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Skizze von Thusnelda Kühl.
Julinacht liegt über dem Stranddorf, milchweiße Mondstrahlen gleiten durch die alten Eschenkronen, die ruhelos im Winde beben. Dieser Wind ist sanft und singend und weckt die arbeitsmüden Menschen nicht, die in den niedrigen Häusern auf hoher Werft schlafen. Manche haben im Außendeich »geschwehlt« Heu gewendet (friesisch)., und ihre Kleider sind voll vom süßen Duft des Heus, in dem Strandastern und Thymian geblüht haben – andere haben mit Spaten und Schaufel auf dem Damm gestanden, der zwischen dem Festlande und der nahen Insel eine Straße der Zukunft bilden soll. Ihr Atem weht leise aus brunnentiefem Schlaf herauf; aus den Kleidern, die am blanken Messinghaken hängen, dringt der Geruch von Schlamm und Algen.
Verwittert sind zumeist die Häuser, die auf fluttrotzenden Werften stehen, und ihre Runenzüge erzählen von alten Tagen. Jenes nüchterne neue dort auf Volkertswarf darf nicht mitreden! Freilich die alten Birnbäume vor seiner Tür, die wissen noch etwas von einst und ehedem. Die schatteten einst vor einem alten Haus mit tiefem Strohdach, unter dem die Schwalben nisteten. Vor der niedrigen Bogentür saß sommerabends eine alte Frau am Spinnrad, bis die Schatten der Nacht auf ihr Gespinst fielen und die rauhe Stimme des alten Mannes in ihre Träume. »Mach' Abend. Anke, er kommt ja heute nicht!«
Aber an manchem Samstag war er gekommen, wenn schon die Kühe schlafend im Grase der Fennen lagen und nur noch hier und da eines gar zu wachsamen Hundes Gebell laut ward – war weiten Weg dahergekommen um der köstlichen Stunden willen, die er mit den Alten am Herd verplauderte, über dessen rote Steine die offene Flamme spielenden Schein warf, indes der Kessel am Haken sang.
Und wieder saß die Frau in einer Dämmernacht vor ihrer grünen Tür, als plötzlich auf den nahen Acker lohender Lichtschein fiel. Minutenlang blickte sie starr, trug dann ihr Spinnrad hinein und sagte still: »Bonke, unser Haus soll abbrennen, ich hab' das Feuer auf dem Kartoffelland gesehen.« Und nach Jahr und Tag, als schon die alte Frau »bei der Roten« schlummerte, geschah, was sie gesagt, und ein junger Mensch nahm in stiller Augustnacht Abschied von den rauchenden Trümmern seines Vaterhauses.
»Bei der Roten«, so sagen die alten Leute im Dorf – »bald werde ich bei der Roten liegen.« Das heißt im Schutz und Schatten des armseligen kleinen Gotteshauses, das, ohne Turm und Dachreiter, so nüchtern neuzeitlich ausschaut, als gehöre es nimmer zu den alten Werften und verwitterten Häusern. Sie tut es auch nicht – die alte aber liegt ja lange draußen im Haff gleich Rungholt und Ol-Büsum, und die Wellen wandern rauschend über ihre Stätte und über der Menschen verblichenes Gebein, die einst in ihrem Schatten gelebt und gewirkt haben. Nach Flut und Tod erbaute man eine Kirche an des Dorfes fernster Gemarkung.
Am Fuß der Roten liegt ein verfallenes, verwahrlostes Haus, gemieden von den Dorfleuten, nur für die Bosheit der Jugend willkommenes Ziel. Drin haust in ihren Lumpen die alte Telsche Ibens, die nun so liegt, wie sie in sündhaftem Leben sich gebettet hat.
Einst war's dort anders. Und wieder dämmert aus den vergangenen Tagen des Dorfes ein Lichtlein auf, eine Kunde von Menschen, deren Blick ins Dunkel des Kommenden tauchte. Schmied Ibens wohnte dort, ein wacker schaffender Mann. Dem sagte einst sein Weib: »Ich will's dir endlich sagen, daß ich an manchem Tag dort am Fenster eine feine Frau in weißer Spitzenhaube am Spinnrad hab' sitzen sehen. Ich weiß nun, die wird hier bei dir wohnen, wenn ich bei der Roten bin.« Die Jahre vergingen, da starb des Schmiedes Frau, und da er kein Kind zu hegen hatte, dachte er sturm- und wanderseliger Jugendzeit und ging von dannen. Nach Jahren kehrte er wieder und brachte ein feines Weib mit von des Landes Grenze. Die hatte, ihrer Sippe zum Trotz, ihr Herz an den Schmied gehängt, sich ihr vornehmes Vaterhaus aus dem Sinn geschlagen und war ihm gefolgt. Da saß sie nun mit dem Spitzenhäubchen auf dem dunkelblonden Haar am Fenster und drehte das Rad. Die Dorfbewohner von heute haben zwar nicht mehr ihre junge Frauenschöne gesehen, wohl aber ihr feines, welkes Matronengesicht, von dem es trotz großer körperlicher Schmerzen allezeit wie Gnade und Segen ausgegangen sein soll – auf den rauhen Mann, bis seine letzte Stunde schlug – hernach auf die beiden wilden Buben, die ihre Tochter, so ungleich ihr selber, als Wildlinge am Lebensbaum ins Haus gebracht hatte. Diese Tochter, die nun, der Jugend Spott, einsam in verfallenden Mauern haust.
Wie steht die »hillige Warf« so geheimnisvoll auf dem Grunde der Sommernacht, die nur wie eine dünne, silberige Wand den Morgen von dem Abend scheidet! Hier liegt das Pfarrhaus; Wolkenschatten fallen über seine First. Manch schlichtes Alltagsleben hat sich drin vollendet – seine Spuren sind verweht. Von einem Pfarrherrn aber meldet die Gedenktafel in der Kirche, daß er umgekommen sei in der Sturmflut von 1825. Von einem andern kündet Leutemund und ein halb versunkener Grabstein. Er ist von fernher gekommen, den wuchtigen Knotenstock in der Hand, das kernige Lutherwort in Herz und Mund. Aber wie dringlich er auch angepocht hat bei der Küstengemeinde, sie hat dem »Fremden« kein »Herein« geboten, bis er in Not und Tod sich Einlaß erzwungen hat. Bei einem Rettungswerk ist's geschehen, daß sich der Starke den Keim zu frühem Sterben geholt hat. Auf seinem verwitterten Denkstein steht, kaum leserlich noch:
Wir vergessen dich nimmer!
Die Wattenfischer.
Drüben, im Schatten des Holunders liegt das alte wetterschiefe Haus, in dem einst »der starke Schmied« gewohnt hat, der Hufeisen bog, als sei es Draht, und der dennoch nicht ein Schmied sondern ein Grübler von Gottes Gnaden war – oder muß es heißen von Gottes Zorn? Der die langen, sternerhellten Nächte auf seiner grasbewachsenen Werft lag und die ewigen Lichter anstarrte und mit ihrem Schöpfer Zwiesprach hielt, bis sie ihm im Tau und Reif so mancher traumvollen Nacht die starken, geraden Glieder gekrümmt hatten. Da hieß man ihn den »krummen Schmied«, und einige sagten der Sterndeuter.
Hier führt ein schmaler Steig vorüber an einem alten, doch nicht im mindesten verfallenen Haus mit tiefer Bogentür. Über dieser Tür auf der ortsüblichen Luke ist eine Sonnenuhr. Durch die Fenster blickt der Mond und läßt die blauen Kachelwände schimmern und gleißen. »Ich kenne das Haus lange,« spricht er für sich hin – »aber, daß Gott erbarm! wie wandelt sich alles auf Erden!« Und so flüstert's auch im Garten, der jenseit des Fußpfades liegt. Dort stehen weiße Bänke unter Obstbäumen, Eschen und Silberpappeln – und hier ist Hans Mommsen mit seinen Schülern die Steige auf und ab gewandelt. Kein Grübler und Träumer sondern ein scharfer Denker und Rechner, dessen kleine Seemannsschule weitesten Ruhm genoß, vor dessen Weisheit in mathematischen und nautischen Dingen die hochlöblichen Puderköpfe auf den Lehrstühlen von Kopenhagen und Göttingen sich beugten. Unter diesen Bäumen ging er mit ihnen und redete von den Wundern des Himmels; und an langen Winterabenden saß er, umwogt von seiner dreizehnköpfigen Kinderschar, in dem alten Lehnstuhl am Klapptisch und neigte die Stirn über Zirkel und Quadranten. Sein geistiger Nachlaß war den beiden befreundeten Universitäten bestimmt; aber seine Witwe erfüllte diesen seinen letzten Willen nicht – man sagt, sie habe es nicht vermocht, sich von dem kleinsten Zettelchen zu trennen, das je durch des bewunderten Gatten Hand gegangen war. In einer Feuersbrunst im Hause eines der Dreizehn sind die Papiere zu Staub und Asche geworden. –
Noch lohnt sich's zu erzählen, wie selbst in dieses schärfsten Denkers Seele das feine Spinnweb des »Vorahnens«, von dem kein Friesensinn ganz frei ist, gehangen hat. Hans Mommsen selber erzählt, wie er an einem späten Herbstabend an der »Roten« vorbeigegangen sei und aus der halbgeöffneten Tür des Geistlichen Stimme vernommen habe. Und als er nun verwundert näher getreten sei, da habe er mit erstarrendem Blut gehört, wie seine eigenen Personalien verlesen wurden – Name, Geburts- und Todestag. Nicht aber das Todesjahr, denn in tiefem Erschrecken habe er den Fuß von der Schwelle gezogen.
Das war der große Sohn des kleinen stillen Dorfes am Rande der Welt. Manch Tüchtiger ist noch von seinen Werften hinausgewandert und hat Kanzeln und Katheder bestiegen; doch seinesgleichen stand nicht wieder auf von den Hügeln des Stranddorfs.
Noch ist es ein altes, ein stilles Erdenfleckchen, die Wellen hinter dem Deich singen und rauschen von der Welt, die unter ihren Füßen ruht; die Winde streichen um die alten Häuserlein, in denen noch Genügsamkeit und Frohsinn am Herd sitzen mit der Sage, die, nimmermüde, von vergangenen Tagen spricht – aber schon steigt auch hier wie ein Riese die neue Zeit empor und überschattet Küste, Flut und Eiland. Nicht lange mehr wird man reden dürfen von dem Dörflein »am Rande der Welt«.