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Erlebnisse eines schleswig-holsteinischen Artilleristen vor Missunde am 12. September 1850.
Von Felix Schmeißer.
Klaus Lassen hatte geträumt – irgend etwas Quälendes, Drückendes, das er beim Erwachen nicht mehr zusammenreimen konnte. Jedenfalls war er in der Heimat gewesen, auf seines Vaters Koppel auf der Missunder Feldscheide. Auch hatte er den alten runden, spitzen Kirchturm seines Heimatsdorfes über die Koseler Heide ragen sehen. Aber es war noch etwas Anheimliches dagewesen. Das alles lag ihm beim Erwachen noch im Sinne, und sich noch zu Hause wähnend, blickte er sich schlaftrunken um. Eine tiefe, dunkle, strohbeschüttete Lohdiele, in der rings umher schlafende, schnarchende Gestalten lagen. Mein Gott, das war ja nicht zu Hause, wo war er denn? In demselben Augenblick war der Taumel auch schon verschwunden, und er wußte, was und wo er war: als Kanonier bei der 4. schleswig-holsteinischen Sechspfünder-Batterie in Holzbunge bei den Vorposten. Und am kommenden Tage, war gestern überall erzählt worden, sollte eine große Rekognoszierung oder ein Angriff nach Norden gemacht werden. Deshalb hatte er wohl von seiner Heimat geträumt; sollte er sie heute Wiedersehen? Dann hatte der Traum ihm Glück angezeigt; er sann und sann, aber der Traum fiel ihm nicht wieder ein ...
Ein heller Mondscheinstreifen fiel durch die kleinen, verstaubten, spinnewebüberzogenen Fensterruten. Seltsam, wie er über die Schläfer hinfloß, wie bleich und gespenstisch er das Gesicht seines Nebenmannes Wilhelm Wilhelmsens übergoß; der hatte den Mund halb geöffnet und stöhnte hin und wieder bang, als ob auch ihn ein schwerer Traum drücke.
»Du schust em leewer wecken,« dachte Klaus Lassen, schon wieder halb im Traum. Er hörte noch das Schnarchen des Kameraden, den schweren Tritt eines Postens auf der Dorfstraße – ferner und ferner, und dann fiel er wieder in den Schlaf zurück. –
Wenige Stunden später – das Mondlicht war eben verblichen und im Osten, überm Wittensee dämmerte das erste Morgengrauen – war die Batterie feldmarschmäßig auf einer großen Koppel nördlich vom Dorf aufgefahren, wo schon düstere Massen von Infanterie und Jägern aufmarschiert standen. Fortwährend kamen noch mehr Truppen hinzumarschiert: Jäger, Infanterie, Dragoner, Artillerie.
»Du, Wilhelm, ick glöv, hüt geiht dat för vulle Eernst los!« –
»Jo, Klaas, dat dünkt mi ok, mi swant so wat,« erwiderte Wilhelm Wilhelmsen.
Ein Murmeln ging plötzlich von Truppe zu Truppe.
»De General kummt, de General kummt!«
Richtig, ein kleiner Trupp Stabsoffiziere sprengte auf die Anhöhe drüben.
Ein Hornsignal, und auch die Frontoffiziere reiten von ihren Truppen auf die Anhöhe. Gespannt schauen die Soldaten hinüber, sie können merken, daß dort lebhaft gesprochen und beraten wird; jetzt steht es für sie fest, daß es »etwas gibt«.
Eine Viertelstunde vielleicht noch, da treten die Offiziere zu ihren Truppen zurück, und die Kompagnien werden rangiert.
»Angetreten, das Gewehr über, marsch, marsch!« ertönt das Kommando beim 2. Jägerkorps, und mit flatternden Roßhaarschweifen marschieren die Jäger bei der Artillerie vorbei vorwärts.
Inzwischen sind mehrere Züge hellblauer Dragoner zur Batterie geritten, je zwei Dragoner haben auf jeder Seite eines Geschützes Aufstellung genommen.
»Aufgesessen! Marsch, marsch!« ertönt das Kommando, und vorwärts rollt die Batterie auf dem weichen Sandweg den Jägern nach.
Es ist ein prächtiger Marsch an diesem klaren, sonnigen Septembermorgen. Fröhliche, frische Soldatenlieder singend, zieht die Kolonne durch die letzten Ausläufer der Hüttener Berge mit ihren gelben Grasfeldern, ihren roten Heideflecken, ihren niedrigen Sandwällen voll blauer Glockenblumen; durch die tiefen, schattigen Redder, die alten niedersächsischen Dörfer mit ihren Strohdächern, auf die das braune Laub der Bäume herabhängt, ihren Pferdekopfgiebeln, ihrem grellbunten Fachwerk.
Hier treten die Bewohner aus den Dielen und reichen den Vorbeimarschierenden Speise und Trank; eine Mutter erkennt ihren Sohn und fällt ihm in die Arme, dort werfen die Soldaten ein paar drallen Mädchen, die barfüßig, die schwere Tracht über den Schultern vom Melken kommen, Kußhände zu. Und dann wird wieder eine alte Marschweise angestimmt: »Ein Fähnrich fiel im Felde ...« Wehmütig klingt das Lied über die gelben Stoppelfelder bis zum fernen braunen Waldesrand.
Immer bekannter wurde Klaus Lassen jetzt die Gegend, näher und näher ging's der Heimat zu.
Nach gut zweistündigem Marsche wurde auf dem Wege und dem Felde östlich von Osterby Halt gemacht. Die Jäger lagen hier schon rings im Gras ausgestreckt, ihre Büchsen hatten sie in Pyramiden zusammengestellt. Nach kurzer Zeit mußten sie wieder aufbrechen, um das Gefecht zu eröffnen. Gleich darauf kamen weitere Truppen anmarschiert: Jäger, Infanterie, Dragoner und Artillerie. Das halbe Dorf strömte jetzt zusammen und brachte Essen und Trinken herbei. Klaus Lassen und seine Kameraden teilten sich einen Armkorb voll Butterbrot und ließen einen »Tütenpott« voll frischer Milch von Mund zu Mund gehen. Wie das schmeckte! Überall standen jetzt die Landleute plaudernd mit den Soldaten zusammen. Am besten konnten aber doch die Freiwilligen von »bei mir zu Hause« den Landleuten die Kriegsgeschichten erzählen; mit denen nahmen es die phlegmatischen Schleswig-Holsteiner nicht auf.
Eine Weile wohltuender Ruhe noch, da knatterten im Nordosten schon die Büchsenschüsse, und mit dem ertönte das Signal: »Aufgesessen, ganze Batterie marsch, marsch!«
Und vorwärts ging's, den Eckernförder Landweg hinunter, und bald war das nach Westertal und Kochendorf führende Redder mit seinen hohen Knicks und seinen knorrigen alten Eichen erreicht. In schneller Fahrt ging's da hinunter. Kurz vor Westertal wurde plötzlich Halt gemacht, die Dänen hatten die Brücke des den Weg durchschneidenden Baches zerstört und das Wasser hoch angestaut.
Schnell sprangen die Artilleristen von Geschütz und Pferden, holten Bretter und Latten vom Gutshofe, schlugen Gebüsch und Knüppel aus den Knicks, und in wenigen Minuten hatten sie mit den zwölf der Batterie beigegebenen Pionieren den Bach passierbar gemacht.
Inzwischen hatte Klaus Lassen von den hohen »Westertaler Koppeln« nach Norden ins herbstlich klare Land ausgeschaut. Deutlich sah er dort die lange Kette der grünröckigen Jäger feuernd über Feld und Heide vorrücken.
Doch dort hinter Kochendorf, beim Heidehof, was war das? –
»Verdammi, Hauschildt, ick glöw, de Dän hett günt op de Heid Schanzen opbut!« sagte er zum Unteroffizier.
»Nicht doch!«
»Ick glöw dat awers doch!«
Der Unteroffizier trat zum Hauptmann und meldete Lassens Meinung. Der Hauptmann richtete sein Fernrohr auf die Heide und lugte einen Augenblick scharf hinüber. Dann meinte er: »Ich glaube nicht, daß es Schanzen sind, es müssen wohl Lagerhütten sein!«
Dann wurde geblasen: »Marsch, marsch!« und in schneller Fahrt ging's weiter nach Kochendorf. Eine Weile sah man jetzt durch die Knicks und einzelne hohe Buchengruppen hindurch den glatten Wasserspiegel des Noors und dahinter die Dächer Eckernfördes im Sonnenschein blitzen. Vorbei, vorbei, schon rollten die Geschütze durch Kochendorf. Hier sah man die ersten Spuren des Gefechts; abgebissene Patronen, verlorene Mützen und Waffen, einzelne Blutlachen und zerschossene Fenster. Im Trabe ging es durch einige Gärten, deren Wälle und Knicks die Pioniere niederrissen, aufs Feld hinaus. Dort sah man wieder die Jägerkette – ein grüner Punkt und ein weißes Rauchwölkchen neben dem anderen – in der Ferne über die Heide rücken. Dann lag das Hüttenlager vor ihnen – der Hauptmann hatte richtig vermutet. Am Eingang der Hüttenstraße lag ein toter Däne in einer Blutlache, das Gesicht bleich und verzerrt, die Augen gebrochen. Ein Kanonier sprang vom Geschütz und wollte des Toten Taschen durchsuchen.
»Minsch, Peter, du wullt doch nich –?« entfuhr es den Kameraden entrüstet wie aus einem Munde.
»Glöv doch nich, dat ick plünnern will, ick will blots mal sehn, ob he nich en Brew bi sick hett!«
Richtig, da hatte er schon einige schmutzige, zerknitterte Papiere in der Hand und las.
»De arme Kerl. He is bi en Reservebataillon un hett ›Kone og fem Börn hjemne‹ (Fru und fiew Kinner to Hus)!«
Bei der Fahrt durchs Hüttenlager spähten die Artilleristen scharf um sich, da sie glaubten, es könnten sich noch Dänen in den Hütten versteckt haben; aber kein Schuß fiel hier. Aber Heide und Feld, am Schnaaper See entlang erreichte die Batterie die Schleswiger Chaussee. Hier fuhren die Geschütze in langer Reihe auf und machten Halt.
Im Norden ragte jetzt der Koseler Kirchturm übers Feld; »nu ward de Drom doch wohr,« dachte Klaus Lassen; »wat nu wull kamen ward?«
»Tick-tack, tick-tack,« ging nordwärts wieder das Geknatter, und »Bum, bum« fielen die dänischen Kanonen ein.
»Aufsitzen! Trab!« schmetterte der Trompeter und »Schenkel ran, Schenkel ran, laßt sie laufen, was sie kann,« und in sausender Fahrt ging es querfeldein nach dem Bültsee hinunter.
Jetzt lag er vor ihnen im Sonnenschein – aber was war das? – von einem Ende bis zum anderen schäumte und spritzte das Wasser auf!
Richtig – drüben auf der »Schafweide« hält eine feuernde Batterie, und die Mehrzahl der Geschosse saust in den See. Blitzschnell wird jetzt auf den »Immoorkoppeln« hinter einem Walle aufgefahren, abgeprotzt und heulend kreuzen die ersten Geschosse sich mit denen der Dänen. Plötzlich ein Sausen und Prasseln, ein Aufschrei, und ein Pionier liegt am Boden; ein Sprengstück einer dänischen Granate ist ihm in den Pulversack, den er trägt, geflogen, das Pulver ist explodiert, und die aufzuckende Flamme hat ihm entsetzlich Brust und Gesicht verbrannt. Und doch kann er noch von Glück reden. Leise stöhnend wird er zurückgetragen.
»De verdammt'n Hund'n! gebt se dat werrer,« heißt es; mit verdoppelter Wut wird gefeuert – und Hurra! das waren Treffer – die Dänen sausen ab.
Nun fahren sie in das vom See aufsteigende »Langstückenredder« hinein. Kurzes, dichtes Gestrüpp, Weiden, Schlehdorn und Brombeerranken wuchern auf Wall und Rain, Ginster und Heide wächst auf dem Wege und verdeckt die alten Wagenspuren. Fast lautlos rollen die Räder über diesen weichen Teppich hin. Nur weiter vorne hallt noch immer das Schießen. Jetzt tauchen Kirchturm und Kirche, jetzt die ersten Häuser des Dorfes auf. Die ersten Geschütze sind schon links in die Dorfstraße bis zum Kruge hinaufgefahren, die letzten befinden sich noch im Redder, als »Ganze Batterie Halt!« geblasen wird.
Die Artilleristen springen von den Geschützen, und schon eilen einige Dorfbewohner herbei – alles bekannte Gesichter für Klaus Lassen.
Sieh da, sein alter Freund Heinrich Kohrt.
»Gun Dag, Klas!«
»Gun Dag, Heinerich. Weetst du nich, wo min Vadder is? Ick harr em so geern mal spraken!«
»Ja, Minsch, de is inne Hawer, ick will em foorts halen!« In demselben Augenblick kommen Hauptmann und Trompeter vom hohen Kirchhofe zurück, von dem aus sie mit dem Fernrohr nach Norden gespäht haben, und plötzlich bläst der Trompeter: »Aufgesessen! Marsch, marsch!«
Und vorwärts geht's, die Dorfstraße hinunter, Hauptmann und Trompeter zu Pferde voran. Nach einer Weile wird links aufs Feld eingebogen; die Pioniere rennen zwar mit Spaten und Hacken voran, können aber nicht schnell genug die Wälle durchstechen, so daß es in sausender Fahrt darüber hingeht. Am Kollsee, dessen Wasserspiegel von den einschlagenden Kugeln hoch aufspritzt, wird abgeprotzt. Rechts auf dem Wege sehen die Artilleristen jetzt eine Infanteriekolonne, das 1. Bataillon weiter vorwärts, an der Missunder Feldscheide, liegen die Jäger feuernd hinter Wällen und Kornhocken, und davor auf den Höhen steht die feuernde dänische Artillerie. Heulend sausen die Kugeln ringsum nieder, daß Sand und Steine den Artilleristen ins Gesicht fliegen. Donnernd erdröhnen die Schüsse, und hin und wieder ertönt der Aufschrei eines Getroffenen. Nach wenigen Minuten jedoch verschwinden die dänischen Geschütze wieder, und die Sechspfünder-Batterie fährt auf den Weg zurück und vorwärts nach Norden. Wenige Minuten Fahrt noch und die dänischen Schanzen mit ihren Geschützschlünden und Bajonetten, dahinter Missunde mit seinen niedrigen, strohbedeckten Katen, die Schlei mit ihren Windungen, ihrem jenseitigen, bastionartigen, hohen Ufer, dem roten Ziegeldach des Missunder Fährhauses, liegt vor den Blicken der Artilleristen. Auf der »Schulmeisterkoppel«« rechts vom Wege wird aufgefahren und abgeprotzt, links vom Wege fahren wenige Minuten später zwei Batterien mehr auf, und jetzt beginnt eine furchtbare Kanonade über die Köpfe der plänkelnden Jäger hinweg. Das Knattern der Gewehre ist kaum mehr vernehmbar, und nach kurzer Zeit verlassen die dänischen Geschütze unterm Hurra der Schleswig-Holsteiner die Schanzen und gehen über die Pontonbrücke aufs jenseitige Ufer. Gleich darauf haben sie hier Stellung genommen, und jetzt kreuzen die Geschosse sich heulend übers Wasser. Auf dem Felde vor der »Schulmeisterkoppel« sind ein paar Schafe geblieben. Wie rasend rennen sie in dem entsetzlichen Getöse, die Zunge aus dem Maule hängend, das Feld hinauf und hinunter. Einige Artilleristen lachen darüber, den Bauern dagegen, und besonders Klaus Lassen, tut es leid um die Tiere. Mehrere Batterien kommen noch hinzugerollt, und immer tosender wird der Lärm; der ganze Erdboden ringsum dröhnt und zittert, und der Pulverdampf ballt sich zu grauen Wolken. Das ist ein Donnern und Dröhnen, ein Heulen und Zischen!
Plötzlich saust eine Kugel gerade neben Klaus Lassens Geschütz nieder. Der Unteroffizier schreit: »Deckt euch!« und alle werfen sich platt auf die Erde. Die Granate hüpft ein paarmal vom Erdboden in die Höhe, schlägt aus eins der Kanonenräder, das krachend zersplittert, und fliegt dann in hohem Bogen über Geschütz und Mannschaft hinweg auf den Sattel eines der Stangenpferde, die Wilhelm Wilhelmsen im Zügel gefaßt hält. Einen Augenblick bleibt sie auch da noch in hüpfender Bewegung, so daß es scheint, als ob man sie ergreifen und wegwerfen könne; Wilhelm Wilhelmsen jedoch versucht nicht das geringste, sich zu retten, sondern starrt wie gebannt auf das Geschoß.
»Wilhelm, smiet de Schiet weg,« schreien die Kameraden ihm wie aus einem Munde zu.
Mitdem fällt das Geschoß zwischen die Pferde – ein Knall, ein Sausen und Prasseln, und Wilhelm Wilhelmsen liegt wimmernd in seinem Blute – ihm sind beide Beine unterm Leibe fortgerissen.
Der Gedanke an die vergangene Nacht durchzuckt Klaus Lassen; er weiß, jetzt wird die Reihe an ihn kommen.
Mit donnerndem Hurra und Trommelwirbel stürmt plötzlich auf dem Mesebyer Wege eine dichtgeschlossene Kolonne des 1. Bataillons gegen die noch von Jägern und Infanteristen besetzte Schanze vor. In atemloser Spannung folgen ihr die Blicke der Artilleristen. Ja, der Däne muß zurück, wir müssen siegen!
Da plötzlich wieder ein heulendes Sausen, ein Knall, ein Prasseln und Sprühen ... Klaus Lassen fühlt einen heftigen Schlag gegen seine rechte Wange und Schläfe. Es flimmert ihm vor den Augen, seine Sinne taumeln ihm, er fühlt einen rasenden Schmerz, aber zugleich eine besinnungslose Wut ...
Zwei Kameraden springen hinzu und fassen ihn an jeder Seite: »Klas, kumm torügg, du bist drapen!«
»Ne, verdammt, ick will nich torügg, ick will hier bliwen un de Hund'n werrer scheeten.«
Doch schon sinkt er den Kameraden bewußtlos in die Arme. Nach wenigen Minuten fühlt er die Besinnung wieder aufdämmern, und er befindet sich im blutigen Stroh eines Bauernwagens. Mit ihm zusammen liegen da zwei verwundete Jäger und unter dem Sitzbrett des Fuhrmanns, der sich mitleidig nach ihnen umblickt, liegt ein erschossener – Hase.
Wie durch grauen Nebel sieht er all das und fällt in Besinnungslosigkeit zurück.
Eine traute, bekannte Stimme weckt ihn wieder. Verwirrt schaut er auf und sieht die Dorfstraße, den Kirchhof und die Kirche seines Heimatdorfes; und neben dem Wagen geht sein alter Vater in blauer Arbeitsjacke mit flatternden grauen Haaren und tränenden Augen.
»Klas, min gude Jung, du bist doch unse Eenzige, du blifst uns doch ni dod, nich, Klas, du warrst werrer beter, wi hebbt doch blots di. Min gude Jung, kann ick wat för di dohn? Wullt du Geld hemm, oder ...?«
»Wes man ruhig, Vadder, so slimm is dat sach nich; awers ick heff so gruliche Dörst!«
»Min lewe Jung, en Ogenblick,« und gleich darauf kommt der Alte wieder mit Nachbar Kohrts Frau, die dem Verwundeten einen großen braunen Topf voll kalten Kaffees reicht. Gierig schlürft er den bis auf den letzten Tropfen aus. Auch die Jäger erhalten von andern Dorfbewohnern zu trinken; ein ganzer Wagenzug hält jetzt schon in der Dorfstraße.
Dann geht die Fahrt langsam weiter, das Heimatsdorf liegt dahinten, wieder halb bewußtlos vor Schmerz, sieht er seinen Vater noch immer neben dem Wagen herschreiten, bis alles vor seinen Augen wieder in grauen Nebel versinkt. –
*
Brennender Schmerz und Durst wecken ihn. Fiebernd und halb bewußtlos schlägt er die Augen auf und fühlt, daß sein Kopf verbunden ist. Dann erkennt er ein ausgeräumtes Zimmer, auf dessen strohbeschütteter Diele beim trüben Schein einer schwelenden Lampe ein Verwundeter neben dem anderen liegt. Mondlicht und roter Feuerschein übergießen ringsum die Wände, an denen ein »Schenkschapp« mit Gläsern und Flaschen und einige alte bunte Wirtshausbilder den Dorfkrug verraten.
Draußen hallt der Lärm von Hunderten von Stimmen, das Rollen der Kanonen- und Wagenräder, das Gewieher von Pferden.
»Kamerad, wo bin ick?« fragt Klaus Lassen mit matter Stimme seinen Nebenmann, einen Infanteristen vom 1. Bataillon, »Hebbt wi de Slacht wurmen?«
»In'n Kochendörper Krog,« erwidert der Infanterist; »wunnen hebbt wi nich; as wi de Dän'n halb torügg' harrn, leet Willisen uns werrer torügg blasen!«
»Och, du leewe Gott, werrer all'ns umsuns,« sagt Klaus Lassen und weint wie ein Kind. – Eine ähnliche Wut ergreift ihn gegen den General wie heute nachmittag bei seiner Verwundung gegen die Dänen. Die Tür öffnet sich und mehrere Arzte und Krankenträger treten herein; die Verwundeten sollen weiter transportiert werden. Ein herzzerreißendes Gejammer erhebt sich bei einigen der Schwerverwundeten, die das Anfassen nicht ertragen können; aber es hilft nichts, sie müssen fort, wenn sie nicht morgen in Feindeshände fallen sollen; und sie ziehen alle den furchtbaren Schmerz der Gefangenschaft vor, ja, würden sich wohl selbst fortschleppen, wenn es nötig wäre.
Vor dem Kruge steht eine lange Reihe von Wagen, in deren Stroh die Verwundeten sorgsam gebettet werden. Ein Feld weiter nördlich steht das Hüttenlager in Flammen, deren roter Widerschein auf den Waffen und Helmen der hin- und herwogenden Soldaten glüht.
Langsam fährt der traurige Zug jetzt durch die lange Dorfstraße. Dann geht es das dunkle schmale Redder nach Osterby hinunter. Leise knirschen die Räder durch den Sand, hin und wieder streift ein herabhängender Zweig raschelnd ein Seitenbrett des Wagens und helle Mondscheinstreifen fallen durch das zurückgestreifte Laub.
Wie im Traum zieht der ganze verflossene Tag noch einmal durch Klaus Lassens Sinn. Wie unendlich lang ist die Zeit gewesen von einem Mond zum anderen; ein Kampfestag liegt dazwischen, ein heißer, blutiger Kampfestag.
Wilhelm Wilhelmsen, armer Kamerad, du siehst den Mondschein nicht mehr, oder doch zum letzten Male. Klaus Lassen sieht wieder die dämmerige Diele mit den schlafenden Kameraden und den weißen Mondscheinstreifen vor sich, und mählich schläft er ein ... Erst in der Morgendämmerung, da die Wagen durch Rendsburgs Straßen rollen, erwacht er.
*
Hiermit ist die Geschichte eines Kampftages zu Ende.
Doch was wurde weiter aus Klaus Lassen?
Im Lazarett zu Neumünster ist er nach einigen Wochen genesen, und hat dann bis zu Ende wieder tapfer mit gefochten. Noch heute lebt er in seinem Heimatdorfs, und ich sitze oft in seinem gemütlichen Abnahmehäuschen am Ausgange des Dorfes neben ihm und schaue auf die sandigen Missunder Felder hinaus, während er von jenem längst vergangenen Herbsttage erzählt, da der Kampf über sie hinwogte.