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Ein Edelmann aus Flandern besuchte oft seine Mutter, die sehr alt, durch Krankheit sehr geschwächt war und ein viel traurigeres und elenderes Leben als irgendeine gleichaltrige Frau führte, in der Hoffnung, sie würde gesünder und kräftiger werden, und er tat es, obwohl er in Flandern sein Haus hatte; und jedesmal, wenn er zu ihr kam, fand er sie so durch die Krankheit angegriffen, daß man wohl denken konnte, sie werde sterben.
Als er wieder einmal gekommen war, sie zu sehen, sagte sie ihm beim Abschied: »Lebt wohl, lieber Sohn, ich weiß bestimmt, daß Ihr mich nicht mehr sehen werdet, denn ich werde sterben.«
»Ach, zum Teufel, liebe Mutter«, entgegnete er, »Ihr habt mir das schon so lange hergesagt, daß ich's satt habe und mich's langweilt. Zwei, drei Jahre sind's schon her, daß Ihr so zu mir gesprochen habt, und doch ist's nicht so gekommen. Seid nur guten Muts, bitte ich Euch, und fangt nicht wieder davon an.«
Als die gute Demoiselle die Antwort ihres Sohnes vernahm, sagte sie ihm, obwohl krank und alt, lächelnd Lebewohl. Es vergingen darauf ein, zwei Jahre, stets in denselben Leiden für sie; sie ward auch später von ihrem Sohn besucht, und eines Abends, als er in ihrem Haus schon im Bett lag, kam das Übel mit solcher Stärke über sie, daß man glaubte, ihr Tod sei gekommen; daher ward der gute Sohn von den Leuten, die bei seiner Mutter wachten, gerufen; sie sagten ihm, er solle nur recht schnell zu seiner Mutter kommen, denn sie werde sicher sterben.
»Ihr meint also«, fragte er, »daß sie sterben wird? Meiner Seel, ich kann's nicht glauben. Immer hat sie schon so gesagt, und nie ist's so gekommen.«
»Jetzt aber ist's ganz gewiß so weit«, versetzten ihre Pflegerinnen, »kommt nur, man sieht deutlich, sie wird sterben.«
»Ich will euch was sagen«, meinte er, »geht nur voran, ich folge euch; und sagt nur meiner Mutter, wenn sie von dannen gehen will, soll sie nicht über Douay gehen, denn der Weg ist da zu schlecht. Vorgestern wäre ich beinahe mit meinem Pferde dort steckengeblieben.«
Gleichwohl erhob er sich, warf sein langes Gewand über und machte sich auf, um zu sehen, ob seine Mutter wirklich sterben werde. Als er in ihr Zimmer gekommen war, fand er sie sehr schwach; sie hatte einen plötzlichen Anfall gehabt, der sie wohl dem Tode hätte überantworten können, doch jetzt ging es ihr Gott sei Dank schon ein wenig besser.
»Habe ich's euch nicht gesagt?« fragte der gute Sohn. »Immer hat man hier im Haus davon gesprochen, daß sie davongehen und sterben wird, und doch ist's nie so gekommen. Wahr und wahrhaftig, ihr könnt euch bei Gott drauf verlassen. Ich habe ihr oft genug gesagt, sie soll guten Muts sein, es kommt doch nicht, wie sie denkt. Jetzt will ich mich wieder in mein Bett legen und rate euch, ruft mich nicht mehr, und wenn sie ganz allein von dannen gehen müßte, denn ich werde sie doch nicht dabei begleiten.«
Nun will ich euch auch das Ende meiner Geschichte erzählen. Diese so kranke Demoiselle erholte sich, wie gesagt, von diesem bösen Anfall und lebte noch wie früher drei Jahre lang mit ihrem Leiden; doch als ihr guter Sohn sie einmal zufällig besuchte, gab sie ihren Geist auf. Das merkwürdige aber war, daß er, als man ihn zu ihrem Sterbebett holen wollte, ein neues Gewand anlegte und nicht zu ihr gehen wollte. Bote über Bote kam zu ihm, denn seine gute Mutter, mit der es zu Ende ging, wollte ihn noch einmal sehen und ihm ihre Seele anbefehlen.
Doch immerfort antwortete er dem Boten: »Ich weiß wohl, sie hat nicht solche Eile und wird warten, bis ich das Gewand angezogen habe.«
Schließlich ward ihm so oft und unter solchen Vorwürfen die Botschaft, daß er doch zu seiner Mutter ging, im neuen Kleid, ohne Ärmel. Als sie ihn in diesem Aufzug sah, fragte sie ihn, wo die Ärmel seines Gewands seien, und er entgegnete: »Dort drin, sie werden nicht eher fertig sein, als bis Ihr uns Platz gemacht habt.«
»Dann wirst du nicht mehr lange zu warten brauchen«, versetzte die gute Demoiselle, »denn ich gehe nun zu Gott, dem ich demütig meine Seele empfehle, und dir auch, mein Sohn.«
Und mochte sie nun wollen oder nicht, sie gab, ohne noch ein Wort zu sagen, das Kreuz fest in ihre Hände geschlossen, ihre Seele Gott zurück. Als das ihr guter Sohn sah, begann er so heftig zu weinen und so großen Schmerz zu bekunden, wie man es nie bei einem Menschen gesehen; und keiner vermochte ihn zu trösten. Der Kummer drückte ihn, was man niemals vorher vermutet hätte, so auf das Herz, daß er nach vierzehn Tagen seiner Trauer erlag.