von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

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45. Ein Tag in Florenz

Heute abend, am 12. Februar 1819, sprach ich in einer Loge mit einem Herrn, der irgend ein Anliegen an einen fünfzigjährigen Beamten hatte. Seine erste Frage war: »Wer ist seine Geliebte? Chi avvicina adesso?" – Hier sind alle solche Verhältnisse vollkommen bekannt, sie haben ihre Gesetze und es gibt eine anerkannte Art, sich dabei zu benehmen, die sich ohne Rücksicht auf das Herkommen fast nur auf die Billigkeit stützt. Andernfalls ist man ein porco.

»Was gibt's Neues?« fragte mich gestern ein Freund, der aus Volterra kam. Nach einem kräftigen Stoßseufzer über Napoleon und die Engländer fährt man im Ton der lebhaftesten Teilnahme fort: »Die Vitteleschi hat ihren Liebhaber gewechselt; der arme Gherardesca ist in Verzweiflung.« – »Wen hat sie nun?« – »Den Montegalli, den schönen Offizier mit dem Schnurrbart, der die Prinzessin Colonna hatte. Sehen Sie, da unten im Parkett steht er wie angenagelt unter ihrer Loge. Dort bleibt er den ganzen Abend, denn ihr Mann will ihn nicht in seinem Hause sehen. Und dort am Eingang sehen Sie den armen Gherardesca, wie er trübselig auf und ab spaziert und von fern die Blicke zählt, die seine Ungetreue seinem Nachfolger zuwirft. Er ist ein ganz anderer Mensch geworden und in heller Verzweiflung. Umsonst wollen seine Freunde ihn nach Paris oder London schicken. Schon der Gedanke, Florenz zu verlassen, heißt für ihn Sterben. Das hat er selbst gesagt.«

Jedes Jahr gibt es in der großen Gesellschaft zwanzig ähnliche Verzweiflungsfälle; einige habe ich drei bis vier Jahre andauern sehen. Diese armen Teufel sind ohne jede Scheu und ziehen alle Welt ins Vertrauen. Übrigens hat man hier wenig Gesellschaft, und vollends, wenn man liebt, sucht man sie kaum mehr auf. Man darf nicht glauben, daß die großen Leidenschaften und die schönen Seelen irgendwo, selbst in Italien, etwas Gewöhnliches seien. Nur brennen dort die Herzen heller und die tausend kleinen menschlichen Eitelkeiten schießen dort nicht so ins Kraut, und darum blühen selbst geringeren Liebschaften herrliche Freuden. So habe ich dort sogar bei der Liebe aus Laune Wonnen und Augenblicke des Rausches beobachtet, wie sie die heftigste Leidenschaft unter dem Breitengrade von Paris niemals zeitigt. Dafür hat dasselbe Paris die Welt mit Voltaire und Molière und so vielen anderen geistig hervorragenden Männern beglückt. Man darf nicht alles auf einmal haben wollen, und es wäre ein Mangel an Geist, sich darüber zu ärgern.

Ich habe heute abend erkannt, daß es im Italienischen besondere Bezeichnungen für tausend Dinge der Liebe gibt, die in anderen Sprachen endlose Umschreibungen erfordern; zum Beispiel gibt es einen feststehenden Ausdruck für die schnelle Wendung, die man macht, wenn man vom Parkett aus mit dem Glase nach der Loge der Frau, die man begehrt, hinaufsieht, und ihr Gatte oder Liebhaber nähert sich gerade der Brüstung der Loge.

Die Hauptcharakterzüge dieses Volkes sind:

1. Die zur Gewohnheit gewordene Aufmerksamkeit im Dienst ernster Leidenschaften macht schwerfällig; das ist der charakteristische Unterschied zwischen einem Franzosen und einem Italiener. Man muß einen Italiener beim Einsteigen in einen Postwagen, oder wenn er etwas bezahlt, beobachten, da gibt es keine furia francese. Deshalb erscheint der gewöhnlichste Franzose, wenn er nicht gerade ein beschränkter Kerl ist, einer Italienerin immer wie ein höheres Wesen.

2. Alle Welt unterhält Liebschaften, und nicht nur heimlich wie in Frankreich. Der Gatte ist der beste Freund des Liebhabers.

3. Kein Mensch liest.

4. Es gibt keine Gesellschaft. Um sein Leben auszufüllen und Beschäftigung zu haben, verlangt man etwas mehr als eine zweistündige Plauderei und Befriedigung seiner Eitelkeit in dem oder dem Salon. Das Wort causerie laßt sich nicht ins Italienische übersetzen. Man redet, wenn man im Dienste einer Leidenschaft zu reden hat, aber selten spricht man, um gut und über alles mögliche zu plaudern.

5. Es gibt in Italien nichts Lächerliches.

In Frankreich suchen zwei Menschen immer das gleiche Vorbild nachzuahmen, und die Art und Weise, wie das dem einen gelingt, unterliegt stets dem Urteil des andern.Diese Angewohnheit der Franzosen entfremdet uns die Helden Molières immer mehr. In Italien weiß ich nicht, ob ein eigentümliches Betragen dem, der es an den Tag legt, nicht Vergnügen macht und ob es dem, der es wahrnimmt, nicht vielleicht auch welches bereitet.

Was in Sprache und Benehmen in Rom für unnatürlich gilt, erscheint wohlanständig oder unauffällig in Florenz. Man spricht in Lyon dasselbe Französisch wie in Nantes. Aber der venezianische, neapolitanische, genueser und piemonteser Dialekt sind wie vollkommen untereinander verschiedene Sprachen, und doch werden sie von Leuten gesprochen, die übereingekommen sind, in Druckwerken nur die in Rom übliche Sprache anzuwenden. Nichts wäre sinnloser als ein Lustspiel, dessen Ort der Handlung Mailand wäre und dessen Personen römisch sprächen. Die italienische Sprache, die sich viel mehr für den Gesang als zum Sprechen eignet, kann sich gegen die Klarheit des Französischen nur durch die Musik halten.

In Italien erhöht die Furcht vor dem Pascha und seinen Spionen den Wert des Nützlichen. Auf keinen Fall gibt es falsches Ehrgefühl. Es wird durch einen gewissen kleinlichen Haß auf die Gesellschaft, den sogenannten petegolismo, ersetzt. In den bürgerlichen Kreisen Frankreichs wirken alle Verfehlungen gegen jenes Ehrgefühl lächerlich.Vgl. La petite Ville (eine Sittenkomödie) von Picard.

6. Der Partikularismus.

Jener Stolz, der uns dazu führt, die Achtung unserer Mitbürger zu erstreben und sich mit ihnen eins zu fühlen, ward um 1550 durch den eifersüchtigen Despotismus der kleinen italienischen Fürsten von allen edleren Bestrebungen abgedrängt und so zum Anlaß eines Zerrbilds von Patriotismus, einer barbarischen Mischung von Wahnsinn und Dummheit, die selbst die gescheitesten Köpfe ansteckt. Turgot, der soldat-laboureurAnmerkung des Übersetzers: Anspielung an ein Stück von Scribe, »Der Soldat als Landwirt«. jener Zeit, hat dafür gelegentlich der Belagerung von Calais die Bezeichnung le patriotisme d'antichambre erfunden.

Ein Fremder macht sich, um ein Beispiel anzuführen, selbst bei hübschen Frauen mißliebig, wenn er sich einfallen läßt, an dem Maler oder dem Dichter der Stadt einen Tadel zu finden. Man sagt ihm ganz ernstlich und sehr deutlich, daß man nicht zu ihnen zu kommen brauche, um sich über sie zu mokieren.

In Florenz sagt man il nostro Benvenuti, in Brescia il nostro Arrici, und man legt auf das Wort nostro eine gewisse salbungsvolle und doch recht lächerliche Betonung, die genau so klingt, wie wenn der Miroir von der französischen Nationalmusik oder von Monsigny als »dem Musiker Europas« spricht.

Um diesen trefflichen Patrioten nicht ins Gesicht zu lachen, muß man daran denken, daß infolge der mittelalterlichen, durch die blutdürstige Politik der Päpste noch geschürten Fehden jede Stadt ihre Nachbarstadt tödlich haßte. Der Name der einen Stadt war in der anderen immer gleichbedeutend mit irgend einem groben Tadel. Die Päpste haben es verstanden, das schöne Italien zum Heimatlande des Hasses zu machen.

Dieser Partikularismus ist die große geistige Wunde Italiens, ein tödliches Fieber, dessen unheilvolle Folgen sich noch bemerkbar machen werden, wenn das Joch der lächerlichen Kleinstaaterei längst abgeschüttelt ist. Er kommt namentlich in dem unauslöschlichen Hasse gegen alles Ausländische zum Ausdruck. So schimpfen sie auf die Deutschen und werden ganz wütend, wenn man ihnen sagt: »Was hat das Italien des achtzehnten Jahrhunderts Friedrich dem Großen Ebenbürtiges hervorgebracht? Wo habt ihr Gartenanlagen, die auch nur einigermaßen dem kleinsten deutschen Englischen Garten vergleichbar wären, ihr, die ihr doch bei eurem Klima wirklich Schatten nötig hättet?«

7. Im Gegensatz zum Engländer und Franzosen fehlt dem Italiener der Sinn für innere Politik. Der Adel, der mit den Pfaffen gemeinsame Sache macht, ist ihm alter Mummenschanz, über den er lacht. Ein Italiener muß sich lange in Frankreich aufhalten, ehe er begreift, daß ein Tuchhändler konservativ sein kann.

8. Als letzten Charakterzug nenne ich die Unduldsamkeit in der Unterhaltung und die zornige Aufwallung des Italieners, wenn er dem Gegner nicht sofort mit Gegenbeweisen kommen kann. Dann sieht man ihn bleich werden. Es ist das ein Zeichen von feinster Empfindlichkeit, aber kein liebenswürdiges, somit gerade ein untrügliches. Solche Beweise sind mir immer die liebsten.

Ich wollte die »ewige Liebe« kennenlernen, und nach mancherlei Schwierigkeiten habe ich es erreicht, heute abend dem Cavaliere C*** und seiner seit fünfundzwanzig Jahren geliebten Freundin vorgestellt zu werden. Gerührt habe ich die Loge dieses liebenswürdigen Greisenpaares wieder verlassen. Das ist die Kunst, glücklich zu sein, von der die Jugend meist nichts versteht.

Vor zwei Monaten besuchte ich Monsignore R*** in seinem Landhause, wo er mit Frau D***, seiner avvicina, wie man sagt, seit vierunddreißig Jahren lebt. Sie ist noch schön, aber es schwebt eine gewisse Schwermut über beiden, die man durch den Verlust eines ehedem durch den Gatten der Frau D*** vergifteten Sohnes erklärt. Hier ist Liebe etwas anderes als in Paris, wo man eine Geliebte nur alle Wochen eine Viertelstunde besucht und sonst höchstens einen Blick oder Händedruck von ihr erhascht. Der Liebende, der glücklich Liebende, verlebt vier bis fünf Stunden Tag für Tag mit der geliebten Frau. Er spricht mit ihr von seinen Geschäften, seinem Park, seinen Jagdabenteuern, seiner Beförderung und von tausenderlei. Es ist das vollständigste und zärtlichste Zusammenleben. Er duzt sie in Gegenwart ihres Gatten und überall.

Ein sehr ehrgeiziger junger Italiener wurde zum Gesandten in Wien ernannt, konnte sich aber nicht in das Fernsein schicken. Nach sechs Monaten verzichtete er auf seine hohe Stellung und kehrte zurück, um in der Loge seiner Freundin glücklich zu sein.

Ein solcher ständiger Verkehr wäre in Frankreich lästig, wo man in der Gesellschaft unbedingt eine gewisse Rolle spielen muß und uns unsere Geliebte mit Recht sagt: »Herr Soundso, heute abend sind Sie gräßlich, Sie sagen ja gar nichts.« In Italien handelt es sich nur darum, daß man der geliebten Frau alles sagt, was einem in den Sinn kommt; man muß geradezu laut denken. Es gibt eine gewisse nervöse Folge der Offenheit und Vertrautheit, die wieder Offenheit erweckt und die man ohne solche nicht erntet. Diese Liebe besitzt freilich den großen Nachteil, daß sie alle anderen Liebhabereien lahmlegt und alle anderen Lebensbetätigungen nichtig erscheinen läßt. Diese Liebe ist der beste Ersatz der Leidenschaft.

In Bologna gibt es in der Gesellschaft nichts Verächtliches. In Paris ist die Rolle des hintergangenen Ehemannes abscheulich. Hier in Bologna ist nichts dabei: es gibt keine betrogenen Ehemänner. Die Sitten sind wohl die gleichen, nur fehlt der Haß. Der Liebhaber der Frau ist immer der Freund des Gatten, und diese Freundschaft, gefestigt durch gegenseitige Dienste, überlebt oft alle anderen Beziehungen. Meistens dauern solche Liebesverhältnisse fünf bis sechs Jahre, mitunter länger. Am Ende verläßt man sich, wenn man sich nichts mehr zu sagen weiß, und nach einem Monat des Bruches verliert sich alle Bitterkeit.

Die alte Mode der cavalieri serventi, die in Italien durch Philipp den Zweiten mit dem spanischen Stolz und den spanischen Sitten eingeführt wurde, hat sich in den großen Städten ganz verloren. Napoleon hat in Oberitalien und selbst in Neapel der Sittenlosigkeit ein Ende gemacht.


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