstahl in seinem verhängnisvollen Lauf aufhielt. Der weiße Bär richtete sich unwillkürlich auf, und in diesem Augenblicke krachte ein Schuß, der Häuptling taumelte und fiel mit dumpfem Laut vornüber, das schöne Mädchen unter der Last seines Riesenleibes begrabend. Schon der Anblick des Mordstahls hatte das liebliche Geschöpf ohnmächtig gemacht. Nun lag sie wie leblos unter der Leiche ihres Peinigers.

Wildtöter, denn niemand anders war es, stieß mit dem Fuß den leblosen Körper des weißen Bären beiseite, kniete neben Gräfin Dolores nieder und sah mit einem langen Blick auf das schöne, blasse Gesicht. Dann entnahm er seiner Jagdtasche ein Fläschchen mit Portwein und flößte ihr einige Tropfen ein.«

»Portwein?« fragte Fritz Kleesand ungläubig. »Wird wohl Whisky gewesen sein.«

»Das ist doch einerlei!« rief Anton ärgerlich ob dieser Störung.

»Als die Schöne die Augen aufschlug,« fuhr Hugo fort, »sah sie sich verwundert um. ›Wo bin ich?‹ fragte sie. Und als sie Wildtöter erkannte, war ihre erste Frage: ›Was macht mein Vater? Wo ist Graf Arthur?‹«

»Neulich hieß er Graf Alfred,« warf Fritz Kleesand wieder ein.

»Ist ja gleich,« entschied Anton wieder.

»Ja, wenn alles gleich ist, ob Portwein oder Whisky, ob Arthur oder Alfred, da kann er ja meinetwegen 'n andere Geschichte erzählen. Das bleibt sich ja dann auch gleich.«

»Aber Mensch, fang doch nicht immer Streit an,« schalt Anton.

»Streit an? Wer macht Streit?«

»Du!«

»Du willst wohl eins aufs Maul?«

»Könnt' dir schlecht bekommen!«

»Du Butt!« sagte Fritz Kleesand verächtlich.

Alle drei waren wie der Blitz auf den Beinen. Hugo stieß einmal Fritz an und einmal Anton. »Was soll das! Seid doch vernünftig!« Aber beide schoben ihn mit einfacher Armbewegung wie eine Puppe beiseite und warfen sich wütende Blicke zu. Auf einmal drehte sich Fritz Kleesand mit spöttischem Lächeln um und legte sich wieder hin. Er war feige. Anton stand noch wie ein gereizter Bulle da, bis Hugo am Ärmel ihn zu sich herunterzog.

Mit der Geschichte war's nun natürlich aus. Fritz Kleesand aber hatte mit einemmal die Kognakflasche wieder in der Hand und wollte seinen Ärger hinunterspülen. »Prost!« rief er höhnisch.

Aber Hugo, durch die Indianergeschichte und den Anblick der beiden Kampfbereiten auch allmählich in kriegerische Stimmung geraten, schlug ihm die Flasche aus der Hand. Da warf sich Fritz Kleesand wie ein Tiger auf ihn. Umsonst versuchte Anton ihn von seinem Opfer loszureißen und trommelte mit beiden Fäusten einen Generalmarsch auf seinem Rücken. Es nützte ihm nichts.

Als Fritz Kleesand endlich losließ, richtete Hugo sich auf, ohne ein Wort zu sagen. Er war sehr blaß und zitterte am ganzen Körper vor Wut und Scham. Das war nun der Dank für seine Geschichte. »Du Spatz,« höhnte Fritz Kleesand.

Anton hielt mühsam an sich. Fritz war ein Flegel und Feigling. Mit dem Schwächeren band er immer gleich an. Er verachtete ihn. Hugo war ein Lappen. Und was hatte er Fritz die Flasche aus der Hand zu schlagen.

»Ich gehe nach Haus,« sagte Anton mürrisch. »Das gefällt mir nicht mehr.«

»Meinst du mir?« lachte Fritz Kleesand. Ich werd' hier auch nicht übernachten.«

So gingen sie ans Boot und banden es los. Keiner sprach ein Wort. Als sie einstiegen, torkelte Fritz über seinen Sitz. Anton mußte ihn halten. »Ist doch gut,« dachte er, »daß er ihm die Flasche aus der Hand schlug. Er ist ja schon besoffen.«

Fritz wollte steuern, aber Anton heuchelte Schmerz in der Schulter, er könne nicht rudern, er müsse sich beim Balgen die Schulter ausgesetzt haben. Fritz Kleesand setzte eine verächtliche Miene auf: »Was wagt ihr euch auch an Fritz Kleesand heran.« Dann stieß er ab, das Boot schwankte gefährlich, und ein Riemen mußte wieder aufgefischt werden.

Anton war besorgt. Als sie auf dem Wasser waren, fühlte er, daß sein Kopf heiß war und sein Magen etwas rebellisch wurde. Aber er nahm sich zusammen.

Fritz Kleesand legte höllisch aus. Er warf sich fast ganz hintenüber. Sie flogen nur so dahin. Hugo saß blaß da und nagte an seiner Oberlippe. Er war aufs tiefste gekränkt und nahm sich vor, kein Wort mehr mit Fritz Kleesand zu sprechen. Dabei dachte er an seine Stange Lakritzen, die er noch ungeteilt in der Tasche hatte. Das war ein schwacher Freudenschimmer in seiner Verdüsterung.

Nach kurzer Zeit erklärte Fritz Kleesand, er könne nicht mehr rudern, ihm würde schlecht. Er wurde plötzlich kreideweiß, und das Malheur war da.

Anton erwischte mit Mühe die Riemen, und Hugo mußte ans Steuer.

»Um Gottes willen, Mensch, paß auf. Sonst geht's schief. Zehn Minuten noch.«

Hugo, verstockt, sagte kein Wort. So schlängelten sie sich mit ihrem Boot wieder durch das Gewimmel auf dem Strom zurück. Ihr Zwist hatte sie früher nach Hause getrieben, als sie beabsichtigt hatten, und führte sie nun mitten unter die Menge der heimkehrenden Arbeiter. Die Dampfpfeifen der verschiedenen Fabriken, die den Feierabend ankündigten, hatten sie in ihres Herzens Zorn überhört. Nun waren sie in das lebhafteste Treiben hineingeraten, die kleinen, teilweise überfüllten Fährboote kreuzten jeden Augenblick ihren Weg. Lachen und Gesang schallte übers Wasser, und der dichte Qualm aus den schnell vorüberschießenden, niederen Schornsteinen verschleierte ihre Blicke. Anton rief alle Augenblicke: »Backbord! Steuerbord! Mensch! Schaf!« Aber Hugo wurde nur verwirrt dadurch und hockte immer ängstlicher und unglücklicher am Steuer.

Fritz Kleesand hatte sich schnell erholt und überlegte, ob er nicht wieder die Führung übernehmen solle. Aber da war es auch schon zu spät. Nach einem verzweiflungsvoll von Anton gezeterten »Hugo!« ertönte ein Pfeifen, Schelten, Schrammen, Knirschen. Ein Riemen zerbrach am Bug des Dampfers, und die drei Jungen lagen im Wasser.

Boote schossen von allen Seiten heran und zogen sie wie nasse Katzen wieder heraus.

Jungstüg! Infamichtes! Jackvoll möt ji hebb'n!«

»Dat helpt nu nich. Man ers drög Tüg.«

»Dat is den Kleesand sin Bengel!«

»Na, nu köp die man 'n stiven Grog bi din Vadder.«

So klang es durcheinander, und die letzte Bemerkung war von einer bezeichnenden Handbewegung begleitet. Die Jungen aber fuhren aufeinander los und gaben sich gegenseitig die Schuld, bis ein alter Bootsmann sie grob anließ: »Holt Mul! Sünst givt dat furts wat.«

Aus: Gustav Falke, Die Kinder aus Ohlsens Gang.
(Hamburg, Alfr. Janssen.)


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