Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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16. Novelle
Der blinde Einäugige

In der Grafschaft Artols lebte jüngst ein schmucker, reicher und mächtiger Ritter, der eine sehr schöne Dame aus vornehmem Hause geheiratet hatte. Diese beiden verbrachten während einer langen Zeit viele Tage friedlich und freundlich miteinander; und weil damals ihr Herr, der großmächtige Herzog von Burgund, Graf von Artois, Gott sei Dank, mit allen guten Fürsten der Christenheit in Frieden lebte, beschloß der Ritter, der sehr fromm und gottesfürchtig war, Gott mit seinem Leibe, den er ihm schön und kräftig und wohlgestalt wie nur irgendeinem andern im Land geschenkt hatte, ein Opfer zu bringen; nur hatte er bei einem Sturm, in dem er mit seinem Fürsten tapfer gekämpft hatte, ein Auge verloren.

Und um seiner Verpflichtung an dem erwählten und von ihm ersehnten Ort nachzukommen, begibt er sich, nachdem er von Madame, seiner Frau, und vielen seiner Verwandten und Freunde Abschied genommen hatte, zu den guten Herren von Preußen, den wahren Vorkämpfern und Verteidigern des hochheiligen christlichen Glaubens. Er machte sich auf die Reise und beschleunigte seinen Ritt, bis er sich nach vielen Abenteuern, die ich übergehe, heil und gesund in Preußen befand, wo er sich recht oft durch große Waffentaten auszeichnete, so daß der Ruhm seiner Tapferkeit alsbald in vielen Ländern verbreitet wurde, sowohl durch den Bericht derer, die ihn gesehen hatten und in ihre Heimat zurückgekehrt waren, als auch durch Briefe, welche die dort Gebliebenen an viele Leute schrieben, die ihnen großen Dank dafür wußten.

Nun darf man euch nicht verschweigen, daß Madame, die daheimgeblieben war, nicht so streng war, der Bitte eines edlen Herrn, der um ihre Liebesgunst warb, nicht bald nachzugeben, so daß er der Stellvertreter des gnädigen Herrn ward, der gegen die Sarazenen kämpfte.

Während der gnädige Herr fastet und Buße tut, macht sich Madame mit dem Edelherrn gute Tage; sehr oft ißt der gnädige Herr zu Mittag und Abend Zwieback und trinkt einfaches Quellwasser, und Madame hat von allen Gütern Gottes im Überfluß. Der gnädige Herr legt sich im besten Fall auf einen Strohsack zur Ruhe, und Madame liegt mit ihrem Edelherrn in einem prächtigen Bett. Um es kurz zu machen: während der gnädige Herr gegen die Sarazenen kämpft, bekriegt der Edelherr die Madame und führt sich so wohl dabei auf, daß, kehrte der gnädige Herr niemals mehr wieder, sie es recht gut und ohne viel Bedauern ertragen haben würde, vorausgesetzt, daß er's nur weiter so macht, wie er angefangen hat.

Als der gnädige Herr, Gott sei Dank, sieht, daß die Gewalt der Sarazenen nicht mehr so groß wie früher ist, beschließt er, zumal er auch daran denkt, daß er seit ziemlich langer Zeit sein Haus und seine treffliche Frau verlassen hat, die sich um ihn sehr sorgt und sich nach ihm sehnt, wie sie ihn in vielen ihrer Briefe hat wissen lassen, beschließt er seine Abreise und macht sich mit seinen wenigen Leuten auf den Weg. Und sein Wunsch, sich daheim und in den Armen von Madame zu befinden, war so brennend, daß er sich in wenigen Tagen im Lande Artois befand. Da er es eiliger als alle seine Leute hatte, erhob er sich stets zuerst und war zuerst voran auf dem Weg. Und seine große Eile trieb ihn oft ganz allein seinen Leuten vorauf, manchmal eine Viertelmeile oder noch mehr.

Eines Tages, als der gnädige Herr ungefähr sechs Meilen von seinem Hause, wo er Madame finden mußte, lagerte, erhob er sich früh und stieg zu Pferde. Sein Pferd sollte ihn, wie er wünschte, zu seinem Haus bringen, ehe sich Madame, die nichts von seiner Ankunft wußte, vom Bett erhoben hätte.

So wie er sich's vornahm, geschah es, und als er sich auf diesen erfreulichen Weg machte, sagte er zu seinen Leuten: »Geht ganz nach eurem Belieben, ihr braucht mir nicht gleich zu folgen, ich will einen hübschen Trab anschlagen, um meine Frau noch im Bett zu finden!«

Seine Leute waren müde und matt, ihre Pferde ebenfalls, und so widersprachen sie dem gnädigen Herrn nicht, der sein Pferd so anspornte, daß er in kurzer Zeit im unteren Hof seines Hauses abstieg, wo er einen Diener fand, der ihm sein Pferd abnahm. Gestiefelt und gespornt, wie er aus dem Sattel gesprungen war, ging er geradenwegs, ohne einem Menschen zu begegnen, denn es war noch früh, nach ihrem Zimmer, wo Madame noch schlief oder sich der Arbeit hingab, die der gnädige Herr bei ihr so lange verabsäumt hatte.

Ihr könnt euch denken, daß die Tür nicht offenstand wegen des Stellvertreters, der ebensosehr wie Madame erschrak, als der gnädige Herr mit seinem Stock einen kräftigen Schlag gegen die Tür führte.

»Wer ist da?« fragt Madame.

»Ich bin's! Ich bin's!« erwiderte der gnädige Herr, »macht auf, macht auf!«

Madame, die den gnädigen Herrn sofort an seiner Stimme erkannt hatte, gehörte nicht zu den Frauen, die große Geistesgegenwart besitzen, gleichwohl hieß sie ihren Edelherrn sich unverzüglich anziehen. Der müht sich in größter Eile und zerbricht sich den Kopf, wie er ohne Gefahr werde entschlüpfen können.

Madame stellt sich noch ganz verschlafen und tut, als erkenne sie den gnädigen Herrn nicht, und fragt nochmals, als er den zweiten Schlag gegen die Tür führt: »Wer ist da?«

»Euer Gatte, Dame, öffnet nur schnell, öffnet!«

»Mein Mann«, erwiderte sie, »ach, der ist noch weit von hier, Gott wolle ihn fröhlich und bald heimführen!«

»Wahrhaftig, Dame, ich bin Euer Mann. Erkennt Ihr mich denn nicht an der Stimme? Sobald ich Euch antworten hörte, wußte ich, daß Ihr's seid!«

»Wenn er kommt, würde ich's lange vorher wissen, um ihn gebührend zu empfangen, und auch, um nach seinen Herren Verwandten und Freunden zu schicken, die ihn festlich empfangen und willkommen heißen würden. Geht, geht, und laßt mich schlafen!«

»Bei Sankt Johann, ich will Euch davon abhalten!« rief da der gnädige Herr. »Ihr sollt die Tür öffnen! Wollt Ihr nicht Euren Mann erkennen?«

Nun ruft er sie bei ihrem Namen. Als sie ihren Freund schon völlig angezogen sieht, heißt sie ihn sich hinter die Tür stellen und sagt dann zum gnädigen Herrn: »Ach, seid Ihr es wirklich, gnädiger Herr? Um Gott, verzeiht mir, und befindet Ihr Euch wohl?«

»Ja, Gott sei Dank«, erwidert der gnädige Herr.

»Dann sei Gott gelobt!« versetzt nun Madame, »ich komme gleich zu Euch und will Euch einlassen. Doch muß ich mich ein wenig anziehen und Licht haben!«

»Wie's Euch beliebt!« entgegnet der gnädige Herr.

»Wahrhaftig«, ruft Madame, »gerade als Ihr klopftet, gnädiger Herr, war ich in einem Traum befangen, in dem Ihr vorkamt!«

»Und wie war er, liebe Freundin?«

»Meiner Treu, gnädiger Herr, mir schien's im Ernst, Ihr wäret heimgekommen, sprächet mit mir und sähet ganz so deutlich mit dem einen Auge wie mit dem andern!«

»Wollte Gott, es wäre so!« sagt da der gnädige Herr.

»Bei unserer lieben Frau«, versetzt Madame, »ich glaube, Ihr tut es auch!«

»Bei meinem Glauben, Ihr seid wahrhaftig recht töricht«, erwiderte der gnädige Herr, »wie könnte das wohl geschehen?«

»Ich bin davon überzeugt, es ist so«, entgegnete sie.

»Nein, keine Spur«, antwortete der gnädige Herr. »Und Ihr seid so närrisch, das zu glauben?«

»Teufel, gnädiger Herr!« sagte sie. »Glaubt mir niemals mehr, wenn es sich nicht so verhält, und um des Friedens meines Herzens willen bitte ich Euch, wollen wir's prüfen!« Und damit öffnete sie, die brennende Kerze in der Hand, die Tür. Und der gnädige Herr willigt in diese Probe und duldet es, daß Madame ihm sein gutes Auge mit der einen Hand verdeckt und mit der andern das Licht vor das erloschene Auge hält, und dann fragt sie ihn: »Gnädiger Herr, seht Ihr nicht gut, bei Eurer Seele?«

»Bei meinem Eid, nein«, erwidert er. Und während dieser Reden springt der Stellvertreter des gnädigen Herrn unbemerkt aus dem Zimmer.

»Nun gebt acht, gnädiger Herr!« sagt sie, »jetzt seht Ihr mich doch gut, nicht wahr?«

»Bei Gott, liebe Freundin«, antwortet der gnädige Herr, »Wie sollte ich Euch sehen? Ihr habt doch mein rechtes Auge verdeckt, und das andere ist mir schon vor zehn Jahren ausgelaufen!«

»Nun merke ich es wohl«, erklärt sie, »es war wirklich ein Traum, der mir das erzählte. Doch gleichwohl sei Gott gelobt und bedankt, daß Ihr hier seld!«

»So sei es!« entgegnete der gnädige Herr, und nun umhalsten und küßten sie sich viele Male und boten sich herzliches Willkommen. Und der gnädige Herr vergaß nicht zu erzählen, daß er seine Leute hinter sich gelassen und sich so beeilt habe, um sie noch im Bette zu finden.

»Wahrlich«, erwidert Madame, »Ihr seid doch ein guter Mann!« Und dann kamen Frauen und Diener, die den gnädigen Herrn herzlich begrüßten, ihm die Stiefel auszogen und ihm beim Entkleiden halfen. Und danach legte er sich ins Bett mit Madame, die ihm den Rest des Mahls des Edelherrn auftrug, der froh und vergnügt, so entschlüpft zu sein, seines Weges ging.

So wie Ihr's gehört habt, ward der Ritter getäuscht, und ich habe nicht vernommen, daß es, obwohl viele Leute es später erfuhren, jemals zu seinen Ohren gekommen wäre.

 


 


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