von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8. Kapitel

This was her favoured fairy realm,
and here she erected her aerial palaces.
          W. Scott, Braut von Lammermoor

Ein junges Mädchen von achtzehn Jahren ist zu einer starken Kristallbildung noch nicht fähig und bei seiner geringen Lebenserfahrung zu zaghaft im Liebesbegehren, um mit der gleichen Leidenschaft zu lieben wie ein Weib mit achtundzwanzig Jahren.

Heute abend unterhielt ich mich hierüber mit einer geistreichen Dame, die gerade das Gegenteil behauptete. »Die Phantasie einer Achtzehnjährigen,« meinte sie, »ist noch nicht durch irgend eine schlimme Erfahrung ernüchtert und lodert noch im Feuer der ersten Jugend; sie macht sich natürlich vom Manne ein überschwengliches Bild. Jedesmal, wenn sie den Geliebten sieht, genießt sie nicht sein wirkliches Wesen, sondern jenes bezaubernde Bild, das sie sich von ihm ersonnen hat. Später, wenn sie durch den ersten Geliebten und alle anderen Männer enttäuscht worden ist, hat die Erkenntnis der rauhen Wirklichkeit die Kraft zur Kristallbildung geschwächt, und das Mißtrauen hat der Phantasie die Schwingen gestutzt. Nie wieder vermag sie sich von einem Manne, und wenn er ein Muster seines Geschlechts wäre, ein gleich verführerisches Bild zu erdenken. Sie liebt nicht mehr mit der Glut der ersten Jugend. In der Liebe genießt man immer nur die Illusion, die man sich selbst schafft. Und wie die Vorstellung, die sich ein achtundzwanzigjähriges Weib vom Manne macht, nicht mehr so licht und hehr ist als die, die sich die erste Liebe einer Achtzehnjährigen erträumte, so ist auch die zweite Liebe immer an Schein und Wert geringer.«

»Nein, gnädige Frau,« entgegnete ich, »das Mißtrauen, das mit achtzehn Jahren nicht vorhanden ist, verleiht unzweifelhaft der späteren Liebe eine besondere Färbung. In der ersten Jugend gleicht die Liebe einem gewaltigen Strome, der alles mit seinen Fluten fortreißt und dem nichts Widerstand leistet. Eine feinfühlige Frau dagegen kennt sich mit achtundzwanzig Jahren genau. Sie weiß, daß man, falls überhaupt Glück irgendwo im Leben zu finden ist, zuerst bei der Liebe anfragen muß. In dem bedrängten Herzen entbrennt also ein harter Kampf zwischen Liebe und Mißtrauen, so daß die Kristallbildung nur langsam vorwärts schreitet. Geht sie aber aus dieser schweren Prüfung, in der das Herz mit jedem Schlage die größten Gefahren besteht, als Siegerin hervor, so gerät sie tausendmal herrlicher und fester als bei der Liebe einer Achtzehnjährigen, die unter der Sonne der Jugend alles als glückliches und fröhliches Spiel auffaßt.

»Die Liebe wird also weniger heiter, aber leidenschaftlicher sein.«Epikur sagt, die Erkenntnis sei zum wirklichen Genuß nötig.

Dieses Gespräch – es war in Bologna – widersprach dem, was mir so klar schien, und führte mich so recht zu der Einsicht, daß ein Mann eigentlich nichts Gescheites über die Vorgänge in der Tiefe der feinfühlenden Frauenseele zu sagen weiß. Eine Kokette durchschauen wir Männer eher, weil wir selbst sinnlich und eitel sind.

Die Verschiedenartigkeit in der Entstehung der Liebe bei den beiden Geschlechtern rührt entschieden aus dem ungleichen Wesen der Hoffnung her. Auf der männlichen Seite haben wir den Angriff, auf der weiblichen die Verteidigung; dort Verlangen, hier Verweigern; dort Ungestüm, hier Ängstlichkeit.

Der Mann denkt: »Werde ich ihr gefallen? Wird sie mir ihre Liebe gewähren?«

Die Frau dagegen: »Sagt er mir nur zum Scherz, daß er mich liebt? Ist sein Charakter beständig genug? Kann er für die Dauer seiner Gefühle bürgen?« Deshalb betrachten und behandeln viele Frauen einen dreiundzwanzigjährigen Jüngling wie ein Kind. Wenn er sechs Feldzüge mitgemacht hat, ändert sich alles; dann ist er ein junger Held.

Beim Manne hängt die Hoffnung einfach vom Benehmen der Geliebten ab, das leicht zu deuten ist. Bei der Frau dagegen muß sich die Hoffnung auf eine Charakterbeurteilung des geliebten Mannes stützen, die richtig zu treffen überaus schwierig ist.

Die meisten Männer begehren ein Liebeszeichen, das ihnen genügt, um alle Zweifel zu verscheuchen. Die Frauen sind nicht so glücklich, solche Zeichen zu finden. Es ist das uralte Unglück des Lebens: was dem einen Sorglosigkeit und Glück bringt, bedeutet für den anderen Gefahr und Demütigung.

In der Liebe hat der Mann schlimmstenfalls mit heimlichem Seelenschmerz, die Frau aber mit dem allgemeinen Spott der Menge zu rechnen. Sie ist ängstlicher und das Gerede der Leute ist ihr viel wichtiger. Sie muß den bekannten Spruch von Beaumarchais beherzigen: »Sei schön, wenn du kannst, klug, wenn du willst, aber besonnen, das ist immer nötig.« Sie hat kein sicheres Mittel, das Gerede der Leute zu beschwichtigen, wenn sie einmal eine Blöße ihres Lebens offenbart hat.

Die Frauen müssen also mißtrauisch sein. Infolge ihrer Eigenart sind alle Regungen ihres Geistes auf den verschiedenen Stufen der entstehenden Liebe erheblich zarter, ängstlicher, langsamer und unbestimmter. Sie haben also mehr Neigung zur Beständigkeit und lassen von einer einmal begonnenen Kristallbildung nicht so leicht wieder ab.

Eine Frau, die ihren Geliebten erblickt, überlegt auf der Stelle oder überläßt sich völlig dem Liebesglück, bis das ungestüme Vorgehen des Mannes sie jäh veranlaßt, alle Freuden zu lassen und sich eilends zur Wehr zu setzen.

Die Rolle des Liebenden ist einfacher. Seine Augen suchen die Geliebte. Ein einziges Lächeln macht ihn überreich an Glück. Es zu erhaschen, ist sein unablässiges Bemühen. Jene Verse Dantes kommen mir in den Sinn (»Hölle«, V, 133 ff.):

»Wir lasen eines Tags zu unsrer Lust
Vom Lanzelott, wie Lieb' ihn hielt gebunden,
Wir beid' allein, uns keines Args bewußt.
Schon hatten sich die Augen oft gefunden
Bei unserm Lesen, oft erblaßten wir,
Doch eine Stelle hat uns überwunden:
Da, wo das heiß ersehnte Lächeln ihr
Zuerst geküßt wird von dem hohen Streiter,
Da küßte bebend meine Lippen mir
Er, der hinfort mein ewiger Begleiter.
Galeotto war das Buch und der es schrieb.
An jenem Tage lasen wir nicht weiter.«

Ein Mann betrachtet eine lange Belagerung als Demütigung, ein Weib aber als Ruhm. Eine Frau ist imstande zu lieben und doch mit dem Manne, der ihr gefällt, im Verlaufe eines ganzen Jahres keine zehn oder zwölf Worte zu reden. Sie führt gleichsam im Innern ihres Herzens Buch darüber, wie oft sie ihn gesehen hat: zweimal war er zugleich mit ihr im Theater, zweimal hat er bei einem Diner neben ihr gesessen, dreimal hat er sie auf der Straße gegrüßt. Eines Abends hat er ihr beim Spiel die Hand geküßt. Seitdem duldet sie es nicht mehr, unter keinem Vorwande und sogar auf die Gefahr hin, auffällig zu erscheinen, daß er ihr die Hand küßt. Bei einem Manne würde man ein derartiges Benehmen weibische Liebe nennen.

Ich gebe mir alle Mühe, sachlich zu sein. Ich zwinge mein Herz, stumm zu bleiben, wenn es auch glaubt, viel sagen zu müssen. Stets befürchte ich, daß ich nur Seufzer niedergeschrieben habe, wo ich die Wahrheit aufzuzeichnen wähnte.


 << zurück weiter >>