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Es gab wohl manchmal in unserem Leben da draußen schwere, dunkle Stunden, die unseren Glauben auf harte Proben stellten, aber dennoch machten wir viele köstliche Erfahrungen, die uns ermutigten, in unserer Arbeit unter den Kri-Indianern fortzufahren.
Eine dieser Erfahrungen, die wir machen durften, bewies uns, daß nichts, was man für den Herrn tut, vergeblich und umsonst getan ist.
Eines Tages im Juni saß ich in Norway-Haus in meine Arbeit vertieft in meiner Stube, da wurde ich plötzlich durch lautes Räuspern aufgeschreckt. Schnell sprang ich auf, sah mich um und erblickte einen großen, kräftigen Indianer. Er war in jener leisen, katzenähnlichen Art in mein Zimmer getreten, die den meisten Indianern eigen ist. Die Mokassins an ihren Füßen verursachen kein Geräusch, und so können sie sogar in Scharen ein Haus betreten, ohne daß man es hört. Da sie eine entschiedene Abneigung gegen das Klopfen haben, so kommen sie gewöhnlich so leise wie möglich ohne jegliche Ankündigung einfach ins Zimmer, und so hatte es dieser Indianer auch gemacht.
Mein erster Blick sagte mir, daß ich den Mann noch nie gesehen hatte, obgleich ich bereits mit einigen hundert Indianern bekannt geworden war. Ich schüttelte seine Hand und sagte einige Begrüßungsworte, auf die er nicht viel zu achten schien.
Dann bat ich ihn, sich zu setzen, aber anstatt meiner Aufforderung zu folgen, kam er ganz dicht an mich heran und sagte mit großem Ernst: »Missionar, wollt Ihr mir helfen, ein Christ zu werden?«
Überrascht und erfreut über diese plötzliche Frage, sagte ich: »Gewiß will ich das tun, das ist ja mein Amt und meine Pflicht hier.« – »Wollt Ihr auch meiner Frau und meinen Kindern helfen, Christen zu werden?« fügte er mit gleichem Ernst hinzu.
»Natürlich«, antwortete ich, »gerade zu solcher Arbeit sind meine Frau und ich aus unserer Heimat in dieses ferne Land gekommen.«
Natürlich interessierte mich jetzt dieser stattliche Indianer; ich fragte ihn deshalb, woher er komme, und was er sei.
Er setzte sich und erzählte mir folgende Geschichte. Ich wünschte, ich könnte sie so ergreifend und lebendig wiedergeben, wie ich sie von seinen Lippen vernahm. Er konnte nicht lange ruhig sitzen, sondern ging in tiefer Erregung hin und her. Er sagte:
»Vor vielen Jahren, als ich noch ein kleiner Knabe war, bekümmerte sich Herr Evans, der erste Missionar, sehr freundlich um mich. Ich war eine arme Waise. Als mein Vater und meine Mutter gestorben waren, hatte ich niemand, der nach mir sah, so nahm mich der gute Missionar ganz in sein Haus und sorgte für mich. Ich hatte wohl noch einige Verwandte, aber sie waren Heiden und hatten deshalb keine Liebe für ein Waisenkind. Herr Evans gab mir Kleider und Nahrung und ein Heim. Er lehrte mich die neuen Buchstaben lesen, die er für unser Volk erfunden hatte, und erzählte mir viel von dem großen Geist und von seinem Sohne Jesus. Er lehrte mich und andere Kinder zu Gott beten und sprach oft zu uns von ihm und von seiner Liebe und Güte. Er behielt mich zwei oder drei Jahre bei sich, und ich hatte es sehr gut in einem solchen Hause und bei solch einem Freunde; hätte ich es nur erkannt!
Eines Sommers kam mit anderen Indianern, die der Hudson-Bai-Gesellschaft Felle verkaufen wollten, auch eine Familie, die sehr weit weg wohnte. Sie schienen mich gern zu haben und sprachen oft mit mir. Sie sagten, sie hätten keinen Knaben in ihrem Wigwam, und erzählten mir allerlei dummes Zeug, sagten, ich würde viel glücklicher bei ihnen als bei dem weißen Mann sein, dem ich gehorchen mußte. Ich war töricht genug, ihnen zu glauben, und in einer Nacht, als sie alles vorbereitet hatten, schlich ich leise aus dem Hause und ging mit ihnen davon. Wir ruderten sehr schnell und beinahe die ganze Nacht hindurch; denn wir fühlten, daß wir unrecht getan hatten, und fürchteten, man möchte uns verfolgen.
Nach einer Reise von vielen Tagen erreichten wir ihre Jagdgründe und Wigwams. Ich fand es nicht so schön, wie sie es mir beschrieben hatten. Oft waren sie sehr grausam gegen mich, und manchmal gab es nichts zu essen. Aber ich wagte nicht fortzulaufen, denn ich hätte doch nur zu bösen, heidnischen Indianern gelangen können, und dann wäre es noch schlimmer mit mir geworden. In der dortigen Gegend waren die Indianer alle sehr schlechte Leute und fürchteten sich vor den Medizinmännern. Sie verehrten nur den bösen Geist. Sie fürchteten ihn und beteten ihn an, damit er ihnen nicht schade. Ich wurde ebenso schlecht wie sie. Ich versuchte zu vergessen, was der gute Missionar mir gesagt hatte. Ich versuchte seine Lehren und seine Gebote aus meinem Gedächtnis zu wischen. Alles, was er mir vom guten Geist und von seinem Sohne erzählt hatte, versuchte ich zu vergessen.
Ich wuchs heran und wurde ein Mann. Ich war ein böser Heide, aber auch ein geschickter Jäger geworden, und einer der andern Männer verkaufte mir seine Tochter zur Frau. Ich bekam eine große Familie. Ich hatte als Kind gesehen, wie viel besser die Christen ihre Frauen behandeln als die Heiden, deshalb war ich gut zu meiner Frau und zu meinen Kindern. Ich bin nie grausam gegen sie, denn ich liebe sie sehr.
Wie Ihr wißt, war vorigen Winter der Schnee sehr tief. Ich war mit meiner Familie in eine Gegend gezogen, wo es viel Wild gibt, und hatte allerlei Vorbereitungen getroffen. Wir stellten Fallen für die Pelztiere. Wir fingen eine Menge kleiner Tiere mit wertvollem Fell, aber nur sehr wenige große, die man auch essen kann. Wir hatten eine schwere Zeit, denn die Nahrung ging uns aus. Ich fand kein Wild, das ich hätte schießen können, und die großen Seen und Flüsse waren zu weit; auch hatten wir keine Fische.
Zuletzt dachte ich, wir müßten verhungern. Ich gab mir große Mühe, etwas Eßbares zu finden, aber es gelang mir nie. Manchmal kam ich einem Renntier oder Elentier ganz nahe, dann schoß ich, aber der Schuß ging nicht ab, nur das Pulver brannte auf, und das Geräusch erschreckte die Tiere, so daß sie entflohen waren, ehe ich wieder schießen konnte.
Zuletzt ging es uns so schlecht, daß ich ganz mutlos war und sagte: »Ich will es noch einmal versuchen, aber wenn ich jetzt kein Wild schieße, dann erschieße ich mich selbst!« Damit ergriff ich mein Gewehr und ging in den Wald; meine Frau und die Kinder blieben halbverhungert zurück. Auf meinen Schneeschuhen streifte ich einen ganzen Tag lang vorsichtig umher, sah aber nicht einmal eine Spur. Am Abend bereitete ich mir ein Lager und legte mich kalt und hungrig nieder. Den nächsten Tag ging es ebenso weiter, und ich erlegte nur ein Kaninchen. Das aß ich am zweiten Abend in meinem Lager im Schnee. Am dritten Tage wanderte ich bis gegen Mittag suchend umher. Zuletzt war ich so schwach und hungrig, daß ich mich auf einen schneebedeckten Baumstumpf setzte und sagte: »Hier will ich sterben. Ich bin so schwach vor Hunger, daß ich nicht weiter kann.« Ich war ärgerlich und böse und sagte mir, es lohnt sich doch nicht, noch einen Versuch zu machen. Ich lud meine Flinte mit Pulver und zwei Kugeln, spannte den Hahn und wollte die Mündung an meine Schläfe legen, um dann den Hahn mit meiner großen Zehe abzudrücken. Gerade, als ich alles vorbereitete, um mich so zu töten, war es mir, als ob jemand mich riefe: »Wilhelm!« Ich schob das Gewehr erschrocken von mir. Ich blickte mich um, aber ich sah niemand. Da merkte ich, daß die Stimme in mir, in meinem Herzen war, und als ich ihr zuhörte, da schien sie zu sagen: »Wilhelm, weißt du nicht mehr, was der Missionar dir vor Jahren vom großen Geist gesagt hat? Wie gut und barmherzig er sei, und daß er uns immer annehmen wolle, selbst wenn wir ihn verlassen hätten und dann wiederkämen, wenn uns unser Unrecht nur leid täte. Weißt du nicht mehr, Wilhelm, daß er sagte, wenn wir in Not seien, so sei der große Geist unser bester Freund, wir sollten nur immer mit unseren Sorgen zu ihm gehen? Du bist in großer Not, Wilhelm. Willst du nun nicht wieder zu ihm kommen?«
Aber ich zitterte, und ich zögerte zu kommen, denn ich schämte mich. Ich dachte an mein ganzes Leben zurück, wie ich von dem guten Missionar weggelaufen war, der mich arme Waise genährt und gekleidet und auf den rechten Weg gewiesen hatte. Dann dachte ich daran, wie ich mich bemüht hatte, alles aus meinem Gedächtnis auszuwischen, was ich über den großen Geist und seinen Sohn und das gute Buch wußte. Ich hatte den Heiden gesagt, ich wisse nichts vom Glauben des weißen Mannes. Ich war sehr schlecht gewesen und vom rechten Wege weit abgekommen; wie konnte ich wieder zurück? Aber die Stimme sagte immer wieder: »Komm zurück!«
Da saß ich denn und zitterte und meinte, ich sei zu schlecht, um zurückzukommen. Aber ich bekam immer wieder die Antwort: »Es ist noch schlechter, nicht zurückzukommen, wenn das, was der Missionar sagte, wahr ist!« Während ich noch zögerte und nicht wußte, was ich tun sollte, schien es mir, als höre ich meine Frau und unsere Kinder im fernen Wigwam nach Nahrung schreien. Da entschloß ich mich. Ich kniete nieder im Schnee und fing an zu beten. Ich weiß kaum, was ich sagte, ich weiß nur, daß ich den großen Geist bat, dem armen Indianer zu vergeben, der ihn verlassen hatte, der so böse gewesen war und versucht hatte, ihn ganz zu vergessen. Ich sagte ihm, es täte mir leid, ich wollte besser werden, und ich versprach ihm, ich wolle zum Missionar gehen, sobald Schnee und Eis verschwunden seien, und ihn bitten, mir dazu zu helfen, ein Christ zu werden, wenn er, der große Geist, mir vergeben und mir jetzt in meiner Not helfen wolle, indem er mir Speise für mein Weib und meine Kinder gäbe.
Während ich betete, wurde es mir leichter zu Mute, mir war, als sei die Hilfe nah. Ich erhob mich von den Knien, und das Gebet hatte mich gestärkt wie Speise. Ich vergaß Hunger und Kälte. Frohen Herzens griff ich zur Flinte und war noch nicht weit gegangen, da erblickte ich ein großes Renntier. Ich schoß und traf. Ich war sehr froh. Schnell zog ich das Fell ab, machte ein Feuer und kochte etwas Fleisch. Dann bog ich einen kleinen Baum zur Erde nieder, befestigte einen Teil des Fleisches in seiner Krone und ließ den Baum sich wieder aufrichten, da war das Fleisch vor den wilden Tieren sicher. Dann nahm ich das übrige Fleisch und eilte damit zu Weib und Kindern zurück. Bald holte ich auch den übrigen Teil des Fleisches und fand ihn unversehrt.
Von der Zeit an hatten wir immer genug. Ich habe viel und mit Erfolg gejagt. Nie wieder sind wir hungrig gewesen. Der große Geist hat uns alles gegeben, wie der Missionar gesagt hatte. Er hat sich um uns bekümmert und uns nie darben lassen. Ich habe mein Versprechen, das ich dem großen Geiste gab, als ich damals im Walde im Schnee kniete, nicht vergessen. Der Schnee ist geschmolzen, und die Ströme und Seen sind ohne Eis. Ich bin mit Frau und Kindern im Kahne hergekommen, um Euch zu bitten, daß Ihr uns helft, Christen zu werden.«
Wir freuten uns sehr, von dieser schönen Erfahrung, die ihn zu Gott geführt hatte, zu hören. Seine Frau und Kinder hatten während der ganzen Unterhaltung geduldig draußen im Kahne gesessen und gewartet; natürlich holten wir sie nun schnell ins Missionshaus.
Meine Frau und noch einige andere waren durch Wilhelms ernste Worte angezogen in meine Stube getreten, hatten den größten Teil der Geschichte mit angehört und waren auch sehr davon ergriffen. Wir hatten selber nicht viel Vorrat, konnten aber doch der ganzen Familie eine gute Mahlzeit bereiten und taten alles, um ihnen durch Wort und Tat zu beweisen, daß wir ihre Freunde seien und ihnen zum Christentum verhelfen wollten. Zu unserer Freude erfuhren wir, daß Wilhelm seit jenem denkwürdigen Gebet im Walde seine ganze Familie treulich in den Wahrheiten des Evangeliums unterrichtet hatte, soweit er sich derselben noch erinnerte. Sie hatten seine Worte freudig aufgenommen und waren voll Eifer, noch mehr zu lernen.
Ich rief die Ältesten des Dorfes zusammen und erzählte ihnen die Geschichte dieser Familie und alles, was Wilhelm von seiner Jugend gesagt hatte. Einige der älteren Leute erinnerten sich noch, daß Evans diesen Knaben angenommen hatte; sie hatten auch seine Eltern gut gekannt. Da sie selber glückliche Christen waren und jedem diesen göttlichen Segen wünschten, so war es ihnen eine besondere Freude, von Wilhelms Rückkehr und von seinem Wunsch zu hören. Sofort nahmen sie ihn in ihre Mitte auf und halfen, wo es nötig war. Gottes Gnade hat in den Herzen Wilhelms und der Seinigen viel Gutes und Erfreuliches gewirkt, und sie sind treu und standhaft geblieben. Aus ihrem Hause ist manches Gebet aufgestiegen, und bei den Gottesdiensten fehlten sie nie, wenn sie nicht etwa in sehr weit entfernten Jagdgründen waren. – –
Gottes Geist leitete uns in mannigfaltiger Weise, wenn wir diesen so verschiedenartigen Männern und Frauen ihr Heilsbedürfnis klar zu machen suchten. Davon liefert folgende Begebenheit einen guten Beweis.
Am Ufer eines Stromes in unwirtlicher Gegend, etwa 100 Kilometer vom Biber-See entfernt, lebte eine Schar heidnischer Indianer, die entschlossen schienen, ihre Herzen der Predigt des Evangeliums nicht zu öffnen und meine Worte nicht anzuhören. Sie schienen so stumpf und gleichgültig, daß ich dadurch ganz entmutigt war. Um sie zu erreichen, hatten wir von unserer Station aus etwa acht Tage durch ödes, unwirtliches Land reisen müssen, wo wir keiner menschlichen Seele begegnet waren. Meine zwei treuen Bootsleute und ich hatten auf dieser beschwerlichen Reise viel durchgemacht; es fehlte sehr an Wild, wir waren deshalb gezwungen, uns oft hungrig auf den harten Granitfelsen zum Schlafe niederzulegen. Der Regen hatte uns so durchnäßt, daß unsere Kleider tagelang trieften, und wir sehnten uns nach Sonnenschein, um uns endlich trocknen zu können.
Wir hatten auf dem Wege allerlei merkwürdige Erlebnisse gehabt, und ich hatte wieder einmal Gelegenheit, die Klugheit meiner Indianer zu bewundern; die kleinsten, äußerlichsten Zeichen führten sie zu überraschend richtigen Schlüssen. Manche halten die Indianer für ein wildes, unzivilisiertes Volk, aber in vieler Beziehung sind sie sehr entwickelt und besitzen eine Schnelligkeit der Auffassung, die von keinem Volke der Welt übertroffen wird.
Zur Zeit meiner Abreise von Norway-Haus waren die meisten unserer Indianer auf der Reise nach der York-Faktorei der Hudson-Bai, um dort ihre Pelze zu verkaufen und andere Waren einzukaufen. Deshalb war es mir unmöglich, Bootsleute zu finden, die den Weg zu jenen heidnischen Indianern, die ich gerade besuchen wollte, kannten. Der beste Führer, den ich finden konnte, war nur bis zum Biber-See gelangt. Er war bereit mich zu begleiten und womöglich die heidnischen Indianer zu finden, obgleich er noch nie so weit nördlich gewesen war. Da ich keine Wahl hatte, nahm ich ihn und einen anderen Indianer mit und machte mich auf die Reise.
Nach einigen Tagen großer Anstrengung erreichten wir den Biber-See. Wir hatten viele Wasserfälle und Stromschnellen umgehen müssen, mit vieler Mühe unsere schweren Lasten tragend; manchmal ging's mit den Lasten auf dem Rücken meilenweit durch knietiefe Sümpfe und Moräste.
Am Biber-See übernachteten wir und machten Pläne für die Weiterreise. Wir waren schon 380 Kilometer durch die nordische Wildnis gereist, aber fast 100 Kilometer lagen noch vor uns, ehe wir hoffen konnten, ein menschliches Wesen zu erblicken, und keiner von uns wußte, welche Richtung wir einschlagen mußten.
Wir schliefen auf dem nackten Felsen am Seeufer, und am andern Morgen in aller Frühe erhoben wir uns und sahen uns nach irgend einem Zeichen um, das uns die Richtung unserer Weiterreise angeben könnte. In unserer Nähe erhoben sich einige hohe Hügel, und wir beschlossen dieselben zu ersteigen, in der Hoffnung, von dort aus den Rauch eines Lagerfeuers oder sonst irgend ein Zeichen von der Nähe von Menschen zu erblicken.
Ich ergriff mein Gewehr und machte mich auf den Weg nach dem Hügel, während meine Indianer eine andere Richtung einschlugen. Der Hügel war etwa 1 Kilometer von unserem Lagerplatz entfernt, und bald war ich an seinem Fuße angelangt und machte mich daran, mir einen Weg durch das dichte Unterholz am Bergabhang zu bahnen. Zu meiner Überraschung stieß ich plötzlich auf einen schönen, klaren Bach, dessen Ufer durch viele große und kleine Hufe zertreten waren, gerade als hätte eine Herde Kühe dort ihren Durst gelöscht. In gedankenloser Zerstreutheit vergaß ich ganz, in welch öder, unbewohnter Gegend wir uns befanden, und kam zu dem Schluß, diese Kühe und ihre Besitzer müßten ganz in der Nähe sein. Ich eilte ins Lager zurück, rief meine Leute durch Zeichen zurück und erzählte ihnen, was ich gesehen hatte. Ich bemerkte auf ihren Gesichtern einen Ausdruck stiller Belustigung, aber sie waren höfliche Leute und begleiteten mich zu dem Bache, wo ich ihnen mit nicht geringem Stolz meine Entdeckung zeigte und sagte, es müßten gewiß Menschen in der Nähe sein, da sie ihre Kühe hier getränkt hätten. »Das sind aber Elentierspuren,« war die Antwort. Wie töricht kam ich mir da plötzlich vor.
Wir sahen uns noch etwas in der Gegend um, fanden aber nicht, was wir suchten, und ruderten nun in unserem Kahne die verschiedenen Flüsse, welche dem malerischen Biber-See entströmen oder in ihn münden, eine Strecke weit hinauf, aber viele Stunden lang blieben unsere Bemühungen ohne Erfolg. Schließlich waren wir bei einem sehr stattlichen Strom angelangt und fuhren ganz dicht an sein sandiges Ufer heran. Plötzlich sprang einer der Indianer auf und betrachtete mit großer Sorgfalt einige kleine Spuren am Ufer. Dann landeten meine Leute.
Sie besahen die Spuren ganz genau und riefen mir zu: »Wir haben es gefunden, Missionar, wir können Euch jetzt schnell zu den Indianern bringen!«
»Was habt ihr denn entdeckt?« fragte ich. »Ich sehe nichts Besonderes!«
»Wir sehen es ganz deutlich, wo die Indianer sind,« war die Antwort. »Ihr habt ihnen sagen lassen, Ihr würdet in diesem Monde zu ihnen kommen. Sie sind zur Jagd in den Wäldern zerstreut gewesen, aber jetzt kommen sie alle an einem bestimmten Platz zusammen. Einer von ihren Kähnen ist gestern diesen Fluß hinauf gefahren, und ihr Hund ist das Ufer entlang gelaufen; da sind seine Spuren.«
Ich betrachtete die Spuren im Sande und sagte: »Das Land ist voll wilder Tiere. Dies können die Spuren eines Wolfes oder sonst eines wilden Tieres sein.«
Die Leute lachten und meinten, der Unterschied zwischen den Spuren eines Hundes und denjenigen eines wilden Tieres sei sehr groß.
In wenig Augenblicken saßen wir wieder im Boot und ruderten kräftig den Strom hinauf. Jene kleine Spuren im Sande waren das einzige, woran wir uns halten konnten, aber die Indianer waren ganz zuversichtlich. Als wir etwa 30 Kilometer gerudert waren, stießen wir auf ein noch rauchendes Lagerfeuer; dort hatten die Indianer die Nacht vorher geschlafen. Wir kochten auf den Kohlen unser Mittagessen und ruderten dann immer den Hundespuren nach eilig weiter. Gegen Abend erreichten wir wirklich das Lager der Indianer, gerade wie meine Bootsleute gesagt hatten. Der Willkomm, den man uns zu teil werden ließ, war nicht sehr herzlich. Die Indianer waren traurig und erbittert, denn sie hatten vor kurzem viele der Ihrigen, hauptsächlich Kinder, am Scharlachfieber verloren. Diese böse Krankheit war noch nie früher bei ihnen aufgetreten und war offenbar im vorhergehenden Jahr durch weiße Handelsleute ins Land gebracht worden. Mit Ausnahme einiger alter Beschwörer trat mir niemand öffentlich entgegen, aber die steinerne Gleichgültigkeit der Leute erschwerte mir meine Arbeit des Predigens und Lehrens sehr. Wir taten unser Möglichstes, denn da wir so weit und mit so viel Mühsalen hergekommen waren, wollten wir doch nicht ganz unverrichteter Sache wieder abziehen, sondern jenen armen Leuten getreulich die frohe Botschaft verkündigen. Den Erfolg überließen wir dem, der uns dorthin geführt hatte.
An einem kalten Regentage hatte eine große Menschenmenge sich im geräumigsten Wigwam versammelt, um zu hören, was ich ihnen über die Wahrheiten des großen Buches zu sagen hätte. Meine zwei treuen christlichen Bootsleute halfen mir, wo sie konnten, mit persönlichem Zeugnis über den Segen, dessen sie durch dieses Buch teilhaftig geworden waren. Aber alles war umsonst. Die Leute saßen da und rauchten in mürrischer Gleichgültigkeit. Wenn man sie nach ihren Wünschen und Ansichten fragte, so war die Antwort stets: »Wir wollen leben und sterben wie unsere Väter.«
Müde und traurig setzte ich mich schließlich nieder und flehte in stillem Gebet Gott um Stärkung und Leitung durch seinen Geist in dieser schweren Stunde an. Die Antwort auf dieses Gebet kam so plötzlich und deutlich, daß ich, mit Siegesgewißheit und Freude erfüllt, sofort aufsprang. Ich rief ihnen zu: »Ich weiß, wo diejenigen eurer Kinder sind, die nicht mehr unter den Lebenden sind. Ja, ich weiß, wo alle Kinder sind, die der Tod mit kalter Hand von uns gerissen hat; die Kinder der Guten und der Schlechten, der Weißen und der Indianer; ich weiß ganz genau, wo alle Kinder sind!«
Große Erregung bemächtigte sich aller meiner Zuhörer. Einige von ihnen hatten vorher in ihre Decken gewickelt da gesessen, wie regungslose Mumien. Aber kaum hatte ich jene Worte gesprochen, da blickten auch sie auf und nahmen regen Anteil. Da ich sah, daß ihre Aufmerksamkeit endlich geweckt war, fuhr ich fort: »Ja, ich weiß, wo alle Kinder sind. Sie sind fort von euren Lagerfeuern und Wigwams. Ihr Lager ist leer, und ihre kleinen Pfeile und Bogen liegen unbenutzt da. Viele von euch haben traurige Herzen, ihr sehnt euch nach den Kleinen, deren Stimme ihr nicht mehr hört, die nicht mehr auf euren Ruf herbeispringen. Ich bin so froh, daß der große Geist mich hergesandt hat, um euch zu sagen, daß ihr eure Kinder wiedersehen und mit ihnen für immer glücklich vereint leben könnt. Aber ihr müßt auf seine Worte hören, die in dem guten Buch geschrieben stehn, ihr müßt ihm eure Herzen schenken, ihn lieben und ihm dienen. Es gibt nur einen einzigen Weg in jenes schöne Land, wo Jesus, der Sohn des großen Geistes, ist, und wohin er alle Kinder bringt, die gestorben sind. Und nun habt ihr seine Botschaft gehört und sein Buch gesehn, darum müßt ihr auch diesen Weg gehen, wenn ihr glücklich werden und in das schöne Land kommen wollt.«
Während ich so redete, sprang ein großer, stattlicher Mann am andern Ende des Zeltes auf und eilte auf mich zu. Er schlug sich auf die Brust und sagte: »Missionar, mein Herz ist ganz leer. Ich bin sehr traurig, denn keines von meinen Kindern ist am Leben geblieben; sehr einsam ist's in meinem Wigwam. Ich sehne mich danach, meine Kinder wiederzusehen und sie in meine Arme zu schließen. Sagt mir, Missionar, was ich tun muß, um dem großen Geist zu gefallen und in das schöne Land zu kommen, wo meine Kinder sind.« Er sank mit Tränen in den Augen zu Boden, und manche andere folgten seinem Beispiel, denn auch sie waren kummergebeugt und wollten nun von mir lernen.
Ich griff zu dem Buch der Bücher und las ihnen vor, was Jesus über die Kinder sagt, und wie er sie lieb hat, und dann erzählten wir ihnen so schlicht und einfach wie nur möglich die uralte und doch immer neue Geschichte vom Heiland und von der Erlösung. Gleichgültigkeit und Spott hatten aufgehört. Sie lauschten jedem Wort und dachten darüber nach, und von der Stunde an begann der heilige Geist ein Werk in ihren Herzen, welches zur Folge hatte, daß die meisten sich zum Herrn bekehrten, und sie sind ihm treu geblieben ihr Leben lang.