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Unsere Sprache hat für den Begriff Zeit verschiedene Ausdrücke, jenachdem der Abschnitt derselben ein grösserer oder kleinerer ist. Vorerst das Wort Zeit selbst, d. i. die vorschreitende, fortrückende, dem gegenüber Weile als die ruhende Zeit gilt. Gothisch drückt auch mêl, unser mal Zeit, Stunde aus; es ist ursprünglich Zeichen und wurde vom Raum auf die Zeit übertragen. Dieselbe Vorstellung der Ruhe, wie bei Weile, liegt auch bei Stunde zu Grund, denn es ist abgeleitet von standan, stehen; ebenfalls bei dem althochdeutschen stulla, welches mit stille zusammenhängt, während bei dem Ausdruck für den kürzesten Zeitabschnitt wieder die Bewegung hervorbricht: Augenblick ist die Zeit, welche das obere Augenlid gebraucht, um sich mit dem untern zu verbinden. So ist denn Zeit die gross und gewaltig dahin rollende Woge, Augenblick gleichsam der Tropfen, der in ihrem Rollen emporgeworfen wird, um sich sogleich wieder ihr zu vereinigen. Eine längere Dauer der Zeit drücken wir durch Alter aus, welches oft auch mit Zeit verbunden wird: Zeitalter, und ehedem mit wër, der Mann, verbunden das Wort WëraltZeitalter der Männer. bildete, welches umgekehrt, wie mal aus dem Raum in die Zeit überging, aus der Zeit in den Raum übergehend, unser Welt wurde.
Daher kommt es, dass noch das deutsche Mittelalter die Welt durch eine Bildseule darstellte, welche die verschiedenen Zeitalter symbolisch in sich vereinigte. Ihr Haupt war golden, Brust und Arme silbern, der Bauch ehern oder eisern, die Füsse irden. Dass diese Vorstellung, die uns aus der griechischen Mythologie bekannter ist, auch bei unsern Vorfahren lebte, dafür zeugt schon, dass Alles, was von den Göttern stammt, oder in ihrem und selbst der untergeordnetern göttlichen Wesen Besitz ist, golden erscheint, wie wir dies vielfach zu sehen in den vorigen Abschnitten Gelegenheit hatten.
Wir wissen, dass das Alterthum sich die Erde rund dachte, daher Erdkreis. Sie war vom Meer umflossen, darum heisst sie noch mhd. Mergarte, sie war die in der Mitte liegende, daher im Norden midgardr. Um die Erde windet sich eine ungeheure Schlange im Ringe,Sie lebt noch in unsern Märchen. offenbar das die Erde umgebende Meer.
Nach den Edden gibt es einen ungeheuren Weltbaum, welcher Himmel, Erde und Hölle verbindet; es ist die Esche Yggdrasil, der grösste und heiligste aller Bäume, dessen Aeste durch die ganze Welt treiben und über den Himmel hinaus reichen. Drei Wurzeln halten sie aufrecht, die eine schlägt nach den Asen, in den Himmel, die andere nach den Reifriesen, dahin wo einst die Kluft der Klüfte war, die dritte nach der Unterwelt. Unter jeder Wurzel quillt ein wunderbarer Brunnen, bei der himmlischen der Brunnen der Nornen, bei der riesischen der des weisen Riesen Mimir, bei der höllischen Hvergelmir, der alte Kessel, der rauschende; alle drei sind heilig. Jeden Tag schöpfen die Nornen Wasser aus ihrem Brunnen und begiessen damit der Esche Aeste: so heilig ist das Wasser, dass es allen Dingen, die in den Brunnen kommen, weisse Farbe mittheilt. Von dem Baum trieft bienennährender Thau, welcher Honigfall heisst; auf den Aesten, an den Wurzeln des Baums sitzen und springen Thiere: ein Adler, ein Eichhorn, vier Hirsche und Schlangen. Aehnliche Vorstellungen lebten auch unter den Deutschen.
Die Gegend um den Brunnen Hvergelmir, die Unterwelt, lernten wir bereits als Aufenthalt der Göttin Hellia kennen; es ist Nebelheim, die Hölle, ein grauenhaftes, düsteres, kaltes Schattenland, der Todten Wohnung, nicht aber der Qual und Strafe, nach christlicher Ansicht, die sich erst später entwickelte, kaum vor dem zwölften Jahrhundert. Sie lag tief unten nach Norden hin, nach der Edda, jenseits eines rauschenden Flusses, über den eine mit leuchtendem Gold (Feuer) gedeckte Brücke führte, die eine Jungfrau hütete. Mitten in ihr liegt jener alte tosende Kessel, dem zwölf Flüsse entrinnen. Wie man nach nordischer Ansicht dunkle tiefe Thäler durchdringen musste, um zu ihr zu gelangen, so war sie deutschem Glauben zufolge mit dichten Wäldern umgürtet; noch denken wir sie uns tief im Schoos der Erde.
Dieser dunkeln vorwärts liegenden Nebelwelt entgegen steht die südliche Flammenwelt, welche in der Edda Muspell oder Muspellsheimr genannt wird. Sie ist licht und heiss, glühend und brennend, nur Eingeborne können es da aushalten, daher keine Menschen aus unsrer Welt in sie übergehen, wie in die kalte nördliche. Ihrer hütet der Gott Surtr, der von der Glut gebräunte, der ein leuchtendes Schwert führt und dereinst den Göttern Untergang bringt. Das wird sein zur Zeit der Götterdämmerung, des Weltuntergangs oder Weltbrands. Alsdann brechen die bis dahin von den Himmlischen in Bann und Zwang gehaltenen bösen Wesen los und streiten wider die Götter; ein Wolf verschlingt die Sonne, ein anderer den Mond, die Sterne fallen vom Himmel, die Erde erbebt und alle Berge stürzen zusammen, alle Bäume werden entwurzelt, das Meer tritt aus seinen Ufern und überflutet das Land, die ungeheure Weltschlange, ergriffen von Riesenwuth hebt sich aus dem Meer und zieht mit ihren Geschwistern und Loki, ihrem Vater, gegen die Götter. Zugleich reitet Surtr mit seinem leuchtenden Gefolge über den Regenbogen gegen sie, und ihren vereinten Angriffen erliegen die alten Götter, die Flammensöhne siegen, die Welt geht in Feuer auf, wie sie bei der Sinflut in Wasser unterging. Aber aus dem Meer steigt jetzt eine neue, seeligere Erde mit verjüngten Göttern, eine bessere, hehrere Weltordnung beginnt. So die Ueberlieferung des Nordens, der sich die deutsche wenigstens in den Grundzügen angeschlossen haben wird.
Wir haben noch die Wohnungen der Götter, den Himmel, kurz zu betrachten. Wie aus dem Abschnitt über die »Schöpfung« hervorgeht, richteten sich die Götter im Mittelpunkt der Welt eine Wohnung ein. Zu ihr führt der Regenbogen und die Milchstrasse, in ihr hat jeder derselben wieder seine besondern Räume. Der berühmteste derselben ist die Wohnung Wuotans Wala halla; dahin kamen alle seit Anfang der Welt im Kampf gefallenen Helden, die dort Einherien heissen. Der Edda zufolge ist Walhalla mit goldnen Schilden gedeckt und zählt 540 Thüren, deren jede auf einmal 800 Einherien Durchgang gestattet. Auch in deutschen Sagen erscheint sie als ein grosser goldglänzender Pallast, als hochgewölbter goldstrahlender Saal, darin die Helden an langen Tafeln sich des Bechers und des Mahles freuen. Diese Vorstellung fröhlicher Trinkgelage im Himmel war noch spät so lebendig, dass ein niederdeutscher Edelmann sich im 16. Jh. eine Grabschrift setzen liess, worin folgendes echtheidnisch klingende vorkommt:
Ik bin en meklenburgsch edelman:
Wat geit di düvel min sûpenSaufen. an?
Ik sûp mit min herr Jesu Christ,
Wenn du düvel ewig dörsten müst,
Un drink mit en fort kolle schal,
Wenn du sittst in de höllequal.
Von dem geräumigen Hause des Donnergottes war schon früher die Rede. Schön waren auch die Wohnungen der übrigen Götter, doch sind sie in Deutschland noch unaufgefunden, wir kennen sie bis jetzt nur aus nordischer Ueberlieferung, so Baldrs Halle, die breit glänzende, in welcher nichts unreines geduldet wurde; die Wohnung Freias, unsrer Frouwa, in welcher sie die Hälfte der waffentodten Männer empfängt, so oft sie zum Kampfe zieht; sie heisst des Volks Gefilde und der Saal der Göttin selbst der Sitzräumige. Auf goldnen Seulen ruht das silberne Dach des Saales Forsetis (Forasizo's), in welchem er alle Händel schlichtend thront, u. s. w.