von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

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Einleitung zur zweiten Auflage

Ich schreibe nur für hundert Leser, für unglückliche, liebenswerte, prächtige, aller Heuchelei bare, durchaus amoralische Menschen. Manchen, dem dieses Buch in die Hände kommt, möchte ich fragen: Bist du in deinem Leben einmal ein halbes Jahr lang aus Liebe unglücklich gewesen? Und eine zweite indiskrete Frage: Liesest du hin und wieder eins jener anmaßenden Bücher, die den Leser zum Nachdenken zwingen, zum Beispiel ’Emil‘ von Jean Jacques Rousseau oder die Werke Montaignes? Wenn du niemals unglücklich warst ob jener Schwäche der starken Seelen, wenn du die widernatürliche Angewohnheit, beim Lesen nachzudenken, nicht hast, so wird dich das vorliegende Buch gegen den Verfasser stimmen, denn es muß dich ahnen lassen, daß es ein gewisses großes Glück gibt, das du nicht kennst, jenes Glück, das Julie de Lespinasse erfahren hat. Aber Wunder kann ich nicht tun, ich kann die Blinden nicht sehend und die Tauben nicht hörend machen.

»Die Liebe gleicht dem, was man am Himmel Milchstraße nennt. Sie ist ein schimmerndes Meer, von Myriaden kleiner Sterne gebildet, von denen der einzelne meist nicht wahrnehmbar ist. In der Literatur hat man vier- bis fünfhundert von den kleinen aneinandergereihten Empfindungen festgestellt, die einzeln zu erkennen so schwierig ist und die zusammen jene Leidenschaft ausmachen, dazu die größeren, freilich nicht ohne sich häufig zu irren, indem man Begleiterscheinungen für Hauptdinge gehalten hat. Die besten solcher Bücher von der Art der ’Manon Lescaut‘, der ’Neuen Heloise‘, der ’Briefe der Mademoiselle de Lespinasse‘ sind in Frankreich geschrieben, also in dem Lande, wo das Pflänzlein namens Liebe, erstickt unter den Forderungen der Nationalleidenschaft, der Eitelkeit, fast nie zu seiner vollen Größe gedeiht.

»Damit will ich aber keineswegs sagen, man könne die Liebe aus Romanen kennen lernen. Und wenn man sie in hundert berühmten Büchern beschrieben gefunden hätte und hätte sie niemals selber gefühlt, was wäre es, wenn man aus dem Gelesenen die Erklärung jener Torheit ergrübeln wollte? Wie ein Echo muß ich antworten: Torheit! Dieses kleine Buch ist kein amüsanter Roman, sondern lediglich eine wissenschaftlich genaue Beschreibung einer gewissen in Frankreich ungemein seltenen Torheit. Die Herrschaft der Wohlanständigkeit, die täglich größer wird, mehr infolge der Furcht vor dem Sichlächerlichmachen als durch die Lauterkeit unsrer Sitten, hat aus dem Worte, das diesem Buche den Titel gibt, einen Ausdruck gemacht, den man an und für sich vermeidet und der sogar anstößig klingen kann...

»Im Jahre 1814 machten mich die veränderten Verhältnisse, die dem Sturze Napoleons folgten, berufslos. Bereits vordem, unmittelbar nach den gräßlichen Erlebnissen auf der Retraite de Moscou, hatte mich der Zufall nach Mailand geführt, einer liebenswürdigen Stadt, in der ich am liebsten den Rest meiner Tage beschlossen hätte. Das war mein Lieblingsgedanke. In der glückseligen Lombardei, in Mailand, in Venedig, da ist die Hauptsache oder besser gesagt der Brennpunkt des Daseins: das Vergnügen. Da kümmert man sich kein bißchen um das Tun und Lassen seines Nachbars.

»Es war dort in Mailand zu den glänzenden Maskenbällen des Karnevals von 1820, im Hause der liebenswürdigen Frau Pietragrua, in einer Abendgesellschaft, wo über ein paar selbst für dortige Verhältnisse tolle Liebesgeschichten sehr lebhaft debattiert wurde. Mir fiel beiläufig ein, daß ich von all' diesen wunderlichen Tatsachen und den ihnen zugeschriebenen Ursachen schon nach einem Jahre kaum noch eine verschwommene Erinnerung haben würde, und das veranlaßte mich, mir heimlich Aufzeichnungen auf ein Konzertprogramm zu machen. Man wollte Pharao spielen. Wir saßen unsrer dreißig um einen Spieltisch, aber die Unterhaltung war so lebhaft, daß darüber das Spiel vergessen ward. Als dann noch der Oberst Scotti hinzukam, der zufällig die Intimitäten jener bizarren Vorfälle kannte und davon erzählte, erschienen sie mir in ganz neuem Lichte. Ich zeichnete mir auch diese neuen Momente auf. Auf gleiche Weise machte ich mir auch in anderen Salons, wo von denselben Dingen die Rede war, Aufzeichnungen, und bald hatte ich das Bedürfnis, ein allgemeines Gesetz für die verschiedenen Grade der Liebe festzulegen.

»Wenige Monate darauf mußte ich Mailand verlassen. In Paris vereinigte ich meine aphoristischen Aufzeichzeichnungen zu einem Hefte, das ich einem Verlagsbuchhändler schenkte. Der Drucker erklärte aber, es sei ihm unmöglich, diese Bleistiftnotizen zu drucken; offenbar hielt er das Setzen nach einem derartigen Manuskript für unter seiner Würde. Ich mußte es dem Druckerlehrling noch einmal diktieren. Als ich dann die Korrekturen dieser meiner moralischen Reise durch Italien und Deutschland las, deren Fakta immer am Tage, wo ich sie beobachtet hatte, niedergeschrieben sind, habe ich das Manuskript mit seiner umständlichen Beschreibung aller Zustände jener Krankheit, genannt Liebe, voll blinder Ehrfurcht behandelt etwa wie ein Gelehrter des dreizehnten Jahrhunderts eine eben aufgefundene alte Handschrift des Lactantius oder des Quintus Curtius.

Wenn der Leser auf irgend eine dunkle Stelle stößt, und das wird ihm, offengestanden, häufig passieren, so bitte ich, jenem alten Ich die Schuld zuzuschieben. Ich gestehe, meine Ehrfurcht vor dem Originalmanuskript ist so weit gegangen, daß etliche Stellen gedruckt worden sind, die ich selber nicht mehr verstand ...

»Es war eine Gefahr für mich, die Korrekturen eines Buches zu lesen, das mich alle Nuancen meiner Empfindungen in Italien von neuem durchleben ließ. Ich hatte die Schwäche, ein Zimmer in Montmoreney zu mieten. Abends fuhr ich mit der Post hinaus. Mitten im Walde korrigierte ich meine Bogen. Ich wäre dabei beinahe verrückt geworden. Häufig machte ich die Korrekturen auch im Park der Gräfin Beugnot in Corbeil. Dort konnte ich den trüben Träumeieien aus dem Wege gehen; sobald ich mit arbeiten aufhörte, ging ich in den Salon. Mit allen Sinnen war ich bei Mathilde; oft hatte ich Tränen in den Augen. Ich hegte wohl den Plan, mein Buch umzuarbeiten, aber tiefer über Dinge der Liebe nachzudenken, machte mich zu traurig. Es war mir, als ob man mit rauher Hand an eine kaum vernarbte Wunde rührte. An dem Buche zu arbeiten, tat mir weh. So nötig es gewesen wäre, ich habe es auch später nicht umzuarbeiten vermocht...

»Ich veröffentlichte ein Schmerzenskind.

»Obgleich ich das Manuskript dem Verleger Mongie geschenkt hatte, druckte er es auf schlechtem Papier und in lächerlichem Duodezformat.De l'Amour. Par l'auteur de l'Histoire de la peinture en Italie, et des Vies de Haydn, Mozart et Métastase. Paris, ... P. Mongie l'ainé, ...1822, 2 Bde. in 12° (IV, 232 und 330 Seiten). Als ich einen Monat nach dem Erscheinen fragte, wie das Buch ginge, antwortete er mir: ’Es ist heilig, kein Mensch rührt es an!‘ In der Tat sind in den Jahren von 1822 bis 1833 nur siebzehn Exemplare verkauft worden.

»Ich habe dem Publikum nicht geschmeichelt, und das in einer Zeit nach gewaltigen Umwälzungen und Niederlagen, wo die ganze Literatur nur den Zweck zu haben schien, unsere Eitelkeit in ihrem Unglück zu trösten. Unter Ludwig dem Fünfzehnten war die Liebe in Frankreich allmächtig; die Namen am Hofe machten ihre Liebhaber zu Obersten. Heute, nach fünf radikalen Umwälzungen in Zweck und Form der Regierung, vermöchte einem auch die einflußreichste Frau der regierenden Bourgeoisie oder des grollenden Adels kaum noch einen Tabaksverschleiß in einem Dorfe zu verschaffen. Die Frauen sind nicht mehr in Mode. Die goldne Jugend, die sich gern einen frivolen Anstrich gibt, um als Erbin der guten Gesellschaft von ehedem dazustehen, spricht lieber von Pferden oder spielt im Klub, wo keine Frauen zugelassen sind. Eine tödliche Froschblütigkeit hat unsre Generation ergriffen. Die Gesellschaft von 1778, wie wir sie in Diderots Briefen an seine Geliebte, Mademoiselle Voland, oder in den Memoiren der Madame d'Epinay finden, ist unsrer Zeit völlig unverständlich geworden.«

Soviel erzählt Beyle selbst teils in verschiedenen Vorreden für eine künftige Neuausgabe von De l'Amour, die er nicht mehr erleben sollte, teils in seinen »Erinnerungen«. Heute ist dieses Buch, das einst in zwölf Jahren nur siebzehn Käufer gefunden hat, über den ganzen Erdball verbreitet, es ist sogar eins der wenigen Literaturwerke, die die Japaner in ihre Sprache übertragen haben, weil es ihnen geeignet erscheint, die gelbe Rasse in die ihr geheimnisvolle Empfindungsweise der Europäer einzuweihen. Sein Verfasser, dem es lebenslang wie ein ungezogenes Lieblingskind am Herzen lag, hat somit nicht zu Unrecht gesagt: »Man wird es um 1900 lesen.«

Stendhal nennt sein Buch ein livie d'idéologie. »Ich bitte die Philosophen um Verzeihung,« schreibt er in einer (fortgelassenen) Anmerkung, »daß ich das Wort Ideologie gewählt habe. Ich will gewiß niemandem etwas ihm Zustehendes rauben. Wenn man unter Ideologie eine ausführliche Beschreibung der Ideen und aller ihrer Bestandteile versteht, so ist dieses Werk eine ausführliche und sorgfältige Beschreibung aller Gefühle, die die Leidenschaft der Liebe ausmachen. Ich kenne leider kein griechisches Wort für ’Abhandlung über Gefühle‘, wie Ideologie ’Abhandlung über Ideen‘ bedeutet. Schon mit dem Ausdruck Kristallbildung werde ich mißfallen.«

An diese Randglosse anknüpfend hat ein Kritiker der ersten Auflage der vorliegenden deutschen Übertragung mit vollem Verständnis bemerkt: »Stendhals Buch über die Liebe ist in der Hauptsache egotistisch, denn es schildert als Ergebnisse feinster Selbstanalyse die Empfindungsweise seines heißblütigen Verfassers und hält sich von aller Metaphysik fern. Es vervollständigt das Selbstbildnis Stendhals, das wir in seinen ’Bekenntnissen eines Egotisten‘ besitzen. Nur aus Verlegenheit, vielleicht auch in verehrender Hinsicht auf Destutt de Tracy, für dessen ’Ideologie‘ sich Stendhal schon in früher Jugend begeistert hatte, ist die unzutreffende Bezeichnung livre d'idéologie gewählt worden. Jene charakteristische Bemerkung verweist uns darauf, aus welchem Bedürfnis heraus Stendhal das Wort Egotismus geschaffen, als es galt, diese persönliche Empfindungsweise selbst einschließlich aller Absonderlichkeiten des Nervensystems anzudeuten und endlich eine Bezeichnung zu finden für die psychologische Erforschung und systematische Darstellung des eigenen Gefühlslebens.«Karl Heckel in der Frankfurter Zeitung vom 18. Mai 1906

Das Buch über die Liebe ist in zärtlichen Liebesträumereien entstanden, die einer schönen Italienerin galten, und manche Seite spricht wohl unmittelbar zu ihr. Es war eine unglückliche Liebe, die Beyle zu Mathilde Dembowska hegte, einer Mailänderin, der Gattin eines napoleonischen Generals, die von ihrem sie schlecht behandelnden, treulosen Manne getrennt lebte. Es ist ihrer an anderer Stelle»Bekenntnisse eines Egotisten« (Bd. V dieser Ausgabe), S. 247 ff. ausführlich gedacht worden. Sie hat die leidenschaftliche Liebe Beyles nie erhört, vielleicht weil sie ihm bei seinem lebemännischen Ruf die Wahrheit seiner Gefühle nicht glauben konnte. Beyle hat sie als Ideal des lombardischen Frauentypus, der ihm als Meisterstück aller Rassen galt, verherrlicht. Sie ist im Jahre 1825 in Mailand gestorben, achtunddreißig Jahre alt, und ihrem Anbeter sein ganzes Leben lang »eine zarte, wehmütige Traumgestalt geblieben, deren Erinnerung ihn gut, gerecht und nachsichtig stimmte.«

Obgleich für eine Frau geschrieben, ist das Buch über die Liebe doch kein Frauenbuch nach jener delikaten Vorschrift Diderots: »Wer für Frauen schreibt, muß seine Feder in den Regenbogen tauchen und seine Schriftzüge mit dem Staube von Schmetterlingsflügeln trocknen.« Es ist im Gegenteil ein männliches Buch und offenbart die ganze Kraft des Stendhalschen Geistes, »mit seinen Sprüngen und Abwegen, feinem Genie und seiner Feinheit, seinen Spitzfindigkeiten und Übertreibungen, seiner Abgerissenheit und seinen Widersprüchen. Trotz seiner freien Ideen und seiner absichtlichen Immoralität überrascht es uns, daß der Schüler eines Cabanis in der Liebe etwas anderes erblickt als allein den Sinnengenuß. Sein Buch mischt in die Befriedigung der Begierde und in das Fieber der Sinne die Zartheit seelischer Empfindungen. Es ist im Grunde eine Studie über die Macht der Phantasie in der Liebe.«Arthur Chuquet, »Stendhal-Beyle«, Paris (Plon-Nourrit & Cie.), 1902, S. 365.

Es ist auch der beste Schlüssel zum Verständnis des merkwürdigen Charakters Beyles und seiner Romane. Hier finden sich die reichen Erfahrungen seines bewegten Lebens gleichsam mit der Kraft einer Sammellinse konzentriert, hier ist In abtracto niedergelegt, was Stendhal später mit so packender Gewalt in »Rot und Schwarz« und in der »Kartause von Parma« zu neuem Leben erweckt hat, hier wird das feine und haarscharfe Instrument geschliffen, mit dem er später die »feinen und seltenen« Seelenregungen seiner dichterischen Gestalten bloßlegt. Er selbst war ein Liebender und ein Romantiker, der, wie so viele von Rousseau bis Wagner, die ewigen Rechte der Leidenschaft proklamiert hat: bald mit italienischer Glut und Skrupellosikeit, bald mit deutscher Inbrunst, die diesen Trieb als eine Emanation des Göttlichen ansieht. Aber derselbe Stendhal war auch ein Schüler der geistreichen und leichtfertigen Rokokophilosophen, die den Menschen aus Lust und Unlust erklärten und der Lust lächelnd das Vorrecht gaben. Dazu steckten in ihm ein von seinen mütterlichen Vorfahren ererbter »spanischer« Abenteurerzug, den er mit seinen Helden Julian Sorel und Fabrizzio del Dongo teilt, und der sein heimliches Werihertum so gern ironisierende Hang zur Don-Juanerie. Die Überlegenheit des freien Geistes zog das Ergebnis aus allen diesen Faktoren und setzte die Liebe aus Leidenschaft als obersten Wert ein, jene freie Liebe, von der Beyles Zeitgenosse Saint-Simon geschwärmt und die das junge Deutschland alsbald so begeistert verkündet hat.

Wie alle Bücher Stendhals verrät auch De l'Amour eine umfangreiche Belesenheit in verschiedenen Sprachen und Disziplinen, die um so erstaunlicher ist, als er bis in sein einundreißigstes Lebensjahr das rastlose Wanderleben eines napoleonischen Soldaten durch halb Europa geführt hat. Stendhal ist bis in die Fingerspitzen literarisch, wenngleich er (S. 250) die Paar Bücher, die Lisio Visconti, das heißt er selber, gelesen habe, von oben herab abtut. Widmen wir den wichtigsten Werken, die ihm Ideen oder Beispiele zu seinen eigenen Erörterungen an die Hand gegeben haben, ein wenig unsre Aufmerksamkeit.

Neben Cabanis und Destutt de Tracy, den Beyle bekanntlich hochverehrteVgl. Band V dieser Ausgabe, S. 31 ff., hat die Philosophie des Helvetius einen hervorragenden Einfluß auf Stendhals Schriften, insbesondere auch auf gewisse Ideen im vorliegenden Buche, ausgeübt. Dann sind hier Montaigne und der »witzigste aller Moralisten«, Nicolas Chamfort zu erwähnen. Es ist, nebenbei bemerkt, lehrreich zu vergleichen, wie verschieden zwei so geistvolle Weltleute wie Chamfort und Stendhal gegen Ende ihres Lebens die Frauen beurteilt haben; Chamfort ist ihnen gegenüber zum bittersten Pessimisten geworden, während Beyle trotz allem durch sie erfahrenen Ungemach sie noch in seinem letzten Roman »Luzian Leuwen« in unverbesserlichem Optimismus vergöttert und idealisiert.

Eine lange Reihe von Schlüssen und Beispielen hat Stendhal in Memoiren und Briefwechseln gefunden. Insbesondere sind hier hervorzuheben die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse an den Grafen Guibert, Diderots Briefe an Sophie VolantNeuerdings deutsch im Inselverlag erschienen., und die Briefe Mirabeaus an Sophie de Monnier. Da die erstgenannten in Deutschland selbst unter Literaturfreunden nur wenig bekannt sind, so möchte ich durch folgende, dem geistreichen Buche der Gebrüder Goncourt »Die Frau im achtzehnten Jahrhundert«Es ist kürzlich in vorzüglicher deutscher Übersetzung im Verlage von Julius Zeitler in Leipzig erschienen. entnommene Stelle auf sie aufmerksam machen:

»Bei Fräulein de Lespinasse ist die Liebe ein verzehrendes Brennen, ein immer glühendes, immer wieder aufloderndes Feuer, das unaufhörlich in sich selber wühlt, treibt und arbeitet. Dieses Gefühl lebt von seiner Aktivität, Energie, Heftigkeit, seinem Wüten und Toben. Es dauert, indem es sich langsam erschöpft, und man untersuche es nur einmal: es wird einem unter der Hand zittern als der stärkste Herzschlag des achtzehnten Jahrhunderts. Denn diese Liebe des Fräuleins von Lespinasse ist nicht bloß das Fieber dieser einen Frau, sie läßt die Krankheit und das Streben ihrer Zeit sehen. Sie enthüllt das geheime Leiden jener kleinen Zahl von höheren Menschen, die für ihr Jahrhundert zu reich ausgestattet, fast auf den ersten Anlauf schon alles bis ans Ende getrieben haben und alles bis auf die Hefe geleert, was ihnen das Vergnügen, das Glück, die Aktivität der Gesellschaft an Beschäftigungen geben und an Fülle mitteilen konnten. Voller Ekel stehen sie vor den Dingen, vor der Leere des gewöhnlichen Lebens, krank am Reichtum ihrer Seelen, und entdecken in dieser Atmosphäre voller Trockenheit und Egoismus in sich ein unwiderstehliches und wütendes Bedürfnis zu lieben, zu lieben mit Narrheit, mit Verzückung, mit Verzweiflung. Wie in einen Gießbach wollen sie sich in die Liebe stürzen, ganz und gar in ihr versinken, sich von ihrer ganzen Macht am Herzen gepackt fühlen. Sie gestehen es, sie verkünden es ganz laut: es handelt sich für sie nicht darum, zu gefallen, schön und geistreich befunden zu werden, jene große Ehre der Zeit zu genießen, die Ehre einer Bevorzugung, den Kitzel der Eitelkeit zu spüren: was sie wollen, sind nur Erfolge des Herzens, ihr Stolz ist, zu lieben. Alles, was sie ambitionieren, gipfelt darin, der Liebe für fähig und für würdig befunden zu werden, zu leiden. Umgewühlt, gerührt, von Leidenschaft durchschauert zu werden, das ist der innige Wunsch dieser Seelen, die ungeduldig sind, der Kälte ihres Jahrhunderts zu entrinnen, die fröhlich beflissen sind, sich von der Gesellschaft zu befreien und in sich selbst einem einzigen Gedanken zu leben. Diese Frauen, die im allgemeinen in ihrer Kindheit und ersten Jugend die Gefühle der Frömmigkeit nicht erfahren haben, kommen zur Liebe wie zu einem Glauben. Sie bringen eine Art hingebeugter Ergebung hinein. Diese Seelen aus reiner Vernunft, die bis dahin keinen sittlichen Sinn, kein Gewissen und keinen Herrn hatten als den Verstand, diese so stolzen, verwöhnten, eben noch so leeren Seelen verlieren, sobald sie nur getroffen, das Gefühl ihres Wertes und ihrer Stellung; sie stürzen sich in die Niedrigkeit einer Magdalena, einer verliebten Kurtisane. Ihre Eigenliebe, diesen großen Antrieb ihres ganzen Wesens, werfen sie restlos unter die Füße des geliebten Mannes; sie empfinden Vergnügen daran, sie von ihm treten zu lassen. Sie stehen vor ihm wie vor dem Gott ihres Daseins, unterwürfig und demütig, gebeugten Hauptes, klaglos und auf alles resignierend, fast fröhlich über ihr Leid.

»Diese absolute Unterwerfung findet man bei Fräulein von Lespinasse so ausgeprägt, daß dieses Element ihrer Liebe weit stärker hervorzuleuchten scheint als ihre Verzückung und Heftigkeit. Wie soll man die Herrin eines der ersten Salons von Paris in dieser Frau wiedererkennen, die sich in der Liebe so klein macht, die den schlechtesten Platz im Herzen ihres Geliebten so furchtsam und mit so leiser Stimme erbittet, die sich so lebhaft für den Ausdruck des Interesses bedankt, mit dem man ihr zu schreiben geruht, die sich so sanft darob entschuldigt, daß sie dreimal in der Woche schreibt? So wenig man ihr auch gewährt, sie empfängt es wie eine Gunst, die sie nicht verdient; ja, sie findet ihre Dankbarkeit noch kalt, auch wenn sie alle ihre Zärtlichkeit hineinlegt. Nichts vermag sie aus dieser knienden und flehentlichen Haltung emporzureißen, und alle Zeichen der Liebe, die ihr zuteil werden, vermögen sie nicht zu jenem Vertrauen zu ermutigen, kraft dessen man fordert, was man vom Geliebten wünscht. Unaufhörlich demütigt sie sich vor Herrn von Guibert, und die Hingebung, mit der sie ihren Willen in den seinen, sich selbst in ihn ergießt, ist so absolut, daß sie sich nicht mehr im Einklang mit der Gesellschaft, in Übereinstimmung mit dem Ton und den Gefühlen der großen Welt findet. Die Vergnügungen und die Zerstreuungen, denen sie noch um sich begegnet, können ihr nichts gewähren; und der Liebe gegenüber, die sie erfüllt, erscheint ihr die öffentliche Meinung so geringfügig, daß sie bereit ist, ihrem Urteil zu trotzen und fortzufahren, Herrn von Guibert zu sehen und ihn in jedem Augenblick ihres Lebens zu lieben. Ein wunderbarer Schwung lebt in ihr, eine höchste Elevation, ein beständiges Streben; allen ihren Gedanken, allen Kräften ihrer Seele, allen Mächten ihres Herzens entringt sich der Schrei der Zärtlichkeit und Verzückung: eine heiße Bitte um einen Kuß. »In jedem Augenblicke meines Lebens: mein Freund, ich leide, ich liebe Sie und ich erwarte Sie!«

»Die von ihrem Objekt völlig absorbierte Liebe hat kein größeres Beispiel in der modernen Menschheit als diese Frau, die alle ihre Gefühle und all' ihre inneren Regungen auf ihren Liebhaber bezieht, ihm alle ihre Gedanken schenkt, deren Eigentum sie sich nach ihrem feinsinnigen Ausdruck, nur zu sichern glaubt, indem sie sie ihm mitteilt, die sich alles verbietet, woran er keinen Anteil hat, die zufrieden damit ist, nur von ihm zu leben, ihrer eigenen Persönlichkeit beraubt und gleichsam für sich selbst abgestorben, die sich weigert zu reden, die den Besuchen Diderots die Türe schließt, weil sein Gespräch, wie sie sagt, ihre Gedanken gewaltsam ablenkt, die allein, ohne Bücher, ohne Licht und in Schweigen bleibt, ganz und gar dem Genuß des neuen Seeleninhalts hingegeben, den ihr Guibert mit den drei Worten geschaffen: ,Ich liebe Sie', und zugleich so tief in diesem Genuß versunken, daß sie darüber die Fähigkeit verliert, sich der Vergangenheit zu erinnern und der Zukunft zu gedenken.Über die Lespinasse-Literatur s. Anmerkung 88.

Außer mit solchen und anderen Dokumenten der Liebe stützt Stendhal seine Behauptungen mit Beispielen und Hinweisen auf Gestalten und Handlungen in einer Reihe von französischen und englischen Romanen. Hier ist nun in erster Linie Jean Jacques Rousseau zu nennen. Es wird wohl niemals ein Buch über die Geschichte der Liebe der europäischen Menschenrasse geschrieben werden, in der sein Name nicht einen wichtigen Markstein bedeutet. Ich will einem geistvollen Essay über Rousseau von Wilhelm Weigand folgenden Abschnitt entnehmen: »Leidenschaftliche Leute, wie der Vergötterer der Energie Stendhal, haben behauptet, die Liebe sei in Frankreich seltener als sonstwo zu finden: in der Tat, die Frauen vor Rousseau waren bessere Freundinnen als Liebende; sie legten als Töchter einer kaltsinnlichen Zeit vielleicht zu wenig Wert auf die letzte Gunst, als daß sie sich in Liebesleidenschaft verzehrten. Man genoß das Leben, indem man geistreiche Briefe schrieb, sich mit den Wissenschaften abgab, wie die göttliche Emilie Voltaires, Venus-Newton, das Herz auf der Zunge trug, geistreiche Maximen über Moral und Sitte schmiedete und mit den intimsten Erlebnissen Staat machte. Die Natur ist wortkarg, jede reife Zivilisation hingegen geschwätzig. Obwohl Rousseaus Einfluß auf die Frauen allmächtig war, so blieben doch einzelne Naturen, wie die geistreiche Lästerbase Marquise du Deffant und die reizende Frau des Ministers Herzogs de Choiseul, der alten gallisch-heiteren Tradition treu, die in dem Bürger von Genf einen Scharlatan der Tugend erblicken mußten. Die Frau ist in viel höherem Grade ein Geschöpf des Milieu als der Mann, und so ist denn auch die Julie Rousseaus kein Lebewesen der freien Natur, sondern einer höchst verdorbenen Gesellschaft, die sich, wie geistreiche Leute zu tun Pflegen, selbst vergötterte, ohne sich gerade gut zu kennen. Dieser Julie fehlt, wie allen Französinnen von dreißig oder mehr Jahren, die reine Naivität des Herzens, der Zauber einer naturfrischen Persönlichkeit: sie ist, man kann es nicht genug betonen, die geistige Tochter eines Literaten von wollüstiger Natur, die an allen Krankheiten der Zeit leidet; sie spricht wie Rousseau selbst in unausstehlicher Weise über die Tugend und kommt doch zu Fall. Die Marquise de Pompadour, die als Maitresse des Allerchristlichen Königs in der alten Tradition verharren mußte, spottete in einem Briefe an eine Freundin witzig über diese Tugendenthusiastin: ,Welch ein langweiliges Wesen ist doch diese Julie! Wieviel Vernünftelei und tugendhaftes Geschwätz, um sich endlich einem Manne zu geben!' Der Hang zum Räsonieren in zweideutigen Lagen ist vielen Frauen dieser Epoche gemeinsam als ein Zug der Galanterie, die in Frankreich, vor allem am Hofe, ihre Heimat hat. Rousseau ist nicht galant, ja, er haßt die Galanterie, diese Blüte der französischen Zivilisation, als ein Plebejer, dem Anmut und sichere Frechheit des schönschwätzenden Edelmanns fehlen. Wenn man Rousseau mit den lüsternen Erzählern des ancien régime vergleicht, so erscheint er wirklich als großer Dichter, und so verspürten denn auch die Schmetterlinge der Salons einen Hauch von Poesie, zumal auch die ganze Nation geneigt ist, blühende Rhetorik als Sprache der Dichtkunst hinzunehmen. Rousseau zog es, seiner eigenen Natur folgend, vor, bei den Frauen ,sublim' zu sein, mit dem Reichtum eines leidenschaftlichen Herzens zu glänzen, das mit mißtrauischer Sicherheit fühlte, wie schlecht ihm die leichtfertige, tändelnde Sprache der müßigen Eroberer stand. Die Zeitgenossen täuschten sich nur halb, wenn sie in Rousseau das Urbild des Saint-Preux sahen. Das war ein Plebejer wie Rousseau selbst. Die Liebe eines bürgerlichen Mannes zu einer Frau der vornehmen Gesellschaft war nichts Neues; die nachsichtigen philosophischen Ehemänner erlaubten ihren Frauen herabzusteigen, wenn sie nur Prinzen und Lakaien verschmähten, vor welchen Extremen ein geistreicher Mann seine galante Frau warnte. Viele solcher leichtfertigen Verbindungen der Geschlechter, die der vergötterte Geist auf eine Höhe trug, erregten in der übermütigen Welt weiter kein Aufsehen. Neu hingegen war die Liebe eines Plebejers zu einem vornehmen Mädchen, das der Sitte gemäß seinen Gatten aus der Hand der Eltern empfangen sollte. Freilich verliert Saint-Preux als der einzelne vor einer mächtigen Gesellschaft seine Geliebte, aber mit ihm war doch der Plebejer in die Literatur eingeführt und eine Welt neuer Konflikte geschaffen. Napoleon tadelte in seiner berühmten Unterredung mit Goethe zu Erfurt mit Unrecht die Vermischung zweier Motive im Werther: nämlich der Leidenschaft und des plebejischen ressentiment. War der klassische Lateiner, der in seiner Jugend die ganze Wertherei durchgemacht und aus Italien an den Vorabenden seiner Schlachten glühende Wertherbriefe an die Kokette Josephine geschrieben hatte, aus ästhetischen Gründen, als Bewunderer Corneilles, gegen diese gerechtfertigte Gleichstellung zweier Motive?«

Stendhal erwähnt im vorliegenden Buche Rousseau, insbesondere die »Neue Heloise« und deren Gestalten Saint-Preux und Julie d'Etanges so häufig, daß sich der aufmerksame Leser vielleicht angeregt fühlen wird, die »Neue Heloise« zur Hand zu nehmen. Rousseau bleibt auch für uns ein genialer Geist, des beispiellosen Einflusses auf seine Zeitgenossen würdig, trotzdem gehört er nicht zu den großen Schriftstellern, deren Bücher sich durch die Jahrhunderte hindurch frisch erhalten. Auch hierzu möchte ich einige Worte Weigands als die eines anerkannten Kenners der Literatur und Kultur Frankreichs im achtzehnten Jahrhundert anführen: »Wenn wir heute bei einem durchaus veränderten Geschmacke die ’Neue Heloise‘ lesen, so finden wir sie langweilig, rhetorisch, gemacht, französisch, und wir bedürfen unseres hochentwickelten historischen Sinns, um die ungeheure Wirkung des Buches zu begreifen. Rousseau ist der Vater der modernen Literatur, aber die ’Neue Heloise‘ ist veraltet; Männer von feinstem modernen Geschmacke sagen: ein unausstehliches Buch, das uns eine Arbeit auferlegt, wenn wir es genießen wollen ...«

Im Grunde hat Stendhal diesen Roman nicht viel anders als der moderne Leser beurteilt. Er schreibt im Jahre 1832: »Mein Glück und meinen Genuß, als ich die ’Neue Heloise‘ zum ersten Male (als Zwölfjähriger) las, ist unmöglich zu beschreiben. Heute erscheint mir dieses Buch pedantisch, und sogar im Jahre 1814, in der tollsten Liebesstimmung, habe ich darin keine zwanzig Seiten hintereinander lesen können,« Ähnlich urteilt er bereits im vorliegenden Buche (vgl. S. 292).

Einen ebenso bedeutsamen, ja vielleicht auf Beyles eigenes Liebesleben viel nachhaltiger wirkenden Einfluß hat ein anderer berühmter Roman auf ihn ausgeübt, die Liaisons dangereuses, der 1782 erschienen ist.Er ist mehrfach in deutscher Übersetzung erschienen, zuerst 1783, zuletzt 1905 im Inselverlag. Von den zahlreichen französischen Ausgaben sei die des Mercure de France genannt. Den Liaisons dangereuses gilt die Xenie Goethes:

»Warnung reizt uns oft, ich seh' es; denn jegliche Schöne
Liest und wünscht insgeheim sich der Verbindung Gefahr.«

Im Gegensatz zur »Neuen Heloise« und zu den Liebesbriefen der Lespinasse ist er frei von den sentimentalen und demokratischen Einflüssen Rousseaus, er ist das letzte bedeutende literarische Dokument des echten ancien régime, ein Buch voller Herrenmoral. Der Verfasser, der Artilleriegeneral Choderlos de Laclos, war einer der geistvollsten Köpfe der napoleonischen Armee, ein universell begabter Weltmann, gleich gewandt als Diplomat, als Taktiker, als Artillerist.Er ist der eigentliche Erfinder des Schrapnells, des Hauptgeschosses der modernen Feldartillerie, eine Tatsache, die durch seine Gefangenschaft in Vergessenheit geraten ist und selbst in den Fachbüchern nicht erwähnt wird. Napoleon wußte Offiziere solch' seltenen Schlages zu schätzen und am richtigen Ort zu verwenden. In den Zeiten der großen Revolution war Laclos eine Zeitlang enthusiastischer Jakobiner gewesen, dann hatte man ihn als gefährliches Subjekt eingesperrt. Im Gefängnis ward er der heimliche Autor von Robespierres berühmtesten Reden. Sein Roman wirkt auf die Leser unsrer Zeit durchaus nicht veraltet, er schildert die gesellschaftlichen Zustände unter dem Adel des ancien régime mit unübertroffener Meisterschaft und läßt die geistreiche Lebhaftigkeit und die aristokratische Kultur der französischen Edelleute in für einen Deutschen um so interessanterer Weise erkennen, als bekanntlich der – allerdings arme – deutsche Adel des achtzehnten Jahrhunderts kulturell begnügsam, geistig träg und wenig gebildet, längst widerstandslos die Sitten des bourgois angenommen hatte.

Aus fremden Sprachen treten – außer den Romanen Scotts, Richardsons und Fieldings – hinzu Werke Virgils, Shakespeares, Byrons, Goethes, Schillers, Dantes, Petrarcas, Cervantes u. a., aus der neulateinischen Literatur der »Traktat von der Liebe« des Andreas Capellanus und die »Briefe der Heloise an Abälard«, aus dem Altarabischen der »Diwan der Liebe« des Ibn-Abi-Hagala, schließlich einige provenzalische Handschriften des dreizehnten Jahrhunderts. Den von Andreas Capellanus in lateinischer Sprache überlieferten altprovenzalischen »Liebesregeln« habe ich die niederdeutsche Übersetzung des Eberhard Cersne (nach der Handschrift von 1404) und die mittelhochdeutsche des Doktors Hans Hartlieb (gedruckt 1482) in einer Anmerkung beigefügt. Auf die arabischen Handschriften (in der Pariser Nationalbibliothek) ist Stendhal durch den Orientalisten und Akademiker Fauriel aufmerksam gemacht worden, wahrscheinlich rührt der französische Text von ihm her.Heinrich Heines populär gewordener »Asra« ist auf die Lektüre von Stendhals De l'Amour zurückzuführen, vgl. »Heine und Stendhal« von Arthur Schurig im Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« vom 28. September 1902. Vgl. auch Anmerkung 76.

In dieses reiche literarische, psychologische und völkerpsychologische Beiwerk mischen sich allenthalben Beyles eigene Erfahrungen und Beobachtungen. Wie wertvoll, wie genial und sicher seine knapp ausgedrückten Beobachtungen sind, das bestätigt uns die enthusiastische Bewunderung eines Goethe, eines Hippolyte Taine eines Friedrich Nietzsche. Dazu zeigen uns die »Bekenntnisse eines Egotisten« die Reihe von Hermen geliebter Frauen, die Beyles Lebenspfad geschmückt haben. Es sei an seine jugendlichen Liebesschwärmereien erinnert, dann an die sentimentale Liaison des Marseiller Intermezzos, an die lustige blonde Minette in Braunschweig,Als Ergänzung zu den in den »Bekenntnissen eines Egotisten« (S. 133) gegebenen Nachrichten über bie Generalstochter Wilhelmine von Grieshelm, Stendhals deutsche Angebetete, sei auf neuere Forschungen über sie hingewiesen, vgl. Une amie allemande de Stendhal, par Arthur Schurig, Revue bleue, Paris, 19.8.1905. Briefe einer Schwester Wilhelmines an Albert von Wedell, einen der Schillschen Offiziere, hat die Baronin Edith von Cramm unter dem Titel »Briefe einer Braut aus den Jahren 1806-1813« veröffentlicht (Berlin, Fleischel, 1905). Porträts beider Schwestern haben sich erhalten. an die glücklichen Wiener Tage in der Gesellschaft der eleganten Gräfin Daru, an die sinnliche Angela Pietragrua, die »schöne Sibylle«, an die »göttliche, tolle, liebenswürdige Nina«, die reizende Elena Viganò »mit der herrlichsten Stimme Italiens«.

Trotz all dieser Vielseitigkeit hat Stendhal sein Thema nicht erschöpfend dargestellt. Fast jeder Kritiker des Buches vermißt irgend eine Abart der Liebe. So sagt Arthur Chuquet in seiner bereits erwähnten Stendhalbiographie: »Das Buch über die Liebe ist nicht, wie Beyle unbescheidenerweise sagt, eine vollständige Analyse jener Leidenschaft, ja nicht einmal eine bis in alle Einzelheiten gehende, peinlich genaue Beschreibung aller Empfindungen, aus denen sie sich zusammensetzt. Stendhal vergißt die Gehirnliebe, die Kopf- oder Phantasieliebe, die er später in Mathilde de la Mole in ’Rot und Schwarz‘ gelegt hat. Er vergißt die Liebe aus Gewohnheit, die Freundschaftsliebe, die Liebe aus Vertrauen und eine Menge anderer Spielarten, die ihm doch bekannt waren. Wenn er auch flüchtig erwähnt, daß die beiden Geschlechter ungleich disponiert sind, so hebt er doch die Unterschiede der Liebe eines Mannes und eines Weibes nicht hervor,Faguet, Politiques et moralistes, III, S. 30. Er schildert nicht die echte Evastochter, das eitle, leichtfertige, schwache, launenhafte, falsche, zwischen Extremen schwankende Wesen, in dem Haß neben Zärtlichkeit schlummert. Er zeigt uns nicht, daß hinter der unbeständigen Laune ein physischer Mangel steckt. Er führt uns den Einfluß des Nervensystems auf die Seelenregungen nicht vor Augen.«

In anderer Hinsicht schreibt Friedrich von Oppeln-Bronikowski in einer Studie über Stendhals Buch sehr treffend: »Einen wunden Punkt hat dieses ganze System für uns superkluge Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, und ich zweifle nicht, daß Stendhal, wenn er noch unter den Lebenden weilte, ihn zuerst herausgefühlt hätte. Er hat sich zwar redliche Mühe gegeben, die Liebe nicht nur vom Standpunkte des Junggesellen – heiße er Werther oder Don Juan – zu betrachten, sondern auch die Beziehungen zwischen Liebe und Ehe zu erforschen. Er hat die Ehescheidung als Damm gegen den Ehebruch gefordert und das protestantische Deutschland, wo die Ehescheidung schon zu seiner Zeit gesetzlich erlaubt war, als das Land der glücklichen Ehen hingestellt. Immerhin fällt er in den Unverstand zurück, wenn er sich wundert, daß man in Deutschland die Ehe heilig halte, und daß die Frauen ihre Männer dort nicht betrögen. In seinen Anschauungen liegt eine seltsame Doppelheit. Daß die Liebe heilig und ewig sei, daß sie von den Deutschen als eine Emanation des Göttlichen angesehen wird, findet bei ihm, dem Romantiker und Liebenden, vollen Anklang. Aber es darf eben nur die freie Liebe sein. Eheliche Treue wirkt auf ihn komisch. Doch dem Liebhaber muß man unverbrüchliche Treue halten. So baut sich auf dem Ehebruch eine zweite ’ideale‘ Ehe auf, die sich von der ersten nur in einem Punkte unterscheidet: sie bleibt ohne Nachkommenschaft, Die Kehrseite der Medaille, die Goethes Gretchentragödie und die »Wahlverwandtschaften« so schonungslos enthüllen, ignoriert der Franzose vollständig, und nachdem derart die Liebe um ihren eigentlichen Zweck und Sinn – den der Fortpflanzung – gebracht ist, fällt natürlich auch der soziale Zweck der Ehe, die Erziehung der Kinder, in nichts zusammen. Dem Romantiker Beyle war es noch nicht gegeben, jenen Schritt weiter zu tun, den der große ’Immoralist‘ Nietzsche über ihn hinaustat, indem er die Ehe und zwar die fruchtbare Liebesehe als Sakrament seines Übermenschenkults wieder einsetzte. Der Ehemann spielt bei Stendhal begreiflicherweise die Rolle des notwendigen Übels... In diesem Punkte also gerät Beyle in eine ganz schiefe Stellung, indem er die Liebe gegen die Ehe ausspielt,– aus übertriebener Angst, für einen Heuchler und Mucker zu gelten. Der englische cant, ist begreiflicherweise seine bête noire, und auch die Prüderie der französischen Provinz malt er in grellen Farben. Dabei ist Beyle, wie gesagt, keineswegs lasziv; man würde ihn grausam mißverstehen, wenn man hinter der reichen Fülle seiner feinen und tiefen Gedanken diesen spiritus rector wittern wollte. Er sieht nur als der Romantiker, der er trotz seines kalten Verstandes stets gewesen ist, in der Liebe sein »unermeßliches, einziges und letztes Glück‘; ’ohne Liebe bin ich nichts‘, bestätigt er auch in seinem Tagebuche.«Die Zeit, Nr. 457, Wien, 4.Juli 1903, S. 167 ff.


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