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Wenn der Italiener, der immer zwischen Haß und Liebe schwankt, von der Leidenschaft und der Franzose von der Eitelkeit lebt, so leben die guten einfachen Nachkommen der alten Germanen von der Phantasie. Kaum sind sie aus den unmittelbarsten und für ihren Lebensunterhalt nötigsten sozialen Interessen heraus, so sieht man mit Erstaunen, wie sie sich in ihre Philosophie vergraben. Es ist das eine Art von sanfter, liebenswürdiger und vor allem unschädlicher Narrheit.
Ich will, nicht ganz aus dem Gedächtnis, aber nach flüchtigen Auszeichnungen, ein Werk zitieren, das, wenngleich in oppositionellem Sinne geschrieben, demnach den militärischen Geist in allen seinen Auswüchsen – nicht ohne Bewunderung – recht vorzüglich charakterisiert. Es ist »Die Reise in Österreich« von Cadet-Gassicourt (1809). Was hätte der edle und heldenmütige General Desaix gesagt, wenn er erlebt hätte, daß das reine Heldentum von 1795 zu solch' abscheulichem Egoismus geführt hat?
Zwei Freunde stehen zusammen bei einer Batterie während der Schlacht bei Talavera, der eine als Hauptmann und Batteriechef, der andere als Oberleutnant. Eine Kanonenkugel kommt geflogen und streckt den Hauptmann zu Boden. »Famos!« ruft der Oberleutnant ganz vergnügt, »Franz ist tot, nun bin ich Batteriechef!« – »Noch nicht ganz!« sagt Franz und steht wieder auf; das dicht neben ihm eingeschlagene Geschoß hatte ihn nur betäubt. Der Oberleutnant wie der Hauptmann waren die besten Menschen von der Welt, keineswegs bösartig, nicht besonders begabt und toll vernarrt in den Kaiser, aber die Ehrsucht und der gierige Egoismus, den Napoleon zu erwecken verstand und mit dem Namen gloire vergoldete, hatte die Humanität in ihm ertötet.
Angesichts dieses rauhen Schauspiels, mitten unter solchen Männern, die sich bei den Paraden von Schönbrunn um einen Blick des Kaisers oder einen Baronstitel stritten, schildert der Arzt Napoleons die deutsche Liebe (Seite 188) folgendermaßen:
»Nichts ist gefälliger und süßer als eine Österreicherin. Bei ihr ist die Liebe ein Kult, und wenn sie zu einem Franzosen eine Neigung fühlt, betet sie ihn mit grenzenloser Inbrunst an.
»Es gibt überall leichtsinnige und launenhafte Frauen, aber im allgemeinen sind die Wienerinnen treu und gar nicht kokett. Wenn ich sage treu, so meine ich dem Geliebten ihrer Wahl, denn die Ehemänner sind in Wien wie überall ....
»Die schönste Frau Wiens hat die Huldigungen eines meiner Freunde, des Hauptmanns M*** im Hauptquartier des Kaisers, angenommen. Er ist ein hübscher und gescheiter junger Mann, aber sicherlich bietet weder seine Erscheinung, noch sein Gesicht etwas besonders Bemerkenswertes.
»Seit einigen Tagen erregt seine junge Freundin das größte Aufsehen unter unseren glänzenden Generalstabsoffizieren, die ihre Zeit damit totschlagen, alle Winkel Wiens zu durchstöbern. Es gilt, der Kühnste zu sein; alle Kriegslisten werden angewandt; das Haus dieser Schönen ist von den hübschesten und reichsten Offizieren in Belagerungszustand versetzt. Die Junker wie die glänzenden Obersten, die Gardegenerale, ja selbst Fürsten vergeuden ihre Zeit unter ihren Fenstern. Keiner hat Erfolg. In Paris oder in Mailand waren diese Fürsten nicht gewohnt, grausame Frauenherzen zu finden. Als ich über das Mißgeschick dieser Herren mit jener reizenden Frau belustigt plauderte, sagte sie zu mir: ’Aber, mein Gott, wissen Sie denn nicht, daß ich den Hauptmann M*** liebe?‘«
(Seite 390:) »Als wir in Schönbrunn lagen, bemerkte ich, daß zwei jüngere Herren aus der Umgebung des Kaisers niemanden in ihrer Wiener Wohnung empfingen. Wir neckten die beiden mehrfach wegen dieser Heimlichtuerei. Eines Tages sagte der eine zu mir: ’Ich möchte kein Geheimnis vor Ihnen haben. Eine junge Frau aus der Stadt ist meine Geliebte geworden, unter der Bedingung, daß sie niemals meine Wohnung zu verlassen braucht und daß ich ohne ihre Einwilligung niemanden empfange.‘ Ich war neugierig, diese freiwillige Klausnerin kennen zu lernen, und da mir mein Beruf als Arzt ganz wie im Orient einen anständigen Vorwand gab, nahm ich eine Einladung zum Frühstück bei meinem Freunde an. Ich fand eine sehr verliebte Frau, die eifrig im Haushalt beschäftigt war und trotz des verlockenden Wetters kein Verlangen trug, auszugehen; sie war übrigens überzeugt, daß sie ihr Geliebter mit nach Frankreich nehmen würde.
»Der andere junge Herr, den man niemals in seiner Stadtwohnung antraf, vertraute mir kurz darauf etwas Ähnliches an. Auch seine Schöne sah ich auf gleiche Weise. Sie war blond, sehr hübsch und schön gewachsen.
»Die eine, achtzehn Jahre alt, war die Tochter eines wohlhabenden Gastwirts, die andere, ungefähr vierundzwanzig Jahre alt, die Gattin eines österreichischen Offiziers, der in der Armee des Erzherzogs Johann am Feldzuge teilnahm. Ihre Liebe ging bis zum Heroismus. Ihr Geliebter wurde ihr nicht nur untreu, er kam sogar in die Lage, ihr ein sehr mißliches Geständnis machen zu müssen. Sie pflegte ihn mit vollkommener Hingabe, und durch die schwere Krankheit ihres Geliebten und die Gefahr, in der er schwebte, eng an ihn gefesselt, liebte sie ihn darum nur noch inniger als vorher.
»Man versteht, daß ich als Fremdling und Eroberer, zumal sich die ganze vornehme Gesellschaft Wiens bei unserem Anmarsche auf ihre Landgüter nach Ungarn zurückgezogen hatte, keine Gelegenheit hatte, die Liebe in den obersten Klassen zu beobachten, aber ich habe genug gesehen, um mich zu überzeugen, daß sie anders ist als die Liebe in Paris.«
Dieses Gefühl wird von den Deutschen als eine Tugend angesehen, als eine Äußerung des Göttlichen, als etwas Mystisches. Es ist nicht lebhaft, heftig, eifersüchtig, herrisch wie im Herzen einer Italienerin; es ist innig und ähnelt dem Illuminismus; es ist meilenweit entfernt von der englischen Liebe.
Vor einigen Jahren überfiel ein Leipziger Schneider in einem Anfall von Eifersucht seinen Nebenbuhler in einem öffentlichen Garten und erdolchte ihn. Er wurde zum Tode verurteilt. Die Moralisten jener Stadt stritten, gutmütig und leicht erregbar wie die Deutschen sind, (es ist das eine Charakterschwäche an ihnen,) über das Urteil, fanden es streng und bemitleideten sein Los. Aber das Urteil war nicht rückgängig zu machen. Am Tage der Hinrichtung erschienen alle jungen Mädchen Leipzigs in weißen Kleidern und gaben dem Schneider Blumen streuend das Geleit bis zum Schafott.
Kein Mensch fand diese Feierlichkeit merkwürdig. Freilich könnte man diesem Lande, das sich selbst für das Land der Denker hält, vorwerfen, es verherrliche damit den Mord. Aber es war eine Zeremonie und eine solche wird in Deutschland sicherlich niemals lächerlich gefunden. Man denke nur an das Hofzeremoniell der kleinen Fürsten, über das wir uns totlachen, das aber in Meiningen und Köthen überaus imposant erscheint.
Der Unterschied zwischen den Deutschen und allen anderen Völkern ist der: Nachdenken beruhigt sie nicht, sondern regt sie auf. Und zweitens trachten sie auf Tod und Leben nach Charakter.
Das Hofleben, das der Liebe und ihrer Entwicklung anderswo so vorteilhaft ist, stumpft sie in Deutschland ab. Man macht sich keinen Begriff von dem Ozean sinnloser Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten, die an deutschen Höfen selbst bei den besten Fürsten gang und gäbe sind.Vgl. die »Memoiren der Markgräfin von Baireuth« und Mes souvenirs de vingt ans de séjour à Berlin von Thièbault, (deutsch von Robert Sulz, Stuttgart, 1902, A.d.Ü.).
Wenn wir mit unserem Stabe in eine deutsche Stadt einrückten, trafen die Damen der Gegend im Laufe von vierzehn Tagen ihre Wahl. Bei dieser Wahl blieb es. Und ich habe sagen hören, die Franzosen seien die Klippe gewesen, an der manche bisher unbescholtene Tugend gescheitert sei.
Die jungen Deutschen, denen ich in Dresden, Göttingen, Königsberg und anderen Orten begegnet bin, waren im Dunstkreis jener angeblich philosophischen Systeme aufgewachsen, die nichts als dunkle, schlecht geschriebene Poesie, aber in moralischer Hinsicht von hoher und heiliger Erhabenheit sind. Es scheint mir, daß die Deutschen von ihrem Mittelalter nicht das Republikanertum, das Mißtrauen und den Dolchstoß wie die Italiener geerbt haben, sondern eine starke Neigung zur Begeisterung und zur Treue. Aus diesem Grunde haben sie alle zehn Jahre einen großen Mann, der alle anderen verdunkelt. Ich denke an Kant, Schelling und Fichte, und erinnere an den Begeisterungstaumel für die Tragödie »Das Kreuz an der Ostsee«,Anmerkung des Übersetzers: Stendhal nennt das Stück Le Triomphe de la Croix, meint aber entweder »Das Kreuz an der Ostsee« (1806) oder »Martin Luther oder die Weihe der Kraft« (1807), beides Tragödien von Zacharias Werner. Über Stendhals Kenntnis der Dramen von Zacharias Werner vgl. Albert Konz, De Henrico Beyle sive Stendhal litterarum germanicarum judice. Paris E. Lereux éditeur, 1899, S. 10, 70, 75. die den »Wilhelm Tell« in den Schatten stellte.
Luther hat den moralischen Sinn mit mächtiger Stimme aufgerüttelt, und die Deutschen haben sich, ihrem Gewissen getreu, dreißig Jahre lang herumgeschlagen. Eine schöne und beachtenswerte Treue, so sinnlos der Glaube an und für sich ist.
Ihre geheimnisvolle Begeisterung für die Frauen und die Liebe hat schon Tacitus gerühmt, wenn dieser Schriftsteller nicht etwa lediglich eine Satire auf Rom hat verfassen wollen.Anmerkung des Übersetzers: Der gleiche Gedanke findet sich auch in Mirabeaus Lettres à Maubillon, Hamburg, 1794, S. 171: »Ich habe dieselbe Absicht, die Tacitus hatte, als er die Sitten der Germanen schilderte, um in diese Schilderung eine Satire gegen Rom zu kleiden: es ist Frankreich, das ich in Preußen sehe ...« Mirabeau hat eine Geschichte des friederizianischen Preußens (London 1788) verfaßt.
Man braucht nur hundert Meilen durch Deutschland zu reisen, und man erkennt bereits in diesem uneinigen und zerstückelten Volke eine tiefe Begeisterung, die eher sanft und zart, als feurig und ungestüm ist.
Einen weiteren Beweis für diese allen Deutschen gemeinsame Neigung sehe ich im österreichischen Gesetzbuch, das für die Bestrafung fast aller Verbrechen das Geständnis des Verbrechers verlangt. Es ist für ein Volk berechnet, wo Verbrechen selten und eher eine Tat des Wahnsinns schwächlicher Naturen als die Folge eines mutigen, wohlüberlegten und in beständiger Fehde mit der Gesellschaft liegenden Geistes sind. Italien braucht entgegengesetzte Gesetze; man will jene dahin verpflanzen, aber es wäre ein großer Fehler.
Ich habe in Italien deutsche Richter in Verzweiflung gesehen, wenn sie Todesurteile oder schwere Gefangenschaft ohne Geständnis des Schuldigen verhängen mußten.