von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

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56. Die Liebe im Altertume

Nachgelassene Liebesbriefe von römischen Damen hat man uns nicht überliefert. Petronius hat ein reizendes Buch geschrieben, aber er schildert nur die Entartung.

Über die Liebe im alten Rom haben wir außer der Dido und der zweiten Ekloge Virgils nichts Genaueres als die Werke der drei großen Dichter Ovid, Tibull und Properz.

Die Geliebten dieser großen Dichter waren kokette, untreue und käufliche Frauen; sie suchten nur sinnlichen Genuß, und ich möchte glauben, daß sie niemals eine Ahnung von den erhabenen Gefühlen gehabt haben, die dreizehn Jahrhunderte später das Herz der zärtlichen Heloise bewegten.

Ich entnehme die folgende Stelle dem Werke des vorzüglichen Literaturhistorikers Ginguené (Histoire littéraire de I'Italie, II, 490), der die lateinischen Dichter viel gründlicher kennt als ich:

»Das glänzende Genie des Ovid, die reiche Phantasie des Properz, die gefühlvolle Seele des Tibull verliehen ohne Zweifel ihren Versen eine verschiedene Färbung, aber alle drei liebten in gleicher Art und Weise Frauen ziemlich gleichen Schlages. Sie begehren, sie siegen, sie haben glückliche Nebenbuhler, sie sind eifersüchtig, sie entzweien und versöhnen sich, sie sind ihrerseits untreu, sie erlangen Verzeihung und sie finden ein Glück wieder, das alsbald durch die nämlichen Wechselfälle von neuem getrübt wird.

»Corinna ist verheiratet. Die erste Lehre, die ihr Ovid gibt, besteht in der Unterweisung, wie sie ihren Gatten hintergehen soll, welche Zeichen sie in Gegenwart ihres Mannes und anderer machen soll, damit sie sich beide heimlich verständigen können. Der Genuß folgt auf dem Fuße; dann gibt es Streit, und was man von einem galanten Manne wie Ovid nicht erwarten sollte, Schmähungen und Schläge; dann wieder Entschuldigungen, Tränen und Verzeihung. Bisweilen wendet er sich an untergeordnete Leute, an Diener, an den Türhüter seiner Geliebten, der ihm nachts die Tür öffnen soll, an eine durchtriebene Alte, die sie verdirbt und sie verführt, sich für Gold hinzugeben, an einen alten Eunuchen, der sie bewacht, an eine junge Sklavin, die ihr Briefchen mit der Bitte um ein Stelldichein zustecken soll. Es wird verweigert; er verflucht seine Briefe, die so schlechten Erfolg hatten; um mehr Glück zu haben, wendet er sich an Aurora, sie möge ihm sein Glück nicht wehren.

»Bald wirft er sich seine zahlreichen Treulosigkeiten und seine Neigung zu allen Franen vor. Einen Augenblick später ist auch Corinna treulos; der Gedanke ist ihm unerträglich, daß er ihr Lehren gegeben hat, die sie sich mit einem andern zunutze macht. Corinna wird ihrerseits eifersüchtig. Sie ist eine mehr jähzornige als zärtliche Frau; sie beschuldigt ihn, eine junge Sklavin zu lieben. Er schwört es ab, aber er schreibt dieser Sklavin, und alles, was Corinna erbittert hat, ist wahr. Woher wußte sie es aber? Welche Anzeichen verrieten es ihr? Er bittet die junge Sklavin um ein neues Stelldichein. Falls sie es ihm abschlüge, droht er, Corinna alles zu gestehen. Einem Freunde gegenüber macht er sich über seine zwei Liebschaften lustig, über die Leiden und die Freuden, die sie ihm bereiten. Bald darauf ist Corinna wieder Alleinherrscherin. Sie ist ganz die Seine. Er besingt seinen Sieg, als sei es sein erster Erfolg. Nach gewissen Ereignissen, die wir aus mehr als einem Grunde nicht erwähnen wollen und die zum Wiedererzählen auch viel zu lang sind, stellt es sich heraus, daß Corinnas Gatte zu gleichgültig geworden ist. Er ist nicht mehr eifersüchtig. Das mißfällt dem Liebhaber, er droht, seine Frau verlassen zu wollen, wenn er nicht von neuem eifersüchtig würde. Der Mann gehorcht allzu gut, er läßt Corinna so streng bewachen, daß Ovid sich ihr nicht mehr nähern kann. Nun beklagt er sich über diese Überwachung, deren Ursache er selbst ist, und hofft sie zu überwinden. Zu seinem Unglücke ist er nicht der einzige, dem das gelingt. Die Untreue Corinnas wiederholt und vermehrt sich; ihre Streiche werden stadtbekannt, so daß Ovid als einzige Gunst darum bittet, bei ihren Hintergehungen umsichtiger zu verfahren und nicht allzu offenkundig ihre wahre Natur zu verraten. Derartig waren die Sitten Ovids und seiner Geliebten und derartig ihre Liebe.

»Cynthia ist die erste Liebe des Properz und wird seine letzte sein. Solange er glücklich ist, ist er eifersüchtig. Cynthia ist maßlos putzsüchtig; er bittet sie, den Luxus zu meiden und die Einfachheit zu achten. Er selbst freilich gibt sich mannigfachen Ausschweifungen hin.

»Cynthia erwartet ihn; erst am frühen Morgen geht er zu ihr; er kommt von einer Zecherei und ist vom Wein berauscht. Er findet sie im Schlafe; es dauert lange, bis der Lärm, den er macht, und selbst seine Liebkosungen Cynthia aufwecken. Endlich öffnet sie die Augen und macht ihm wohlverdiente Vorwürfe.

»Ein Freund will ihn von Cynthia losreißen; er preist diesem Freunde ihre Schönheit und ihre Begabung. Einmal verliert er sie beinahe. Sie geht mit einem Soldaten durch, folgt ihm ins Lager und erträgt allerlei, nur um bei ihm zu sein. Properz ist außer sich, er weint und gelobt ihr alles Glück. Kaum weicht er aus ihrem verlassenen Hause, er sucht Fremde auf, die sie gesehen haben, und fragt sie endlos nach Cynthia aus. So viel Liebe erweicht sie; sie verläßt den Soldaten und bleibt wieder bei dem Dichter. Er dankt Apoll und den Musen und ist trunken vor Glück.

»Bald wird es wieder durch neue Anwandlungen von Eifersucht getrübt, durch unvermeidliches Fernsein unterbrechen. Fern von ihr denkt er nur an sie. Ihre frühere Untreue laßt ihn neue befürchten. Todesgefahren schrecken ihn nicht, er fürchtet nur den Verlust Cynthias. Wenn er ihrer Treue gewiß wäre, würde er ohne Bedauern in das Grab sinken.

»Nach neuen Verrätereien glaubt er seine Liebe überwunden zu haben, aber bald ist er wieder in ihren Fesseln. Er entwirft das entzückendste Bild von seiner Geliebten, von ihrer Schönheit, ihrer Eleganz und ihrem Geschmeide, ihren Fähigkeiten im Gesang, in der Dichtkunst und im Tanz. Alles verdoppelt oder rechtfertigt seine Liebe. Aber die ebenso lasterhafte wie liebenswürdige Cynthia entehrt sich durch ihre Abenteuer vor der ganzen Stadt so ausfällig, daß Properz sie ohne Schande nicht mehr lieben kann. Er errötet darüber, aber er vermag sich nicht von ihr loszureißen. Er bleibt ihr Liebhaber, ihr Gatte; niemals will er eine andere lieben.

»Sie verlassen und versöhnen sich nochmals. Cynthia ist eifersüchtig, er beruhigt sie. Nie will er eine andre lieben. In Wahrheit sind es nicht einzelne Frauen, die er liebt, es sind alle Frauen. Er besitzt ihrer nie genug, er ist im Genuß unersättlich. Um ihn zur Besinnung zu bringen, ist es wiederum nötig, daß ihn Cynthia verläßt. Seine Klagen sind nun so lebhaft, als ob er selbst niemals untreu gewesen wäre. Er will fliehen. Er zerstreut sich durch Ausschweifungen. Er ist wie so oft betrunken; er tut, als sei ihm eine Schar von Liebesgöttern begegnet, die ihn wieder zu Cynthias Füßen zurückgeführt hätten. Ihrer Versöhnung folgen neue Stürme. Cynthia erhitzt sich bei einem ihrer abendlichen Gelage am Wein, reißt den Tisch um und wirft dem Geliebten ein paar Becher an den Kopf. Properz findet das reizend.

»Neue Untreue zwingt ihn endlich, seine Ketten zu brechen. Er will eine Reise machen und ganz Griechenland durchwandern. Schon ist der Reiseplan fertig, da steht er von seinem Vorhaben ab, um sich nochmals neuen Kränkungen auszusetzen. Cynthia beschränkt sich nicht mehr darauf, ihn zu hintergehen, sie macht ihn sogar bei seinen Nebenbuhlern lächerlich. Da wird sie krank und stirbt. In ihren letzten Augenblicken beklagt sie seine Treulosigkeit, seine Launen und ihre Verlassenheit und schwört, daß sie ihm trotz des gegenteiligen Scheins stets treu gewesen sei. Das sind die Sitten und Abenteuer des Properz und seiner Geliebten, das ist in kurzen Strichen die Geschichte ihrer Liebe. Eine solche Frau mußte die Seele eines Properz lieben.

»Ovid und Properz sind vielfach untreu, aber nie unbeständig. Sie sind lockere Gesellen, die gern hier und da ihre Huldigungen darbringen, aber immer in die alten Fesseln zurückkehren. Corinna und Cynthia haben zu Rivalinnen alle Frauen, nicht irgend eine einzelne. Wenn die Liebe dieser Dichter nicht treu ist, so ist es doch ihre Muse, denn kein anderer Name erscheint in ihren Versen, als Corinna und Cynthia.

»Tibull, ein feinfühligerer Dichter und Liebender und nicht so stürmisch und heißblütig in seinen Liebschaften, hat nicht die gleiche Beständigkeit. Drei Schönheiten sind nacheinander der Gegenstand seiner Liebe und seiner Lieder. Delia ist die erste, die berühmteste und die am innigsten geliebte. Tibull hat sein Vermögen eingebüßt, aber es bleibt ihm sein Landhaus und Delia. Wenn er sie im ländlichen Frieden besitzt, wenn er sterbend Delias Hand in der seinen fühlt, wenn sie an seinem Grabe weint, hat er keine weiteren Wünsche. Delia wird von einem eifersüchtigen Gatten bewacht, aber Tibull gedenkt trotz Argus und dreifacher Schlösser in ihr Gefängnis einzudringen. In ihren Armen will er alle seine Leiden vergessen. Er wird krank, stets denkt er nur an Delia: er bittet sie, immer keusch zu sein, das Gold zu verachten und ihm allein das zu gewähren, was sie ihm geschenkt hat. Aber Delia befolgt diesen Rat nicht. Er glaubt, ihre Treulosigkeit ertragen zu können, aber er kann es nicht und bittet Delia und Venus um Gnade. Er sucht im Wein ein Heilmittel, findet es aber nicht; er kann dadurch weder sein Leid mildern, noch sich von seiner Liebe heilen. Er wendet sich an Delias gleich ihm betrogenen Gatten; er enthüllt ihm alle die Listen, deren Delia sich zu bedienen pflegt, um Liebhaber an sich zu locken und bei sich zu sehen. Wenn der Gatte sie nicht zu hüten verstehe, so möge er ihm vertrauen, er wird jene schon fernzuhalten und die vor Nachstellungen zu schützen wissen, die sie beide betrübt hat. Er beruhigt sich und kehrt zu ihr zurück; er erinnert sich Delias Mutter, der Beschützerin ihrer Liebe. Das Andenken an diese gute Frau macht sein Herz wieder weichen Gefühlen zugänglich, und alles Unrecht Delias ist vergessen. Aber bald begeht sie Schlimmeres. Sie hat sich durch Geld und Geschenke verführen lassen, sie gehört einem und vielen an. Tibull zerbricht endlich die schmachvollen Fesseln und sagt ihr Lebewohl.

»Er geht unter die Verehrer der Nemesis und wird nicht glücklicher. Sie liebt nur das Gold und mißt Versen und den Gaben des Genius wenig Wert bei. Nemesis ist eine habsüchtige Frau, die sich dem Meistbietenden hingibt. Er verwünscht ihre Habgier, aber er liebt sie und kann ohne ihre Liebe nicht leben. Er sucht sie durch rührende Bilder zu bändigen. Sie hat eine junge Schwester verloren. Tibull will zu ihrem Grabe gehen und weinen und ihrer stummen Asche seinen Kummer anvertrauen. Der Geist der toten Schwester wird über die Tränen zürnen, die um Nemesis vergossen werden. Diesen Zorn soll Nemesis achten. Das traurige Bild ihrer Schwester wird ihren nächtlichen Schlummer stören... Nemesis ist zu Tränen gerührt. Aber um diesen Preis will der Dichter das Glück doch nicht erkaufen.

»Seine dritte Geliebte ist Neera. Er hat lange ihre Liebe genossen; er bittet die Götter um nichts, als mit ihr leben und sterben zu dürfen. Sie verreist und bleibt fern. Er denkt immer an sie und bittet die Götter nur um sie. Im Traume erscheint ihm Apollo und verkündet ihm, daß Neera abtrünnig ist. Er will diesem Traum nicht Glauben schenken, er könnte solches Unglück nicht überleben, und doch ist das Unglück wahr; Neera ist untreu. Wiederum ist er einsam. Das war der Charakter und das Los Tibulls, das ist der dreifache, recht unglückliche Roman seiner Liebe.

»An Tibull ist eine sanfte Schwermut charakteristisch, die selbst den Genuß durch einen Schleier von Träumerei und Traurigkeit abtönt. Darin beruht sein Reiz. Wenn irgend ein antiker Dichter die Liebe der Seele gekannt hat, so war es Tibull. Aber jene Feinheiten der Empfindung, die er so meisterhaft schildert, liegen nur in ihm selbst; sie in seinen Geliebten zu entdecken oder zu erwecken, versucht er ebensowenig wie Ovid und Properz. An den Frauen sind es nur äußerliche Reize, die ihn begeistern, ihre Gunst ist es, die er ersehnt und verlangt, ihre Käuflichkeit, ihre Untreue und ihr Verlust, die ihn unglücklich machen.

»Von allen den Frauen, die durch die Verse dieser drei großen Dichter berühmt geworden sind, erscheint Cynthia als die liebenswürdigste. Zu ihren sonstigen Vorzügen tritt ihre Begabung hinzu; sie pflegt den Gesang und die Dichtkunst. Aber bei all ihren Fähigkeiten, die auch bei gewissen Hetären nicht selten waren, taugt sie nicht mehr als diese; Gold und Wein und Wollust beherrschen sie trotzdem, und Properz, der ihren Kunstsinn nur ein- oder zweimal rühmt, wird in seiner Leidenschaft für Cynthia doch von einer ganz anderen Macht bemeistert.«

Diese großen Dichter gehören augenscheinlich zu den feinsinnigsten und zartfühligsten Geistern ihrer Zeit. Aber wen lieben sie und wie lieben sie? Dabei muß man von jeder literarischen Betrachtung und Beurteilung absehen. Ich will von ihnen nur ein Zeugnis über ihr Jahrhundert, genau so wie ein heute moderner Roman dereinst in zweitausend Jahren ein Zeugnis unserer Sitten sein wird.


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