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a. Aus grauer Vorzeit.
Von Johannes Dose.
Alle wirklichen Erholungsreisen, die Körper und Geist wie ein frisches Naturbad stärken und erquicken sollen, dürfen beileibe nicht auf zwei oder mehr Rädern sondern müssen zu Fuß und mit dem Stabe in der Hand gemacht werden. Insonderheit die engere Heimat, von deren lächelndem Mutterantlitz wir uns jeden, auch den kleinsten Zug ins treue Sohnesgedächtnis einprägen wollen, wird nur so in ihrem Liebreiz erkannt und in ihrer ganzen Schönheit verstanden.
Sehr oft durchstreifte ich die Kreuz und Quer Cimbriens meerumspülte Halbinsel mit ihren Höhen und Heiden, ihren Buchenwäldern und Marschen und der großen, blauen und blinkenden See hüben und drüben. Von Ost nach West, von Süd nach Nord, von den Grenzen der alten Ägidora, der heutigen Eider, bis zu der meilenweiten Ahlheide Jütlands führten mich meine sommerlichen Wanderzüge.
In diesem ganzen Ländergebiet aber kann man nicht sehr weit gehen, ohne auf größere oder kleinere Erdhügel zu stoßen, die steil aus dem Flachlande sich erheben und offenbar von Menschenhänden aufgeworfen worden sind. Das sind die Hünengräber der Reckenvorzeit, in ihrer ganzen Schlichtheit doch gewaltige Grabmäler aus dunklen, vorgeschichtlichen Tagen, die in der Aschenurne oder in ihrer Steinkammer die wenigen Überreste eines längst vergessenen Helden oder eines hochgeliebten Gatten mehr als tausend Jahre bargen. Denn tief und von Erdanfang her ist das Verlangen des Menschen und des Menschenherzens, seinen dahingeschiedenen Toten ein treues Gedächtnis zu bewahren und ein dauerndes Denkmal der Liebe zu errichten.
Fast kostbarer als die goldprunkenden Marmorsäulen unsres Geschlechts müssen diese riesigen Grabmäler unsrer Urahnen, auf denen die Erika blüht, uns erscheinen; denn entstanden in einer Zeit, die noch nicht mit Zugtier und Karre solche Erdmassen fortzubewegen wußte, sind sie in unendlicher Mühe und Geduld von Menschenhänden zusammengetragen worden.
Strich- und stellenweise ist das Land von diesen Totenhöhen als wie von großen Maulwurfshügeln dicht übersät; und die einsame, in ihrer Stille majestätische Heide, über die der Westwind schwermütig streicht, ist hier ein großer, mit Thors und Odins Runen geweihter Friedhof der Urvergangenheit. In einem Anprall der alle Grenzen verschiebenden Wanderzeit, in einem überaus blutigen, von keiner Sage aufbewahrten Völkerringen, das mit Stein- und Bronzewaffen geführt wurde und mit der völligen Vernichtung des einen Gegners endete, sind alle diese Helden gefallen und von Walküren zu Walhalls Metbank und Kampfspielen getragen worden. Ihre Handvoll Staub aber ruht vielhundert Jahre in dem Hünengrab auf Schleswigscher Heide.
Doch nicht nur auf der braunen Heide sondern auch dicht am Strande des alten Ostersalt, d. i. der blauen Ostsee, oder an einem ihrer waldumkränzten Busen finden wir die Hünengräber, auf denen das Windröschen sich ruhelos neigt, und sie haben freien Ausblick auf das Wasser und das endlos weite Meer. Die das Salzwasser und die Wogengänger lieb hatten, wurden hier bestattet. Wohl Häuptlinge und Seekönige der wilden Nordmannen, die überall an jeder Festlandsküste, wohin ihr alles zerstampfender Fuß trat, Herrscher waren, sind hier nach ihrem letzten Wunsch und Willen begraben worden. Auch im Tode sollte des Meeres salziger Odem ihre Ruhestätte umstreichen, und sie wollten in den tiefen Träumen ihres ewigen Schlafs noch immer hören, wie der Sturmwind über die Gewässer jagt, und lauschen der Brandung und dem klatschenden Wellenschlage.
Auf einigen Grabmälern oder in ihrer unmittelbaren Nähe stehen ungeheure, drei und mehr Ellen hohe und völlig unbehauene Steine. Diese Felsblöcke sind die sogenannten Bautasteine und die allerältesten Grabdenkmäler des Stein- und Bronzealters, das noch keine Schrift kannte, geschweige denn Hammer und Meißel zu handhaben wußte. Erst sehr spät, vom 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung an, ist das Volk des Nordens schreibkundig geworden, und aus dem 8. bis 10. Säkulum stammen die Steine, auf denen die steilen, geradlinigen Runen geritzt sind, die geheimnisvollen Buchstaben, deren Sinn zu entziffern immer noch schwierig und zuweilen unmöglich ist.
Wenige Worte enthalten die Runeninschriften; denn nur einzelne hatten die große Kunst gelernt, und auch ihnen war das Schreiben auf hartem Stein mühselige Arbeit. In gedrängtester Lapidarschrift sagen sie uns nicht viel sondern geben meist nur den Namen des Mannes und erzählen als seine wichtigste Tat, daß er tot und begraben sei. Trotzdem enthalten sie die allerältesten Urkunden nordalbingischer Geschichte, die in einer Sprache zu uns reden, die um Jahrhunderte vor den ältesten Handschriften zurückliegt.
Das Gebiet der bisher gefundenen Runensteine erstreckt sich über die ganze Halbinsel, geht im Süden aber nicht über die Grenzwälle des uralten Dannevirke hinaus.
An einem warmen Sommertage wanderte ich durch Jütland, das wegen seiner großen Heide- und Moorflächen das schwarze Jütland gescholten worden ist. Aber die Erika war allerwegen aufgesprungen und die Ahlheide ein rotschimmerndes Blütenmeer. Auch ist das verlästerte Ländchen nicht eitel Heide und Sand, allwo der Bauer von seinem Buchweizen sich nährt und seine schwarzen Töpfe mit Erikakraut und Ginstergesträuch brennt. Nein, dieses Jütland hat, besonders an seiner Ostküste, in Wahrheit schöne Landschaften, die auch die Sehnsucht eines natursüchtigen und durch Heimatschöne verwöhnten Auges zu stillen vermögen. Wer auf dem Munkeberge bei Veile, der kleinen Ostseestadt, gestanden und einen entzückten Blick auf die von Waldhöhen umkränzte Föhrde geworfen hat, der wird Jütland nicht mehr ein armes und schwarzes Heideland schelten.
Drüben schimmert ein Kirchturm. Es ist das Dorf Jellinge, das anderthalb Meilen von Veile liegt, und nach dem ich meinen Stab setzte. Hier erblickte ich zu seiten der Dorfkirche je eine ungeheure Erdhöhe, von Menschenhänden aufgeschüttet; und diese beiden Jellinger Hügel sind die zwei großartigsten Hünengräber in ganz Dänemark und Schleswig.
Sie sind eines Königs und einer Königin Grab; und wie unzerstörbare Zeugen der Vergangenheit stehen sie hier und verkünden die älteste, wohl beglaubigte Geschichte des Landes, die nicht im Dämmerlichte der Sage sich verliert.
Jeder Bauer der Umgegend weiß davon zu melden. In dem Erdhügel, der fast hundert Fuß emporragt, ruhen die Überreste von dem Könige Gorm dem Alten, der das Einkönigtum Dänemarks schuf, und dessen Zepter vom Sund bis zur Eider reichte. In dem anderen, kleineren Grabmal ist seine Gemahlin Thyra, die mit dem Beinamen Danebod, d. i. Dänentrost, geehrt wurde, beigesetzt worden.
Harald Blauzahn, ihr Sohn, hat seinen Eltern dieses gewaltige Denkmal gesetzt und auf dem Hügel seiner geliebten Mutter auch einen Runen- und Grabstein errichten lassen, der jetzt neben der Kirche sich befindet, und dessen Inschrift, wenn wir die lapidarische Kürze durch ein paar Worte ergänzen, in unsrer Sprache besagt:
»Harald, als er des Kaisers Freund wurde, und Dänemark ganz und Norwegen und alle seine Diener nahmen das Christentum an.«
Besseren Nachruf und Nachruhm wußte nicht der Sohn auf das Grab seiner Mutter zu setzen, als daß er die Taufe erhalten habe und Christ geworden sei!
Wie wenig Aufschlüsse gibt scheinbar diese Runeninschrift! Und doch ein Weitblick tut sich auf dem geschichtskundigen Sinn, der um tausend Jahre zurückschaut in jenes Jahrhundert des großen Entscheidungs- und Endkampfes zwischen dem einäugigen Asengotte Odin und dem weißen Christ mit den milden Heiligenaugen.
Von dem Jellinger Hügel, der die Gebeine Thyras umschloß, gehen wir nach dem Süden zurück zum Dannevirke, das als ein Werk der Königin Dänentrost von ihrem Volke gepriesen und besungen wird. Der Ort nämlich, wo man die allermeisten Runensteine gefunden hat, liegt eine kleine Wegstrecke südlich von der Stadt Schleswig und ist das zwischen Schleibusen und Treenefluß sich erstreckende Gebiet des großen Grenzwalls.
Wer vom Königshügel aus die Landschaft überschaut, erblickt heutigen Tages zahlreiche Überreste der uralten Befestigungen. Am Südwestende des Selker Noors beginnt der Kograben, der noch im 18. Jahrhundert zwanzig Fuß breit und zwölf Fuß tief war, und läuft in gerader Richtung nach Westen über die Heide. Seine Spuren sind deutlich erkennbar, trotzdem die rastlose Menschenhand und der vorwärts drängende, alles verheerende Pflug jetzt jahrhundertelang an seiner Schleifung und Zerstörung gearbeitet hat.
Von dem Kograben ist das eigentliche Dannevirke, das nördlicher und der Stadt Schleswig näher liegt, wohl zu unterscheiden. Seine Wälle sind zum Teil noch erhalten und reden weit mächtiger als jene verschütteten Reste der allerältesten Landwehr zu uns von vergangenen Tagen. Auch sie dürfen eines hohen Alters sich rühmen und reichen ins neunte Jahrhundert zurück.
Das arg zerstörte Dannevirke beginnt am Nordende des Selker Noors unterhalb der Haddebyer Hölzung und erstreckt sich in einer gekrümmten und gewundenen Linie, die sich an das natürliche Gelände anschmiegt, bis zum Dorfe Hollingstedt, zwei Meilen westlich von Schleswig. Seine zerstreuten Trümmer ragen aus der Ebene empor wie langgestreckte Hünengräber. Nur in seinem Anfange bildet das Dannevirke noch jetzt einen geschlossenen, halbmondförmigen Wallkreis, der gegen das Noor offen liegt, und dessen Enden bis zum Gestade des Sees reichen. Auf den Wiesen- und Ackergründen innerhalb dieses Ringwalls weidet jetzt das bunte Vieh und wogt das Roggengefilde im Winde. Aber auch der Laie, der kein Altertumsforscher ist, erkennt mit Staunen auf den ersten Blick: hier ist eine von Menschen geschaffene und von hohen Erdwällen umgürtete Feste gewesen! Doch wie war ihr Name?
In den ersten Tagen unseres, des 20. Jahrhunderts, kamen gelehrte und runenkundige Leute, die wißbegierig den Grund aufwühlten. Die Arbeiter mit dem Grabscheit stießen auf Trümmer von Mauerwerk und von Steinpflaster; sogar Reste eines hölzernen Bollwerks wurden am Gestade des Noors aufgefunden. Auch zahllose Geweihe, Tierknochen, Tonscherben und andre Spuren der Städte und Wohnstätten der Menschen wurden zutage gefördert. Das Geheimnis des Ringwalls war gelöst.
Wer diesen Boden betritt, der steht auf der Stätte des uralten Hethaby, d. i. der Stadt an der Heide, in oder bei welcher Ansgar, des Nordens Apostel, das erste Bethaus seines Gottes in nordalbingischen Landen errichtet hat. Hier haben die Christenglocken zum erstenmal geläutet und ihren Frieden den Menschen verkündet. Hier ist ein geheiligter Wohnort des Gottesfriedens gewesen.
Und doch! Nirgends in diesen meerumspülten Gauen, von der Elbe bis zum Kattegat, schlug das zähneknirschende Kampfgetöse so wild und schauerlich gen Gottes Himmel empor. Kein Feld noch Fleck des Landes ist mit so viel Menschenblut gedüngt worden. Nirgends hat der Männermord so heftig und anhaltend getobt wie auf dieser Walstatt der deutschen und dänischen Stämme, die doch die eine urgermanische Mutter haben.
Darum ist auch hier im Gebiete des Dannevirke von jeher der große Fundort für die Heldendenkmäler der Vorzeit, für die Runensteine gewesen. Auf diesem blutreichen Kampfesboden wurde der erste Grabstein im Jahre 1796, und zwar auf der Feldmark von Wedelspang, gefunden und nach Luisenlund, dem nahe gelegenen Schlosse der herzoglichen Linie von Schleswig-Holstein-Glücksburg, überführt. Noch heute kann der Besucher des Schloßparks den 3½ Ellen hohen, rötlichen Granitstein sinnend betrachten und, wenn er runenkundig ist, seine Inschrift lesen In letzter Zeit, nach der Niederschrift, sind die Luisenlunder Runensteine ins Kieler Museum überführt worden..
Sie lautet: »Thorolf ritzte diesen Stein über Erik, seinen Genossen, der fiel, da Helden saßen um (d. i. belagerten) Hethaby, aber er war ein Held, sehr gut.«
Gehen wir von den Hethabyer Wällen westwärts, so finden wir dicht an der Rendsburger Landstraße ein kleines Tannengebüsch und mitten darinnen einen Runenstein, der 1857 entdeckt wurde. Auch er ist wie der andere, in freier Luft stehend, der Verwitterung stark ausgesetzt und ein allmähliches Verschwinden der Runen wohl zu befürchten. Noch zwar sind sie leicht zu entziffern und reden vom Dänenkönige Svend Gabelbart, der einem seiner treuesten Mannen dieses Denkmal der Dankbarkeit errichtete.
»König Svend setzte den Stein über Skardi, seinen Mann, welcher war gefahren westwärts, aber nun starb in Hethaby.«
Ein dritter Stein, am Rande des Selker Noors gefunden und ebenfalls nach dem Luisenlunder Parke verschleppt, ist fast 4 Ellen hoch und enthält die Worte:
»Asfride machte dieses Denkmal über Sigurd, ihren Sohn, auf der heiligen Höhe.«
Wer war diese Asfride, die ihrem vielbeweinten Sohn das hohe Steinmal setzte?
Ein glücklicher Umstand führte im Jahre 1888 zur Entdeckung eines zweiten Runensteins, den eben diese Asfride zum Gedächtnis ihres Sohnes hat ritzen lassen. Bei den Kasernenbauten, die man damals im Gottorper Schlosse und seiner nächsten Umgebung vornahm, wurden auch die Fundamente der alten Bastionen ausgehoben, deren Bau einst Herzog Adolf I. im Jahre 1565 begonnen und in drei Jahren beendet hatte. Um in dem Sumpfboden, der die Schloßinsel umgibt, einen festen Grund zu gewinnen, ließ er die Bastionen mit riesigen Felsblöcken untermauern, die massenweise im alten Dannevirke gefunden wurden und noch lange nachher den Herzogen und der Stadt das nötige Steinmaterial liefern mußten. Der große Dänenwall war zur Stein- und Kiesgrube geworden, und wie manches wertvolle Denkmal der Vergangenheit mag von unwissendem Vandalismus zerschlagen worden sein!
Die Arbeiter aber, die 1888 die Bastionen niederrissen, waren verständiger; denn als sie auf einem eingemauerten Granitblock Schriftzeichen entdeckten, hielten sie sofort inne und erstatteten Anzeige von ihrem Funde. Der Stein wurde von kundiger Hand gereinigt und als einer der wichtigsten Runensteine erkannt. Jetzt hat der Findling, der nach wunderbaren Schicksalen ans Tageslicht kam, einen geschützten und sicheren Platz im Schleswig-Holsteinischen Museum in Kiel gefunden; und seine Lapidarschrift, über die mehr als ein Büchlein geschrieben ist, hat man also gedeutet:
»Geweiht! Asfride, die Tochter Odinkars, machte dieses Grabdenkmal für Sigurd, den König, ihren und Gnupas Sohn.«
Ein erhabener Schauer und doch ein tiefes Gefühl der Vergänglichkeit ergreift uns beim Anblick der Schriftzüge, die eines Mannes Hand vor tausend Jahren ritzte.
Wer waren diese Toten, deren Staub längst verweht ist vom Winde? Wer jener Thorolf, der seinen Genossen Erik über das Grab hinaus lieb hatte und der Freundestreue ein bleibendes Denkmal setzte? Wer dieser Skardi, den sein König der Unsterblichkeit wert erachtete? Wer die stolze und tiefgebeugte Asfride, die ihrem Sohne Sigurd, den sie einen König nennt, das Steinmal setzte auf der heiligen Höhe des Königshügels, der merkwürdigerweise von jeher im Volksmunde König Sies oder Sigurs Höhe geheißen hat? Weiß doch die Geschichte jener Zeit von keinem Dänen- oder Schleswigkönig dieses Namens!
Wer waren sie, die vor einem Millennium lebten und litten, stritten und starben? Und mit welcher Todeshoffnung schlossen sie die Augen? In der Unsterblichkeitsgewißheit an den, der die Auferstehung und das Leben ist? Oder in dem alten Glauben und Götterwahn, von Walküren nach dem schildgedeckten Saale getragen zu werden?
Die toten Steine reden in ihren Runen, und die Geschichte vor tausend Jahren rollt sich auf vor den Augen, die auf den Wällen des alten Hethaby zu sehen und zu träumen gelernt haben. Der große Götterkampf wogte in Sieg und Niederlage schon ein volles Jahrhundert. Odin, der Alte, der Einäugige, und Christus, der fromme, mildblickende Gott des deutschen Südens, rangen in ihrem letzten heißen Zweikampfe miteinander um die Alleinherrschaft über des Nordlands Gaue. Vom Sachsenlande kam der neue, der sanftmütige und weiße Gott als ein waffenloser aber todesmutiger Mann, der, nur durch sein Wort und sein Wesen mächtig, des scheinbar unmöglichen Kampfes sich getraute. Aber der, welcher nichts als die Eisenrüstung des Glaubens trug, siegte nach langem und hartem Strauße und behielt das Feld.
Auch hier hat es sich bewahrheitet: Tandem vicisti, Galilaee! Der arme Galiläer hat alle die starken Asengötter, Odin, den großen Heer- und Siegesvater, und Thor, den Hammerschleuderer und gigantischen Donnergott, in den Staub geworfen und in die Erdtiefe gebannt.
Unser Geist fliegt zurück um ein Jahrtausend. Angebrochen sind die Zeiten des letzten Ringens zwischen dem altnordischen Göttertum, das auf diesem Boden durch viele Säkula thronte und Opfer und Anbetung erfuhr, und dem deutschen Christentum, das Ansgars Jünger verkündeten, und dem um das Jahr 970 endlich die deutschen Kaiser im ganzen Norden zur Herrschaft verhalfen, indem sie es auf ihren Schwertspitzen siegreich über das Dannevirke hinaustrugen. –
Tausend Jahre gehen vor Gott wie ein Tag aber vor dem kleinlichen Geiste der staubgebornen Eintagsfliege, die sich Mensch nennt, wie eine unermeßbare Ewigkeit. Alles fließt und ist kein fester Punkt im Universum außer Gott und seinem Ewigkeitsgedanken. Geschlechter kamen und gingen, Reiche erstanden und stürzten, Sturmfluten fraßen, und weite Gewässer verliefen sich ins Meer. Sogar das Angesicht der Erde, an dem kein Zahn der Zeit zu nagen scheint, verwandelte sich – wenigstens in diesen Meerländern – fast bis zur Unkenntlichkeit in einem Jahrtausend.
Wo einst festes Land war und Frieslands Stämme wohnten, wogt jetzt die Westsee in Ebbe und Flut über die grauen Watten hin. Und hinwiederum, wo einst des Nord- und Ostmeeres Gewässer gestanden haben, blüht jetzt die goldgelbe Butterblume auf grünem Wiesengrunde.
Wer um das Jahr 950 auf den Höhen des alten Sliasvic stand, würde heute seine Heimat nicht wiedererkennen.
Vergegenwärtigen wir uns mit einigen kurzen Strichen das völlig veränderte Bild dieser Gegenden!
In einer Zeit, die weder durch Deiche noch Dämme der Flut sich zu erwehren wußte, waren die Marschen des Westens nichts als eine ungeheure Sumpf- und Wasserfläche, aus der vereinzelte Geestinseln hervorragten. Wo die Eider jetzt mündet, schnitt ein weiter Busen der Nordsee tief ins Land hinein und warf seine Wasser bis zu dem Dorf auf der Heide, das jetzt Rheide heißt, und das ein tüchtiger Fußgänger von Schleswig aus in zwei Stunden erreichen kann. Schon der Name des Dorfes sagt, daß es in uralten Tagen eine Schiffsreede gewesen ist. Aber auch von der anderen Seite drängte das Meer, die Ostsee, um eine halbe Meile weiter ins Land hinein, so daß die beiden Zwillingssöhne des großen Weltmeeres fast einander die Hände hätten reichen können.
Auf der schmalen Landenge zwischen dem Oster- und Westersalt türmten die Dänenkönige mit klugem Scharfblick ihre Wälle, dahinter sie wohnten wie in einer wohlverwahrten Meerburg.
Die Stadt Sliasvic, vom Holmer Noor und der Schlei umflossen, galt trotz ihrer Holz- und Lehmhütten und wegen ihrer vielen Schiffe, die nach den Wendenländern, nach Hamburg und bis Dorstadt in Friesland fuhren, schon im zehnten Jahrhundert als eine bedeutende Handelsstadt.
Das Selker Noor, noch durch keinen Erddamm zum stillen Landsee erniedrigt, war ein Busen des Schleistroms, in dessen klarer Flut außer dem heutigen Möwenberg noch mehrere kleine Inseln sich spiegelten.
Als schaurig und schreckhaft, von Heide, Moor und Urwald starrend, schildert Adam von Bremen das Land. Im Westen herrschte die Erika, im Osten die Eichenriesen, deren keimender Eichelkern vom Huf des Wisent oder Auerochsen in den Boden gestampft worden war. Die ganze Landstrecke zwischen Schlei und Trave und bis zu den Gestaden der Ostsee war ein ungeheures, dicht-düsteres Waldgebiet, vor dem sogar jene zaglosen Recken sich fürchteten, und das keines Menschen Fuß völlig durchdrungen hatte. Reich an Wasser, Wald und Heide war Schleswigs Grenzgau und so der rechte Mutterboden für das Hünengeschlecht, das auf demselben, stark und hart wie die Eichen, wuchs und gedieh.
Trotz des verweichlichten Adams von Bremen, den der Gedanke an die schauerliche öde und Wildheit Nordalbingiens in seiner warmen Klausur frösteln macht, ist Schleswig seinen Söhnen in jenem frühen Jahrhundert die Heimat, in der sie geboren waren, lebten und sterben wollten, und darum das vielteuerste und vielschönste Land der Erde gewesen.
Aus: Johannes Dose, Des Kreuzes Kampf ums Dannevirke.
(Schwerin, Friedr. Bahn.)