Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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1. Novelle
Die Kehrseite der Medaille

In der Stadt Valenciennes lebte vor kurzer Zeit ein ehrenwerter Bürger, seinerzeit Steuereinnehmer vorn Hennegau, der ob seiner großen und besonnenen Klugheit unter den anderen bekannt war, und unter seinen löblichen Eigenschaften war die der Freigebigkeit nicht die letzte, denn durch sie erwarb er sich die Gunst der Fürsten, Herren und aller anderen Stände. Und in diesem glücklichen Dasein hielt und erhielt ihn das Schicksal bis zum Ende seiner Tage.

Bevor und nachdem ihn der Tod von der Kette gelöst hatte, die ihn in seiner Ehe drückte, war der gute Bürgersmann, der Held dieser Geschichte, in besagter Stadt nicht so schlecht logiert, daß nicht ein großer Herr mit einer derartigen Wohnung sich zufriedengegeben und geehrt gefühlt hätte. Und unter den begehrten und gelobten Bauten ragte sein Haus hervor, das auf mehrere Straßen sah. Und es hatte ein kleines Tor, dem gegenüber ein guter Geselle wohnte, der eine sehr schöne, schmucke Frau hatte, die noch in der herrlichsten Blüte der Jahre stand. Und wie es Brauch ist, schossen ihre Augen, Bogenschützen des Herzens, so viele Pfeile auf den besagten Bürger, daß ohne baldige Hilfe sein Zustand nicht weniger als lebensgefährlich gewesen wäre. Um dieser Sache sicher zu begegnen, brachte er es durch mannigfache schlaue Weise dahin, daß der gute Gesell, Gatte des besagten Weibchens, sein vertrauter und guter Freund ward. Und nur wenige Mittag- und Abendmahlzeiten, Banketts, Mahlzeiten in Badstuben und anderer derartiger Zeitvertreib in seinem Hause und anderswo gingen vorüber, ohne daß er daran teilgenommen hätte. Und darauf war unser Gesell sehr stolz und ebenso glücklich darüber.

Als unser Bürger, schlauer als ein Fuchs, sich der Gunst des Gesellen versichert hatte, sorgte er sich sehr wenig darum, die Liebe seiner Frau zu gewinnen; und in wenig Tagen machte er sich so gründlich und so gut ans Werk, daß das wackere Weib ihn anzuhören und seinen Wunsch zu erwägen bereit war.

Es mangelte nur an Zeit und Gelegenheit, um ihm die rechte Hilfe zuteil werden lassen zu können, und sie fand sich zu dem Versprechen bereit, sobald ihr Mann einmal das Haus verlasse, um außerhalb eine Nacht zuzubringen, ihn unverzüglich davon zu benachrichtigen.

Endlich war der ersehnte Tag angezeigt, und der Gesell sagte seiner Frau, er gehe zu einem Schloß, etwa drei Meilen von Valenciennes, und trug ihr auf, sich daheim zu halten und das Haus zu hüten, da seine Geschäfte ihm die Heimkehr in dieser Nacht nicht erlauben könnten. Ob sie sehr erfreut darüber war, ohne es freilich in Worten, in ihrem Benehmen oder sonstwie kundzutun, braucht man nicht zu fragen. Er hatte noch keine Meile zurückgelegt, als der Bürger schon von dem lange ersehnten Glücksfall hörte.

Alsbald ließ er die Bäder herrichten, die Badstuben heizen, Kuchen backen, Torten, Gewürzwein bereiten und was es sonst noch an Gaben Gottes gibt, und zwar so reichlich, daß alles kaum auf dem Tisch Platz hatte. Als der Abend kam, ward das Tor aufgeschlossen, und die, die für die Nacht dort Wache halten sollte, sprang hinein; und Gott weiß, ob sie recht zärtlich empfangen ward. Ich gehe darüber kurz hinweg und hoffe, daß sie es nicht haben mit leeren Worten bewenden lassen, sondern sich den anderen Dingen zuwendeten, die ihnen an diesem glücklichen Tag zuerst nach ihrem Wunsch zuteil wurden.

Nachdem sie in das Zimmer hinabgestiegen waren, setzten sie sich alsbald ins Bad nieder, vor dem in Eile das schöne Mahl aufgetragen und serviert ward. Und Gott weiß, daß man dabei nach Herzenslust trank. Von den Weinen und Speisen zu reden hieße bereits Erzähltes wiederholen; und um die Geschichte kurz zu machen: es gab davon mehr als genug.

In dieser angenehmen Weise verging der größte Teil dieser süßen und kurzen Nacht: Küsse wurden gegeben, Küsse genommen, so viel und so lang, daß jeder sich nur nach dem Bett sehnte.

Während man sich so liebkoste, sieh, da kommt der gute Mann schon von seiner Reise zurück und klopft, ohne eine Ahnung von diesem seinem guten Abenteuer zu haben, sehr kräftig an die Tür des Zimmers. Von der Gesellschaft darin ward ihm der Eintritt anfangs verwehrt, bis er seinen Gevatter rief. Darauf nannte er laut und deutlich seinen Namen; und wohl hörten und erkannten ihn seine gute Frau und der Bürger.

Das Weibchen erschrak so sehr, als es die Stimme seines Gatten hörte, daß ihm beinahe übel geworden wäre, und hätte sich schon nicht mehr aufrecht zu halten gewußt, wenn der gute Bürger und seine Leute es nicht getröstet hätten.Der gute Bürger faßte sich schnell, wußte, was er tun sollte, hieß die Frau sich in Eile zu Bett begeben, legte sich so nahe als möglich zu ihr und sagte ihr, sie solle sich dicht neben ihm halten und das Gesicht derart verbergen, daß man nichts von ihm bemerken könnte.

Und das geschah in der kürzesten Zeit, die man sich denken kann; darauf ließ er, ohne sich zu beeilen, die Tür öffnen. Und der gute Gesell sprang ins Zimmer hinein, dachte auch bei sich, es gebe da irgendein Geheimnis, da sie ihn vor der Tür so lange zurückgehalten hatten. Und als er den Tisch beladen mit Weinen und reichlichen Speisen sah, dazu das schöne Bad wohl zubereitet und den Bürger in dem schönen Bett mit einer zweiten Person gelagert, Gott weiß, ob er da laut sprach und das Benehmen seines guten Nachbarn durchhechelte: erst nannte er ihn einen zuchtlosen Kerl, dann Wüstling, dann liederlichen Strick, dann Säufer und taufte ihn so gut, daß alle in der Stube und er mit ihnen von ganzem Herzen darüber lachten.

Doch seine Frau hatte zu dieser Stunde keine Muße dazu, so sehr waren ihre Lippen beschäftigt, sich ganz nahe ihrem neuen Freunde zu bringen. »Haha«, sagte er, »Herr Spitzbube, Ihr habt mir das schöne Mahl gut verheimlicht, aber meiner Treu, wenn ich nicht bei dem großen Fest gewesen bin, so will ich doch wenigstens die Neuvermählte sehen!« Und mit diesen Worten nahm er die Kerze in seine Hand und trat dicht ans Bett, und schon wollte er die Decke aufheben, unter der schweigend seine vollkommene und gute Frau große Buße tat, als der Bürger und seine Leute ihn davon zurückhielten; doch gab er sich damit nicht zufrieden, sondern hielt trotz allem immer die Hand fest am Bett. Aber er vermochte nichts, und man ließ ihn seinem Wunsch und Willen mit gutem Grunde nicht folgen.

Doch ward eine angenehme und recht neue Einigung erzielt, womit er sich schließlich zufriedengab, und zwar - der gute Bürger willigte ein, ihm abgedeckt die Kehrseite seiner Frau zu zeigen, den Rücken und die Schenkel, die weiß und voll waren, und das andere Schöne und Nette, ohne das Gesicht aufzudecken und sehen zu lassen.

Der gute Gesell verharrte, immer die Kerze in der Hand, ziemlich lange, ohne ein Wort zu sagen. Und als er sprach, lobte er die so große Schönheit dieser seiner Frau und bekräftigte mit einem hohen Eid, daß er niemals etwas dem Hintern seiner Frau so Ähnliches gesehen habe; und wenn er nicht ganz sicher wüßte, daß sie zu dieser Stunde in ihrem Hause wäre, würde er sagen, sie sei es.

Sie ward alsbald wieder bedeckt, und er zog sich in tiefen Gedanken zurück. Doch Gott weiß, ob man ihm gut Bescheid gab, erst der eine, dann der andere, es sei von ihm schlecht gesprochen und er tue seiner Frau wenig Ehre und es sei dies eine ganz andere Person, wie er nachher würde sehen können.

Um die mißbrauchten Augen dieses armen Märtyrers wieder zu erquicken, befahl der Bürger, ihn an die Tafel zu setzen, wo er neuen Verdacht schöpfte, während er reichlich trank und aß von den Speisen, die diejenigen übriggelassen hatten, die sich indes im Bett zu seinem großen Schaden unterhielten. Die Stunde des Abschieds kam, und er sagte dem Bürger und seiner Gesellschaft gute Nacht und bat sehr, man solle ihn durch das Tor aus dem Haus lassen, damit er schneller in seine Wohnung komme. Doch der Bürger antwortete ihm, er könne in dieser Stunde nicht den Schlüssel finden, erklärte auch, das Schloß sei so rostig, daß man es nicht werde öffnen können, weil es niemals oder nur sehr selten geschlossen werde. Er ward es schließlich zufrieden, durch das vordere Tor zu gehen und den großen Umweg zu seinem Haus zu machen.

Während die Leute des Bürgers ihn zum Ausgang geleiteten und sich bemühten, ihn durch Gespräche noch aufzuhalten, sprang die gute Frau schnell auf die Füße, zog sich rasch an und kam, ihren einfachen Rock zugeschnürt, ihr Leibchen im Arm, zum Tor; dann hatte sie nur einen Sprung bis zu ihrem Haus, wo sie ihren Mann erwartete, der den langen Weg zu machen hatte; sie wußte genau, was sie zu tun hatte und wie sie sich ihm gegenüber benehmen mußte.

Seht, da klopft unser guter Mann, als er noch Licht in seinem Hause sieht, ziemlich heftig an die Tür. Und seine gute Frau, die drinnen wirtschaftet, in der Hand einen Besen, fragt, was sie wohl weiß: »Wer ist da?«

Und er antwortet: »Euer Mann!«

»Mein Mann?« sagte sie. »Mein Mann ist das nicht, er ist nicht in der Stadt!«

Und er klopft von neuem und ruft: »Macht auf, macht auf, ich bin Euer Mann!«

»Ich kenne wohl meinen Mann«, erwiderte sie, »er pflegt nicht so spät zu kommen, wenn er in der Stadt ist; geht weiter, Ihr seid hier nicht an der rechten Stelle. In diesem Haus hat man nicht um diese Stunde zu klopfen!«

Und er pochte zum drittenmal und nannte sie bei ihrem Namen, einmal, zweimal. Und nun tat sie, als erkennte sie ihn, und fragte ihn, woher er um diese Stunde komme. Und als Antwort sagte er nur: »Macht auf, macht auf!«

»Macht auf«, rief sie, »seid Ihr noch nicht da, schändlicher Hurer? Bei der heiligen Maria, ich sähe Euch lieber ertrunken, als daß ich Euch ins Haus ließe. Geht schlafen an dem üblen Ort, von dem Ihr kommt!«

Doch jetzt entbrennt der gute Mann im Zorn und stößt, so kräftig er kann, mit seinem Fuß gegen die Tür und scheint sie in Stücke schlagen zu wollen und droht, seine gute Frau so lange zu prügeln, wie seine Kräfte es gestatteten, wovor sie keine große Furcht hatte, doch öffnete sie, um den Lärm zu dämpfen und ihm besser ihre Meinung sagen zu können, die Tür.

Und als er eintrat, ward er, weiß Gott, mit einer sehr sauertöpfischen Miene und einem bösen und zornroten Gesicht empfangen. Und da ihre Zunge über sein mit Groll und Zorn schwer beladenes Herz Gewalt hatte, schienen die Worte, die sie schleuderte, nicht weniger schneidend als die wohlgeschliffenen Messer von Guingant. Und unter anderem warf sie ihm heftig vor, er habe aus Bosheit seine Reise vorgespiegelt, um sie auf die Probe zu stellen, und es sei die Art eines Feiglings und Hinterlistigen und er sei nicht wert, eine so keusche Frau wie sie zu haben.

Obwohl der gute Gesell sehr zornig und anfangs recht ärgerlich war, beschwichtigte er, da er nun sein Unrecht mit eignen Augen sah und das Gegenteil dessen, was er gedacht hatte, seinen Groll und den Zorn, der sein Herz erfüllt hatte, als er so heftig an die Tür schlug, und ward auf einmal zu einer höflichen Sprache gebracht. Denn er sagte, um sich zu entschuldigen und seine Frau zu begütigen, er sei unterwegs umgekehrt, da er den wichtigsten auf den Gegenstand seiner Reise bezüglichen Brief vergessen habe.

Ohne sich anmerken zu lassen, daß sie es glaube, begann sie von neuem mit ihren Vorwürfen, beschuldigte ihn, er komme aus der Schenke und aus Badstuben und von unehrbaren und sittenlosen Stätten und führe sich für einen anständigen Mann schlecht auf, und sie verwünschte die Stunde, da sie ihn kennengelernt, und ihre verfluchte Heirat mit ihm.

Der arme Trostlose erkannte seinen Fehler, sah seine gute Frau viel mehr, als er wollte, erregt und wußte, ach! nicht, was er zu seiner Verteidigung vorbringen sollte. Er begann nachzudenken, und am Schluß seines Gedankengangs trat er ganz dicht vor sie, bog weinend seine Knie ganz tief zur Erde und sagte die schönen Worte, die nun folgen: »Meine liebe Gefährtin und treue Gattin, ich ersuche und bitte Euch, laßt fahren allen Groll, den Ihr gegen mich gefaßt habt, und verzeiht mir alles Schlimme, was ich Euch angetan habe. Ich sehe mein Unrecht ein und erkenne meinen Fehler und komme eben von einer Stätte, wo es sehr gut zuging. So wage ich es denn Euch zu sagen, daß ich Euch dort zu erkennen meinte, worüber ich sehr ärgerlich war. Und da das ein Unrecht war und ohne Grund geschah, bekenne ich, Euch als eine andere als gute Frau beargwöhnt zu haben, was ich bitter bereue; daher bitte ich Euch nochmals, vergeßt allen früheren Groll und den heutigen, schenkt mir Eure Gunst wieder, und verzeiht mir meine Torheit!«

Als unser gutes Weibchen seinen Gatten auf gutem Weg und ganz nach seinem Wunsch sah, zeigte es sich nicht mehr so hart und giftig: »Wie!« rief sie, »schmutziger huriger Kerl, wenn Ihr von Euren schändlichen und berüchtigten Stätten kommt, dürft Ihr dann überhaupt zu denken oder nur einen Augenblick zu glauben wagen, daß Eure gute keusche Frau sie auch nur zu betrachten würdigte?«

»Nein, nein, bei Gott! Ach, das weiß ich ja ganz gut, liebe Freundin, sprecht um Gottes willen nicht mehr davon«, sagte der gute Mensch. Und abermals kniet er vor ihr und erneuert noch einmal seine frühere Bitte. Obwohl sie noch betrübt und zornig über diese Verdächtigung war, hörte sie doch, da sie ihren guten Mann völlig zerknirscht sah, mit ihren Vorwürfen auf, und allmählich gewann ihr aufgeregtes Herz seine sonstige Ruhe zurück, und sie verzieh, obwohl recht widerwillig, nach hunderttausend Eiden und ebensoviel Versprechen dem, der ihr solch Unrecht getan hatte.

Und manches Mal schlüpfte sie infolgedessen weit weniger furchtsam und sicherer durch das besagte Tor, ohne daß die List jemals dem, den sie am meisten berührte, aufgedeckt worden wäre. Und das genüge für die erste Geschichte.

 


 


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