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9. Kapitel.
Ein hundertjähriger Patriarch.

Eines Morgens mitten im kalten Winter wurde uns die Freude zu teil, diesen lieben Bruder und Mitarbeiter begrüßen zu dürfen, den Missionar John Semmens, der eine schöne Tätigkeit in Ontario aufgegeben hatte, um mir bei meiner Arbeit zu helfen. Gleich beim Beginn seiner Missionsarbeit unter den Indianern bekam Semmens etwas von den Gefahren zu spüren, die solch ein Leben mit sich bringt. Er litt anfangs sehr unter der entsetzlichen Kälte und den Schneestürmen. In einer Nacht, als er draußen im Walde ausruhte, brach der Sturm einen großen Baum, der dicht neben ihm niederstürzte. Es war eine gnädige Bewahrung, daß niemand beschädigt wurde. Der neue Missionar wurde bei den Indianern bald sehr beliebt und hat viele Jahre hindurch in aufopfernder Weise erfolgreich unter ihnen gewirkt. Seine Gegenwart in unserem Hause war uns eine große Freude. Diejenigen, die es selber erfahren haben, was es heißt, lange die Gesellschaft gleichgesinnter Freunde entbehren zu müssen, werden es verstehen, welch einen Segen dieser edle, junge Bruder in unser Haus brachte. Eine große, gemeinsame Arbeit lag uns ob, denn wir wollten beide den Indianern, in deren Mitte wir lebten, so viel Gutes tun wie nur irgend möglich, und da wir glücklicherweise ganz der gleichen Ansicht über die beste Art, diese Arbeit zu tun, waren, so haben wir stets in innigster Gemeinschaft gelebt und gearbeitet.

Semmens war der erste, der sich am Nelsonflusse niederließ. Das Wanderleben jener Indianerstämme machte die Arbeit zu einer langsamen und manchmal entmutigenden, auch kannte er anfangs ihre Sprache nicht und fand nicht immer einen Dolmetscher. Aber er fuhr dennoch fort, um Christi willen dort zu wirken, und seine Erfolge waren sehr groß. Wir wollen nicht lange bei den vielen interessanten und oft abenteuerlichen Erlebnissen verweilen, die seine Pionier-Arbeit unter diesen Indianern mit sich brachte. Gar oft sind wir beide zusammen ausgezogen wie die Jünger, die der Meister zu Paaren aussandte, und haben manche lange und mühevolle Forschungsreise unternommen. An manchen Lagerfeuern und in vielen Wigwams haben wir das Wort verkündigt und die wandernden Indianer auf Gott hingewiesen. Hunderte von Meilen haben wir gemeinsam zurückgelegt, bis unsere Glieder von Kälte erstarrt waren und unsere Füße bluteten; dann, nach der Abendmahlzeit und der Abendandacht, legten wir uns auf dem kalten Lagerplatz dicht neben einander unter den gleichen Hüllen nieder und versuchten zu schlafen.

Nie werden wir beide unsere Fahrt zur Bezirksversammlung in Winnipeg vergessen, wo wir auf dem großen See von der übrigen Gesellschaft getrennt wurden. Wir erreichten in großer Eile noch eben rechtzeitig das gemütliche Heim unseres verehrten Vorsitzenden Georg Young, wo wir ein herzliches Willkommen fanden, und entgingen dadurch einem schrecklichen Schneesturme, unter dem viele leiden mußten. Die Rückreise war ebenso gefährlich. Wir verließen Winnipeg mit schwerbeladenen Hundeschlitten am Sonnabend Nachmittag. Im Hause eines Herrn Sifton bei Selkirk wurden wir freundlich aufgenommen und verbrachten dort einen schönen, stillen Sonntag. Als die Uhr auf Mitternacht zeigte, vertauschten wir unsere schwarzen Röcke mit unsern Leder-Anzügen. Wir spannten unsere Hunde an, sagten nach einer nächtlichen Mahlzeit unseren Wirten Lebewohl und wachten uns beim Sternenschein auf unsere lange Reise nach Norden. Semmens mußte gegen 1000 Kilometer nach Norden reisen, um sein Heim zu erreichen.

Sifton erzählte mir später einmal, daß er und seine Familie uns unter Tränen hätten ziehen lassen, so schwer war ihnen der Gedanke an unsere Reise in mitternächtlicher Finsternis und Kälte. Von der Zeit an fühlten sie ein ganz besonderes Interesse für die Missionsarbeit und eine große Liebe zu denen, die um Jesu und um der Ausbreitung seines Namens willen solche Gefahren erdulden müssen.

Vor Sonnenaufgang hatten wir die Weiden-Inseln erreicht und nahmen dort unser Frühstück ein. Der Winter neigte sich bereits seinem Ende zu, und der Sonnenglanz auf der blendend weißen Schneedecke des ungeheuren Winnipeg-Sees machte uns fast schneeblind. Da wir aber doch noch etwas sehen konnten, hielten wir nur dann an, wenn es nötig war, und beeilten uns, vorwärts zu kommen. Wir waren etwa 30 Kilometer vom Beren-Flusse entfernt, als die Nacht hereinbrach, aber ich konnte mich nicht entschließen, noch eine Nacht im Schnee zuzubringen, da mein Heim schon so nahe war, denn damals hatte ich gerade die neue Arbeit unter den Salteaux-Indianern begonnen. Deshalb wandte ich mich an Semmens und unsere beiden wohlgeschulten Hundetreiber und sagte: »Haltet nur noch ein wenig länger aus. Wir wollen nicht in dieser bitteren Kälte verweilen, da unser Heim so nahe ist!« Die Indianer waren ganz willig und freuten sich sogar weiter zu gehen. Aber Semmens war vollkommen erschöpft, und mein Herz war voller Schmerz, als ich sah, wie ermüdet er war. Er warf sich auf der kalten Eisdecke des Sees nieder und sagte: »Gebt mir eine Decke und ein Stück Pemmikan und laßt mich hier. Ich kann keinen Schritt weiter. Ihr andern habt Frauen und Kinder, die euch nach Hause ziehen, ich nicht. Meine Füße sind von den Riemen der Schneeschuhe zerschnitten; ich will hier bleiben. Kümmert euch nicht um mich.«

So sprach der Arme, denn er war ermattet und entmutigt. Ich fühlte mich auch nicht viel wohler, aber ich versuchte uns wieder Mut einzuflößen, indem ich sagte: »Nein, wir werden dich auf keinen Fall hier lassen. Wir wollen vorwärts eilen und dich mitnehmen, und vor Morgen früh sollst du ein gutes Abendessen unter einem festen Dache und ein warmes Bett haben.«

Einer meiner Hunde, namens Muff, ein prachtvoller, aber sehr ehrgeiziger Bernhardiner, das Geschenk einer Freundin aus Montreal, hatte sich auf dieser Fahrt das Schlüsselbein gebrochen. In solchem Falle wird der verwundete Hund gewöhnlich sofort getötet, und man reist mit den übrigen Tieren weiter. Aber Muff war ein sehr kostbares Tier, und es war nicht ganz unmöglich, daß er wieder gesund wurde. Deshalb hatte ich beschlossen, den Hund trotz der weiten Entfernung mitzunehmen. Ich packte meinen Schlitten so, daß der Hund darauf liegen konnte, und er gewöhnte sich auch bald daran. Ich selber mußte aber um so mehr laufen. Vor diesem Unfall konnte ich recht viel fahren, obgleich wir über 600 Pfund auf den Schlitten hatten. Nun hatten wir aber einen Hund weniger im Spann und anstatt dessen eine größere Last auf dem Schlitten, da war es mit meinem Fahren zu Ende.

Als nun mein lieber Gefährte Semmens in so große Not geriet, war mein Entschluß schnell gefaßt. Mit unsern Äxten hackten die Indianer und ich ein Loch in den festen Schnee und das Eis in der Nähe des Ufers. In dasselbe breiteten wir ein Büffel-Fell und betteten den kranken Hund darauf. Rund herum packten wir den größten Teil der Sachen, die den Schlitten beschwert hatten, und das Ganze wurde so gut wie möglich mit einer großen, wildledernen Schlittendecke zugedeckt. Wir gaben dem Hunde den Befehl, die Vorräte vor wilden Tieren zu schützen, machten eine große Anzahl von Zeichen, um die Stelle wiederfinden zu können, und ließen Muff und die Sachen zurück.

Dann fuhren wir nach der Stelle zurück, wo Semmens lag, wickelten ihn in warme Mäntel, legten ein kleines Kissen unter seinen Kopf und banden ihn auf dem Schlitten fest, und dann ging es wieder auf die Reise, dem Ziel zu. Da mir alle sehr müde waren, kamen wir nur langsam vorwärts, und erst nach Mitternacht erreichten wir das ersehnte Missionshaus.

Semmens schlief glücklicherweise die meiste Zeit während der Fahrt. Ein warmes Bad, ein gutes Abendessen, und ein langer, tiefer, traumloser Schlaf, der beinahe bis zum nächsten Mittag dauerte, erfrischten ihn sehr, und als er uns am folgenden Tage wieder begrüßte, waren seine ersten Worte: »Oh, Egerton, ich bin so froh, daß Du mich nicht dort auf dem Eise zu Grunde gehen ließest!«

Noch immer ist dieser treue Gefährte mit seiner wackern Frau und ihren Kindern dort im Norden und wirkt für den Herrn. Er steht in voller Manneskraft, und wir hoffen, daß er noch große Dinge für seinen Meister wird vollbringen dürfen, denn an körperlicher Kraft wie an geistiger Ausrüstung und vollkommener Hingabe übertrifft ihn keiner der dortigen Arbeiter.

Der Hundertjährige.

Einer der ersten Indianer, der in Norway-Haus unsere Aufmerksamkeit auf sich zog, war ein ehrwürdig aussehender alter Mann von ungewöhnlicher Körpergröße. Sein Äußeres war ganz patriarchalisch. Er bewillkommte uns sehr herzlich, und seine Worte waren für uns ein liebevoller Segensgruß. Er nannte uns seine Kinder und hieß uns im Namen des Herrn Jesu in unserer Arbeit und in unserem neuen Heim willkommen.

Da er sehr alt war und einen weiten Weg zum Morgengottesdienst hatte, so luden wir ihn am ersten Sonntag, nach unserer Ankunft auf der Station zu Mittag zu uns ein. Er war sehr dankbar und sagte, nun könne er auch zum Nachmittagsgottesdienst bleiben, das sei ihm eine große Freude. Er war ein frommer Christ von hochherziger Gesinnung. Wir fühlten uns sehr zu ihm hingezogen und luden ihn ein, jeden Sonntag bei uns zu essen und sich zwischen den beiden Gottesdiensten etwas auszuruhen.

Wie alle alten Indianer wußte auch er nicht genau, wie alt er war. Er muß aber über hundert Jahre alt gewesen sein, denn Männer, die über fünfzig waren, sagten, er sei schon in ihrer Jugend ein alter Mann gewesen. Auch daß er schon achtzig Jahre als geschickter Jäger auf der Liste der Hudson-Bai-Gesellschaft stand, beweist die Richtigkeit dieser Annahme.

Sein Zeugnis vom Segen des Evangeliums war köstliche Er »wußte, an wen er glaubte« und freute sich der Gewißheit, daß Gottes Gnade ihn bis ans Ende bewahren werde. Er war einer derjenigen, die durch die ersten Missionare in jener Gegend zum Glauben gelangt waren, und war treu und standhaft geblieben. Er hatte jahrelang, mit Erfolg eine Bibelklasse geleitet und war sehr treu in dieser Arbeit. Wenn ein Mitglied seiner Klasse bei der Versammlung fehlte, so wußte er den Grund des Ausbleibens vor dem nächsten Abend, wenn der Fehlende auch fünf oder sechs Meilen entfernt wohnte. Da er nach unserer Ankunft auf der Station noch ein paar Jahre lebte, so wurden wir gut mit ihm bekannt, und es war uns stets ein Segen, mit ihm von himmlischen Dingen zu reden.

Eines Tages gab er mir einen schlagenden Beweis, daß er seinem alten heidnischen Leben und seinen sündlichen Gebräuchen ganz und gar abgesagt hatte. Wir hatten von verschiedenen Dingen gesprochen, und die Rede kam auf die Verschiedenheit der Religionen. Da er ein ausgezeichnetes Gedächtnis besaß und man mir gesagt hatte, er wisse ganz besonders gut in dem alten indianischen Glauben und den abergläubischen Gebräuchen Bescheid, so zog ich ein Heft und ein Bleistift aus der Tasche und sagte: »Mis-mis (d. h. Großvater), bitte, erzählt mir etwas von euren alten Religionsgebräuchen und Beschwörungen. Vielleicht schreibe ich einmal ein Buch und sage darin etwas über diese Dinge.«

Das Gesicht des lieben Alten wurde ernst, er schüttelte das Haupt und schwieg.

Ich wiederholte meine Bitte und sagte, er müsse bei seinem hohen Alter doch viel zu erzählen haben. Anstatt zu antworten, setzte er sich nieder, stützte die Ellenbogen auf die Knie und verbarg das Gesicht in den Händen. Er schien in Träumerei verloren.

Ich wartete einige Minuten, es herrschte ein tiefes Schweigen. Die anwesenden Glieder seiner Familie hatten meine Frage gehört und lauschten voller Spannung. Das Schweigen fing an peinlich zu werden, und ich sagte schließlich in ermunterndem Tone: »Nun, Großvater, habt Ihr nichts, was ich niederschreiben kann.«

Da sprang er plötzlich auf, so daß wir alle zusammenfuhren, und, die Hand wie ein Redner ausstreckend, begann er:

»Missionar! Das alte, böse Leben ist wie ein Nachtgebilde, wie ein böser Traum, wie eine schlimme Krankheit, die uns Schmerzensrufe auspreßt. Ich versuche die Erinnerung zu bannen, sie auszuwischen. Bitte, fragt mich nicht danach. Ich könnte nicht schlafen, ich würde unglücklich.«

Natürlich steckte ich Buch und Stift wieder ein und ließ den lieben Alten in Frieden, ich fragte nicht mehr nach seinem früheren Glauben.

Am Sonntag nach dieser Unterredung hatten wir eine Versammlung in der Kirche. Einer der ersten, welche das Wort ergriffen, war dieser ehrwürdige Großvater. Er sagte: »Der Missionar bat mich, ihm von meinem früheren Glauben zu erzählen, aber ich konnte es nicht. Jener Glaube war mein Feind. Er machte mich unglücklich. Je mehr ich mich ihm ergab, desto elender wurde ich. Da habe ich ihn aus meinem Leben und aus meinem Herzen verbannt. Könnte ich ihn doch aus meiner Erinnerung verbannen!« Dann fügte er hinzu: »Aber vielleicht hilft mir diese Erinnerung dazu, meinen Heiland immer inniger zu umfassen, wenn ich daran gedenke, wovon er mich errettet hat. Ich war so weit von ihm und so sündig. Er hob mich mit seinem starken Arm auf und brachte mich aus der Finsternis ins Licht. O, ich bin so froh, daß Jesus mich errettet hat, und ich freue mich, von ihm zu reden!«

Von ihm konnte man in Wahrheit sagen: »Was er einst liebte, das haßt er jetzt, und zwar so sehr, daß er nicht einmal davon sprechen mag.«

Da ich gerade die Erinnerungen an diesen lieben alten Mann aufzeichne, so will ich gleich hier von dem seligen Ende berichten, welches diesem Patriarchen seines Dorfes zu teil wurde.

Er hatte eine sehr zahlreiche Familie. Seine Söhne waren ausgezeichnete Leute. Von einigen unter ihnen kann ich allerlei Gutes berichten. Es war mir durch Gottes Gnade vergönnt, den jüngsten, Eduard, zur seligen Gewißheit zu führen, daß ihm seine Sünden vergeben seien. Im Juli 1889 wurde er in Winnipeg zum Diener der christlichen Kirche verordnet.

Martin, ein anderer Sohn des edlen Alten, war einer meiner liebsten und vertrauenswürdigsten Führer auf den langen Reisen im Kahn und im Hundeschlitten. Oft haben wir miteinander dem Tode ins Auge geblickt, aber nie habe ich ihn feige zittern oder zurückweichen sehn. Manchmal gingen uns die Vorräte aus, Stürme und ungünstige Winde hinderten unser Weiterkommen, und schließlich waren wir dem Hungertode nahe, so daß sogar ich, der Missionar, anfing mich zu fragen, ob es auch weise sei, diese gefahrvollen Fahrten zu unternehmen, bei denen es sehr die Frage war, ob wir sie würden überstehen können. Da sagte Martin oder einer von den andern einen passenden Bibelspruch, oder sie sangen mit ihren klangvollen Stimmen das schöne Lied:

»Hör' auf zu sorgen, Herz,
Hoff' und sei unverzagt!
Gott hört dein Seufzen, sieht den Schmerz;
Frisch auf, nicht mehr geklagt!

Durch Wolken, Sturm und Wind
Wird er dir machen Bahn;
Harr' noch ein wenig, Gotteskind,
Bald, bricht sein Morgen an!«

Gar tröstlich und stärkend waren uns solche kostbaren Verheißungen in jenen Augenblicken furchtbarer Gefahr, wo der Tod uns so nahe schien und wir so hilflos waren und uns ganz auf den Allmächtigen verließen.

Ein anderer Sohn unseres alten Patriarchen war Samuel, ein mutiger Führer und schlichter, demütiger Christ. Einst in einer Zeit großer Gefahr führte er eine Anzahl von Booten den mächtigen Saskatschewan-Strom hinauf, um den dortigen Weißen zu Hilfe zu kommen. Als er sein Werk mutig im Aufblick zum Herrn getan hatte, folgte er dem Rufe dieses Herrn und ging freudig die glänzende Bahn hinauf ins himmlische Jerusalem. Auf seinem bleichen Gesicht ruhte ein Widerschein jener Herrlichkeit, in die er nun eingegangen war, und manche, die es sahen, wurden von der Sehnsucht erfüllt, diese Herrlichkeit auch einst ihr eigen nennen zu dürfen, und entschlossen sich, auch ihr Herz dem Herrn hinzugeben. – Doch ich werde später noch mehr von Samuel berichten.

Ich wollte eigentlich von seinem alten Vater berichten. Eines Tages sagte derselbe zu den versammelten Gliedern seiner Bibelklasse, seine Arbeit sei nun beinahe getan, und er hoffe, gar bald in die bessere Heimat zu ziehen. Obgleich er ebenso wohl war wie gewöhnlich, hatte er doch die Gewißheit, daß sein Ende nahe sei. Liebevoll und ernst redete er mit seinen Freunden und ermahnte sie, Glauben zu halten bis ans Ende.

Am folgenden Tag ließ er mich rufen und bat mich, seine Bibelklasse einem seiner Söhne zu übergeben, falls ich ihn für würdig hielte.

Ich sagte: »Wir wollen Euch aber nicht verlieren. Die Glieder Eurer Klasse haben Euch lieb. Warum wollt Ihr sie verlassen?«

Ein eigentümlicher Ausdruck in seinem Gesicht sagte mir, daß er bald einer andern Schar zugesellt sein werde, und es schien, als warte er mit seinem Scheiden nur so lange, bis seine Geschäfte auf Erden geordnet seien.

»Ich werde sehr bald scheiden und will vorher alles in Ordnung haben; ich möchte so gerne, daß mein Sohn Wilhelm meine Klasse bekommt, wenn Ihr denkt, daß er dazu paßt.« Da dieser Sohn ein ganz ausgezeichneter Mann war, so konnte alles zur Befriedigung des alten Vaters geordnet werden.

Am folgenden Tage lud er alle alten Glieder der Gemeinde, die schon vor vielen Jahren Christen geworden waren, zu sich ein, wie er es schon einmal vor dreißig Jahren getan hatte.

Alle, die nur irgend konnten, kamen, und das ganze Haus war voll. Sie sangen und beteten zusammen, dann stand er auf und redete zu ihnen in Worten innigster Liebe. Als ich so saß und zuhörte, wie er wohl eine Stunde lang, der Vergangenheit gedenkend, Gottes Güte pries, die sie aus Heiden zu gesegneten Christen gemacht hatte, da trat das Bild des greisen Josua vor meine Augen, der die Alten seines Volkes zu Sichem versammelte und ihnen seine letzten Wünsche und Befehle kund tat. Auf den Wunsch des teuren, alten Mannes reichte ich der ganzen Versammlung und einigen Gliedern seiner Familie das heilige Abendmahl. Es war eine schöne, ernste Feier. Er, dessen Gedächtnismahl wir feierten, war uns im Geiste innig nahe.

Dann verbrachten wir noch etwa eine Stunde mit Gebet und mit dem Singen seiner Lieblingslieder. Er nahm an allem eifrig Anteil und sagte später: »Der Himmel schien mir heute ganz besonders nahe.« Ich drückte seine Hand, sagte ihm »Lebewohl« und ging heim. Mit Ausnahme einer leichten Müdigkeit sah ich keine Veränderung an ihm. Seine Stimme war gerade so frisch, sein Blick so klar, sein Händedruck so kräftig wie je, und ich sah keinen Grund, warum er nicht noch eine Weile leben könne.

Ungefähr eine Stunde später, als ich gerade mit meiner Frau darüber sprach und ihr von den köstlichen Stunden berichtete, die ich mit unserem teuren Freunde hatte verleben dürfen, stürzte plötzlich ein Indianer mit dem Ruf in unsere Stube: »Kommt schnell; Großvater ist gestorben!« Ich folgte ihm sofort und fand, daß unser lieber alter Freund in der Tat entschlafen war.

Die anderen erzählten mir, er habe nach meinem Fortgehen noch Worte der Liebe und weise Ratschläge zu ihnen geredet und sich dann, wie es seine Gewohnheit war, auf sein Bett gelegt und in seine Decke gehüllt, um zu ruhen. Da sie wußten, daß er sehr müde sein müsse, so verhielten sie sich ganz still, um ihn nicht zu stören. Da hörten sie seinen Atem nicht mehr, rührten ihn an und fanden, daß er in den tiefen Schlaf gefallen war, dem hier auf Erden kein Erwachen folgt. Er war nicht mehr, denn Gott nahm ihn zu sich.

Es war überwältigend. Wir konnten es kaum glauben, daß der Tod wirklich in unserer Mitte sei. Der Verstorbene hatte an keiner Krankheit gelitten, über keine Schmerzen geklagt. Sein Geist war bis zuletzt klar gewesen. Er hatte sein Werk schlicht und treu getan, und nun legte er sein Haupt vertrauensvoll wie ein kleines Kind an die Brust des Vaters.

Mit Freude trugen wir inmitten tiefen Schmerzes die Hülle des Wilhelm Papanekis auf unseren kleinen Friedhof zur Ruhe. Wir entbehrten den treuen Freund oft schmerzlich, denn seine Gegenwart war wie Sonnenschein und sein Gebet ein großer Segen für uns alle gewesen.


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