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Im Nebel.

Von Wilhelm Lobsien.

Sie wohnten eine halbe Meile vom Dorf entfernt in einer kleinen, hart am Seedeich liegenden Hütte, deren Strohdach windschief und zerzaust über den Kamm hinüberlugte, deren Fenster aber ins Marschland hinauswiesen und den Blick über Wiesen und Felder bis hinüber nach dem hohen und schlanken Kirchturm der kleinen Stadt Tondern frei wandern ließen.

Zur Ebbezeit oder bei niedriger Flut lag seewärts vom Deiche das weite ebene Vorland in stundenweiter Einsamkeit wie eine unendlich große Marschwiese, und weit draußen blinzelten die schlaftrunkenen Augen des »blanken Hans«, der beutemüde und wanderschwach sich träge ausruhte und in ruhigem Atmen eine Welle nach der andern rieselnd ans Ufer warf.

Aber wehe, wenn er erwachte!

Im Frühling und Herbst reckte er sich mit dumpfem Brüllen und Bellen hoch auf. Dann kam der heulende und pfeifende Feind seiner trägen Ruhe, dann kam der gellende Nordwest und peitschte ihn, daß er sich in wildem Schmerz aufbäumte und die menschenmordende Kampfbegier in ihm wach wurde. Wie ein Riese stand er auf und spähte um sich.

Dann wälzte er sich mit donnerndem Brüllen an die Inseln heran und riß mit seinen großen, täppischen Händen die weißen Dünenköpfe herunter, daß sie in alle Winde zerstoben oder wie eine stäubende Schneelawine in seinen nimmersatten, schnappenden Schlund stürzten.

Und gegen die Leuchtturmmole preßte er sich und versuchte, sie mit seinem krummen, gebeugten Rücken umzuschieben; aber als es ihm nicht gelang, da warf er die schaumweißen, nassen Salzwellen klatschend gegen die Leuchtturmfenster, um das verhaßte Licht dort oben auszulöschen. Die Wut war in ihm erwacht und der Hunger nach Beute.

Er rannte über das Vorland. Da hatte er leichtes Spiel; in einer Stunde hatte er es unter sich und zerrte und riß nun am Seedeich und sprang schnappend an ihm empor, daß der weiße Geifer aus seinem heulenden Schlund über den Deichkamm auf die Hüttendächer spritzte.

Wehe, wenn er aufwachte.

Klaus Ebsen, der mit seiner Frau und seinen vier Knaben in der Deichhütte wohnte, kannte dies donnernde Toben draußen am Deich. Das war Musik, die ihnen allen vertraut war. Und doch kannten sie besser als alle anderen Dorfbewohner den Schrecken, der in diesem Toben lag, und die unheimliche Macht des blanken Hans. Wenn der Vater an dunklen, stürmischen Abenden zum Fischen hinausfuhr, oder wenn er gar im Winter das Eisboot über die berstenden, krachenden Schollen führte, dann gab es für die Frau und die Kinder manche Nacht, in der der Schlaf ihr Bett floh, und in der in ihrer Hütte nichts zu hören war als Beten und ängstliches Flehen. Frau Marie hatte manche Nacht auf dem Deiche gestanden und über die See gestarrt, unbekümmert darum, daß der Sturm sie herunterzuzerren drohte.

Es war am Tage des heiligen Abends. In der Vorderstube, deren Wände mit bunten Kacheln bedeckt waren, stand ein kleiner Weihnachtsbaum. Bunte Papierfetzen, kunstlos gedrehte weiße und rote Rosen, mit Silberpapier überklebte Streichholzschächtelchen, hier und da verstreut an den dunklen Zweigen sitzend, waren der einzige Schmuck. Auf einigen Zweigen lag eine dünn ausgebreitete Watteschicht, und aus diesem künstlichen Schnee lugten sechs weiße, rote und blaue Lichte.

Frau Marie legte just die letzte Hand an die Ausschmückung des Baumes und wurde nun gewahr, daß die Spitze aus buntem Glas, die an so vielen Abenden den Weihnachtsbaum gekrönt hatte, zerbrochen war. Und während sie bedauernd die blinkernden Scherben betrachtete, dachte sie daran, was alles sie schon ausgegeben habe, und wie weit sie mit dem Rest ihrer geringen Barschaft noch reichen würde. Sie hatte schon recht viel gekauft: Wolle, aus der sie eine Winterjacke für den Mann und warme Strümpfe für die Kinder machen wollte, dann noch Mützen und Schuhe – und für den heiligen Abend den Braten, der in der Pfanne brutzelte. Das waren große Ausgaben. Aber trotzdem kam sie zu dem Entschluß, eine Baumspitze zu kaufen; dieser in allen Farben leuchtende helle Flimmer, an dem selbst ihr Mann eine so große Freude hatte, durfte nicht fehlen.

Sie hatte die Tür verriegelt, um von den neugierigen Knaben nicht überrascht zu werden. Die saßen alle vier in der Küche auf ihren Holzschemeln, die sie ganz nahe an die offene Feuerstelle gerückt hatten, sogen den schönen Bratenduft in die Nase und plauderten von den geheimnisvollen Weihnachtsfreuden. Ihr Hektor, ein großer, brauner Jagdhund, lag vor den Füßen des einen Knaben und blickte mit klugen Augen bald den einen, bald den andern an.

Vorsichtig öffnete sie die Tür.

»Du, Hans,« sagte sie, »lop mal int Dörp un hol uns bi den Höker en Spitz, weet's du, so'n en, as immer in unsen Bom sit.«

Und während der Knabe, den die Weihnachtsstimmung willig machte, schnell seine Stiefel anzog, wickelte die Mutter das Geld – es waren einzelne Pfennige – in ein Stückchen Papier.

»Hier is dat Geld, min Jung. Verleer dat nich, un nu mak gau to.«

»Sall Peter nich mit?« fragte Hans.

»Ne, go man alleen. Peter sall Vadder hölpen, wenn he naher mit't Isbot to Huus kömmt. Se sünd all to Land un ward bald ankomen.«

Hans drückte seine Mütze fest auf die blonden Haare, ging hinaus und kletterte behend den Deich empor und lief dann in gemächlichem Trab dem Dorfe zu. – –

Nach einer Woche sehr harten Frostes war seit gestern Tauwetter eingetreten, und mit jeder Flut brach das Seeeis mehr und mehr; weit draußen tanzten schon die Schollen. Von der See her wehte ein feuchtkalter Wind und trug in langen Zwischenräumen ein gedämpftes Krachen herüber.

Vorsichtig kroch Hans den Deich hinunter und lief auf dem schmalen Weg, der landwärts am Fuße des hohen Walles entlanglief, weiter. Hier war er gegen den Seewind geschützt und schlenkerte darum langsam vorwärts. Nicht weit vor ihm war eine dunkle Wand, die sich wie eine schwarze Wolke gegen den Himmel abhob: das war der Wald, ein kleines, jämmerliches Gehölz, das elend verkümmerte; denn sobald eine Tanne ihr Haupt so hoch gehoben hatte, daß sie über den Deich sehen konnte, starb sie unter den eisigen Fingern des Westwindes, der hohngellend herüberlangte und alle neuen Triebe zerstörte.

Hans steckte beide Hände in die Taschen und pfiff ein Lied nach dem anderen. Es waren einfache Schullieder, andere kannten sie hier draußen am Seedeich nicht; aber die pfiff er heute mit einer inbrünstigen Lust, wie er sie in der Schule noch nie gesungen hatte. Herrgott! es war aber auch etwas anderes, hier am Deiche frei umherzupirschen oder auf Botengänge ins Dorf zu gehen, als morgens in die Schule zu wandern. Und nun gar im Winter! Es war wahrlich kein Vergnügen, mit kalten, nassen Füßen den ganzen Vormittag in der dumpfigen Schulstube zuzubringen und in der Mittagspause einsam sein Butterbrot zu verzehren, während alle anderen Knaben nach Hause gingen und sich an den vollbesetzten Mittagstisch setzten.

Aber nun! Weihnachtsferien! Weihnachtsfest!

Er machte einen Freudensprung, daß ihm die Tannenzweige um den Kopf schlugen. Lachend riß er einen Zweig ab und schwenkte ihn fröhlich hin und her.

Weihnachten! Weihnachten!

Was ihm das Christkind wohl bringen würde? Durchs Schlüsselloch hatte er schon mehrfach zu gucken versucht aber nichts gesehen. Und doch konnte er sich schon denken, was er bekommen würde, etwas wenigstens. Eine Jacke würde er bekommen, vielleicht auch eine Hose und eine Mütze, sicherlich eine, die seine Mutter selber nähte, und natürlich würde er auch Schuhe bekommen. Die er trug, waren schon arg zerschlissen, und die Mutter hatte schon vor einigen Wochen gesagt: »Gott o Gott! de Schoster kann se rein gornich mehr moken; ober bet to Wihnachten möten se doch noch holen.« Aus all den Sachen machte er sich nicht viel, die würde er ja so wie so bekommen, wenn die alten nichts mehr taugten. Aber Kuchen, einen ganzen Teller voll Kuchen hätte er gar zu gern gehabt, nicht die Pfeffernüsse, die seine Mutter bereitete, sondern die leckeren Sachen, die er im Laden bei Bäcker Holst in Tondern vor einiger Zeit, als er mit seinem Vater in der Stadt gewesen war, gesehen hatte, und ganz besonders eine Apfelsine. Solche Früchte hatte er noch nie gegessen! Gott! wie mußten die schön schmecken! Und dann noch eins, an das er kaum zu denken wagte, da ihm etwas so Feines doch nicht geschenkt werden würde.

Das war etwas so Schönes, etwas so unaussprechlich Schönes!

Als er jüngst seine Mutter darum anbettelte, lachte sie ihn anfangs aus, weil ein so großer Knabe noch Spielzeug haben wolle. Als sie aber sein enttäuschtes und betrübtes Gesicht sah, da strich sie mit ihrer Hand leise über seine Haare und sagte, daß er sich den Wunsch aus dem Sinn schlagen müsse; sie habe zu wenig Geld, um solch teures Spielding zu kaufen. Und doch war ihm alles andere einerlei, wenn das Christkindchen nur das eine brächte: eine kleine, glänzende Maus, die ganz allein laufen konnte. Bei dem Sohne des Gemeindevorstehers hatte er eine gesehen.

O, er wußte schon damit umzugehen, er hatte sie selbst in der Hand gehabt. Ein ganz kleiner Schlüssel gehörte dazu. Den steckte er in ein kleines Loch hinein, drehte vorsichtig nach rechts herum, bis es einen Ruck gab. Dann schnell das kleine Ding auf die Diele gesetzt – und schnurr, schnurr rasselte die Maus sausend über die Diele, bis sie an der Wand klingend anschlug. Aber man brauchte sie nur umzudrehen, dann lief sie ebenso schnell wieder zurück; soviel Kraft hatte die Feder.

Ach, wenn er solch ein Kleinod hätte, er wüßte sich ja kaum zu lassen vor Jubel und Freude! Und dann sein kleiner Bruder Paul, der vor Mäusen solche Angst hatte! Der war auch so dumm, der würde diese künstliche Maus gewiß für eine wirkliche halten; wie würde der schreien!

Er sah sich schon zu Hause auf der weißgescheuerten Bretterdiele liegen, er spürte, wie er verstohlen das Uhrwerk aufdrehte; er sah schon die Maus über die Diele laufen und hörte schon den Angstschrei seines Bruders. Und während er unter solchen Gedanken sich dem Dorfe näherte, das im aufsteigenden Dämmernebel dunkel vor ihm lag, wurde ihm ganz weihnachtlich ums Herz, und mit leiser Stimme summte er »Stille Nacht, heilige Nacht« vor sich hin.

Auf den schmalen Dorfstraßen war es still. Nur hin und wieder begegneten ihm eilende Menschen, die für den Abendtisch noch etwas besorgen wollten. Die meisten Fenster waren noch dunkel, desto heller quoll das Licht aus dem Krämerladen auf die Straße.

Welcher Reichtum an prunkenden Schätzen war in diesem einen kleinen Zimmer aufgespeichert! Hier lag die Erfüllung aller Wünsche bunt umher, und während Hans seine Bestellung machte und die Frau in Kasten und Schachteln nach der Glasspitze suchte, liefen seine Augen eilfertig von einem Gegenstand zum anderen. Anfangs flimmerte es vor seinen Blicken, und alles lief ihm durcheinander. Zuletzt aber sah er nur noch einen einzigen Gegenstand: eine kleine Maus aus blankem Metall.

Da stieg das Begehren nach diesem Schatz noch heißer in ihm auf, und ganz leise regte sich in seinem Herzen der Gedanke, die Maus zu nehmen und heimlich in die Tasche zu stecken. Doch nein, nein, das ging nicht an, das war Stehlen, und stehlen wollte er nicht. Er zwang sich gewaltsam, an dem lockenden Ding vorbeizusehen.

Aber das Ding ließ seine Gedanken nicht los, immer und immer wieder kehrten seine Blicke zurück; es war, als würden sie geheimnisvoll angezogen. Die Gier funkelte in seinen Augen; etwas Fremdes, Wildes war in ihn gekommen, etwas, das er nicht kannte, das ihm das Herz pochen machte, etwas, das alles Gute in ihm totdrückte und aus ihm etwas anderes machte.

Noch kämpfte er dagegen an, schwach, müde, mit der toten Kraft des Unterliegers, und schließlich – leise, ganz leise streckten sich seine Hände aus, – leise, ganz leise berührten seine zitternden Finger die Maus, – hoben sie auf, leise, ganz leise, verbargen sie und schoben sie dann leise und vorsichtig in die Tasche.

Nun war sie sein.

Und als er den Schatz sicher und geborgen in der Tasche spürte, da zog ihm ein grenzenloser Jubel durchs Herz, und er mußte an sich halten, um nicht aufzuschreien vor Glückseligkeit.

Die Frau hatte inzwischen die Spitze gefunden und eingepackt.

»So, min Hans, dor is se! Fall aber nich, dat's düster buten Dörps. Gröt ok velmal to Huus, Vadder un Mudder. Un dor is noch en Licht för din Bom.«

Hans steckte alles vorsichtig ein und ging. –

Es war dunkel geworden. Ein feuchter Nebel kroch durch die Gassen. In allen Häusern waren die Lampen angezündet worden. Ihr Licht flackerte auf den nebelfeuchten, schlüpfrigen Straßensteinen. Am Ausgang des Dorfes, wo die Straße in das Dunkel der einsamen Felder führte, stand eine Laterne; ein gelber Dunstkreis spielte um das Licht und warf seinen trüben Schein auf die Straße.

Hans war bis jetzt mit leichten Schritten gegangen und war in Gedanken schon unter dem Tannenbaum daheim in der Hütte, den er durch sein Licht noch besonders schmücken wollte. Bei der Laterne blieb er stehen. Er zog die Maus aus der Tasche und betrachtete aufmerksam das blinkende Kunstwerk.

Da kam ihm plötzlich das Bewußtsein seiner Tat, und eine quälende Angst packte ihn an, die entsetzliche Furcht vor der Entdeckung seines Diebstahls.

Aber in demselben Augenblick hatte er auch schon einen Trost bereit: die Frau hatte so viele, sie würde das Fehlen der einen Maus gar nicht merken, wenigstens heute nicht, da sie den Laden bald schließen würde. Und morgen und übermorgen würde der Laden auch geschlossen bleiben, und wie konnte sie später wissen, wer bei ihr gewesen sei, oder wie viele dieser Mäuse gekauft worden seien. Und wer weiß, sie legte vielleicht gar keinen Wert darauf; sie hätte sie ihm am Ende gar geschenkt, wenn er darum gebeten hätte. Sie hatte ihm doch das Licht geschenkt.

Das große schöne Weihnachtslicht! Das hatte sie ihm so freundlich gegeben, und er vergalt es ihr damit, daß er stahl. Dieser Gedanke quälte ihn, und er schwankte einen Augenblick, ob er nicht umkehren solle, um das Gestohlene zurückzugeben. Aber in demselben Augenblick verwarf er den Gedanken. Nein, nein, das durfte er nicht, auf keinen Fall; denn dann würde die Frau alles merken. Er steckte die Maus wieder in die Tasche und lief über die Felder dem Walde zu.

Der Wind war stärker geworden und riß und zerrte mit scharfem Pfeifen in den Zweigen. Eine Krähenschar, die schlaftrunken in den schwanken Kronen hockte, stob auf und flatterte krächzend über den Deich. Der Knabe lief und lief, von wildem Grauen gejagt. Ab und zu hakte er mit seinen Kleidern an den Tannenzweigen fest; seine Angst stieg und trieb ihn zu immer schnellerem Laufen an. Endlich war er aus dem Dunkel der Tannen heraus und kletterte nun den Deich hinauf.

Aufatmend blieb er stehen.

Aus der Ferne, sah er ein Licht durch den Nebel schimmern; das kam aus seinem Elternhause. Da saßen sie zu Hause in der warmen Stube, und seine Mutter wartete auf ihn, um den letzten Schmuck an den Tannenbaum zu setzen. Er mußte immer an seine Mutter denken, an seine liebe, gute Mutter. Ach, was würde seine Mutter sagen, wenn sie erführe, was er heute getan! Der Vater, gewiß, der würde ihn schlagen; was kümmerte ihn das! Aber seine Mutter würde weinen, ganz still in der Ecke sitzen und weinen, gerade so wie damals, als er gelogen hatte. Und das, was er heute getan hatte, war noch viel, viel schlimmer. »Wer lügt, der stiehlt auch,« sagte seine Mutter damals. Und nun war er so weit, nun war er ein Dieb.

Er wollte umkehren und seinen Raub wieder hintragen; aber er verwarf den Gedanken wieder. Nein, umkehren konnte und durfte er nicht mehr; denn dann würden alle seine Tat erfahren. Es läßt sich gar nicht mehr ungeschehen machen, er war und blieb ein Dieb.

Wie höllisches Feuer brannte die Maus in seinen Händen, und doch umkrallte er sie, als wollte er sie zermalmen. Wenn er das unselige Ding nur erst wieder los wäre! Es mußte verschwinden. Aber wohin damit? Er konnte es hier nicht wegwerfen, es könnte gefunden werden, und dann wüßten es doch bald alle Leute, daß er es gestohlen habe. Aber das schlimmste war, daß er jeden Tag diesen Weg zur Schule gehen mußte. Nein, nein, hier durfte er die Maus nicht wegwerfen, sie würde jedesmal, wenn er vorüberginge, ihn an seine entsetzliche Tat erinnern.

Der Nebel wurde immer dichter. Der Wind war stärker geworden und pfiff und sauste in den Telegraphendrähten, die am Deiche entlangliefen. Von draußen, von der See her kam ein lautes Brüllen und Krachen und Knirschen. Das waren die Schollen, die von den Wellen losgebrochen waren und nun mit Donnergepolter an die feste Eiskante des Watts geworfen wurden. Es klang herüber, als wenn riesige Eichbäume gefällt würden.

Da hinaus wollte er, weit, weit hinaus. Ganz draußen wollte er sein gestohlenes Gut in die Wellen schleudern, weit, weit hinaus. Von dort würde es nie wiederkehren.

Er stürmte den Deich hinunter und lief über das schmale Vorland hinaus aufs Watteneis und kämpfte keuchend gegen den Sturm an, immer weiter hinaus in die dunkle Nacht, immer weiter.

Nichts war zu hören weit und breit als das Heulen des Windes, das immer lauter und dröhnender werdende Krachen und Bersten der Schollen am Rande der Eiskante und das gellende Kreischen der aufgeschreckten Möwen oder der irre Schrei eines angstvoll landwärts drängenden Seevogels. Und nichts war zu sehen weit und breit. Der hohe Seedeich, das Licht aus seinem Elternhause – alles war vom dichten Nebel und der schwarzen Dunkelheit verschlungen.

Er stand still, einen kurzen Augenblick, als besänne er sich. Dann warf er mit Aufbietung aller Kraft die Maus in großem Bogen in die Dunkelheit hinein.

Er horchte hinaus, ob er das Aufschlagen hören würde; aber nichts als das immer lauter werdende Krachen, Drängen und Schieben der Schollen tönte ihm entgegen. Es klang so furchtbar laut, er mußte nahe am offenen Wasser sein.

Welche Zeit es wohl schon sein mochte? Ob wohl der Vater schon zu Haus war? Dann sollten gleich die bunten Weihnachtslichte angezündet werden, und die ganze Stube sollte den Vater festlich hell empfangen, wenn er eintrat. Alles stand deutlich vor seinen Augen: das helle Zimmer, Vater, Mutter, die Brüder, und nur er würde fehlen, er war nicht da. Die Eltern und die Brüder würden ängstlich werden und nach ihm fragen und ihn suchen, überall, und ihre Angst würde größer und größer werden, und dann – dann würden sie doch alles zu wissen bekommen.

Und es war gut so.

Er wollte umkehren, er wollte wieder nach Hause gehen. Alles, alles wollte er ihnen sagen und sie um Verzeihung anflehen, und er wollte nimmer wieder Böses tun. Er wollte nach Hause.

Aber wo war sein Elternhaus, der hohe Deich, das Festland? Nichts war zu sehen als der dichte, feuchte Nebel, und die Angst um den Heimweg begann sich in ihm zu regen. Wenn er doch erst wieder zu Hause wäre! Er konnte nichts anderes denken als immer nur: nach Hause! nach Hause! und lief und lief über die rauhe Eisfläche des weiten Watts.

Aber wo war er?

Weiter hinaus ging es nicht mehr, da waren Schollen, da mußte die offene See sein. Er war seewärts gelaufen und mußte wieder zurück. Er wandte sich und stürmte in anderer Richtung weiter, und mit jedem Schritt stieg die Angst in ihm. Er konnte nicht weiter. Vor ihm hatte sich das von einer früheren Flut heraufgeworfene Scholleneis aufgetürmt und stand wie eine starrende Wand vor ihm. Mühsam kletterte er darüber hinweg und lief auf dem holperigen Wege weiter.

Da spürte er es glatt unter den Füßen; bei jedem Fußtritt spritzte es auf; schon reichte das Wasser bis an seine Knöchel.

Der Angstschweiß trat ihm auf die glühende Stirn. Er wußte, die Flut war gekommen. Und nun wußte er, es ging um Leben und Tod.

Ein Grauen packte ihn, und gellend schrie er durch den Nebel:

»Vater!«

Aber nichts war zu hören als das Krachen und Bersten und Klatschen und Plätschern des Wassers, und abermals gellte sein furchtbarer Angstruf:

»Vater!«

Klang es da nicht wieder aus dem Dunkel heraus?

Er stand still und horchte.

War das nicht Hundegebell, das durch den Nebel gedämpft herüberscholl? Sollte das Hektor sein? Dann war ja alles gut. Der würde ihn schon finden, der war so klug, der konnte alles, der würde seine Eltern herführen; denn kommen mußten sie, sie mußten ihn doch suchen und finden.

Immer höher stieg das Wasser, immer höher. Mühsam schleppte er sich vorwärts bis zu einem kleinen Eishügel. Er kletterte hinauf, um einen Augenblick auszuruhen. Da hörte er es wieder, ganz deutlich und schon viel näher.

Gewiß, das war ihr Hektor, und das war der Vater, der laut rief »Hans«, und mit letzter Kraft schrie er: »Vater!« und sank dann um. –

Über das Eis her kam es gegangen. Eine Laterne flackerte aus dem Nebel auf, bald noch eine, aber weiter zurück. Und dann kam es gegen den Sturm an dumpf wie ein Nebelhorn:

»Hans!«

Das war des Vaters Stimme, und gellend schrie dazwischen die vor Angst gepreßte Stimme der Mutter:

»Hans!«

Aber keine Antwort kam aus dem Dunkel zu ihnen. Nur das Gebell ihres Hundes, der in weiten Sprüngen bald vor ihnen, bald weit zur Seite war, hörten sie. Die Eltern wechselten kein Wort. Nur hin und wieder, wenn der Hund unruhig wurde, schnell hastig:

»Du, dor liggt he!«

Aber enttäuscht antwortete ein zages:

»Ach, ne!«

Plötzlich kam Hektor in schnellem Sprung bellend auf die Mutter zu und rannte wieder zur Seite. Sie folgte ihm, und auf einmal schrie sie auf, ganz kurz aber laut und scharf, und nun wußte der Vater, daß sein Hans gefunden war. Er lief dem Schrei nach, nahm den Jungen in die Arme und drückte die feuchten, kalten Kinderbacken an sein bärtiges Gesicht. Als er die Kälte spürte, ging ein Zittern durch seinen Körper, und einen Augenblick legte er die Hand an seine Augen. Aber dann faßte er den Jungen, der schlaff in seinen Armen lag, fester, und schritt mit Riesenschritten durch das steigende Wasser vorwärts. Sein Gesicht war hart und unbeweglich; nur um seine festgepreßten Lippen zuckte es hin und wieder. Mühsam kämpfte die Frau ihm nach und jammerte:

»O du min Gott, har ik em man nich wegschickt! Har ik em man nich wegschickt! Aber ik kun dat doch nich weeten; ik meen dat doch so gud, – un nu, nu is he dot.«

Ihre Stimme erstarb in krampfhaftem Schluchzen.

»Lat man, Mudder«, sagte er, und es klang wie aus einem Grabe, »lat man. Is man gud, dat wie em hebben. Op'n Wihnachtenabend ward em de leve Gott nich von uns nehmen. Ween man nich, 't ward noch wedder gud.«

Und schweigend schritten sie weiter durch den dichten Nebel dem Deiche und der Hütte zu.

Hinter ihnen her kam die Flut, vom Winde gepeitscht. Mit wildem Heulen fuhr der Sturm über das Watt, daß die feinen Eiszacken von den höher gelegenen Eisfeldern, die zerstreut wie Inseln auf den dunklen Fluten lagen, aufstoben und mit singendem Ton wirbelnd über die Wellen flogen, bis sie verschluckt wurden. Unter dem steigenden Wasser aber krachte es wie Donner nach einem Blitz, der ganz nahe, in die Erde fährt, kurz, klirrend, ruckweise; mitunter, wenn die Eisfläche zerbarst, dröhnte es lang hinhallend wie ein dumpfes, qualvolles Stöhnen.

Von den Wellen gedrängt, gehetzt von der Angst ihrer Seelen, eilten die beiden vorwärts. Das Wasser spritzte klatschend unter ihren Füßen auf, es kroch ihnen über die Knöchel, es stieg immer höher. Aber sie achteten nicht darauf. Sie schauten sich nicht um, sie sahen nicht, wohin sie traten, sondern immer nur gerade aus nach dem Deiche.

Er ging voran, und sie folgte ihm und trug in ihren zitternden Händen die beiden Laternen. Das Licht flackerte und hüpfte über die gurgelnden Wellen und malte den Riesenschatten auf die blinkernde Fläche. Plötzlich stieg der Schatten hoch empor; sie waren am Deiche.

Aufatmend blieb der Vater eine kurze Weile stehen und blickte zurück auf die dichte, graue Nebelwand, die sie durchschritten, durchkämpft hatten. Während er sich wandte, fiel das Licht voll auf das totenblasse Gesicht des Knaben. Ein wimmerndes Jammern quoll der Mutter über die Lippen, ein ganz kurzer Laut nur aber so voll Schmerz, daß es dem Vater wie ein kalter Stahl durchs Herz fuhr. Und wie sie dabei aussah! Die Fingerspitzen der rechten Hand hatte sie gegen die Lippen gepreßt, um ihr Schluchzen zu unterdrücken, aber ihr ganzer tiefer Gram lag auf dem verzerrten Gesicht und in den weit aufgerissenen Augen, in der Hast, mit der sie dann den einen Arm ihres Mannes umkrallte, und in der Stimme, mit der sie bebend fragte:

»Du – du – is he dot?«

Über das wetterharte Gesicht des Mannes zuckte es; leise schüttelte er den Kopf:

»Lat uns man gau maken, Mudder, süns ward dat to lat.«

Als sie den Deich überschritten, flammte ihnen heller Lichterschein entgegen, und als sie die Tür öffneten, standen sie in den hellen Strahlen der Weihnachtskerzen. Ach, was sollte ihnen heute dieser Freudenschein! Sie betteten ihren Knaben in dem warmen Bette, und ungesehen, freudlos brannte ein Licht nach dem andern nieder.

Es war ganz still im Zimmer. Die Brüder hockten in der Ecke und starrten in das sterbende Licht. Hin und wieder flogen ihre Blicke scheu zu Vater und Mutter, die in banger Sorge am Bette ihres Hans saßen. Die Kinder wußten von ihrem Leid nichts, aber sie ahnten, daß etwas Düster-Trauriges mit dem dunklen Nebel über die Schwelle gekrochen war und die Weihnachtsfreude töten wollte. Sie wagten kein lautes Wort. Nur wenn ein Wachströpflein mit leisem Schlag auf die Diele fiel oder ein glimmendes Tannenzweiglein seinen würzigen Duft knisternd in die Luft sandte, stieß eins das andere an und sagte leise: »Kiek mal.«

Der Wind umtobte das Haus. Er preßte sich schwer gegen die Fensterläden, als wollte er sie eindrücken, als wollte er sich mit Gewalt Eingang verschaffen, um den letzten Rest seliger Weihnachtsstimmung, das letzte flackernde Lichtstümpflein auszulöschen. Dann riß er an der Tür, dann packte er die Fensterläden, daß sie klapperten und knirschten. Pfeifend fuhr ein kalter Hauch durch einen Spalt und erdrückte die Flamme. Im Zimmer war es finster und still, nur ein kleiner Funke am Docht glimmte noch. Einige Male zuckte er auf, und dann erlosch er ganz. Nach einiger Zeit stand der Vater auf und holte ein neues Licht. Als er wieder in die Stube trat, öffnete der Knabe seine Augen und lächelte der flackernden Flamme entgegen. Mit einem Jubelruf preßte die Mutter den Jungen an sich und herzte und küßte ihn.

Da kam ihm plötzlich die Erinnerung an seine böse Tat, und schluchzend barg er sein Haupt in den Kissen.

Aber nein, er wollte stark sein! Er wollte alles sagen, bevor sie ihn danach fragen würden.

Er richtete sich in seinem Bette auf und begann zu beichten, aber Scham und Schmerz übermannten ihn. Er wandte sein Gesicht der Wand zu, und stockend, oft von Schluchzen unterbrochen, beichtete er, wie alles gekommen war. Als er alles gebeichtet hatte, wartete er, was Vater und Mutter sagen würden. Er wandte sich ihnen wieder zu und bat und bettelte um ihre Verzeihung.

»Vadder, Mudder, ick will't ok nimmer wedder don. Ick wüß ja nich, wat ick dee. Nich bös sin, nich bös sin, ick will't nimmer wedder don!«

Die Mutter streichelte seine heiße Backe, und der Strom ihrer Liebe quoll über ihre Lippen, während der Vater mit seiner tiefen warmen Stimme sagte:

»Is gud, is gud, min Jung.«

Dann holten sie Lichtstümpfe herbei, steckten sie an den Baum und zündeten sie an. Und während der Sturm ums Haus gellte, sangen sie das alte schöne Lied »Stille Nacht! Heilige Nacht!«

Aus: Wilhelm Lobsien, Hinterm Seedeich. (Bremen, Carl Schünemann.


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