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Von P. C. Grün
Das Volk der Nordmark übte sein Recht in Versammlungen aus, die unter freiem Himmel auf einem Platze gehalten wurden, der mit einer Reihe von Steinen eingehegt oder mit heiligen Eschen umgeben war und Thing (Dingstätte) hieß, mit welchem Worte auch die Versammlung selbst bezeichnet wurde. In der Mitte des Kreises saß der König auf einem erhöhten Sitze, in seiner Nähe die ältesten und angesehensten Häuptlinge, und rund umher stand das Volk, mit seinen schönsten Waffen und besten Kleidungsstücken angetan. Kein freier Mann war von den Verhandlungen auf den Thingen ausgeschlossen; vielmehr konnte jeder dort auftreten und seine Stimme geltend machen. Da alle bewaffnet erschienen und auf diese Weise leicht blutige Streitigkeiten entstehen konnten, so war das Thing für heilig erklärt, und wer den Thingfrieden brach, machte sich des größten Verbrechens schuldig, das Todesstrafe oder Friedlosigkeit nach sich zog. Staatsverfassung und Religion standen im Altertum in inniger Verbindung und unterstützten sich gegenseitig. Daher waren die Thinge zugleich Opferplätze, wo der König und das Volk unter Gebeten und Opfern für die Götter sich zu den wichtigen Beratungen, die jetzt ihren Anfang nehmen sollten, vorbereiteten. Da sich auf den Thingen stets eine große Menge von Menschen versammelte, so gab dies Veranlassung zum Handel und Verkehr, was Kaufleute dorthin lockte, die in der Nähe der Thingstätte ihre Buden wie auf einem Jahrmarkte aufschlugen. Im Verlauf der Zeit verwandelte sich dadurch die Thingstätte bisweilen in einen Handelsplatz, und auf solche Weise sind mehrere der ältesten nordischen Städte entstanden. Auf den Thingen wurden auch Privatangelegenheiten von Wichtigkeit, wie Übertragungen von Grundstücken, Erbteilungen, Übereinkünfte wegen ehelicher Verbindungen usw. abgemacht, weil die in einer öffentlichen Versammlung im Beisein vieler Zeugen vorgenommene Handlung größere Verbindlichkeit erlangte. Hauptsächlich waren es aber doch Staatsangelegenheiten, die den Gegenstand der Verhandlungen auf den Thingen ausmachten, die den Mittelpunkt bildeten, um den sich das ganze öffentliche Leben unserer Vorväter bewegte. Hier wurden Gesetze gegeben und abgeschafft, hier wurde Recht gesprochen, über Krieg und Frieden beschlossen, hier wurden die Könige gewählt und alle Angelegenheiten erörtert, die für den Staat im allgemeinen von Wichtigkeit waren. Wollte ein König irgend etwas durchsetzen, so mußte er es auf den Thingen vortragen und durch Überredung und Gründe das Volk für seinen Vorschlag zu gewinnen suchen; denn das Volk kannte und bewahrte sein Recht, und ein Machtspruch würde ebenso vergeblich als gefährlich gewesen sein. Daher war Beredsamkeit nicht weniger als Kriegstüchtigkeit eine notwendige Eigenschaft bei den Königen der Vorzeit, um Einfluß auf das Volk zu gewinnen und den Sinn der unsteten Menge zu lenken. Beifall wurde auf den Thingen durch Waffengeklirr zu erkennen gegeben, indem man mit dem Schwerte an die Schilde schlug; erregte hingegen ein Redner den Unwillen der Versammlung, so entstand Zischen und Murren. Im Altertum, wo sich das bürgerliche Leben noch nicht zu der Mannigfaltigkeit von Verhältnissen gestaltet hatte, welche die höhere Entwicklung einer späteren Zeit mit sich bringt, war die Gesetzgebung und Rechtspflege sehr einfach. Wenige Bestimmungen waren hinreichend, um das bürgerliche Leben zu ordnen und die Rechtshändel, die häufig unter einer und derselben Form wiederkehrten, zu schlichten. Dem Volke stand es, wie bemerkt, zu, in den Thingversammlungen neue Gesetzvorschläge anzunehmen oder zu verwerfen, oder solche Veränderungen in den bestehenden Gesetzen vorzunehmen, wie das Bedürfnis der Zeit sie erheischte. Geschriebene Gesetze gebrauchte man nicht, da es leicht war, die wenigen geltenden Gewohnheitsrechte im Gedächtnis zu bewahren, die beständig durch die Öffentlichkeit, die in allen Verhandlungen herrschte, dem Volke in Erinnerung gebracht wurden. Das Recht wurde auf Thingen unter dem Vorsitze des Königs durch die versammelten Thingmänner oder durch solche Männer ausgeübt, die wegen ihrer Rechtschaffenheit und Erfahrung von dem Volke erwählt wurden, das Richteramt zu verwalten. Schon im Voralter scheint die im Mittelalter herrschende Sitte gebräuchlich gewesen zu sein, daß der Angeklagte durch einen Eid, der von ihm selbst und von einer Anzahl hinzugezogener Männer abgelegt wurde, sich von der Beschuldigung des Anklägers reinigen konnte. Die Strafen bestanden größtenteils in Geldbußen, und selbst Mord konnte auf diese Weise gesühnt werden; jedoch zog man bei Ermordung naher Verwandten die Blutrache dem Gelde vor. Die Worte, die ein Vater aussprach, als man ihm Buße für seinen ermordeten Sohn anbot, »daß er seinen toten Sohn nicht in seinem Geldbeutel tragen wolle«, drückt die in dieser Hinsicht herrschende Ansicht damaliger Zeit aus. Auch gab es einzelne gemeine und schwere Verbrechen, die nicht mit Geld gesühnt werden konnten, wie Verräterei gegen das Vaterland, hinterlistigen Überfall und Meuchelmord, Dieberei, Bruch des Thingfriedens usw., die mit Tod, Friedlosigkeit oder mit Sklaverei bestraft wurden. Holsteins Thingstätte war in der Umgegend von Bornhöved im östlichen Holstein, jetzt ein Kirchdorf, um 1300 eine Stadt. Als Schleswigs Thingstätte zur Zeit der Einführung des Christentums finden wir Urnehöved genannt, im Kirchspiel Bjolderup, Amts Apenrade. Urnehöved hörte zuerst auf, Versammlungsplatz zu sein, als der Rathaussaal in Flensburg zum Sitzungssaale des Herrentages bestimmt wurde.
Aus: P. C. Grün, Das Vaterland. (Lesebuch.)