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14. Kapitel.
Eine opfermütige Tat christlicher Indianer.

Großer Schrecken herrschte auf unserer Missionsstation, als uns einmal beim Beginn des Frühjahrs die Kunde erreichte, unter den Indianern der großen Saskatschewan-Ebene seien die Pocken ausgebrochen.

Wahrscheinlich war diese schreckliche Krankheit durch einige weiße Händler aus dem Staate Montana ins Land gebracht worden und hatte sich mit unglaublicher Schnelligkeit verbreitet und viele Todesfälle zur Folge gehabt. Die Sache wurde noch dadurch verschlimmert, daß zwei Indianer-Stämme gerade miteinander im Kampfe lagen. Um ihren Feinden möglichst viel Schaden zuzufügen, trugen die Leute die Kleider ihrer an den Pocken verstorbenen Freunde auf das feindliche Gebiet, wo sie von den nichts Schlimmes ahnenden Leuten gefunden und benutzt wurden. Dadurch wurde die Seuche noch weiter verbreitet, und Tausende fielen ihr zum Opfer.

Die Missionare in jener Gegend Mac Dougall und Campbell trafen mit Hilfe ihrer christlichen Indianer alle erdenklichen Vorsichtsmaßregeln gegen das Fortschreiten der Krankheit; aber trotz ihrer Bemühungen fuhr dieselbe fort, Weiße und Rote dahinzuraffen. Um wenigstens einige Leute zu retten, veranlaßte Mac Dougall die Indianer seiner Missionsstation Viktoria, ihre dortigen Wohnungen zu verlassen und sich über die großen Prärien zu zerstreuen, in der Hoffnung, auf diese Weise die Ansteckung zu verhindern. Die heidnischen Indianer, verzweifelt und erbittert über die schreckliche Seuche, die so viele der Ihrigen zum Opfer forderte, und der sie ganz machtlos gegenüberstanden, beschlossen, sich an den wehrlosen Weißen zu rächen. Sie sandten eine Anzahl Krieger aus, um sämtliche Weiße in ihrem Lande zu töten. Der erste Wohnort der »Blaßgesichter«, den sie erreichten, war die Missionsstation Viktoria am Saskatschewan-Strom. Ihrer indianischen Art getreu, griffen sie nicht sogleich offen an, sondern die Mehrzahl der Krieger versteckte sich im hohen Gras, und nur ein paar von ihnen traten leise ins Missionshaus ein. Groß war ihr Erstaunen, als sie entdeckten, daß die Pocken auch hier eingedrungen waren und einige der Hausbewohner dahingerafft hatten. Schnell und geräuschlos schlichen sie zu ihren Gefährten zurück, und teilten ihnen ihre Entdeckung mit. Es wurde Kriegsrat gehalten, und man kam zu dem Schluß, der Missionar könne nicht an der Krankheit schuld sein, sonst hätte er es nicht zugelassen, daß auch von seinen Leuten einige stürben. Gewiß seien die weißen Pelzhändler die Schuldigen.

Sie begaben sich nun nach der nächsten Handelsstation, gingen dort in gleicher Weise vor und fanden, daß auch der dortige Oberaufseher Clarke der Krankheit zum Opfer gefallen war. Wiederum wurde eine Beratung gehalten mit dem Ergebnis, sie hätten sich auch dieses Mal geirrt. So kehrten sie in ihre Heimat zurück, ohne jemandem ein Leid getan zu haben.

Trotzdem waren aber der Missionar und die Seinigen immer noch von Gefahren umgeben. Die heidnischen Beschwörer hätten am liebsten die aufgeregten und verzweifelten Indianer zu Grausamkeiten und Gewalttaten gegen die Weißen aufgehetzt. Es war einzig und allein Gottes mächtiger Schutz, der die Missionsleute damals vor der Niedermetzelung bewahrte. Einmal war die Frau des Missionars mit einigen andern Leuten im Garten beschäftigt, als elf Schwarzfuß-Indianer keine hundert Meter von ihnen entfernt im hohen Grase versteckt lagen. Sie waren gekommen, um zu morden und zu plündern, aber wie sie später selbst sagten, hatte eine unsichtbare Macht sie vom Schießen zurückgehalten. Ein ander Mal waren einige Krieger aus dem gleichen blutdürstigen Stamm durch ein Haferfeld gekrochen und halten lange Zeit die Missionsleute beobachtet, waren dann aber wieder heimgekehrt, ohne ihnen irgend einen Schaden zuzufügen. Es war damals den Missionaren unter jenen wilden Heiden nichts Ungewöhnliches eine Kugel dicht am Kopfe vorüberpfeifen zu hören.

Während die Pocken an den Ufern des Saskatschewan so viel Elend anrichteten, traf man in den umliegenden Landstrichen allerlei Vorkehrungen, um den Fortschritten der Seuche entgegenzutreten. Seit Jahren pflegte man die für das weit entfernte Saskatschewan-Land bestimmten Vorräte von Fort Garry am Winnipeg-See aus in langen Zügen von Ochsenkarren weiter zu befördern. Diese Karren hatten kein einziges Stückchen Eisen an sich, und da die Indianer und Mischlinge, die das Amt der Fuhrleute versahen, nie Öl oder Fett an die Räder wandten, so waren sie schon von weitem hörbar. Jeder Karren wurde von einem Ochsen gezogen und war mit 800-1200 Pfund beladen; der Fuhrmann ging immer zu Fuß nebenher. Diese Karrenzüge waren das Gegenstück zu den Transport-Booten auf den großen Strömen. Es war immer ein großer Augenblick für die einsamen Weißen im fernen Norden, wenn diese Züge ankamen und ihnen Nachrichten von der Außenwelt mitbrachten.

Aber zur Pockenzeit mußte man zu sehr strengen Maßregeln greifen. Der Gouverneur von Manitoba verbot jeglichen Handelsverkehr mit dem verseuchten Landstrich. Kein Karren und kein Reisender durfte den Weg dorthin einschlagen. Das brachte den Missionaren, Händlern und anderen Weißen, die sich um ihres Berufes oder Vergnügens willen dort aufhielten, gar manche Leiden und Entbehrungen. An vielen Orten erhielten die Missionare selbst zu gewöhnlichen Zeiten nur zweimal im Jahr Nachricht von der Außenwelt; und nun blieb dieselbe ganz aus. Es gab wohl noch Büffel auf den Ebenen, sonst aber waren die Vorräte beinahe aufgezehrt, auch Kugeln, Schießpulver und die nötigen Arzneien gingen auf die Neige. Verschiedene Personen bestürmten umsonst den Gouverneur mit Bitten, seine Maßregeln zu mildern. Es war ihm schmerzlich, die Leute darben zu lassen, aber er sah es für seine Pflicht an, seine Provinz möglichst zu schützen.

»Was können wir tun, um den Armen zu helfen, die nicht nur Krankheit und schwere Verluste, sondern nun auch noch Hunger und Not zu leiden haben?« das war die Frage vieler mitfühlender Leute. Zuletzt beschloß man, die christlichen Indianer in Norway-Haus zu bitten, mit einer Anzahl von Booten den mächtigen Saskatschewan-Strom bis an eine Stelle hinaufzufahren, wo die Notleidenden sie erreichen konnten, um ihnen die nötigen Vorräte zu bringen.

Stewart, der oberste Beamte der Hudson-Bai-Gesellschaft, kam mit dieser Bitte zu mir, als dem Missionar dieser Indianer, und wir hatten eine lange Unterredung und überlegten alle Gefahren, welchen die Indianer bei einer solchen Reise ausgesetzt sein würden, denn keiner von ihnen war geimpft. Sie mußten Hunderte von Kilometern in dem verseuchten Landstrich reisen. Aber es mußte durchaus irgend etwas geschehen, und es war möglich, daß die Indianer durch große Vorsicht der Ansteckung entgehen konnten. Wir beschlossen also, sie zusammenzurufen und ihnen die Sache vorzulegen.

Die Kirchenglocke wurde geläutet, und die Indianer kamen zusammen, um zu erfahren, was es gäbe. Ich schilderte ihnen die traurige Lage der Leute im Saskatschewan-Lande und schlug vor, hundertundsechzig Männer möchten mit zwanzig Booten voll Lebensmittel, Schießbedarf usw. den Strom hinaufrudern und die weißen Leute vom Hungertode retten. Die Leute, zu denen ich redete, waren alle Christen. Ich sagte: »Ich weiß wohl, daß euer Volk nicht immer schön und gerecht behandelt worden ist, aber daran denkt jetzt nicht. Gott gibt euch jetzt die Gelegenheit, etwas Großes für ihn zu tun. Ihr könnt damit ihm und der Welt zeigen, wessen Kinder ihr seid, indem ihr Opfer bringt und Gefahren trotzt, um eurer Pflicht zu gehorchen.« Wir sagten ihnen, sie könnten wahrscheinlich der Ansteckung entgehen, wenn sie sich immer in der Mitte des großen Stromes hielten und niemals landeten. Sie würden mit genügender Nahrung versehen werden, um unterwegs nicht jagen zu brauchen. Dann fragten wir: »Wollt ihr euch in die Gefahr begeben, um diese gute Tat zu tun?« Ich wandte mich an einen der besten Führer des ganzen Landes, meinen treuen Gehilfen Samuel Papanekis: »Ihr sollt der Führer und Leiter dieser Schar sein, Samuel!« Er war der Sohn des hundertjährigen Wilhelm und Bruder von Eduard Papanekis, der jetzt Missionar in Oxford-Haus ist.

Zuerst schien er etwas erschrocken über die Verantwortlichkeit seiner Stellung und nach kurzem Nachdenken sagte er: »Laßt uns, bitte, ein wenig Zeit zum Überlegen.« Wir verließen sie, und es folgte eine Beratung. Nach einer Weile ließen sie uns sagen, sie seien bereit uns zu antworten. Als wir unter sie traten, sagten sie: »Missionar, wir haben uns untereinander beraten und beschlossen, unseren weißen Brüdern und ihren Familien zu Hilfe zu eilen. Wir möchten nur noch einen Sonntag in unserer Kirche verleben und das heilige Abendmahl empfangen, bevor wir diese gefahrvolle Reise antreten.«

»Ja«, antwortete ich, »es wird sowieso einige Tage dauern, bis die Boote und die Vorräte bereit sind. So können wir noch einen gesegneten Tag der Ruhe und des Gottesdienstes miteinander verleben.«

Es war ein unvergeßlicher Sonntag. Wer nur irgend kommen konnte, war da. Einige Frauen weinten beim Gedanken an die Gefahr, in welche ihre Männer, Söhne und Brüder sich begeben wollten, andere schienen von gleichem Mute beseelt wie die Männer und waren stolz, daß diese zu einem solchen Werk berufen waren.

Zum Schluß empfingen alle das heilige Abendmahl, und beim Gedanken an Jesu Liebe und großes Opfer wurden die Herzen warm und freudig. Ihr eigenes Opfer erschien ihnen nun wie eine große Freude.

Als wir am Nachmittag zu einer freundschaftlichen Vereinigung zusammenkamen, da war in den kurzen Ansprachen, die einige der Leute hielten, nichts von Furcht, aber auch keine Prahlerei zu merken. Einige erwähnten das vor ihnen liegende Werk überhaupt nicht, andere baten um unsere Fürbitte. Manche ernste, geheiligte Worte wurden gesprochen, Worte der Freude, daß auch sie würdig erfunden waren, für den Herrn etwas zu opfern und mit ihm zu leiden, um dereinst auch seiner Herrlichkeit teilhaftig zu werden.

Wenige Tage später traten sie ihre gefahrvolle Reise an. Jedes der zwanzig Boote war mit acht Indianern bemannt, an der Spitze der ganzen Flotte stand Samuel Papanekis. Wochenlang ruderten die tapfern Leute bei der glühenden Sommerhitze durch Seen und Flüsse, die mächtigen Ströme hinauf Hunderte von Meilen weit. Ganz früh am Morgen begannen sie ihr Tagewerk, und nur wenige Stunden rasteten sie in der Nacht. Oft sahen sie allerlei wilde Tiere am Ufer ganz in ihrer Nähe, und die jüngeren, jagdlustigen Leute baten um Erlaubnis, zu feuern, aber die Gefahr war zu groß, als daß man es ihnen hätte erlauben können.

Am Sonntag verankerten sie die Boote dicht nebeneinander an einer der zahlreichen Sandbänke und feierten den Ruhetag mit gemeinschaftlichen Gottesdiensten. Oft konnten sie am Ufer des Stromes die verlassenen Wigwams sehen, deren Einwohner entweder der Krankheit zum Opfer gefallen oder geflohen waren. So mußten die Boote eine große Strecke Weges durch das verseuchte Land zurücklegen, bevor sie ihre kostbare Ladung niederlegen konnten.

Unterdessen lebten wir daheim in beständiger Fürbitte und großer Besorgnis um diese edlen Leute, von denen wir während ihrer ganzen Abwesenheit nichts hörten. Endlich nach zehn langen Wochen kehrten sie wieder heim, ihr Herz voll Lob und Preis. Alle mit Ausnahme des Führers waren gesund und unversehrt zurückgekommen. Für Samuel war die große Last der Sorge und Verantwortlichkeit zu viel gewesen; er hat sich nie wieder erholt. Die anderen Leute erzählten uns, Samuel sei stets voller Fürsorge und von beinahe schlafloser Wachsamkeit für alle gewesen. Er war entschlossen, alle seine Kräfte daranzusetzen, den hungernden Weißen Hilfe zu leisten und seine Leute unversehrt wieder heimzubringen.

Es gelang ihm vollkommen, dieses zu tun, aber um den Preis seines eigenen Lebens. Er kehrte nur in seine Heimat zurück, um schnell dahinzusiechen und zu sterben. Mit starker Willenskraft hielt er sich aufrecht, bis das letzte Boot den Hafen erreicht hatte und die Männer wieder mit ihren Familien vereint waren. Er nahm auch noch an unserem Dank-Gottesdienst teil, wo wir frohen Herzens miteinander sangen und beteten, dann aber siechte er dahin trotz allem, was wir mit Hilfe der freundlichen Hudson-Bai-Beamten, die ihn hoch schätzten, für ihn zu tun versuchten. Ganz allmählich fühlten wir sein Ende nahen. Sein Atem machte ihm große Beschwerden. Eines Tages wurde ihm auf seine Bitte draußen im Walde ein Lager von Fichtenzweigen und weichen Decken bereitet, denn es war ein schöner Sommertag. Die Veränderung verschaffte ihm etwas Erleichterung, und wir sprachen miteinander vom Heiland und von seinen herrlichen Verheißungen, bis der Kranke einschlummerte. Als er bald wieder erwachte, wußte er, daß sein Ende nahe war, und war ganz bereit zu sterben. Ich beugte mich über ihn mit den Worten: »Samuel, der Tod ist nahe! Bist du bereit?« Er hatte das Gehör beinahe verloren und verstand mich nicht gleich. Ich wiederholte lauter: »Samuel, geliebter Bruder, Ihr seid im finstern Tal. Wie steht es mit Euch?«

Sein leuchtender Blick zeigte mir, daß er mich verstand. Er erhob den Arm, als wollte er etwas fassen, und sagte: »Missionar, ich halte mich an Gott; er ist meine Freude, meine Hoffnung und mein Glück!« Dann sank sein Arm leblos herab, und der tapfere Indianer hatte ausgelitten, er war daheim bei seinem Herrn.

Einige Zeit nach Samuels Tode hatte ich ein Gespräch mit seiner Witwe, welches mir unvergeßlich bleiben wird. Sie war nach Samuels Begräbnis mit ihren Kindern von der Missionsstation fortgezogen, um sich mit einigen andern Indianerfamilien einige Kilometer weiter stromabwärts niederzulassen. Bis dahin hatten wir ihnen mit Lebensmitteln geholfen und sie öfters besucht, dann hatten wir sie längere Zeit nur bei den Gottesdiensten gesehn und kannten ihre näheren Umstände in der neuen Heimat noch nicht. Als der Winter kam, beschlossen Missionar Semmens und ich, mit unseren Schlitten eine Rundfahrt bei den zerstreut lebenden christlichen Indianern zu machen, um zu sehen, wie es ihnen ginge. Große Freude herrschte überall, wo wir erschienen, uns nach ihrem Wohlergehen, ihrer Jagd und Fischerei erkundigten und von Herzen an aller Freude und allem Leid mit teilnahmen, welches sie während der letzten Monate durchlebt hatten; auf solche Gespräche folgte immer in einem der kleinen Häuser eine gesegnete Andacht, Bibellesen und Gebet.

An einem bitterkalten Tage langten wir bei der Wohnung Nancys, der Witwe Samuels, an; es war ein ärmliches Häuschen. Ein freundliches »Astum«! (Herein!) antwortete auf unser Klopfen, und wir traten ein. Unser Herz zog sich bei dem Anblick der großen Armut, der sich uns darbot, schmerzlich zusammen. Das Haus war eine Blockhütte, und die Ritzen waren mit Moos und Lehm verstopft. Der Fußboden war Erde, und im ganzen Hause war kein Tisch, Stuhl, Bett oder sonstiger Hausrat zu sehen. In einer Ecke befand sich die Feuerstelle, wo sich die Witwe mit ihren zahlreichen Kindern, von denen das eine ein Krüppel war, an der schwachen Flamme wärmte.

Nach einigen herzlichen Begrüßungsworten sah ich mich traurig in dem ärmlichen Raume um und sagte: »Nancy, Ihr scheint ja sehr arm zu sein; habt Ihr nichts, was Euch das Leben angenehm und gemütlich macht?« Ihre Antwort klang viel fröhlicher als meine Frage: »Ich habe nicht viel, aber ich bin nicht unglücklich, Missionar.« – »Ihr besitzt also eigentlich gar nichts?« – »Wir sind sehr arm,« war die ruhige Antwort.

»Habt Ihr Fleisch?« – »Nein.«

»Habt Ihr Mehl oder Tee?« – »Nein.«

»Habt Ihr nicht einmal Kartoffeln?« – »Nein,« erwiderte die Witwe, »ich habe auch keine Kartoffeln, denn gerade zu der Zeit, als man sie hätte pflanzen sollen, mußte Samuel den hungernden Weißen zu Hilfe eilen. Und nun ist Samuel nicht mehr hier, um auf die Jagd zu gehen und mir Wild heimzubringen oder Marder, Ottern und Biber zu fangen, deren Fell man gegen Mehl und Tee umtauschen kann.«

»Wovon lebt Ihr denn?« fragte ich traurigen Herzens.

»Ich habe ein paar Fischnetze,« war die Antwort.

»Was macht Ihr aber, wenn der Fluß so stürmisch ist, daß Ihr nicht nach den Netzen sehen könnt?«

»Manchmal gehen die Männer aus den anderen Häusern und bringen mir die Fische aus meinen Netzen, manchmal fischen wir durch Löcher im Eise.«

»Und wenn es so stürmisch ist, daß niemand hinausfahren kann?«

»Wenn nichts mehr da ist, dann schlagen wir uns eben ohne Speise durch,« sagte sie ruhig.

Ich sah die Witwe und ihre vaterlosen Kinder an und dachte an Samuels freudiges Sterben, an seinen Eingang in jenes Leben, wo sie »weder hungern noch dürsten« und wo »Gott abwischen wird alle Tränen von ihren Augen«, und der Unterschied zwischen seiner Seligkeit und ihrer Armut überwältigte mich. Tief bewegt verließen Semmens und ich das Haus, wir fühlten, daß wir ihnen zuerst ihre bittere Armut etwas erleichtern mußten, bevor wir mit ihnen beteten.

Mein Gefährte hatte bereits unsern Schlitten erreicht, und ich war dicht hinter ihm, da hörte ich jemand rufen: » Ayumea-ukemau« (Gebetsmann).

Ich schaute mich um und sah Nancy auf ihrer Schwelle stehn. Sie hatte meinen Schmerz bemerkt und war mir nachgeeilt, um noch einige Worte mit mir zu reden.

»Missionar«, sagte sie, »seid doch meinetwegen nicht so betrübt. Ich bin wohl sehr arm; seit Samuel gestorben ist, haben wir oft an Hunger und Kälte gelitten, aber Missionar,« (bei diesen Worten wich aller Kummer aus ihrem Gesicht) »ebenso wie Samuel dem Herrn sein Herz geschenkt hatte, so habe ich es auch getan, und Gott, der Samuel tröstete und stärkte und selig sterben ließ, der ist auch mein Heiland. Einst werde ich auch wie Samuel in den Himmel kommen, und dieser Gedanke macht mich den ganzen Tag lang glücklich.«

Mein Herz war bei diesen Worten voll Freude, aber ich konnte nichts sagen. Bald flogen unsere Schlitten über die glatte Bahn heimwärts dem Missionshause zu.

In der nächsten Nacht war unser Bett um eine Decke ärmer, und auch unsere Vorräte waren bedeutend vermindert. Ich erzählte den wohlhabenderen Indianern von Nancys ärmlichen Verhältnissen, und sie taten alles, um ihr und ihren Kindern ein besseres Leben zu verschaffen. Freigebigkeit gehört zu den Tugenden unserer christlichen Indianer, und sie geben ihren ärmeren Brüdern oft so viel, daß sie selber nur wenig behalten.

Samuels schöner Tod und Nancys mutige Worte stärkten unsern Glauben sehr. Es war eine große Freude für uns zu sehen, wie Gottes Macht das finstere Todestal und diese ärmliche Hütte mit Himmelsglanz erfüllte. Wir bemitleideten Nancy wegen ihrer Armut, aber als wir die Sache im Lichte der Ewigkeit ansahen, mußten wir doch ausrufen: »Welch glückliche Frau! Lieber in einem Blockhause leben, wo es an den nötigsten irdischen Dingen fehlt, wo aber der Heiland Hausgenosse ist, als ohne ihn im schönsten Palaste das Leben verbringen!«


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