von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

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36. Vom Ehrgeiz und der Eitelkeit in der LiebeIm Original: De la pique d'amour-propre. Stendhal bemerkt zu dem Ausdruck pique: Ich weiß, daß dieses Wort in dieser Bedeutung nicht allzu französisch ist, aber ich finde kein anderes dafür. Im Italienischen heißt es puntiglio, auf englisch pique.

Der Ehrgeiz ist eine Regung der Eitelkeit. Ich will nicht, daß mein Gegner den Vorrang vor mir hat. Dadurch mache ich diesen Gegner selbst zum Richter meines Wertes. Ich will auf sein Inneres einwirken. Dabei geht man aber weit über das verständige Maß hinaus.

Um seine eigene Übertreibung zu rechtfertigen, kommt man manchmal dahin, sich zu sagen, der Mitbewerber sei bestrebt, uns zum Narren zu halten.

Der Ehrgeiz ist eine Krankheit der Ehre. Man findet ihn sehr häufig in Monarchien, viel seltener in Ländern, wo man Handlungen nach dem Grade ihrer Nützlichkeit zu schätzen pflegt, wie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika.

Jedermann, in Frankreich noch mehr als anderswo, fürchtet sich, zum Narren gehalten zu werden. Indessen wird dieser Ehrgeiz durch die Leichtfertigkeit des altfranzösischen höfischen Geistes daran behindert, in anderen Dingen großes Unheil anzustiften als in der Galanterie und in der Liebe aus Eitelkeit. Bedenkliche Schandtaten hat er nur in solchen monarchischen Ländern verursacht, wo das Klima den menschlichen Charakter verdüstert (in Portugal, in Piemont).

Der Provinzialfranzose macht sich eine lächerliche Vorstellung von dem, was in der Gesellschaft einen galanten Mann ausmacht. Er stellt sich auf die Lauer und beobachtet so sein ganzes Leben lang. Je unkultivierter, desto ehrgeiziger ist er, und das macht ihn sogar in der Liebe lächerlich. Hierdurch und durch den Neid wird der Aufenthalt in Kleinstädten so unerträglich. Daran muß man hauptsächlich denken, wenn uns die malerische Lage einer Kleinstadt zur Bewunderung anregt. Unsere edelsten und vornehmsten Regungen werden durch längeren Aufenthalt in diesen Niederungen der Kultur gelähmt. Dazu reden die Spießbürger greulicherweise immer von der Verderbnis der Großstädte.

Dieser Ehrgeiz darf in der Liebe aus Leidenschaft nicht vorkommen. Nur der weibliche Stolz kennt ihn: »Wenn ich mich von meinem Geliebten schlecht behandeln lasse, wird er mich verachten und nicht mehr lieben.« Oder er steigert die Eifersucht bis zur Raserei.

Der Eifersüchtige will den Tod dessen, den er fürchtet. Ganz anders der Ehrgeizige: er will, daß sein Feind lebe, er soll nur Zeuge seines Triumphes werden.

Ein ehrgeiziger Mann empfindet es schmerzlich, wenn sein Rivale von der weiteren Mitbewerbung abläßt, denn möglicherweise sagt sich jener innerlich voll Übermut: »Wenn ich mich fernerhin mit ihr beschäftigte, würde ich über den andern siegen.«

Im Ehrgeiz denken wir nicht an das eigentliche Ziel, es handelt sich um den bloßen Sieg. So ist es bei den Liebeleien der kleinen Mädchen von der Oper. Sobald sie keine Rivalin mehr sehen, ist ihre angebliche Leidenschaft, derentwegen sie zum Fenster hinausspringen wollten, verraucht.

Im Gegensatz zur Liebe aus Leidenschaft vergeht die Liebe aus Eitelkeit sehr schnell. Es genügt, daß der Rivale durch einen entschiedenen Schritt verrät, daß er nicht mehr mitkämpft. Ganz sicher bin ich mir zwar über diese Behauptung nicht; ich kann nur ein Beispiel dafür anführen, das mich selbst im Zweifel läßt. Die Tatsache ist folgende.

Donna Diana ist ein junges Mädchen von dreiundzwanzig Jahren, die Tochter eines der reichsten und stolzesten Bürger Sevillas. Sie ist ohne Zweifel eine Schönheit, doch eine Schönheit in ihrer Art, und man spricht ihr sehr viel Geist und noch mehr Stolz zu. Sie liebte leidenschaftlich, wenigstens dem Anscheine nach, einen jungen Offizier, von dem ihre Familie nichts wissen wollte. Der junge Mann ging mit Morillo nach Amerika. Sie schrieben sich ohne Unterlaß. Eines Tages, während einer großen Gesellschaft bei der Mutter Dianas, platzte ein Dummkopf mit der Nachricht vom Tode jenes liebenswürdigen jungen Mannes heraus. Aller Augen wandten sich nach Diana; sie sagte nur die Worte: »Wie schade, so jung!« Wir hatten gerade an diesem Tage ein Stück des alten Massinger gelesen, das tragisch schließt, in dem aber die Heldin mit eben solcher scheinbaren Ruhe den Tod ihres Geliebten aufnimmt. Ich sah, wie die Mutter trotz ihres Stolzes und Hasses zitterte; der Vater ging hinaus, um seine Freude zu verbergen. Inmitten alles dessen und der fassungslosen Zuschauer, die den dummen Erzähler anstarrten, fuhr Donna Diana in völliger Ruhe fort, weiter zu plaudern, als wenn nichts gewesen wäre. Ihre erschreckte Mutter ließ sie durch ihre Kammerfrau beobachten, es schien sich an ihrem Wesen nichts geändert zu haben.

Zwei Jahre später machte ihr ein sehr schöner junger Mann den Hof. Auch diesmal und wieder aus dem gleichen Grunde, weil der Freier nicht adlig ist, waren die Eltern entschieden gegen diese Heirat; Diana erklärte, daß sie stattfinden werde. Es entwickelte sich ein Wettstreit der verletzten Eigenliebe zwischen dem jungen Mädchen und ihrem Vater. Man verbot dem jungen Manne das Haus; man ließ Diana nicht mehr aufs Land und kaum noch in die Kirche; man nahm ihr mit peinlicher Sorgfalt alle Möglichkeiten, ihrem Geliebten zu begegnen. Er verkleidete sich und sah sie in langen Zwischenräumen. Sie wurde immer hartnäckiger und schlug die glänzendsten Partien, selbst einen Titel und eine große Stellung am Hofe Ferdinands des Siebenten aus. Die ganze Stadt sprach von dem Unglück der beiden Liebenden und ihrer heroischen Ausdauer. Endlich nahte sich die Mündigkeit Donna Dianas; sie gab ihrem Vater zu verstehen, daß sie von dem Rechte, über sich selbst zu verfügen, Gebrauch machen werde. Die Familie war nun in ihre letzten Verschanzungen zurückgedrängt und begann die Heiratsverhandlungen; als sie halb abgeschlossen waren, schlug der junge Mann bei einer feierlichen Zusammenkunft beider Familien nach sechs Jahren Ausdauer Dianas Hand aus.Vgl. auch Mirabeau, »Briefe an Sophie«.

Eine Viertelstunde später merkte man Diana nichts mehr an. Sie war getröstet. Hatte sie aus Eigensinn geliebt? Oder war sie eine große Seele, zu stolz, um mit ihrem Schmerze der Welt ein Schauspiel zu bieten?

Oft läuft die Liebe aus Leidenschaft nur dann glücklich aus, wenn der Ehrgeiz der Eigenliebe mithilft. In diesem Falle erfüllen sich scheinbar alle Wünsche, so daß Klagen lächerlich und sinnlos erscheinen. Aber der Liebende hat niemanden, dem er seinen unglücklichen Zustand anvertrauen könnte. Er fühlt und vergegenwärtigt sich sein Unglück unaufhörlich. Das Geschehene ist, wenn ich so sagen darf, verflochten mit schmeichelhaften Umständen und Tatsachen, die eine berückende Illusion geben können. Aber in den köstlichsten Augenblicken zeigt das Unglück sein Medusenhaupt, wie um den Liebenden herauszufordern und ihm das große Glück, von einem reizenden Geschöpf geliebt zu werden, recht fühlbar zu machen, und gleichzeitig, daß ihm jenes Glück niemals zuteil werden wird. Das ist, abgesehen von der Eifersucht, vielleicht die grausamste Qual.

Ich erinnere mich, daß in einer großen Stadt ein sanfter und zärtlicher Mann durch einen ähnlichen Zustand veranlaßt wurde, seine Geliebte zu ermorden, die ihn nur aus Ehrgeiz gegen ihre Schwester liebte. Er lud sie eines Abends zu einer Fahrt aufs Meer ein, in einem Boote, das er selbst vorbereitet hatte. Auf offener See zog er eine Klappe auf, das Boot sank und kehrte nie zurück.

Einem Sechzigjährigen fiel es ein, die launenhafteste, tollste, liebenswürdigste und wunderlichste Schauspielerin Londons, Miß Cornel, auszuhalten. Man sagte ihm: »Du bildest dir doch nicht etwa ein, daß sie dir treu bleibt?« – »Keineswegs,« meinte er, »aber sie wird mich lieben, vielleicht bis zur Raserei.« Tatsächlich hat sie ihn ein volles Jahr geliebt, zeitweise über das vernünftige Maß hinaus, und drei Monate hindurch gab sie ihm keinerlei Anlaß zu klagen. Er hatte es verstanden, ihren Ehrgeiz seiner Tochter gegenüber zu entflammen; freilich ein recht abstoßender Kunstgriff.

Der Ehrgeiz feiert seine Siege in der Liebe aus Galanterie, deren Leitstern er ist. Erfahrungsgemäß ist er der beste Prüfstein zur Unterscheidung von Liebe aus Galanterie und Liebe aus Leidenschaft. Es ist eine alte Kriegsregel, die man jungen Leuten beim Eintritt ins Regiment einprägt: »Wenn man einen Quartierzettel auf ein Haus erhält, in dem zwei Schwestern leben, so soll man der einen den Hof machen, wenn man die andere haben will.« Bei den meisten jungen Spanierinnen, die der Liebe zugänglich sind, genügt es, um ihre Liebe zu entfachen, ruhig und bescheiden so zu tun, als ob für die Dame des Hauses kein Raum in unserem Herzen übrig sei. Diesen nützlichen Grundsatz habe ich von dem liebeserfahrenen General Lasalle. Er lehrt die gefährlichste Art des Angriffes auf die Eigenliebe.

Das glücklichste Bindemittel einer Ehe ist, abgesehen von der wahren Liebe, der Ehrgeiz und die Eigenliebe. Viele Gatten sichern sich auf Jahre hinaus die Liebe ihrer Frauen, wenn sie sich zwei Monate nach der Hochzeit eine kleine Geliebte halten.Vgl. Confessions d'un homme singulier, (Erzählung) von Mrs. Opie. Man erweckt damit die Gewohnheit, nur an einen einzigen Mann zu denken. Das Band der Familie macht sie bald unbesiegbar.

Um sich zu erklären, daß zu Zeiten und am Hofe Ludwigs des Fünfzehnten eine große Dame, Frau von Choiseul, ihren Gatten anbetete, muß man wissen, daß er reges Interesse für ihre Schwester, die Herzogin von Gramont, hegte.

Selbst eine vernachlässigte Geliebte raubt uns die Ruhe, sobald sie uns merken laßt, daß sie einen andern vorzieht; sie entflammt unser Herz wieder zur Leidenschaft.

Der Mut ist beim Italiener ein Wutanfall, beim Deutschen ein Moment der Begeisterung, beim Spanier ein Ausdruck des Stolzes. Wenn es eine Nation gäbe, wo der Mut lediglich auf dem Ehrgeiz beruhte, der unter den einzelnen Soldaten jeder Kompagnie und unter den einzelnen Regimentern jeder Division herrscht, dann hätte man bei einer allgemeinen Flucht kein Mittel mehr, die Armee eines solchen Volkes zum Stehen zu bringen.

»Man braucht nur irgend eine Reiseschilderung über die Indianer Nordamerikas aufzuschlagen,« sagt ein vortrefflicher französischer PhilosophVolney, Tableaux des Etats-Unis d'Amerique, S. 491–496., »um zu wissen, daß es das gewöhnliche Los eines Kriegsgefangenen ist, nicht nur lebendig verbrannt und verzehrt, sondern vorher an einen Marterpfahl gebunden zu werden, vor dem ein Holzfeuer brennt, und stundenlang alle Qualen zu erdulden, die die Wut an wilder und durchtriebener Grausamkeit nur auszudenken vermag. Man muß lesen, was die Reisenden, die Zeugen solcher gräßlichen Szenen gewesen sind, von der kannibalischen Freude der Zuschauer erzählen und vor allem von der Tollheit der Weiber und Kinder und von ihrem wilden Vergnügen, sich in Grausamkeit zu überbieten. Man muß lesen, was sie über die heldenhafte Festigkeit und die unerschütterliche Kaltblütigkeit des Gefangenen berichten, der kein Zeichen seiner Schmerzen von sich gibt, sondern vielmehr seine Henker mit dem heldenmütigsten Stolze, der bittersten Ironie und dem übermütigsten Hohn herausfordert. Er besingt seine eigenen Taten, zählt die von ihm getöteten Verwandten und Freunde der Zuschauer auf, schildert die ihnen bereiteten Todesqualen und beschuldigt alle, die ihn umringen, der Feigheit, der Kleinmütigkeit und der Unkenntnis im Martern, bis er in Fetzen zerfällt und noch lebend, gleichsam vor seinen eigenen Augen, von seinen vor Wut rasenden Feinden verschlungen wird; der letzte Hauch seiner Stimme erstickt in den letzten Schmähworten. Dergleichen klingt für Kulturmenschen unglaublich, es wird unseren unerschrockensten Infanteriehauptleuten wie eine Fabel vorkommen und eines Tages wird die Nachwelt daran zweifeln.«

Diese physiologisch wunderliche Erscheinung erklärt sich aus einem besonderen Seelenzustande des Gefangenen, der zwischen sich und der Masse seiner Henker einen Kampf der Eigenliebe und einen Wettstreit der Eitelkeit anstiftet.

Unsere braven Militärärzte haben oft beobachtet, daß Verwundete, die in ihrem gewöhnlichen Geistes- und Nervenzustande während einer Operation vor Schmerzen laut aufgebrüllt hätten, Ruhe und Seelengröße zeigten, wenn man sie in richtiger Weise vorbereitet hatte. Man mußte ihr Ehrgefühl reizen und erst mit gleichgültigen, dann mit herausfordernden Worten behaupten, daß sie wohl nicht imstande seien, die Operation ohne lautes Geschrei zu ertragen.


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