Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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55. Novelle
Das Mittel gegen die Pest

Als jüngst das Ablaßjahr in Rom zu Ende gegangen war, kam über die Dauphinée eine so große und schreckliche Pest, daß die meisten Leute das Land verließen. Während dieser Heimsuchung fühlte sich ein schönes, junges Mädchen von der Krankheit ergriffen und begab sich alsbald zu einer ihrer Nachbarinnen, einer verständigen und gewandten Frau im reifen Alter, und erzählte ihr von seinem Mißgeschick. Die Nachbarin, eine kluge und erfahrene Frau, entsetzte sich durchaus nicht über die Worte der andern, sondern tröstete sie, da sie sehr mutig und zuversichtlich war, und nannte ihr alle Arzneien, die sie kannte.

»Ach«, sagte das junge kranke Mädchen, »mir tut es sehr leid, liebe Nachbarin, daß ich jetzt diese Welt und all ihre schönen Freuden, die ich lange genossen habe, verlassen muß. Doch am meisten bedaure ich, bei meinem Eid, um es Euch insgeheim zu sagen, daß ich sterben muß, ehe ich das Gute dieser Welt genossen und empfunden habe. So und so viele haben mich gar manches Mal um meine Gunst angegangen, doch ich habe sie von vornherein abgewiesen, was mir jetzt leid tut. Und Ihr könnt mir's glauben, könnte ich zu dieser Stunde eines Mannes habhaft werden, so sollte er mir nicht eher entwischen, als bis er mir gezeigt hätte, wie ich zu erobern sei. Man hat mir erzählt, das sei so herzerquickend, daß ich immer von neuem darüber klagen muß, daß mein schmucker, junger Leib, ohne dies süße Vergnügen genossen zu haben, vergehen muß. Und um Euch die Wahrheit zu sagen, meine gute Nachbarin, ich glaube, wenn ich nur ein wenig von dieser Lust vor meinem Tode spüren könnte, würde ich fröhlicher, leichter und mit weniger Bedauern sterben. Und außerdem sagt mir mein Herz, diese Arzenei könnte mir Linderung und Heilung bringen.«

»Wollte Gott«, sagte die Nachbarin, »es wäre Euch nichts anderes not, so würdet Ihr, wie mir scheint, bald geheilt sein. Gott sei Dank gibt es ja in unserer Stadt noch Männer genug, so daß man einen schmucken Gesellen, der Euch darin diente, wohl finden könnte.«

»Meine liebe Nachbarin«, versetzte das junge Mädchen, »ich bitte Euch, geht doch zu dem -« und sie nannte ihr seinen Namen; es war ein schöner Edelmann, der ihr manches Mal von seiner Liebe gesprochen hatte - »und bittet ihn doch, hier zu mir zu kommen!«

Die Alte machte sich auf den Weg und ruhte nicht eher, als bis sie diesen Edelmann gefunden, und schickte ihn in ihre Wohnung. Sobald er im Hause war, sprang ihm das junge, kranke Mädchen, dessen Gesicht ob seiner Krankheit eine lebhaftere Farbe als sonst aufwies, an den Hals und küßte ihn mehr als zwanzigmal. Der Jüngling, froher als je, umfaßte sie, als er sie, die er so lange um ihre Gunst angegangen hatte, so voller Hingabe sah, ohne Verzug und zeigte ihr, was sie kennenzulernen so heiß begehrte. Sie schämte sich nicht, ihn um die Fortsetzung dessen, was er begonnen hatte, anzugehen und zu bitten; und um es kurz zu machen: sie bat ihn so lange um die Wiederholung, bis er nicht mehr konnte. Da sie ihre Lust noch nicht gestillt hatte, erklärte sie, als sie das sah: »Lieber Freund, Ihr habt mich ehemals um das, was ich heute von Euch begehre, gebeten, und ich weiß wohl, daß Ihr, was in Euren Kräften steht, getan habt. Doch fühle ich, daß ich noch nicht habe, was mir nottut, und weiß bestimmt, daß ich nicht mehr leben kann, wenn mir nicht jemand in derselben Weise wie Ihr Gesellschaft leistet. Daher bitte ich Euch, geht doch zu dem und dem und schickt ihn mir her, wenn Euch mein Leben lieb ist.«

»Wahrlich, liebe Freundin, so ist's, und ich weiß wohl, er wird tun, was Ihr begehrt.«

Der schmucke Gesell war über diese Bitte sehr erstaunt, suchte aber, da seine Kräfte erschöpft waren, seinen Gefährten auf und führte ihn zu ihr, die ihn sofort zu beschäftigen begann und ebenso weit wie den andern brachte. Als sie ihn wie seinen Genossen ermüdet hatte, nahm sie ihren Mut zusammen und bat ihn, wie sie es dem andern gegenüber getan, einen andern Edelmann zu ihr zu führen. Und so geschah es auch.

Nun sind es schon drei, die sie matt und müde auf dem Waffenplatz hat liegenlassen. Doch ihr müßt wissen, der erste Edelmann fühlte sich krank und von der Pest ergriffen, sobald er seinen Gefährten an seine Stelle gebracht hatte. Daher eilte er schnell zu dem Pfarrer, beichtete nach bestem Wissen und verschied dann in den Armen des Pfarrers. Auch sein Gefährte, der zweite, fühlte sich, sobald er dem dritten seinen Platz eingeräumt, sehr krank und suchte überall nach dem, der schon gestorben war; er begegnete dem weinenden und große Trauer bekundenden Pfarrer, der ihm vom Tode seines guten Gefährten erzählte.

Der Pfarrer, von großer Furcht ergriffen, beeilte sich, seine Beichte zu hören. Und als das geschehen, ging dieser kranke Edelmann zwei Stunden vor seinem Ende zu der, die ihm und seinem Genossen den Todesstoß versetzt hatte, und fand dort den, den er dorthingeführt hatte, und sagte zu ihr: »Verwünschtes Weib, Ihr habt mich und auch meinen Genossen dem Tode zugeführt. Ihr seid wert, verbrannt zu werden, bis nichts mehr als Asche von Euch bleibt. Gleichwohl verzeihe ich Euch, und Gott wolle Euch vergeben. Ihr habt die Pest und habt sie meinem Gefährten, der daran in den Armen des Priesters gestorben ist, mitgeteilt, und mir geht es ebenso.« Danach ging er weg und starb eine Stunde später in seinem Haus.

Als der dritte Edelmann sich auf eine Probe gestellt sah, der seine beiden Gefährten erlegen waren, sank ihm recht sehr der Mut. Trotzdem nahm er sich zusammen, setzte Angst und Furcht beiseite, und sicherte sich, so gut er es vermochte, wie ein Mensch, der sich in großer Gefahr und von Todesschrecken umgeben befindet; und er ging zum Vater und zur Mutter des Mädchens, das ihn betrogen und seine beiden Gefährten in den Tod geschickt hatte, und erzählte ihnen von der Krankheit ihrer Tochter und daß man doch auf sie achtgeben sollte. Danach wußte er solche Mittel zu gebrauchen, daß er der Gefahr, der seine beiden Genossen zum Opfer gefallen waren, entging.

Nun müßt ihr wissen, daß dieses Mädchen, das sich so gut auf das Männermorden verstand, als man sie in das Haus ihres Vaters zurückgebracht hatte und ihr ein Bett, in dem sie schwitzen sollte, herrichtete, heimlich den Sohn des Schuhmachers, ihres Nachbarn, holen, ihn in den Pferdestall ihres Vaters kommen und sich von ihm wie von den andern bedienen ließ; vier Stunden danach war er schon tot.

Sie ward in das Bett gelegt, und man gab ihr Mittel ein, nach denen sie tüchtig schwitzte, und alsbald brachen ihr vier Pestbeulen auf, und sie ward später gründlich geheilt. Ich glaube, wenn man ihr nachforschte, würde man sie heute unter den Dirnen zu Avignon, zu Vienne, Valence oder einem andern Ort der Dauphinée finden. Und die Leute, die davon etwas verstehen, erklären, sie sei dem Tode entgangen, weil sie die Güter dieser Welt gekostet habe; und diese Geschichte lehrt und zeigt vielen Mädchen gründlich, daß sie ein Gut, wenn es ihnen zuteil wird, niemals verschmähen sollten.

 


 


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