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Unter diesem Titel, der nicht bescheiden genug gewählt werden kann, sind hier in zwangloser Auswahl Bleistiftnotizen gesammelt, die sich auf den Rückseiten von drei- bis vierhundert Spielkarten befanden. Oft auch setzte sich das Originalmanuskript – um es in Ermangelung einer einfacheren Bezeichnung so zu nennen – aus mit Bleistift geschriebenen Papierzetteln jeder Größe zusammen, die der Verfasser aneinander geklebt hat, um der Mühe des Abschreibens überhoben zu sein, zumal ihm nichts von allen diesen Aphorismen eine Stunde später der Mühe der Abschrift wert erschienen ist. Er war auch nichts weniger als ein großer Bücherleser. Abgesehen von dem, was er auf seinen Streifzügen durch die Welt beobachtet hat, stützt sich dieses Buch auf die Memoiren von fünfzehn bis zwanzig Persönlichkeiten, aus denen seine Beobachtungen und Schlüsse gezogen sind und deren Titel für den Fall, daß sich jemand für diesen geringfügigen Umstand interessieren sollte, hier wiedergegeben sein mögenAnmerkung des Übersetzers: Außer diesen und den im Text und in den Anmerkungen genannten Werken erwähnt Stendhal in fortgelassenen Anmerkungen noch folgende Autoren und Werke:
– Birkbeck, Reisebeschreibungen und Reisebriefe, (S. Namenverzeichnis unter »Birkbeck«) Um einen Begriff von der überschwenglichen Leidenschaft dieser Briefe zu geben, sei der Übersetzung folgende Stelle entnommen: »....Bei der ersten günstigen Gelegenheit will ich Ihnen nun das senden, was ich noch von Ihnen hatte. Ich habe alles Dona Brites zur Besorgung gegeben, so daß ich mit Sicherheit glauben kann, daß Sie das Porträt und die Armbänder erhalten haben, die Sie mir dereinst geschenkt haben ...« »Das gestehe ich zur Schande für uns beide, daß ich mich mehr mit diesen Kleinigkeiten verknüpft gefühlt habe, als ich Ihnen erzählen will, und daß ich alle meine Vernunft nötig hatte, um mich von jedem einzelnen Stück zu trennen, selbst nachdem ich froh war, daß ich mich nicht mehr mit Ihnen verbunden fühle. Aber mit Hilfe so vieler guter Vernunftsgründe erreicht man schließlich alles, was man will.« »Ich habe alles Nona Brites übergeben. Wie viele Tränen hat mich dieser Entschluß nicht gekostet! Nach tausend wechselnden Gemütsstimmungen, von denen Sie nichts ahnen und über die ich Ihnen wahrlich keine Rechenschaft ablegen will, habe ich sie flehentlich gebeten, nie mehr mit mir von diesen Kleinigkeiten zu reden, sie mir nicht zurückzugeben, selbst wenn ich sie darum bitten sollte, um sie noch einmal zu sehen, und sie Ihnen zu senden, ohne mich etwas davon wissen zu lassen. »Ich habe das Übermaß meiner Liebe erst so recht kennen gelernt, nachdem ich alles daran gesetzt, von ihr geheilt zu werden, und ich fürchte, ich hätte nie gewagt, diesen Versuch zu machen, wenn ich hätte voraussehen können, daß es so schwierig wäre und mir so heftige Gemütsbewegungen bereitete. Ich bin überzeugt, daß ich weniger gelitten hätte, indem ich Sie liebte trotz Ihrer Undankbarkeit, als indem ich Sie für immer verlasse. Ich habe einsehen gelernt, daß mir meine Liebe teurer war als Ihre Person, und ich habe ganz unsinnig gelitten, indem ich sie bekämpfen mußte, auch nachdem Sie sich durch Ihre beleidigende Handlungsweise mir widerwärtig gemacht hatten. Der natürliche Stolz meines Geschlechtes hat mir nicht geholfen, Ihnen gegenüber eine Entscheidung zu treffen. Ich armes Menschenkind!...« »Die törichten Versicherungen Ihrer Freundschaft und die lächerliche Verbindlichkeit in Ihrem letzten Briefe haben mich sehen lassen, daß Sie alle Briefe erhalten haben, die ich an Sie geschrieben habe, und daß sie keinen Eindruck auf Ihr Herz gemacht haben. Und Sie haben sie doch gelesen! Undankbarer Mensch, der Sie sind! Ich bin noch töricht genug, verzweifelt darüber zu sein, daß ich aufhören muß, mir einzubilden, daß sie nicht in Ihre Hände gelangt sind. Ich verabscheue Ihre Aufrichtigkeit... Warum ließen Sie mich nicht meine Liebe behalten? ...« »Ich zweifle nicht, daß ich hierzulande einen treueren Geliebten finden könnte, was aber vermöchte mich wohl dazu zu bringen, ihn wieder zu lieben? Sollte irgend eines andern Mannes Liebe wohl imstande sein, auf mich Eindruck zu machen? Habe ich nicht erfahren, daß der Mensch, der die Liebe kennen gelernt hat, denjenigen nie vergessen kann, der ihn zuerst zu all' jener unbekannten Leidenschaft erweckt hat, deren er fähig ist? Weiß ich nicht, daß alle seine Gefühle an dem Götzenbild hängen bleiben, das er sich geschaffen hat, daß er die ersten Eindrücke nie vergessen, sich von seinen ersten Wunden nie erholen kann? ... Daß alle Vergnügungen, die er nach außen hin sucht, ohne sich etwas daraus zu machen, ihn nur mehr fühlen lassen, daß ihm nichts so teuer ist als die Erinnerung an all' seinen Kummer und Schmerz ...« – Lettres de Mademoiselle de Lespinasse, écrites depuis l'année 1773 jusqu'à l'année 1776,..., Paris, Collin, 1809, 2 Bände.
– Bougainville, Reiseschilderungen,
– Cadet-Gassicourt, Voyage en Autriche, en Moravie et en Bavière, fait à la suite de l'armée française en 1809, Paris, 1818,
– Cook, Tagebuch seiner Weltumseglungen,
– Crabbe, Gedichte,
– Ducray-Duminil, Romane,
– Abbé Grégoire, Memoiren,
– Guillaume, Werk über die Troubadoure,
– Lemontey,
– Massillon,
– Mémoire et discussion sur le Zodiaque de Dendérah à l'Académie des sciences à Paris, 1821.
– Monti,
– Moore, Lalla-Rookh,
– Nivernais, Le Troubadour Guillaume de la Tour,
– Potter, L'Esprit de l'Eglise, 1821 (8 Bde.),
– Radael,
– Romagnesi, Romanzen,
– Royaumont,
– de Tracy, philosophische Schriften,
– Voiron, Guy Allard de, Oeuvres badines.
– Briefe der Lespinasse. Deutsch von J. C. W. Spazier. Leipzig, Büschler, 1810, 2. Auflage 1824, 2 Bände. (Eine neue deutsche Ausgabe ist in Vorbereitung.)
– Lettres de Mlle. de Lepinasse,... augmentées de son éloge sous le nom d'Eliza par M. de Guibert... Paris, Longchamps, 1811, 2 Bde.
– Nouvelles lettres de Mlle. de Lespinasse, suivies du portrait de M. de More... Paris, Maradan, 1820. (Die hier gegebenen Briefe sind unecht. Von der Lespinasse stammen nur das Portrait de M. de Mora, richtiger de M. de Guibert, und die Apologie d'une pauvre personne.)
– Lettres de Mlle. de Lespinasse, avec une notice biographie par Jules Janin, Paris, Amyot, 1847.
– Sainte-Beuve, Mlle. de Lespinasse, in Causeries du Lundi, II, 96–112. (In den Tatsachen vielfach unrichtig, aber geistvoll geschrieben.)
– Karl Frenzel, »Dichter und Frauen«, Studien, Hannover, Rümpler, 1859, S. 245–265: Julie Lespinasse. (Veraltet.)
– Alfred de Musset, Femmes de la Régence. Paris, Charpentier, 1858, passim.
– Lettres de Mlle. de Lespinasse,... par Eugène Asse. Paris, Charpentier, 1876. Edition couronnée par l'Académie française. Neueste Auflage: 1903, mit einer Studie des Herausgebers. (Vorzügliche Ausgabe.)
– Lettres de Mlle. de Lespinasse,... avec une notice par Gustave Isambert. Paris, Lemerre, 1876, 2 Bände.
– Mademoiselle de Lespinasse et la Marquise du Deffant... par Eugène Asse. Paris, Charpentier, 1877.
– Le tombeau de Mlle. de Lespinasse, par d'Alembert et par le comte de Guibert, publié par le bibliophile Jacob. Paris, Librairie de bibliophiles 1879.
– Lettres inédites de Mlle. de Lespinasse à Condorcet, à d'Alembert, à Guibert, au comte de Crillon,.., publiées par Charles Henry. Paris, Dentu, 1887.
– Mademoiselle de Lespinasse. Eine Studie von Neera. Zu finden in: Neera, »Das galante Jahrhundert«. Aus dem Italienischen übersetzt von Berthof. Dresden, Reißner, 1903, S. 37 bis 67. (Durchaus wertlos. Julie de Lespinasse ist in Klara Lespinasse umgetauft.)
– Gebrüder Goncourt, La femme au XVIIIe siècle. Deutsche (vorzügliche) Ausgabe: »Die Frau im 18. Jahrhundert« von Edmond und Jules Goncourt, Leipzig, Julius Zeitler, 1905, Bd. I, S. 174 ff.
– Marquis de Ségur, Julie de Lespinasse. Paris, Calmann-Lévy, (1905), VI, 651 Seiten. (Auf gründlichen Archivforschungen beruhende Arbeit.) Correspondance entre Mademoiselle de Lespinasse et le Comte de Guibert, publiée pour la première fois d'après le texte original par le Comte de Villeneuve-Guibert. Paris, Calmann-Lévy, (1906), VI, 536 Seiten. (Endgültige Ausgabe.)
Ein alter Schiffskapitän, der Onkel des Verfassers, dem er das Manuskript dieses Buches verehrt hat, findet es überaus lächerlich, mehrere hundert Seiten hindurch einer so frivolen Sache wie der Liebe soviel Wert beizumessen. Und doch ist diese Frivolität die einzige Waffe, mit der man starke Seelen besiegt.
Was vereitelte 1814 im Park von Fontainebleau die Ermordung Napoleons? Der verächtliche Blick einer hübschen Frau, die in die Bains-Chinois ging. (Memoiren, Londoner Ausgabe, S. 88.) Wie anders hätte sich das Geschick der Welt entschieden, wenn Napoleon und sein Sohn 1814 ermordet worden wären.
Wie die englische Kultur in der Zeit von 1688 bis 1730 ihren Ursprung hat, so wird die Frankreichs in der Zeit von 1815 bis 1880 entstehen. Nichts wird so schön, gerecht und glücklich sein wie das geistige Frankreich gegen 1900. Jetzt ist es nichts. Was in der Rue de Belle-Chasse als Schändlichkeit gilt, ist in der Rue du Mont-Blanc eine Heldentat. Mitten aus allen diesen Übertreibungen retten sich die wirklich der Verachtung fähigen Menschen von Straße zu Straße. Wir hatten eine Zuflucht, die Preßfreiheit, die die Tat eines jeden hinterher beurteilte, und wenn eine Tat von der öffentlichen Meinung zufällig gebilligt wurde, blieb es dabei. Man hat uns diese Zuflucht genommen und dadurch die Geburt der wahren Kultur hinausgeschoben.
Ein gewisser Hang zur Streitsucht hat unsre Jugend ergriffen und ihre erotischen Neigungen verdrängt. Mit der Frage, ob Napoleon für Frankreich förderlich gewesen sei, läßt man die Jahre der Liebe dahingehen. Selbst solche, die jung sein wollen, denken nur an ihre Krawatte, ihre Sporen und ihr schneidiges Aussehen und vergessen über ihrer Selbstgefälligkeit, einem bescheidenen, ungezierten jungen Mädchen, das ihnen begegnet, Beachtung zu schenken.
Die Franzosen haben weder wahren Genuß an der Unterhaltung, noch am Theater. Beides ist ihnen nicht eine Erholung und ein völliges Sichgehenlassen, sondern eine Arbeit.
Jene Illusion, die im Augenblick entsteht und vergeht, sucht die Menge im Theater niemals, sondern die Gelegenheit, dem Nachbar, oder wenn man das Mißgeschick hat, keinen Nachbar zu haben, wenigstens sich selbst zu beweisen, daß man seinen Laharpe gelesen hat und ein Mann von modernem Geschmack ist. So sucht die Jugend das Vergnügen eines alten Schulmeisters.
Wenn ich meiner Überzeugung getreu sagen wollte, die Gutmütigkeit ist ein Charakterzug des Parisers, so würde ich Gefahr laufen, ihn zu beleidigen.
Er will nicht gut sein!
Der Pariser hat die Fähigkeit, sich mit allem eifrigst zu beschäftigen, aber nur drei Tage lang. Napoleons Tod, Berangers Verurteilung – alles erregt erst die gleiche Sensation, und am vierten Tage gilt es als taktlos, noch einmal davon anzufangen. Muß jede Hauptstadt so sein, oder liegt das lediglich an der Gutmütigkeit und Leichtlebigteit der Pariser?
Will man sich in Paris wohlfühlen, so muß man auf eine Anzahl von Kleinigkeiten achten. Doch läßt sich etwas Bedeutendes dagegen einwenden: man zählt in Paris viel mehr Frauen, die sich aus Liebe töten, als in allen Städten Italiens zusammen. Diese Tatsache verwirrt mich. Ich habe im ersten Augenblick keine Erklärung dafür; aber trotzdem bleibe ich bei meiner Ansicht. Vielleicht mag der Tod den Franzosen unter solchen Umständen geringfügig erscheinen: so langweilig ist ihnen die Überkultur geworden; oder wahrscheinlicher ist es die überreizte und verletzte Eitelkeit, die ihnen die Pistole in die Hand drückt.
In Frankreich sind Männer, die ihre Frauen verloren haben, traurig, Witwen aber lustig und glücklich. Das Glück dieses Zustandes ist sprichwörtlich. Also herrscht in der Vereinigung keine Gleichheit.
Die meisten Französinnen lassen einen jungen Mann erst gelten, wenn sie aus ihm einen Gecken gemacht haben. Erst dann vermag er ihrer Eitelkeit zu schmeicheln. (Duclos.)
Da Französinnen niemals das Glück der wahren Leidenschaft kennen lernen, stellen sie auch nur geringe Anforderungen an das innere Glück ihres Hauses und an die Alltäglichkeit ihres Lebens.
Die Macht der Frau ist in Frankreich sehr groß, die Macht der Frauen viel zu gering.
Die Französin in der Provinz ist vierzig Jahre hinter der Pariserin zurück. Eine verheiratete Frau sagte mir, daß sie sich nur bestimmte Teile der Memoiren von Lauzun zu lesen gestatte. Ich bin starr über solche Beschränktheit und finde keine Worte dafür. Dieses Buch läßt man wahrlich nicht ungelesen.
Der Mangel an Natürlichkeit ist ein Hauptfehler an den Frauen der Provinz, so beweglich und anmutig sie sonst sind. Die in ihrer Stadt eine Rolle spielen, sind noch schlimmer als die anderen.
Ein Ding ist in der französischen Kunst völlig unmöglich: die Begeisterung. Ein begeisterter Mann wäre lächerlich; er sieht zu glücklich aus.
In den schönen Künsten werden die Franzosen, so sehr sie sich auch bemühen, niemals über das »Hübsche« hinauskommen.
Der Humor, der beim Zuschauer Schwung und beim Schauspieler Mutwillen voraussetzt, jene köstlichen Scherze Palombas in Neapel, sind in Paris unmöglich. Hübsches und immer wieder Hübsches, das gar mitunter noch erhaben gemeint ist.
Man sieht, ich strebe im allgemeinen nicht nach Volkstümlichkeit.
In der Komödie Innamorati von Goldoni sind alle Regungen der Leidenschaft vorzüglich geschildert, aber Stil und Gedanken stoßen durch widerwärtige Gewöhnlichkeit ab. Beim französischen Lustspiel ist es gerade umgekehrt.
Gewohnheiten der Phantasie. Ein Franzose wird durch einen achtmaligen Dekorationswechsel in einem Trauerspielakte ernstlich mißgestimmt. Den »Macbeth« mit Genuß zu sehen, ist einem solchen Menschen unmöglich. Er entschädigt sich damit, daß er über Shakespeare wegwerfend urteilt.
Alle Beobachtungen der französischen Schriftsteller über die Liebe sind gut und genau niedergeschrieben, auch nicht übertrieben, aber sie beziehen sich nur auf unbedeutende Neigungen, – das ist ein Urteil des trefflichen Kardinals Lante.
Wir lieben ein gutes Gemälde überaus, – sagen die Franzosen, – aber wir verlangen als Grundbedingung für die Schönheit, daß es von einem Maler gemalt ist, der beim Malen die ganze Zeit ohne Unterlaß auf einem Beine gestanden hat.
Ebenso ist es mit den Versen im Drama.
Die Verse sind zur Unterstützung des Gedächtnisses erfunden worden. Später behielt man sie bei, weil der Anblick der überwundenen Schwierigkeiten Genuß bereitet. Sie heutzutage im Drama beizubehalten, wäre ein Rest von Barbarei.
Die romantische Schule. Man schreibt mir aus Paris, daß man dort (in der Kunstausstellung von 1822) tausend Bilder mit Vorwürfen aus der heiligen Schrift sehen kann. Sie sind von Malern gemalt, die nicht daran glauben, werden bewundert und beurteilt von Leuten, die nicht daran glauben, und schließlich gekauft von Leuten, die nicht daran glauben.
Dabei sucht man nach Gründen für den Verfall der Kunst! Wenn der Künstler nicht an das glaubt, was er darstellt, muß er immer in Furcht sein, überschwenglich oder lächerlich zu erscheinen. Wie soll er Großartiges erreichen, wenn ihn nichts erhebt?
Ich bewundere die Sitten zur Zeit Ludwigs des Vierzehnten. Man ging ohne Zaudern und binnen drei Tagen aus den Salons von Marly nach den Schlachtfeldern von Seneffe und Ramillies. Gattinnen, Mütter und Geliebte lebten fortwährend in Angst. (Vgl. die Briefe der Frau von Sévigné.)
Die ewige Gegenwart der Gefahr bewahrte der Sprache eine Kraft und Freimütigkeit, wie wir sie uns heutzutage nicht herauszunehmen wagen.
Kalt, tapfer, berechnend, mißtrauisch, immer in Furcht, sich von jemandem begeistern zu laffen, der sich dann heimlich darüber lustig machen könnte, völlig frei von Überschwenglichkeit, ein wenig eifersüchtig auf die Leute, die im Gefolge Napoleons große Ereignisse gesehen hatten, – so war die Jugend zu meiner Zeit, mehr achtbar als liebenswert. Dieser Charakter fand sich selbst unter den Rekruten, die nur das Ende ihrer Dienstzeit herbeisehnten.
Jede Erziehung, gleichgültig ob sie einem planmäßig oder durch Zufall zuteil geworden ist, bildet den Menschen für eine bestimmte Zeit seines Lebens. Die Erziehung im Zeitalters Ludwigs des Fünfzehnten erhob das fünfundzwanzigste Jahr zum Höhepunkt des Lebens.
Die jungen Leute meiner Zeit finden ihn mit vierzig Jahren, wenn sie Mißtrauen und Ansprüche fallen gelassen und dafür Heiterkeit und Sorglosigkeit geerntet haben.
Warum stürzt ein Mörder in dem Augenblick, wo er einen Menschen tötet, nicht leblos zu den Füßen seines Opfers nieder? Warum gibt es Krankheiten? Und da es Krankheiten gibt, warum stirbt ein Trestaillons nicht an der Kolik? Warum hat Heinrich der Vierte nur einundzwanzig Jahre regiert und Ludwig der Fünfzehnte neunundfünfzig Jahre? Warum entspricht die Lebensdauer eines jeden Menschen nicht genau dem Maße seiner Tugend? Solche und andere »niederträchtige« Fragen aufzustellen, hat keinen Wert; sie hätten höchstens etwas Wert, wenn man sie nicht nur mit Spott und Heuchelei beantwortete wie die englischen Philosophen.
Die moderne Frauenerziehung, dieses wunderliche Gemisch von frommen Formeln und leichtsinnigen Liedern (Di pìacer mi balza il cor in Rossinis Gazza ladra)»Hoch vor Lust klopft mir das Herz ...«, Cavatine der Ninetta in der »Diebischen Elster« Rossinis. geht geradezu darauf aus, jegliches Glück zu untergraben. Sie erzeugt die höchste Unvernunft. Frau von R***, die sich so vor dem Tode fürchtete, ist gestorben, weil es ihr Vergnügen bereitet hat, ihre Medizin zum Fenster hinauszuschütten. Derartige bedauernswerte Frauen verwechseln Lustigkeit mit Unvernunft, weil jene oft unüberlegt erscheint. Genau so ist der Deutsche, der, um lebhaft zu erscheinen, zum Fenster hinunterspringt.
Öffentliche Meinung im Jahre 1822. Ein Mann von dreißig Jahren verführt ein fünfzehnjähriges Mädchen, Das Mädchen ist entehrt.
Einer meiner bedeutendsten Zeitgenossen, ein Mann, der in der Kirche und im Staate eine große Rolle spielt, hat uns heute (Januar 1822) bei Frau von M*** von den großen Gefahren erzählt, die er in der Schreckenszeit durchgemacht hat.
»Ich habe das Unglück gehabt, zu den bekanntesten Mitgliedern der Nationalversammlung zu gehören; solange für die gute Sache noch etwas zu hoffen war, hielt ich mich in Paris so gut wie möglich versteckt. Als dann die Gefahren wuchsen und die fremden Mächte sich zu keinem energischen Schritt zu unseren Gunsten aufrafften, faßte ich den Entschluß, abzureisen, mußte es aber ohne Paß tun. Da alle Welt nach Koblenz ging, wollte ich über Calais fliehen. Mein Bild war aber in jenen anderthalb Jahren so verbreitet worden, daß ich auf der letzten Station erkannt wurde. Trotzdem ließ man mich weiter. Ich gelang nach Calais und blieb in einer Herberge, wo ich, wie leicht erklärlich, die ganze Nacht kein Auge zutat, und zwar recht zu meinem Glücke, denn etwa um vier Uhr früh hörte ich deutlich meinen Namen nennen. Ich stand auf und beim Ankleiden erkannte ich trotz der Dunkelheit Nationalgardisten mit Gewehren, denen man das Hoftor öffnete und Einlaß in den Hof zur Herberge gewährte. Glücklicherweise regnete es in Strömen; es war ein ganz dunkler, sehr stürmischer Wintermorgen. Die Dunkelheit und das Rauschen des Windes ermöglichten mir, mich hinten durch den Hof und den Pferdestall zu retten. So stand ich ganz hilflos um sieben Uhr morgens auf der Straße.
Ich nahm an, daß man mich von der Herberge aus verfolgen würde. Ohne recht zu wissen, was ich tat, eilte ich zum Hafen und auf die Reede. Ich gestehe, ich hatte etwas den Kopf verloren. Immer schwebte mir die Guillotine vor Augen.
Im Hafen lag ein Paketboot, das trotz des hohen Seegangs gerade auslaufen wollte und bereits zwanzig Ellen vom Hafendamm entfernt war. Plötzlich hörte ich vom Meer her Rufe, als wenn mich einer riefe. Ich sah, wie sich ein kleines Boot mir näherte. ’Vorwärts, mein Herr, man wartet auf Sie!‘ Ganz mechanisch stieg ich in das Boot. Ein Mann war darin, der mir ins Ohr flüsterte: ’Wie ich Sie so verzweifelt auf dem Hafendamm herumlaufen sah, dachte ich mir, daß Sie gewiß ein armer Proskribierter seien. Ich habe gesagt, Sie seien mein Freund, den ich erwarte. Stellen Sie sich seekrank und bleiben Sie in der dunkelsten Ecke der Kajüte!‘«
»Welch ein schöner Zug!« rief die Dame des Hauses atemlos und über die lange, sehr geschickt vorgetragene Geschichte von den Gefahren des Abbés zu Tränen gerührt aus. »Wie dankbar müssen Sie diesem hochherzigen Unbekannten gewesen sein! Wie hieß er denn?«
»Seinen Namen weiß ich nicht,« antwortete der Abbé ein wenig verwirrt.
Einen Augenblick lang herrschte Totenstille im Salon.
Die größte Schmeichelei, die die überspannte Phantasie ersinnen und der aufwachsenden Generation für ihr Leben, ihre Weltanschauung und ihre Macht einimpfen könnte, ist die lauterste Wahrheit. Diese Jugend hat nichts auszubauen, sie muß alles neu schaffen. Es ist das größte Verdienst Napoleons, reinen Tisch gemacht zu haben.
Vollkommenheit in den kleinen Sorgen der Lebensführung und der Kleidung, große Güte, Mangel an Genie, Augenmerk für tausend kleinliche Alltäglichkeiten, Unfähigkeit, sich länger als drei Tage mit derselben Sache zu beschäftigen, – diese Eigenschaften bilden einen netten Gegensatz zu puritanischer Strenge, biblischer Grausamkeit, peinlicher Ehrlichkeit, ängstlicher und krankhafter Eigenliebe, kurzum zum allgemeinen cant, – und doch charakterisieren sich dadurch zwei große Völker der Welt.
Und wenn sich ganz Europa zusammentäte, brächte es doch nicht ein einziges von unseren guten Büchern hervor, wie zum Beispiel die Lettres persanes von Montesquieu.
Der Geist der englischen Sitten. Um 1730, als wir schon Voltaire und Fontenelle hatten, erfand man in England eine Maschine, um das ausgedroschene Korn von der Spreu zu scheiden. Das geschah durch ein Rad, das der Luft die nötige Bewegung zum Fortblasen der Strohteilchen gab. Aber in diesem Lande der Bibeln behaupteten die Bauern, es sei gottlos, gegen den Willen der göttlichen Vorsehung zu handeln und auf solche Weise einen künstlichen Wind zu schaffen, anstatt durch inbrünstiges Gebet den zum Reinigen des Kornes erforderlichen Wind vom Himmel zu erbitten und den vom Gotte Israels bestimmten Zeitpunkt abzuwarten. Man vergleiche damit die französischen Bauern.Den Zustand der englischen Sitten um 1820 vergegenwärtige man sich aus dem »Leben Beatties«, verfaßt von einem vertrauten Freunde. Man wird lesen, daß Beattie die große Gemeinheit gehabt hat, von einer alten Maiquise zehn Guineen anzunehmen, um dafür Hume zu verleumden. Der Adel stützt sich auf die Geistlichkeit, die dafür eine Rente von 200000 Franken erhält. Der widerlichste cant herrscht allerorts. Eine lustige Seite auf Englisch zu schreiben, ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Meiner Ansicht nach ist einer der besten Dichter der letzten Zeit der im Elend verstorbene schottische Bauer Robert Burns. Er hatte als Steueraufseher siebzig Louisdor Gehalt für sich, seine Frau und vier Kinder. Der »Tyrann« Napoleon war großmütiger gegen seinen Feind Chénier. Burns hat nichts von der englischen Prüderie. In ihm steckt römischer Geist, nichts von chevaleresken Ehrbegriffen. Mir fehlt der Platz, um von seiner Liebesgeschichte mit Mary Campbell und ihrem tragischen Ende zu erzählen. Nur bemerke ich, daß Edinburg auf demselben Breitengrade wie Moskau liegt, was meiner Theorie vom Klima ein wenig zuwiderläuft.
»One of Burn's remarks, when he first came to Edinburgh, was that between the men of rustic life and the polite world he observed little difference, that in the former, though unpolished by fashion and unenlightened by science, he had found much observation and much intelligence; but a refined and accomplished woman was a being almost new to him, and of which he had formed but a very inadequate idea.« (Bd. V, S. 69)
London, den 20. November 1822
Ein sehr verständiger, gestern aus Madras hier angekommener Herr hat mir in zweistündiger Unterhaltung erzählt, was ich hier in ein paar Zeilen zusammendränge:
»Das Finstere, das aus unbekannten Ursachen den englischen Volkscharakter verdüstert, hat sich derartig in die Herzen eingenistet, daß am Ende der Welt, in Madras, ein Engländer, der ein paar Tage Urlaub erlangen kann, schleunigst das reiche und blühende Madras verläßt und sich in der kleinen französischen Kolonie Pondicherry zu erholen sucht, die ohne Reichtum und Handelsverkehr unter der patriarchalischen Verwaltung von Dupuy gedeiht. In Madras trinkt man Burgunder, die Flasche zu sechsunddreißig Franken; die Armut der Franzosen in Pondicherry ist schuld, daß dort in der besten Gesellschaft große Gläser Wasser als Erfrischung herumgereicht werden. Aber man lacht dort.«
Augenblicklich herrscht in England mehr Freiheit als in Preußen. Das Klima ist das gleiche wie in Königsberg, Berlin und Warschau, Städten, die ihre Trübseligkeit schon von weitem zu erkennen geben. Die arbeitenden Klassen haben dort weniger und trinken ebensowenig Wein wie in England, gehen aber schlechter gekleidet.
Ich sehe nur einen Unterschied: in den Ländern, wo Frohsinn herrscht, liest man weniger in der Bibel und huldigt mehr der Liebe.
Ich gebe zu, daß das spanische Volk unmittelbar nach einer großen Tat in alle Fehler und Torheiten verfallen ist, die nur möglich waren. Trotzdem ist das gerade der Grund, der mich hindert, das Lob wieder zurückzunehmen, das ich diesen Nachzüglern des Mittelalters gespendet habe.
Die hübscheste Frau von Narbonne ist eine kaum zwanzigjährige Spanierin, die dort mit ihrem Gatten, ebenfalls Spanier, einem pensionierten Offizier, sehr zurückgezogen lebt. Vor einiger Zeit sah sich dieser Offizier veranlaßt, einem Gecken eine Ohrfeige zu versetzen. Am nächsten Morgen am Duellort sieht der Geck, daß die junge Spanierin kommt. Eine neue Flut gezierter Reden. »Das ist aber wirklich schrecklich! Wie haben Sie das Ihrer Frau nur sagen können! Nun kommt sie, um unseren Zweikampf zu verhindern!« – »Ich komme zu Ihrem Begräbnis!« antwortete die Spanierin.
Glücklich der Mann, der seiner Frau alles sagen kann. Der Erfolg hat den stolzen Vorsatz nicht Lügen gestraft. Eine solche Handlungsweise würde in England für unpassend gelten. So vermindert falscher Anstand noch das bißchen Glück hienieden.
Um 1580 waren die nicht in ihrer Heimat weilenden Spanier entweder rücksichtslose Anhänger des Despotismus oder Gitarrenspieler unter den Fenstern schöner Italienerinnen. Die Spanier gingen nach Italien wie heutzutage nach Paris. Übrigens setzten sie ihren Stolz vor allem in die Verherrlichung ihres Königs und Herrn. Sie haben sich Italien verscherzt, weil sie seiner nicht wert waren. Um 1626 war der große Dichter Calderon Offizier in Mailand.
Memoiren des Lord Oxford
Ich habe zu meiner Freude folgende Stelle in den Memoiren von Horaz Walpole gefunden:
»Wir wollen einmal die Töchter zweier leidenschaftlichen Männer vergleichen. Beide hießen Elisabeth. Die eine herrschte über ein Kulturvolk, die andere über ein Barbarenreich. Die Tochter Peters des Großen war eine absolute Herrscherin, duldete aber trotzdem eine Rivalin, da sie glaubte, die Person einer Kaiserin habe genug Reize für die unter ihren Untertanen, die sie ihres Verkehrs zu würdigen geruhte. Elisabeth von England konnte der Maria Stuart weder ihre Ansprüche auf den Thron noch die Vorzüge ihrer Schönheit verzeihen. Unedel setzte sie die schottische Königin, die als Schutzflehende zu ihr kam, gefangen und opferte sie ohne politisches oder gesetzliches Recht ihrer großen und doch so kleinen Eifersucht. Dabei brüstete sie sich mit ihrer Keuschheit, während sie doch die lächerlichsten Künste der Koketterie anwandte, um in einem ungeziemenden Alter noch Bewunderer und Liebhaber zu finden und zu fesseln, ohne damit weder ihr eigenes Verlangen, noch den Ehrgeiz jener Männer befriedigen zu können. Wer möchte ihr nicht jene ehrliche und offene barbarische Kaiserin vorziehen?«
Aus Stolz berauben die Türken ihre Frauen alles dessen, was die Kristallbildung fördern könnte. Ich lebe seit drei Monaten unter einem Volke (England), wo man in den oberen Klassen gleichfalls aus Stolz bald auf denselben Standpunkt geraten wird.
Die Männer bezeichnen mit Schamhaftigkeit die Forderungen eines durch Aristokratentum tollgemachten Stolzes. Niemand darf es wagen, das Schamgefühl zu verletzen. In Folge davon haben die geistvollen Männer, ganz wie im alten Athen, eine ausgesprochene Neigung, ihre Zuflucht bei Hetären zu suchen, das heißt bei Frauen, die durch einen Fehltritt aller Zierereien der Prüderie enthoben sind.
Die Sitten in Nordamerika zeigen die einzige Möglichkeit, die Liebe aus Leidenschaft zu töten, indem man jede Kristallbildung durch die Ungezwungenheit des Verkehrs verhindert.
Niemals in meinem Leben bin ich vor der Schönheit so betroffen und schüchtern gewesen wie heute abend in einem Konzert der Frau Pasta (London 1817).
Sie war, als sie sang, von drei Reihen junger Frauen umgeben, die so schön waren, von so reiner und himmlischer Schönheit, daß ich fühlte, wie ich aus Achtung die Blicke senkte, anstatt mit offenen Augen zu bewundern und zu genießen. In keinem anderen Lande ist es mir ähnlich ergangen, nicht einmal in meinem geliebten Italien.
Der bekannte Johannes von Müller sagte zu mir in Cassel (1808): »Die Natur hat dem Norden die Kraft und dem Süden den Geist gegeben.«
Die in der Liebe glücklichen Menschen sehen hier (in Dresden, 1813) tiefernst aus, was man in Frankreich mit tieftraurig verwechseln würde.
Goethe, überhaupt die genialen Männer Deutschlands, schätzen das Geld nach seinem richtigen Wert. An das Vermögen darf man nur denken, solange man unter sechstausend Franken Jahreseinkommen hat, dann nicht mehr. Beschränkte Menschen dagegen verstehen den Vorzug dieser Goetheschen Anschauung nicht; ihr ganzes Leben lang fühlen sie nur durch das Geld und denken nur an das Geld. Diese verschiedene Wertschätzung verhilft in der Welt den prosaischen Geistern anscheinend zum Siege über die vornehmen Seelen.
»Vernunft, Vernunft!« ruft man den armen Verliebten zu.
Im Jahre 1760, in der bewegtesten Zeit des Siebenjährigen Krieges, schreibt Grimm (III, 107): »Es unterliegt keinem Zweifel, daß der König von Preußen den Ausbruch dieses Krieges durch den Verzicht auf Schlesien hätte vereiteln können. Wieviel Unglück hätte er dadurch verhütet! Ist das Glück eines Königs vom Besitz eines Stück Landes abhängig? War der große Kurfürst nicht ein sehr glücklicher und sehr geachteter Herrscher ohne den Besitz Schlesiens? Nach den Gesetzen der gesündesten Vernunft hätte sich der König also anders verhalten können. Aber vielleicht hätte sich Friedrich dann die Verachtung der ganzen Welt zugezogen, während er sich so, indem er alles andere dem Willen, Schlesien zu halten, opfert, unsterblichen Ruhm erworben hat.
»Der Sohn Cromwells hat zweifellos das Weiseste getan, was ein Mann machen kann; er hat die ruhmlose und ruhige Zurückgezogenheit der gefahrvollen Unruhe, über ein finsteres, ungestümes und stolzes Volk zu herrschen, vorgezogen. Dieser Weise ist von seinen Zeitgenossen und von der Nachwelt verachtet worden, während sein Vater im Urteile der Völker ein großer Mann geblieben ist.
»Die ’schöne Büßerin‘ ist ein beliebter StoffVgl. die spanischen und dänischen Romanzen des dreizehnten Jahrhunderts. Dem französischen Geschmack werden sie fad oder grob erscheinen. im spanischen Drama, der in den englischen und französischen Bearbeitungen durch Otway und Colardeau verhunzt worden ist. Calista ist von Lothario, den sie anbetet, vergewaltigt worden. Er ist durch den ungestümen Ehrgeiz seines Charakters hassenswert, aber durch seine Begabung, seinen Geist und seine Anmut verführerisch. Er wäre allzu liebenswert, wenn er sein strafbares Verlangen zu mäßigen verstanden hätte; übrigens trennt ein furchtbarer erblicher Haß seine Familie und die der Geliebten. Diese beiden Familien stehen an der Spitze zweier Parteien, die im schreckensvollen Mittelalter eine spanische Stadt mit Zwiespalt erfüllen. Sciolto, Calistas Vater, ist das Haupt der Partei, die augenblicklich die Oberhand hat. Er weiß, daß Lothario die ruchlose Absicht gehabt hat, seine Tochter zu verführen. Die schwache Calista erliegt den Qualen ihrer Schmach und Leidenschaft. Ihr Vater erreicht es, daß sein Feind Lothario den Oberbefehl über die Flotte erhält, die zu einer fernen und gefahrvollen Unternehmung ausläuft. Voraussichtlich wird er dabei den Tod finden. In Colardeaus Trauerspiel bringt der Vater seiner Tochter selbst diese Nachricht. Da verrät Calista ihre Leidenschaft: ». . . Mein Gott! er geht . . . Ihr habt's befohlen!. . . und er fügt sich drein?»Wie groß ist die Gefahr dieses Augenblicks! Ein Wort mehr, und Sciolto war über die Leidenschaft seiner Tochter zu Lothario im klaren. Der betroffene Vater ruft aus:
’Was hör'ich? Täuscht mein Ohr mich? Rasest du?‘
Darauf antwortet Calista, die ihre Selbstbeherrschung wiedergewonnen hat:
’Nicht die Verbannung will ich, seinen Tod! Er soll verderben!‘
Durch diese Worte erstickt Calista den erwachenden Verdacht ihres Vaters, und zwar ohne Betrug, denn das Gefühl, dem sie Ausdruck gegeben hat, ist echt. Die Existenz eines Mannes, den sie liebt und der ihr das Schlimmste antun konnte, muß ihr Leben vergiften, und lebte er am Ende der Welt. Allein sein Tod kann ihr die Ruhe wiedergeben, wenn es solche für unglücklich Liebende überhaupt gibt. Kurze Zeit darauf fällt Lothario, und Calista hat das Glück zu sterben.
»Viel Tränen und viel Geschrei um nichts! haben jene kalten Naturen, die sich mit dem Namen Pilosophen schmücken, gesagt. Ein kühner, gewalttätiger Mann nützt die Schwäche aus, die eine Frau ihm gegenüber zeigt. Was braucht man sich darüber aufzuregen, und warum soll uns der Seelenschmerz Calistas etwas angehen? Sie mag sich damit trösten, daß ihr Geliebter sie besessen hat. Und sie ist nicht die einzige anständige Frau, die ihren Trost in solchem Unglück findet.«
Richard Cromwell, Friedrich der Große und Calista können mit den Seelen, die der Himmel ihnen verlieh, ihre Ruhe und ihr Glück nur dann finden, wenn sie so handeln, wie sie gehandelt haben. Das Verhalten der beiden zuletzt Genannten ist außerordentlich unvernünftig, und doch achtet man von den dreien gerade sie.
In Europa wird das Verlangen durch den Zwang entflammt, in Amerika durch die Freiheit erstickt.
In Nordamerika muß man die Regierung und nicht die Gesellschaft bewundern. Anderswo ist die Regierung das Übel. In Boston hat man die Rollen getauscht, und die Regierung spielt den Heuchler, um die Gesellschaft nicht zu verletzen.
Es gibt viel weniger Neid in Amerika als in Frankreich, dafür viel weniger Geist.
Wenn man an Stelle des Mangels der persönlichen Sicherheit die berechtigte Furcht vor Geldnot setzt, so findet man, daß die Vereinigten Staaten von Nordamerika hinsichtlich der Leidenschaft, über die ich diese Monographie zu schreiben versuche, sehr den antiken Staaten gleichen.
Ich merke eben, daß ich unter den mehr oder minder unvollkommenen Skizzen über die Liebe aus Leidenschaft, die uns die Alten überliefert haben, die Liebe der Medea vergessen habe. Virgils Dido ist eine Kopie von ihr. Man vergleiche diese Liebe einmal mit der modernen, zum Beispiel in Prevosts Le Doyen de Killerine.
Sappho sah in der Liebe nur den Sinnentaumel oder den durch die Kristallbildung veredelten sinnlichen Genuß. Anakreon suchte in der Liebe nur einen Zeitvertreib der Sinne und des Geistes. Es gab im Altertume zu wenig Sicherheit, um die Muße zur Liebe aus Leidenschaft zu haben.
Die erwähnte Tatsache nötigt mich, ein wenig über die Leute zu lachen, die Homer über Tasso stellen. Die Liebe aus Leidenschaft existierte bereits in der Zeit Homers, und gar nicht so fern von Hellas.
Um bei leichten Sitten glücklich zu sein, dazu gehört eine Schlichtheit des Charakters, wie man sie wohl in Deutschland und in Italien, aber nie in Frankreich findet.
Bologna, den 18. April, 2 Uhr morgens
Weiblicher Stolz. Ich habe eben ein schlagendes Beispiel davon gesehen, aber alles in allem gerechnet, müßte ich fünf Seiten schreiben, um ein deutliches Bild davon zu geben. Noch lieber, wenn ich den Mut dazu hätte, möchte ich aus dem, was ich unwiderleglich gesehen habe, meine Schlußfolgerungen ziehen. Aber ich muß auf die Wiedergabe dessen, wovon ich überzeugt bin, verzichten. Es sind zu viele kleine Umstände dabei im Spiele. Dieser Stolz ist das Gegenstück zur Eitelkeit der Französinnen. Soweit ich mich entsinne, ist das einzige Buch, worin ich ihn skizziert gefunden habe, der Teil der Memoiren der Madame Roland, in dem sie kleine Beobachtungen aus ihrer Mädchenzeit erzählt.
Die maßlose Achtung vor dem Gelde, der große und erste Fehler des Engländers und des Italieners, ist in Frankreich weniger fühlbar und in Deutschland ganz und gar in den richtigen Schranken gehalten.
Die italienische Klugheit strebt nach Erhaltung des Lebens. Das regt das Spiel der Phantasie an. Im Gegensatz dazu erfordert die englische Klugheit, die nur darauf ausgeht, Geld zusammenzuscharren oder zu behalten, eine gewissenhafte, alltägliche Genauigkeit, deren Gewohnheit die Phantasie lähmt. Es ist auffällig, daß sie gleichzeitig den starrsten Begriff von Pflicht schafft.
Wenn man auf einem Rückzüge der Armee einen italienischen Soldaten auf eine unnötige Gefahr aufmerksam macht, so sagt er »danke« und geht jener Gefahr sorgfältig aus dem Wege. Wenn man einen französischen Soldaten aus Menschlichkeit auf die gleiche Gefahr hinweist, so glaubt er, man traue ihm nichts zu; er wird eigensinnig und ehrgeizig und rennt nun erst recht in die Gefahr hinein. Wenn er dürfte, würde er einen auslachen.
Vivacità, leggerezza, soggettissima a prendere puntiglio, occupazione di ogni momento della apparenze della propria esistenza agli occhi altrui: Ecco i tre gran caratteri di questa pianta che risveglia Europa nell 1808.
Unter den Italienern sind die die besten, die noch etwas Wildheit und etwas Hang zum Blutvergießen haben: die Menschen in der Romagna und in Calabrien und unter den kultivierten die in Brescia, Piemont und Korsika. Der Spießbürger von Florenz ist dümmer als der von Paris.
Ravenna, den 23. Januar 1820
Hierzulande werden die Frauen nur auf das Tatsächliche hin erzogen. Eine Mutter verheimlicht ihrer Tochter von zwölf bis fünfzehn Jahren weder ihren Liebeskummer noch ihr Liebesglück. Bekanntlich halten sich in diesem glücklichen Klima viele Frauen bis ins fünfundvierzigste Jahr vorzüglich und meistens heiraten sie mit achtzehn Jahren.
So sagte gestern die Balchiusa über Lampugnani: »Ja, der war ganz für mich geschaffen, der verstand es, zu lieben . . .« und unterhielt sich noch des längeren darüber mit einer Freundin in Gegenwart ihres Töchterchens, eines sehr geweckten Mädchens von vierzehn oder fünfzehn Jahren, das sie auch bei ihren sentimentalen Spaziergängen mit jenem Liebhaber gewöhnlich mitgenommen hatte.
Auf diese Weise eignen sich die jungen Mädchen bisweilen ausgezeichnete Grundsätze für ihr Verhalten an. Zum Beispiel erteilte die Signora Guarnacci ihren beiden Töchtern in Gegenwart zweier Herren, die eben ihren ersten Besuch machten, eine halbe Stunde lang tiefsinnige und durch Beispiele erläuterte Lehren über den Zeitpunkt, an dem man einen Geliebten, der sich schlecht beträgt, durch Untreue strafen müsse.
Modena, 1820
Zilietti sagte zu mir um Mitternacht bei der liebenswürdigen Marchesina R***: »Ich werde nicht zu San Michele (das ist ein Restaurant) zum Diner kommen; ich habe dort gestern ein paar Witze erzählt, habe mit Cl*** gescherzt, das könnte aufgefallen sein.«
Keineswegs darf man Zilietti für beschränkt oder ängstlich halten. Er ist ein verständiger und sehr wohlhabender Bewohner dieses glücklichen Landes.
Das Lächerliche ist der Tod der Liebe. In Italien gibt es nichts Lächerliches. Was in Venedig wohlanständig ist, erscheint in Neapel wunderlich. Folglich ist etwas, das Genuß bereitet, nie tadelnswert. Mit dem Wegfall falscher Ehrbegriffe schwindet die halbe Komödie der Gesellschaft.
Es ist ein Unglück, die italienische Schönheit kennen gelernt zu haben; man wird gefühllos. Außerhalb Italiens zieht man Gespräche mit Männern vor.
Im Jahre 1821 waren Haß, Liebe und Geiz die häufigsten und neben der Spielwut fast die einzigen Leidenschaften in Rom.
Die Römer erscheinen auf den ersten Blick bösartig, aber sie sind nur äußerst mißtrauisch und sie haben eine Phantasie, die beim geringsten Anlaß in Flammen auflodert.
Wenn sie einmal ohne Veranlassung bösartig sind, so geht es ihnen wie einem ängstlichen Manne, der bloß zu seiner Beruhigung seine Flinte abschießt.
Der Römer empfindet die Schönheiten der Natur und der Kunst mit erstaunlicher Kraft, Tiefe und Richtigkeit. Aber es ist jammervoll, wenn er über das reden will, was er so stark fühlt.
Man ersieht daraus, warum die Künste außerhalb Italiens nur ein schlechter Scherz sind; man redet besser über sie, aber die Masse des Volkes empfindet sie nicht.
Die Gewaltherrschaft eines Philipp des Zweiten hat die Gemüter seit 1530 so erniedrigt und lastet derart auf dem Garten der Welt, daß die armen italienischen Dichter noch nicht den Mut gehabt haben, den Roman des heimatlichen Bodens zu finden. Nach den Vorschriften des Naturalismus ist doch nichts einfacher: man muß freimütig zu komponieren wagen, was einem ringsum in die Augen fällt. Ich erinnere an den Kardinal Consalvi, der 1822 drei Stunden lang das Libretto einer komischen Oper auf Fehler hin durchsah und aufgeregt zu dem Maestro sagte: »Aber Sie bringen recht oft das Wort cozzar, cozzar!«
Zu meinem großen Leidwesen habe ich das Venedig von 1760 nicht sehen können.Anmerkung des Übersetzers: Stendhal führt in De l'Amour folgende Italienliteratur an:
– Lettres familières écrites d'Italie en 1739 et 1740 par Charles de Brosses, Paris, 1799. Neu herausgegeben von Romain Colomb, 2 Bände. Paris, Perrin, 1885, fünfte Auflage 1904. Diese Briefe gehören ebenfalls zu Beyles Lieblingsbüchern, vgl. Bd. V dieser Ausgabe, S. 447ff. Ein wie vielseitiger und verständiger Kenner Italiens Beyle selbst war, geht aus seinen Reisebildern »Rom, Neapel, Florenz« (1817), seinen »Wanderungen durch Rom« (1829) und aus seinen Briefen hervor. In dem erstgenannten Buch zitiert er auch Goethes »Italiänische Reise«. Der Band VIII der vorliegenden deutschen Stendhal-Ausgabe, »Italien«, wird eine Auslese aus Stendhals Italienschilderungen bringen.
– Dupaty, Präsident, Lettres sur l'Italie, Paris 1788, 2 Bände.
– Staël, Madame de, Corinne ou de l'Italie. Paris, 1804.
– Eustace, John Chetwode, A classical tour trough Italy, London, 1815, 4 Bde.
– Semple, Robert, Observations on a journay trough Spain and Italy to Naples etc. in 1805. London, 1807, 2 Bde.
– Sharp, Samuel, Lettres from Italy. London 1766.
– Smollet, Tobias George, Travers trough France and Italy. London, 1778, 2 Bde.
– Ginguené, P. L., Histoire littéraire de l'Italie Paris, 1811–35, 14 Bde.
Die weisen Akademiker erkennen die Sitten eines Volkes in seiner Sprache wieder. Italien ist das Land der Welt, wo man das Wort »Liebe« am seltensten gebraucht. Man sagt immer amicizia (für »Liebe«) und avvizinar (für »mit Erfolg den Hof machen«).
Die Gedichte des Giovanni Meli in sizilianischer Mundart sind entzückende, zarte Poesien, die leider ein wenig durch ihre mythologischen Anspielungen einbüßen.
Das Ave-Maria (die Dämmerzeit) ist in Italien die Stunde der Zärtlichkeit, der seelischen Freuden und der Melancholie. Die Empfindung wird durch den Klang der schönen Glocken gehoben.
Genußreiche Stunden, in denen die Sinne in Erinnerungen schwelgen. . .
Träumereien auf den Borromëischen Inseln. »Wenn eine wahre Leidenschaft auf Hindernisse stößt, so bringt sie aller Wahrscheinlichkeit nach mehr Unglück als Glück hervor. Wenn diese Behauptung für eine feinsinnige Seele nicht unbedingt zutrifft, so ist sie doch für die Mehrzahl der Männer vollkommen richtig, insbesondere für kalte Philosophen, die im Gebiete der Leidenschaften nur von Neugierde und Eigennutz leben.«
Diese Worte richtete ich gestern abend an die Contessa Fulvia, als wir zusammen auf der östlichen Terrasse der Isola Bella in der Nähe der großen Pinie hin und her gingen. Sie antwortete mir:
»Das Unglück übt auf das menschliche Leben einen viel stärkeren Einfluß aus als die Freude.«
»Alles, was darauf Anspruch erhebt,« – meinte ich, – »uns Genuß zu gewähren, muß in erster Linie stark wirken. Da das Leben selbst nur aus Empfindungen besteht, könnte man vielleicht sagen, daß der allgemeine Drang aller Lebewesen nach Anlässen sucht, um in möglichst starken Empfindungen zu leben. Die Nordländer sind wenig lebhaft; das sieht man schon aus ihren langsamen Bewegungen. Das dolce far niente der Italiener hingegen beruht in der Freude am Genusse seelischer Regungen, während man sich gemächlich auf einen Diwan hinstreckt. Ein solcher Genuß ist unmöglich, wenn man den ganzen Tag über im Sattel oder im Wagen sitzt wie der Engländer oder der Russe. Auf einem Diwan würden diese Menschen vor Langeweile sterben. Es gibt in ihrer Seele nichts zu beobachten.
»Die Liebe gewährt die denkbar stärksten Empfindungen; ein Beweis dafür ist es, daß – physiologisch ausgedrückt – im Augenblicke der Entflammung das Herz jene Gefühlsmischung zustande bringt, die Philosophen wie Helvetius, Buffon und anderen so töricht erscheinen. Luizina ist, wie Sie wissen, neulich in den See gestürzt, als sie mit ihren Blicken ein Lorbeerblatt verfolgte, das von irgend einem Baume der Isola Madre ins Wasser gefallen war. Die Ärmste hat mir gestanden, daß einmal einer ihrer Verehrer im Gespräche mit ihr die Blätter eines Lorbeerzweiges abgerissen und mit den Worten in den See geworfen hat: »Ihre Grausamkeit und die Verleumdungen Ihrer Freundin hindern mich, mein Leben auszunutzen und Ruhm zu erlangen. »Eine Seele, die durch große Leidenschaft, durch Ehrgeiz, Spiel, Liebe, Eifersucht oder Krieg Augenblicke der Herzensangst und des heftigsten Unglücks erfahren hat, verachtet in bizarrer Unverständlichkeit das Glück eines friedlichen und wunschlosen Lebens. Ein schönes Schloß in malerischer Gegend, großes Vermögen, eine gute Frau, drei hübsche Kinder, eine Menge liebenswerter Freunde: das alles ist nur eine kleine Lese dessen, was unser Wirt, General C***, besitzt, und doch wissen Sie, daß er uns erzählt hat, er sei nahe daran gewesen, nach Neapel zu gehen und den Oberbefehl über eine Guerillabande zu übernehmen. Eine für die Leidenschaften geschaffene Seele fühlt, daß ein solches glückliches Leben langweilig ist und vielleicht nur gewöhnliche Gedanken wachruft. »Ich möchte,´´ sagte damals der General, »daß ich nie das Fieber der großen Leidenschaften kennen gelernt hätte; ich möchte mich gern mit dem scheinbaren Glücke begnügen, über das man mir täglich so törichte Komplimente macht, auf die ich zum Überdruß auch noch liebenswürdig antworten muß.‘ Ich als Philosoph füge hinzu: Wollen Sie einen tausendsten Beweis, daß wir nicht von einem guten Wesen erschaffen worden sind, so ist es der, daß die Freude kaum halb so viel Eindruck auf unser Ich macht als das Leid.«Vgl. die Analyse des asketischen Prinzips in den Traités de législation civile et pénale von Bentham, I. Bd., Paris, 1802 (3 Bde.).
Die Contessa unterbrach mich: »Es gibt wenige seelische Leiden im Leben, die uns nicht durch die verursachte Erregung wertvoll würden. Wenn ein Körnchen Edelmut in der Seele vorhanden ist, so verhundertfacht sich der Genuß daran. Jener 1815 zum Tode verurteilte und durch Zufall gerettete Herr von Lavalette muß sich, wenn er damals mutig in den Tod gegangen ist, zehnmal im Monat jenen Augenblick vergegenwärtigen. Ein Feigling, der gleichfalls durch Zufall gerettet wird, kann sich im besten Falle nur deshalb mit Genuß an jenen Augenblick erinnern, weil er gerettet worden ist, aber nicht wegen des Schatzes an Edelmut, den er dabei in sich entdeckt und der ihn für immer von jeder Furcht befreit hat.«
Ich: »Die Liebe, selbst die unglückliche, verleiht einer edlen Seele, der Einbildung für Wahrheit gilt, den Schatz eines derartigen Genusses. Erhabene Phantasien von Glück und Schönheit bilden sich in ihr und versichern sie der Liebe des geliebten Wesens. Das sind Phantasiegebilde, die ein Verstandesmensch nie verstehen wird.«
Fulvia (gen Himmel blickend): »Gewiß, für Sie und für mich ist die Liebe, auch die unglückliche, das höchste Glück, vorausgesetzt daß unsere Verehrung für den Geliebten keine Grenzen kennt.«
Fulvia war dreiundzwanzig Jahre alt und die berühmteste Schönheit von ***. Ihre Götteraugen waren, als sie so sprach, gegen den schönen Mitternachtshimmel des Lago Maggiore gerichtet; die Gestirne schienen ihr zu antworten. Ich sah zur Erde und hatte keine philosophischen Gründe mehr, um sie zu bekämpfen. Sie fuhr fort:
»Und alles das, was man auf Erden Glück nennt, wiegt ihre Leiden nicht auf. Ich glaube, allein die Verachtung kann von dieser Leidenschaft heilen. Die Verachtung darf indessen nicht allzu stark sein, sonst wird sie zur Qual, nicht anders zum Beispiel, wie ihr Männer sie empfindet, wenn ihr seht, daß die Angebetete einen rohen und prosaischen Mann liebt.«
Prosaisch ist ein neues Wort, das ich früher lächerlich fand, denn nichts ist kälter als die französische Poesie. Wenn es in der Literatur Frankreichs in den letzten fünfzig Jahren etwas Wärme gibt, so ist es sicherlich in der Prosa. Aber die Contessa Bianca bediente sich des Wortes prosaisch und nun liebe ich es.
Eine Begriffserkläiung finde ich im »Don Quichotte« in dem schroffen Gegensatz des Ritters zum Knappen. Der Ritter groß und blaß, der Knappe feist und frisch, der eine ganz Held und Ritter, der andere selbstsüchtig und knechtisch, jener romantisch, phantastisch und sentimental, dieser voller Lebensklugheit und weiser Lebensregeln, jener mit einer nach gewaltigen und wagehalsigen Plänen durstenden Seele, dieser ein kluger Berechner aller kleinlichen, widerlichen und eigennützigen Regungen des Menschenherzens.
In dem Augenblicke, wo jener durch den Mißerfolg seiner gestrigen Phantastereien enttäuscht sein müßte, erträumt er sich bereits neue Luftschlösser für die Zukunft.
Man muß einen prosaischen Gatten und einen romantischen Geliebten haben.
Marlborough hatte eine prosaische Seele; Heinrich der Vierte, der sich mit fünfundzwanzig Jahren in eine junge Prinzessin verliebte, ein romantisches Herz. (Vgl. Dulaure, Histoire de Paris.)
Es gibt weniger prosaische Seelen unter dem Adel als im Bürgerstande.
Ein Nachteil des Handels liegt darin, daß er prosaisch macht.
Die Gesetze der Phantasie sind noch sehr wenig erforscht, und auch meine Ansicht, die ich im folgenden entwickle, ist vielleicht falsch.
Ich glaube zwei Arten der Phantasie unterscheiden zu können:
1. Die feurige, stürmische, der ersten Eingebung gehorchende Phantasie, die sich sofort in die Tat umsetzt, die sich selbst verzehrt und die hinsiecht, wenn man sie nur einen Tag zügelt. Die Ungeduld ist ihr Merkmal; gegen Unerreichbares gerät sie in Wut. Sie sieht nur die Außenseite aller Dinge, ist schnell von ihnen begeistert, sie assimiliert sie sich und deutet sie unverweilt zugunsten der eigenen Leidenschaft.
2. Die Phantasie, die sich nur allmählich und langsam erwärmt, dann aber mit der Zeit das Äußere der Dinge nicht mehr sieht und sich schließlich nur mit ihrer Leidenschaft beschäftigt und sich von ihr nährt. Diese Art der Phantasie ist sehr wohl mit langsamem Geiste und selbst mit dem Mangel aller geistigen Fähigkeiten vereinbar. Sie ist der Beständigkeit günstig. Die Mehrzahl der jungen deutschen Mädchen, die an Liebe und Blutarmut hinsiechen, leidet an ihr. Diese traurige Geschichte ist in Italien unbekannt.
Der Abbé Rousseau war (1784) ein armer junger Mensch, der von früh bis abends alle Stadtviertel ablaufen mußte, um Geschichts- und Geographiestunden zu geben. In eine seiner Schülerinnen verliebt wie Abälard in Heloise, wie Saint-Preux in Julie, weniger glücklich, aber anscheinend nahe daran, es zu werden, mit ebenso großer Leidenschaft wie jener, aber ehrlicher, zartfühlender und vor allem mutiger, hat er sich wahrscheinlich dem Gegenstande seiner Leidenschaft geopfert.
Nachdem er in einem Restaurant des Palais Royal zu Mittag gegessen hatte, ohne sich dabei irgendwelche Unruhe oder Zerstreutheit anmerken zu lassen, schoß er sich eine Kugel durch den Kopf. In dem polizeilichen Protokoll, das an Ort und Stelle aufgenommen wurde, ist die Abschrift des folgenden Billets erhalten, das er kurz vorher geschrieben hat und das wegen seiner Merkwürdigkeit aufbewahrt zu werden verdient:
»Der unbegreifliche Gegensatz zwischen dem Adel meiner Empfindungen und der Niedrigkeit meiner Geburt, eine ebenso heftige wie aussichtslose Liebe zu einem anbetungswürdigen Mädchen, die Furcht, ihr Unehre zu bereiten, die notwendige Wahl zwischen Verbrechen und Tod, – alles das hat mich bestimmt, das Leben zu verlassen. Für die Tugend geboren und nahe daran, ein Verbrecher zu werden, ziehe ich den Tod vor.« (Grimm, III, 2, 495.)
Ein bewundernswürdiger Selbstmord, und doch wird er den Sitten von 1880 abgeschmackt erscheinen.
Ein Mann, der Gift genommen hat, ist moralisch tot. Das Erstaunen über seine Tat und ihre Folgen nimmt ihm den Sinn für alles andere – mit wenigen Ausnahmen.
Die armen Trappisten sind Unglückliche, die nicht den Mut zum Selbstmord haben. Ausgenommen die Oberen, die den Genuß ihrer Macht haben.
Wenn eine Frau über den Tod ihres im Kriege gefallenen Geliebten verzweifelt ist und augenscheinlich die Absicht hegt, ihm nachzufolgen, so muß man zunächst prüfen, ob dieser Entschluß nicht der richtigste ist; andernfalls muß man die älteste menschliche Gewohnheit, den Selbsterhaltungstrieb, dagegen zur Geltung bringen.
Jena, März 1819
Der größte Vorwurf, den wir uns machen können, ist sicherlich der, daß wir die Ideen von Ehre und Gerechtigkeit, die von Zeit zu Zeit in unseren Herzen erstehen, sich verflüchtigen lassen, als ob sie luftige Traumgebilde wären.
Ein fester Entschluß macht mit einem Schlage aus dem schlimmsten Unglück eine erträgliche Lage.
Am Abend einer verlorenen Schlacht flieht ein Reiter auf einem ermatteten Pferde in schnellster Gangart; deutlich hört er die ihn verfolgende Patrouille hinter sich galoppieren. Plötzlich pariert er, springt vom Pferde ab, setzt neue Zündhütchen auf Karabiner und Pistolen und ist fest entschlossen, sich zur Wehr zu setzen. Sofort hat er nicht mehr den Tod, sondern das Kreuz der Ehrenlegion vor Augen.
Ich glaube, daß man den Wert eines Systems nach seinem Repräsentanten beurteilen kann. Richard Löwenherz brachte den höchsten Heldenmut und Rittersinn auf den Thron, und er war doch ein lächerlicher König.
Nichts ist falscher als das Sprichwort: »Niemand ist ein Held vor seinem Kammerdiener,« oder vielmehr, nichts ist im monarchischen Sinne wahrer bei einem affektierten Helden, zum Beispiel bei Hippolyt in Racines »Phädra«. Der General Desaix muß für seinen Kammerdiener – wahrscheinlich hatte er gar keinen – ebenso ein Held gewesen sein wie für jeden anderen Menschen. Ohne ihre Geziertheit und ihre unvermeidliche Komödiantenwürde wären Turenne und Fenelon Helden wie Desaix.
Um 1620 war es eine Ehre für einen Mann, wenn er so oft und so ergeben wie möglich sagte: »Mein Herr und König.« (Vgl. die Memoiren von Noailles und von Torcy). Das ist leicht erklärlich. Durch diese Redensart bekundete man seinen Rang unter den Untertanen. Der vom Könige verliehene Rang trug diesen Männern ebensoviel Achtung und Beachtung bei ihren Mitbürgern ein, wie sie im alten Rom ein Kämpfer am trasimenischen See oder ein Redner auf dem Forum genossen hat. Mit der Vernichtung der absoluten Monarchie vernichtet man die Eitelkeit und ihre weitgehenden Folgen, die Konvenienzen. Der Streit über Shakespeare und Racine ist nur ein Abbild des Kampfes zwischen dem Absolutismus Ludwigs des Vierzehnten und der Verfassung.
Wilna, 1812
»Sie sagen mir, Ehrgeiz vertreibe die Langeweile,« sagte Kamenski; »aber die ganze Zeit hindurch, wo ich jeden Abend eine Meile galoppierte, um die Prinzessin zu sehen, lebte ich in der Umgebung eines Fürsten, den ich verehrte, der mein ganzes Glück und die Befriedigung aller erdenklichen Wünsche in seiner Macht hatte.«
Loreto, den 11. September 1811
Ich habe soeben ein aus hiesigen Landleuten ausgehobenes, sehr schönes Regiment besichtigt. Es ist der Rest der viertausend Mann, die 1809 nach Wien marschiert sind. Ich schritt mit dem Obersten die Front ab und ließ mir von mehreren Soldaten ihre Geschichte erzählen. Es war die Tugend der mittelalterlichen Republiken, die mir da vor Augen trat, freilich verdorben durch das spanische Joch, die PfaffenMan lese die Vie de Saint Charles Borromée. Er hat Mailand umgewandelt und geschändet, die Rüstkammern leer und die Kirchen voll gemacht. und den zwei- bis dreihundertjährigen feigen und grausamen Kleinstaatsdespotismus, der auf dem Lande gelastet hat.
Die glanzvolle ritterliche Ehre, die ebenso erhaben wie sinnlos ist, ist eine exotische Pflanze, die erst kurze Zeit bei uns gezüchtet wird.
Um 1740 findet man noch keine Spur von ihr; (vgl. die »Briefe aus Italien« von de Brosses). Die Offiziere von Montenotte und Rivoli hatten zu viele Gelegenheiten, der Mitwelt die wahre Tugend zu beweisen, als daß sie eine Ehre zu heucheln brauchten, die unter den Zelten der Armee von 1796 unbekannt und nur absonderlich gewesen wäre.
Es gab 1796 keine Ehrenlegion und keine Schwärmerei für einen einzigen Mann, aber viel Schlichtheit und Tugend, wie sie Desaix hatte. Der Ehrbegriff ist also in Italien eingeführt worden durch Leute, die zu vernünftig und zu tugendhaft waren, um zu glänzen. Man fühlt den gewaltigen Unterschied zwischen den Soldaten von 1796, die in einem Jahre zwanzig Schlachten gewannen und dabei oft weder ordentliche Stiefel noch Röcke hatten, und den glänzenden Regimentern von Fontenoy, die den Engländern höflich und mit abgenommenen Hüten zuriefen: »Meine Herren, schießen Sie zuerst!«
Die Jugend von 1822. Wer von einer ernsten Neigung, einer tatenlustigen Veranlagung redet, redet von einem Opfer der Gegenwart an die Zukunft. Nichts erhebt die Seele mehr als die Kraft und die Gewohnheit, solche Opfer zu bringen. Ich prophezeie dem Jahre 1832 mehr große Leidenschaften, als das Jahr 1772 deren hatte.
Der liebenswürdige Donezan sagte gestern zu mir: »In meiner Jugend und noch weit in meine Zeit hinein – ich war 1789 fünfzig Jahr alt – trugen die Damen ihr Haar gepudert. Ich muß Ihnen gestehen, eine nicht gepuderte Dame ist mir zuwider. Der erste Eindruck ist stets der einer Kammerjungfrau, die keine Zeit zu ihrer Toilette gehabt hat.«
Es ist das der einzige Grund, den man gegen Shakespeare und zugunsten der drei Einheiten geltend machen kann. Ich kenne auch Leute, die Correggio und Michelangelo gering schätzen. Und sicherlich ist Herr Donezan ein außerordentlich gebildeter Mann.
Vater und Sohn. (Ein Gespräch aus dem Jahre 1787.) Der Vater (Minister): »Ich wünsche dir Glück, mein Junge. Es ist höchst angenehm für dich, vom Herzog von *** eingeladen zu sein. Für einen jungen Mann deines Alters ist das eine hohe Auszeichnung. Verfehle ja nicht, pünktlich um sechs Uhr im Palais *** zu sein.«
Der Sohn: »Ich vermute, daß Sie auch dort dinieren?«
Der Vater: »Der Herzog von ***, zuvorkommend wie stets gegen unsere Familie, hat in Anbetracht dessen, daß du zum ersten Male da bist, die Gewogenheit gehabt, mich mit einzuladen.«
Der Sohn, ein junger Mann aus bester Familie und von vorzüglicher Erziehung, stellt sich pünktlich im Palais *** ein. Es sind sieben Herren zu Tisch. Der Sohn ist seinem Vater gegenübergesetzt worden. Jeder Gast hat neben sich eine nackte Frau. Einige zwanzig Bediente in großer Livree servieren.
Einen festen Charakter haben, heißt lange und beständige Erfahrungen in den Enttäuschungen und Unglücksfällen des Lebens haben. Dann begehrt man entweder unbeugsam oder gar nicht.
Festigkeit im Charakter erwirbt man, wenn man den Einfluß anderer auf sich selbst erfahren hat, also durch äußere Einwirkung.
Wollen heißt den Mut haben, sich einer Unannehmlichkeit auszusetzen. Sich derartig aussetzen, heißt den Zufall versuchen, also spielen.
Es gibt Soldaten, die ohne das Spiel nicht leben können, die daher im Familienleben unerträglich sind.
Der uns angeborene Nachahmungstrieb ist daran schuld, daß wir die Leidenschaften unserer Eltern annehmen, selbst wenn diese Leidenschaften unser eigenes Dasein vergiftet haben.
Vom sechsten Jahre ab gewöhnen wir uns daran, das Glück auf dem gleichen Wege zu suchen wie unsere Eltern.
Orscha, 13. August 1812
Leben, das heißt das Leben fühlen, heißt starke Empfindungen haben. Da jedoch die Wirkung dieser Kraft für jedes Individuum verschieden ist, so ist das, was für den einen Menschen zu stark ist, gerade so viel, als ein anderer zu seiner Anregung braucht, zum Beispiel das Gefühl, im feindlichen Feuer von den Geschossen verschont zu bleiben, das Gefühl, tief in Rußland zur Verfolgung jener Barbaren einzudringen. Ein Gleiches gilt von der Tragödie Racines und Shakespeares.
Große Seelen sind nicht leicht zu finden; sie verbergen sich. Für gewöhnlich sieht man nur ein wenig Originalität. Es gibt mehr große Seelen, als man glaubt.
Alles kann man in der Einsamkeit erwerben, nur nicht Charakter.
Die Einsamkeit ist zum Genusse der eigenen Seele und der Liebe nötig. Wer aber Erfolg haben will, muß die Welt kennen gelernt haben.
Messe in den Tuilerien, 1811
Bei Hoffestlichkeiten erinnern die enthüllten Busen der Damen, die sie zur Schau tragen wie die Offiziere ihre Paradeuniformen und die doch bei allem Reiz keine Empfindungen in uns erwecken, unwillkürlich an die geistreichen Schilderungen Aretins.
Man sieht, wie die ganze Gesellschaft aus Geldgier dem einen Manne, dem Kaiser, zu gefallen sucht, man sieht eine große Menge ohne Moral und ohne Leidenschaft einmütig dasselbe Ziel verfolgen, und das alles im Beisein sehr entblößter Frauen mit der Physiognomie der Bosheit und des sardonischen Lächelns für alles, was nicht persönlichen Vorteil bringt oder mit barem Genusse bezahlt wird. Es gibt das eine Vorstellung vom Leben im Bagno und zerstreut alle Bedenken, die die Tugend oder das innere Glück in einer selbstzufriedenen Seele entstehen läßt.
Mitten in diesem Wirrwarr ergreift einen das Gefühl der Vereinsamung und stimmt zärtliche Herzen zur Liebe.
Nur ein sehr kleiner Teil der Kunst glücklich zu sein ist eine exakte Wissenschaft, eine Art Leiter, auf der die Menschheit in jedem Jahrhundert sicherlich eine Sprosse höher steigt; es ist der Teil, der von der Regierung abhängt. Und auch das ist Theorie; mir kommen die Venezianer von 1770 glücklicher vor als die Menschen in Philadelphia von heute.
Übrigens ist es mit der Kunst glücklich zu sein wie mit der Dichtkunst. Abgesehen von der Vervollkommnung der Technik hatte Homer vor zweitausend Jahren mehr Begabung als Lord Byron.
Wenn ich aufmerksam im Plutarch lese, glaube ich zu erkennen, daß man in Sizilien zur Zeit Dions, obwohl es damals weder Buchdruckereien noch Eispunsch gab, glücklicher war, als wir es heutzutage zu sein verstehen.
Ich möchte lieber ein Araber des fünften Jahrhunderts als ein Pariser des neunzehnten sein.
Ich nenne Freude jede Wahrnehmung der Seele, die sie lieber empfinden, als nicht empfinden möchte, und Schmerz jede Wahrnehmung, die sie lieber nicht empfinden, als empfinden möchte, (Maupertuis.)
Wenn ich lieber einschlafen möchte, als das empfinden, was ich gerade empfinde, so leide ich. Folglich ist die Liebessehnsucht kein Leid, denn der Liebende verläßt die angenehmste Gefellschaft, um sich ungestört seinen Träumereien hinzugeben.
Durch lange Dauer werden körperliche Freuden vermindert, Leiden vergrößert. Seelische Freuden hingegen vergrößern oder vermindern sich je nach der Dauer der Leidenschaft; seelische Leiden werden durch die Zeit abgeschwächt. Wie viele untröstliche Witwen trösten sich mit der Zeit.
Nehmen wir einen Mann, der sich im Zustande der Gleichgültigkeit befindet, und es widerfährt ihm eine Freude. Ein anderer Mann befindet sich in einem Zustande heftigen Schmerzes, und dieser Schmerz hört plötzlich auf. Ist nun die Freude beider Menschen von gleicher Beschaffenheit? Ich sage: nein.
Nicht alle Freuden entstehen aus dem Aufhören des Schmerzes. Jemand, der lange Zeit hindurch sechstausend Franken Jahreseinnahme gehabt hat, gewinnt fünfhunderttausend Franken in der Lotterie. Dieser Mann war nicht daran gewöhnt, nach Dingen zu trachten, die man nur mit einem großen Vermögen erlangen kann. (Ich will beiläufig bemerken, daß es einer der Nachteile des Pariser Lebens ist, diese Gewohnheit mit Leichtigkeit zu verlieren.)
Man hat eine Maschine zum Schneiden der Gänsefedern erfunden. Ich habe sie mir heute vormittag gekauft. Sie macht mir große Freude, denn ich hatte zum Federnschneiden keine Geduld. Aber trotzdem war ich gestern, wo ich diese Maschine noch nicht kannte, nicht unglücklich. War Petrarca unglücklich darüber, daß er den Kaffee nicht kannte?
Wozu das Glück definieren? Jedermann kennt es. Wir fühlen es, wenn wir das erste Rebhuhn im Fluge erlegt haben, wenn wir gesund und munter aus dem ersten Gefecht heimkehren . . .
Die Freude über das Aufhören eines Schmerzes ist sehr flüchtig, und die Erinnerung daran nicht einmal immer angenehm. Einer meiner Kameraden wurde in der Schlacht bei Borodino durch einen Granatsplitter in der Hüfte verwundet. Nach einigen Tagen drohte das Wundfieber. Schnell wurden Beclard, Larrey und ein paar andre berühmte Chirurgen zusammenberufen. Eine Beratung fand statt, deren Ergebnis meinem Freunde kund tat, es sei kein Wundfieber. In jenem Augenblicke beobachtete ich, daß er glücklich war. Sein Glück war groß, aber nicht ungetrübt. Im geheimen nagte an seiner Seele der Argwohn, daß er doch noch nicht über alle Gefahr hinaus sei. Er wollte den Ärzten nicht recht trauen und machte sich über ihre Glaubwürdigkeit Gedanken. Immer wieder dachte er an die Möglichkeit des Wundfiebers. Wenn man ihm heute nach zehn Jahren jene ärztliche Beratung erwähnt, hat er eine schmerzliche Empfindung. Sofort übermannt ihn die Erinnerung an das erlebte Unglück.
Die Freude über das Aufhören eines Schmerzes besteht darin:
erstens, über alle Einwände unseres Inneren obzusiegen,
zweitens, alle verlorenen Vorteile wieder zu haben.
Die Freude über einen Gewinn von fünfhunderttausend Franken besteht darin, sich alle die neuen und außergewöhnlichen Genüsse in der Phantasie vorzustellen, die man sich nun verschaffen wird.
Eine seltsame Ausnahme gibt es. Man muß in Betracht ziehen, ob der Gewinner sich vordem in zu hohem oder in zu geringem Maße ein großes Vermögen erträumt hat. Hat er keine großen Wünsche gehabt, und ist er ein beschränkter Kopf, so wird er zwei bis drei Tage überhaupt gar nicht wissen, was er mit dem Gelde anfangen soll. Hat er zu große Wünsche gehabt, so hat er sich allen Genuß bereits vorweg genommen, er hat sich den Genuß zu lebhaft ausgemalt.
Dieses Unglück gibt es in der Liebe aus Leidenschaft nicht. Ein hell loderndes Herz denkt nicht an die letzte, höchstens an die nächste Gunstbezeugung der Geliebten. Hat sie uns grausam behandelt, so sehnen wir uns nach einem Händedruck von ihr. Weiter hinaus hegt die Phantasie keine Wünsche. Will man sie dazu zwingen, so läßt sie uns schnell im Stich, aus Furcht, die Geliebte zu entweihen.
Hat die Freude ihr Ende gefunden, so sinken wir natürlich in den Zustand der Gleichgültigkeit zurück. Aber diese Gleichgültigkeit ist eine andere als früher.
Der zweite Zustand unterscheidet sich von dem ersten dadurch, daß wir vorher empfänglicher für den Genuß waren und daß wir mit mehr Entzücken das Glück genießen konnten. Jetzt sind die genießenden Organe ermattet, und unsere Phantasie hat keine Neigung mehr, jene Gedanken wachzurufen, die das nun befriedigte Begehren reizten.
Wenn man uns dagegen mitten im Glück dem Genusse entreißt, fühlen wir Leid.
Die Freude macht nicht halb so viel Eindruck wie der Schmerz, und unser Mitgefühl wird durch eine Schilderung des Glückes weit weniger in Mitleidenschaft gezogen als durch eine Schilderung des Unglücks. Deshalb können auch die Künstler das Unglück nie erschütternd genug darstellen. Nur vor einer Klippe müssen sie sich hüten, vor Dingen, die Abscheu erregen.
Durch die einfache Tatsache des Vorhandenseins einer Monarchie, wie die Ludwigs des Vierzehnten, die vom Adel umgeben ist, wird alles, was in den Künsten einfach ist, grob. Der Aristokrat, vor dem sie sich entfalten, fühlt sich abgestoßen. Diese Empfindung ist aufrichtig und deshalb achtbar.
Man sehe nur zu, wie der schwächliche Racine die heroische und im Altertum so sehr verherrlichte Freundschaft des Orest und Pylades aufgefaßt hat. Orest duzt Pylades, und dieser redet jenen mit »Herr« an. Und doch soll Racine unser erschütterndster Dramatiker sein! Wer auf ein solches Beispiel hin kein Einsehen hat, mit dem ist über dieses Thema überhaupt nicht zu reden.
Wenn es überhaupt einen Zeitpunkt gibt, an dem die Gefangenschaft – nach der landläufigen und von gewöhnlichen Menschen als vernünftig bezeichneten Anschauung – erträglich ist, so müßte es der sein, an dem ein armer Gefangener nach mehreren Jahren Gefängnis nur noch ein bis zwei Monate bis zur Wiedererlangung der Freiheit zählt. Aber die Kristallbildung will es anders. Der letzte Monat ist qualvoller als die letzten drei Jahre. Man hat mir berichtet, daß im Gefängnis von Melun mehrere langeingekerkerte Sträflinge wenige Monate vor dem Tage ihrer Entlassung vor Ungeduld gestorben sind.
Nur eine große Seele wagt es, einen einfachen Stil zu haben. Das ist auch der Grund, weshalb Rousseau in die »Neue Heloise« so viel Rhetorik gelegt hat, und weshalb man sie mit dreißig Jahren nicht mehr lesen mag.
Der Einfluß des Ranges auf das Genie ist bei einem Emporkömmling stets zu verspüren. Ich erinnere an Rousseau, der sich in alle großen Damen verliebte, die ihm im Leben begegneten, und der vor Entzücken weinte, als der Herzog von L***, einer der fadesten Höflinge seiner Zeit, nach rechts anstatt nach links zu gehen geruhte, um Coindet, einen Freund Rousseaus, zu begleiten.
Der größte Philosoph, den die Franzosen gehabt haben, hätte in der Einsamkeit der Alpen leben müssen, an irgend einem weltfernen Orte, und von da sein Buch nach Paris schleudern, ohne selbst jemals hinzukommen. Helvetius war ein so einfacher, ehrlicher Mensch, daß gezierte und unnatürliche Leute wie Suard, Marmontel und Diderot nicht begreifen konnten, daß er ein großer Philosoph war. Sie verstellten sich nicht, wenn sie seine tiefe Weisheit geringschätzten. Zunächst war sie einfach, was in Frankreich eine unverzeihliche Sünde ist, und dann zeigte der Verfasser, aber nicht sein Buch, eine Schwäche; er legte nämlich einen sehr großen Wert auf das, was man in Frankreich gloire (Berühmtheit) nennt, und wollte wie seine Zeitgenossen Balzac, Voiture und Fontenelle in Mode sein.
Rousseau hatte zu viel Empfindsamkeit und zu wenig scharfen Verstand, Buffon zu viel Heuchelei mit seinem botanischen Garten und Voltaire zu viel Kindereien im Kopfe, um den Grundgedanken des Helvetius richtig beurteilen zu können.
Helvetius hat den kleinen Fehler begangen, jenen Grundgedanken »Interesse« zu nennen, anstatt ihm den hübschen Namen »Vergnügen« zu geben.
»Torva leaena lupum sequitur, lupus ipse capellam,
Florentem cytisum sequitur lasciva capella.
... Trahit sua quemque voluptas.«
Virgil
Ein Mann von mittelmäßigem Geist, wie zum Beispiel der Prinz Eugen von Savoyen, wäre an Regulus Stelle ruhig in Rom geblieben und hätte sich am Ende über die Dummheit des Senats von Karthago lustig gemacht. Regulus kehrt nach Karthago zurück. Trotzdem wäre Prinz Eugen genau so seinem individuellen Interesse gefolgt wie Regulus.
In fast allen Ereignissen des Lebens sieht eine vornehme Seele die Möglichkeit einer Handlung, von der eine gewöhnliche Seele keine Ahnung hat. Im Augenblick, wo die vornehme Seele diese Möglichkeit erkennt, hat sie das Interesse, die Tat auszuführen. Wenn sie diese sich anbietende Tat unterließe, würde sie sich selbst verachten, sie würde unglücklich werden. Unsere Pflichten hängen von der Tragweite unseres Geistes ab.
Der Grundgedanke des Helvetius ist wahr, selbst in den törichtsten Übertreibungen der Liebe, sogar beim Selbstmord. Es ist widernatürlich und unmöglich, daß der Mensch nicht immer und in jedem beliebigen Augenblicke das tun soll, was gerade möglich ist und was ihm den größten Genuß bereitet.
Die Veranlagung zur Liebe aus Sinnlichkeit und besonders zum sinnlichen Genuß ist bei beiden Geschlechtern sehr verschieden. Im Gegensatz zu den Männern sind fast alle Frauen mindestens einer Art von Liebe fähig. Vom ersten Roman an, den eine Frau mit fünfzehn Jahren heimlich gelesen hat, wartet sie im stillen auf die Liebe. In einer großen Leidenschaft sucht sie den Beweis ihres Wertes. Diese Erwartung verdoppelt sich mit zwanzig Jahren, wenn die ersten Jugendtorheiten überwunden sind; die Männer dagegen meinen, wenn sie kaum dreißig Jahre alt sind, es gäbe keine Liebe oder sie sei lächerlich.
Je mehr wir die Gehörnerven anspannen, um jede einzelne Note herauszuhören, um so sinnlicher sind wir im Genusse der Musik.
Das Bild der ersten Liebe ist immer rührend. Warum? Weil es fast in allen Zonen und bei allen Charakteren gleich ist.
Daraus folgt, daß die erste Liebe nicht die leidenschaftlichste ist.
Die erste Liebe eines jungen Mannes, der in die Welt tritt, ist gewöhnlich Liebe aus Eitelkeit. Selten wählt er ein sanftes, liebenswertes, unschuldiges junges Mädchen. Wie kann er zittern, anbeten, Empfindungen haben, außer vor einer Göttin? Ein junger Mensch muß ein Wesen lieben, dessen Eigenschaften ihn in seinen Augen erhöhen. Auf dem Abstieg des Lebens zweifelt man am Erhabenen und bescheidet sich, das Einfache und Unschuldige zu lieben. Zwischen beiden Gegensätzen liegt die wahre Liebe, die nur an sich selbst denkt.
Die Liebe in der höchsten Gesellschaft ist Liebe am Kampf, Liebe am Spiel.
Sei es aus Eitelkeit, aus Mißtrauen oder aus Furcht vor unglücklicher Liebe: die meisten Weltmänner beginnen eine Frau erst nach ihrer Hingabe zu lieben.
Je allgemeiner man gefällt, um so flüchtiger gefällt man.
Die galanten Frauen erniedrigt der Gedanke, den sie selbst haben und den man von ihnen hat, nämlich der, daß sie einen großen Fehltritt begehen.
Am Ende eines Besuches behandelt man schließlich einen Geliebten immer besser, als man möchte.
Nichts tötet die Liebe aus Galanterie schneller als Anwandlungen von Liebe aus Leidenschaft.
Wenn man in der Liebe das Geld teilt, so steigert man die Liebe; wenn man welches gibt, tötet man sie. Man bannt das augenblickliche Unglück und die häßliche Furcht vor künftigem Mangel, oder besser gesagt, man ruft die Empfindung hervor, daß man zu zweit ist, und die daraus entstehende Politik; man zerstört die Einheit.
Die Liebe ist wie ein Fieber, das zwei Menschen gleichzeitig befällt. Wer von beiden zuerst gesundet, den langweilt der andere gräßlich.
Ein Liebeszeichen können eigennützige Frauen nicht erheucheln. Liegt wahre Freude in der Wiederversöhnung? Oder denkt man dabei etwa an Vorteile, die daraus ersprießen?
Ein Mann von cholerischem Temperament, wenn er ein nicht zu abstoßendes Äußeres hat, ist vielleicht am meisten geeignet, die Phantasie der Frauen zu reizen und zu entzünden. Wird ein solcher Charakter einmal von einer Frau verstanden, so muß er sie fortreißen; ja, selbst ein Mann, wie der wilde und fanatische Balfour in Scotts Old Mortality. Er ist für sie der Gegensatz zum Prosaischen.
Eine Frau, die sich einem Manne hingibt, muß mit ihren Kleidern nach und nach die Schamhaftigkeit fallen lassen und sie mit ihnen wieder anlegen.
Wenn die Seele bemüht ist, falsche Scham, die sie bedroht, zu bekämpfen, so ist sie nicht genußfähig. Genuß ist Luxus. Um zu genießen ist ungefährdete Ruhe nötig.
Alviza bezeichnet es als einen unverzeihlichen Mangel an Zartgefühl, Briefe, in denen man von Liebe spricht, an eine Frau zu wagen, die man anbetet, die einem aber unter zärtlichen Blicken schwört, daß sie einen nie lieben wird.
Prüderie ist eine Art von Geiz, die allerschlimmste.
Die achtbarste Quelle des weiblichen Stolzes ist die Furcht, in den Augen des Geliebten durch irgend einen voreiligen Schritt oder durch eine Handlung zu verlieren, die ihm unweiblich erscheinen könnte.
Wenn man vor den Augen des Zuschauers das Gefühl der Tugend im Gegensatz zu dem der Liebe darstellt, so findet man, daß man ein Herz, in zwei Empfindungen zerlegt, geschildert hat. In Romanen ist die Tugend nur dazu gut, um geopfert zu werden. Man denke an Rousseaus Julie.
Woher rührt die Unduldsamkeit der Stoiker? Aus derselben Quelle wie die der strengsten Frömmler. Sie sind mißmutig, weil sie gegen die Natur kämpfen, sich Entbehrungen aufbürden und weil sie leiden. Wenn sie sich ernstlich über den Haß Rechenschaft ablegen wollten, den sie gegen die Anhänger einer weniger strengen Moral hegen, so müßten sie sich eingestehen, daß er einer geheimen Eifersucht auf das Glück entspringt, um das sie die anderen beneiden und dem sie entsagt haben, ohne an die Belohnungen zu glauben, die sie für ihr Opfer entschädigen sollen. (Diderot)
Frauen, die oft schlechter Laune sind, sollten sich fragen, ob sie mit ihrem Benehmen wirklich den Weg eingeschlagen haben, den sie aufrichtig für den Weg zum Glück halten. Liegt im Herzensgrunde einer Prüden nicht ein wenig Mangel an Mut, vermischt mit etwas niedriger Rachsucht?
Die öffentliche Meinung hat von Dingen des Gefühls nur niedrige Anschauungen und doch machen Frauen das Urteil der großen Menge zum höchsten Richter ihres Lebens. Selbst die hervorragendsten tun es, oft ohne es zu merken und trotzdem sie selbst anders denken. Es ist das ein großer Fehler, der jeden rechten Mann tief verletzen muß.
Die Frauen glauben im ersten besten Trottel oder in der ersten besten falschen Freundin, die sich vor ihnen als treue Dolmetscher der öffentlichen Meinung aufspielen, die Stimme der letzteren zu vernehmen.
Aus dem Tagebuchs Saluiatis, Mailand, 22. Juli 1819 Eine ehrbare Frau hält sich auf ihrem Landgute eine Stunde lang im Treibhause mit ihrem Gärtner auf. Leute, mit denen sie sich nicht gut steht, beschuldigen sie einer Liebschaft mit dem Gärtner.
Was soll sie dagegen sagen? Die Sache ist ja möglich. Sie könnte entgegnen: »Mein Charakter spricht für mich, meine ganze Lebensführung.« Aber auch das ist ganz unsichtbar für boshafte Menschen, die nichts sehen wollen, und für Dumme, die nichts sehen können.
Am meisten nachsichtig, weil am glücklichsten, ist die unbefangene Tugend.
Unmittelbar nach diesem Glücke kommt das einer jungen, hübschen und leichtlebigen Frau, die sich keine Vorwürfe macht.
In Messina spricht man der Gräfin Vicenzella Schlechtes nach. »Was wollen die Leute,« sagt sie, »ich bin jung, frei, reich und vielleicht auch nicht häßlich. Ich wünsche allen Frauen Messinas nicht mehr und nicht weniger. (Delfante)
In Italien überlassen sich die jungen Mädchen, wenn sie lieben, völlig den Eingebungen der Natur. Höchstens werden sie noch durch ein paar recht treffliche Lebensregeln beeinflußt, die sie beim Lauschen an den Türen gelernt haben.
Als ob es der Zufall so wollte, daß hier alles auf die Erhaltung der Natürlichkeit hinwirkt, lesen sie auch keine Romane, aus dem einfachen Grunde, weil es keine gibt.
In Genf und in Frankreich dagegen verlieben sich die jungen Mädchen mit sechzehn Jahren, um einen Roman zu erleben, und bei jedem Schritte und bei jeder Träne fragen sie sich: »Benehme ich mich jetzt auch so gut wie Julie von Etanges?«
Natürlichkeit. Heute abend habe ich an einem jungen Mädchen, das allerdings einen großen Charakter zu haben scheint, den Triumph der Natürlichkeit gesehen oder glaube ihn wenigstens gesehen zu haben. Melanie verehrt augenscheinlich einen ihrer Vettern und ist sich auch ihres Herzenszustandes bewußt. Der Vetter liebt sie; aber, weil sie ihm gegenüber sehr ernst ist, denkt er, er gefalle ihr nicht, und läßt sich von den auffälligen Gunstbezeugungen Claras, einer jungen Witwe, der Freundin Melanies, fesseln. Ich glaube, er wird sie heiraten. Melanie sieht es und leidet alle Qualen, die ein stolzes und gegen seinen Willen von heftiger Leidenschaft erfülltes Herz erdulden kann. Sie brauchte ihr Benehmen nur ein wenig zu ändern, aber sie hält es für eine niedrige und für ihr ganzes Leben folgenschwere Handlung, nur einen Schritt vom Natürlichen abzuweichen.
Ich habe kürzlich in einem schönen Schlosse in der Umgegend von Paris einen sehr hübschen, begüterten und geistreichen jungen Mann von kaum zwanzig Jahren kennen gelernt. Der Zufall führte ihn dort beinahe allein und für lange Zeit mit einem bildschönen achtzehnjährigen Mädchen zusammen, das begabt, äußerst feingeistig und ebenfalls sehr reich ist. Wer hätte nun nicht eine Leidenschaft erwartet? Nichts davon; die Geziertheit war bei diesen beiden reizenden Wesen so groß, daß jeder vollauf mit sich selbst und dem Eindruck, den er hervorrufen wollte, beschäftigt war.
Kinder weinen, um ihren Willen durchzusetzen, und wenn man nicht darauf hört, stellen sie sich krank. Junge Frauen sind beleidigt aus Eigenliebe.
Schmeicheleien, die man kleinen dreijährigen Mädchen sagt, sind entschieden das sicherste Mittel, ihnen die verderblichste Eitelkeit anzuerziehen. Hübsch sein ist die erste Tugend und die nützlichste in der Welt. Hübsche Kleider haben, heißt hübsch sein.
Gestern abend hörte ich zwei reizende kleine Mädchen von vier Jahren, als ich sie schaukelte, recht leichtsinnige Liebeslieder singen. Die Dienstmädchen bringen ihnen solche Lieder bei, und ihre Mutter sagt ihnen, daß »Liebe« und »Geliebter« inhaltlose Wörter seien.
Zart besaitete Seelen bedürfen einer Frau gegenüber der Ungezwungenheit, ehe sich ihre Liebe entwickelt.
Der General Teulié sagte mir heute abend, er hätte entdeckt, was ihn in Gesellschaft von affektierten Frauen so schrecklich wortkarg und kalt mache; er fühlte sich hinterher bitter beschämt, vor solchen Geschöpfen seine Empfindungen mit Wärme offenbart zu haben.
Er war einer von den Menschen, die nichts zu sagen wissen, wenn sie nicht mit ganzer Seele reden dürfen. Er wußte selbst sehr gut, daß er sich auf die konventionelle Plauderei und den guten Ton nicht verstand. Dadurch war er in den Augen unnatürlicher Frauen wirklich lächerlich und unbegreiflich. Der Himmel hatte ihn nicht zum Gesellschaftsmenschen geschaffen.
Vollkommene Natürlichkeit und völliges Vertrautsein sind nur in der Liebe aus Leidenschaft zu finden, denn in allen anderen Arten der Liebe denkt man an die Möglichkeit eines glücklicheren Rivalen.
Je heftiger jemand verliebt ist, um so größere Gewalt muß er sich antun, um eine vertrauliche Berührung der Geliebten zu wagen und den Zorn eines Wesens herauszufordern, das ihm wie eine Gottheit zugleich die größte Liebe und den höchsten Respekt einflößt.
Diese Furcht, die Folgen einer zu zärtlichen Leidenschaft, oder in der Liebe aus Galanterie die falsche Scham, die aus einem maßlosen Wunsche zu gefallen und aus dem Mangel an Zuversicht entspringt, erweckt ein äußerst peinliches Gefühl, das einem unüberwindlich vorkommt und dessen man sich schämt. Wenn aber die Seele damit beschäftigt ist, Scham zu empfinden und diese zu überwinden, so kann sie sich nicht dem Genusse überlassen; denn ehe man an den Genuß, einen Luxus, zu denken vermag, muß das Gefühl der Sicherheit unbedingt sein.
Das Schamgefühl ist eine der Quellen der Putzsucht; durch Anlegen von Schmuck erklärt sich eine Frau mehr oder weniger. Darum ist auch die Putzsucht im Alter so unangebracht. Eine Frau in der Provinz, die danach trachtet, die Pariser Moden mitzumachen, gibt falsche Versprechungen und macht sich lächerlich. Eine Kleinstädterin, die nach Paris kommt, muß sich anfangs kleiden, als ob sie dreißig Jahre alt sei.
Das Gewöhnliche lähmt die Phantasie und verursacht bei mir sofort tödliche Langeweile.
Genaueres Bekanntwerden zerstört mitunter die Kristallbildung. Ein reizendes, sechzehnjähriges junges Mädchen verliebte sich in einen schönen jungen Mann gleichen Alters, der es nicht versäumte, ihr jeden Abend zur Vesperstunde eine Fensterpromenade zu machen. Ihre Mutter lud ihn auf acht Tage nach ihrem Landgute ein. Ich gebe zu, daß das Mittel gewagt war, aber das junge Mädchen hatte eine romantische Seele und der junge Mann war ein wenig fad. Nach drei Tagen verachtete sie ihn.
Wenn die Liebe durch einen zu schnellen Sieg in ihrer Entwickelung gehindert wird, kann sich die Kristallbildung bei zarten Charakteren hinterher zu äußern suchen. Sie sagt lächelnd: »Ich liebe dich ja gar nicht!«
Die Kristallbildung kann nicht durch Menschen erregt werden, die Abbilder unserer selbst sind. Die gefährlichsten Rivalen sind Menschen von ganz entgegengesetztem Charakter.
Ich kann nicht umhin, hier einen Brief einzufügen, den eine junge Deutsche in schlechtem Englisch geschrieben hat. Er beweist, daß es ausharrende Liebe gibt und daß nicht alle genialen Männer wie Mirabeau sind. Der berühmte Dichter Klopstock galt in Hamburg für einen liebenswürdigen Mann. Folgendes schrieb seine junge Frau an eine vertraute Freundin:
»After having seen him two hours, I was obliged to pass the evening in a company, which never had been se wearisome to me. I could not speak, I could not play; I thought I saw nothing but Klopstock; I saw him the next day, and the following and we were very seriously friends. But the fourth day he departed. It was a strong hour, the hour of his departure! He wrote soon after and from that time our correspondence began to be a very diligent one. I sincerely believed my love to be friendship. I spoke with my friends of nothing but Klopstock, and showed his letters. They raillied at me and said I was in love. I raillied then again, and said that they must have a very friendshipless heart, if they had no idea of friendship to a man as well as to a woman. Thus it continued eight months, in which time my friends found as much love in Klopstock's letters as in me. I perceived it likewise, but I would not believe it. At the last Klopstock said plainly that he loved; and I startled as for a wrong thing; I answered that it was no love, but friendship, as it was what I felt for him; we had not seen one another enough to love (as if love must have more time than friendship). This was sincerely my meaning, and I had this meaning till Klopstock came again to Hamburg. This he did a year after we had seen one another the first time. We saw, we were friends, we loved; and a short time after, I could even tell Klopstock that I loved. But we were obliged to part again, and wait two years for our wedding. My mother would not let me marry a stranger. I could marry then without her consent, as by the death of my father my fortune depended not on her; but this was a horrible idea for me; and thank heaven that I have prevailed by prayers! At this time knowing Klopstock, she loves him as her lifely son, and thanks god that she has not persisted. We married and I am the happiest wife in the world. In some few months it will be four years that I am so happy ...« (Correspondence of Richardson, III, 147)
Den Memoiren von Mrs. Hutchinson entnehme ich folgenden merkwürdigen Beweis für den Wahnsinn der Kristallbildung (I, 83):
». . . Er erzählte Mr. Hutchinson die Geschichte eines Fremden, der sich vor kurzem in Richmond niedergelassen hatte, um daselbst einige Zeit zu bleiben. Bei seiner Ankunft fand er alle Welt über den eben erfolgten Tod einer Dame schmerzlich bewegt. Überall hörte er dieselbe Klage, so daß er sich schließlich nach Einzelheiten aus dem Leben dieser allgemein betrauerten Dame erkundigte. Er fand an diesen Mitteilungen ein so starkes Interesse, daß ihm gar nichts anderes mehr Freude bereitete, und bald mochte er keine andere Unterhaltung mehr anhören, verfiel in die tiefste Schwermut, suchte überall nach den Spuren der Verstorbenen, verbrachte ganze Tage in Schmerz und Tränen und starb nach wenigen Monaten vor Verzweiflung. Und diese Geschichte war buchstäblich wahr.«
»Gottfried Rudel, Prinz von Blaya, ein sehr vornehmer Herr, verliebte sich in die Gräfin von Tripolis, ohne sie je gesehen zu haben, weil er von Pilgern, die aus Antiochia zurückkehrten, sehr viel Gutes und Ritterliches über sie vernommen hatte, und dichtete auf sie viele Lieder mit schönen Weisen und schlichten Worten. Aus Sehnsucht sie zu sehen, nahm er das Kreuz und schiffte sich ein, um zu ihr zu fahren. Unterwegs befiel ihn eine schwere Krankheit, so daß ihn seine Begleiter für tot hielten. Sie brachten ihn indessen in eine Herberge nach Tripolis. Man benachrichtigte die Gräfin; sie kam an sein Lager und nahm ihn in ihre Arme. Er fühlte, daß es die Gräfin war, konnte wieder hören und sehen, lobte Gott und dankte, daß er ihm das Leben so lange gelassen habe, bis er sie gesehen. So starb er in den Armen der Gräfin, und sie ließ ihn im Hause der Templer zu Tripolis mit Ehren bestatten. Am selben Tage ging sie aus Schmerz um ihn und seinen Tod ins Kloster.« (Übersetzt aus einer provenzalischen Handschrift des dreizehnten Jahrhunderts.)Anmerkung des Übersetzers: Diese Geschichte von Jaufre Rudel hat Heinrich Heine ohne jeden Zweifel (vgl. Anmerk. 76) in Stendhals De 1'Amour gefunden und in seiner Romanze »Geoffroy Rudel und Melisande von Tripoli« im »Romancero« (entstanden in den Jahren 1846–1851) verwendet. Es heißt da u. a.:
Auch Rudel hat hier zum ersten Über ihn beugt sich die Gräfin, Ach, der Kuß des Willkomms wurde Der gleiche Stoff hat Uhland zu seinem »Rudello« und auch Carducci und Swinburne zu Dichtungen begeistert. Neuerdings hat ihn Edmond Rostand in seiner La Princesse lontaine (»Die Prinzessin im Morgenland«, Drama in vier Aufzügen, in deutschen Versen von Friedrich von Oppeln-Bronikowski, Berlin, Albert Ahn, 1905) auf die Bühne gebracht. Gaston Paris hat allerdings mit unerbittlicher Gelehrtengrausamkeit nachgewiesen (Revue historique, Bd. 53, 1893), daß die Geschichte von Rudel ebenso wie die vom Troubadour Guillem de Cabestaing (S. 174 ff.*) nur holde Liebeslegenden sind, der romantischen Phantasie des dreizehnten Jahrhunderts entblüht.
Und zum letzten Mal erblicket
In der Wirklichkeit die Dame,
Die ihn oft im Traum entzücket.
Hält ihn liebevoll umschlungen,
Küßt den todesbleichen Mund,
Der so schön ihr Lob gesungen!
Auch zugleich der Kuß des Scheidens,
Und so leerten sie den Kelch
Höchster Lust und tiefsten Leidens.
Es ist ein Merkmal der Liebe, daß alle Freuden und Leiden, die jede andere Leidenschaft und jedes andere menschliche Begehren verursachen, uns mit einem Male nicht mehr berühren.
»Ich werde nie lieben können,« sagte eine junge Frau zu mir, »Mirabeau und seine ’Briefe an Sophie‘ haben mir die großen Seelen verleidet. Diese unheilvollen Briefe haben auf mich den Eindruck persönlicher Erfahrungen gemacht.«
»Suchen Sie, wenn es auch in Büchern nie so ist, das Herz Ihres Verehrers vor der völligen Hingabe zu gewinnen, bleiben sie zwei Jahre standhaft.«
Was für ein Augenblick ist der Händedruck der geliebten Frau. Das einzige damit vergleichbare Glück ist das berauschende Bewußtsein der Macht, das Könige und Minister zu verachten sich den Anschein geben.
Eine junge Frau hat einen Geliebten, den sie schlecht behandelt und von dem sie sich kaum die Hand küssen läßt. Ihr Gatte hat im besten Falle den niedrigsten sinnlichen Genuß, der andere das köstlichste und lebendigste Glück der Welt.
Während sich ihr eifersüchtiger Liebhaber in Verdruß, Habgier, Haß und vergifteter kalter Leidenschaft verzehrt, verbringe ich, obgleich sie mich aus Mißtrauen schlecht behandelt, eine glückliche Nacht und träume von ihr.
Wie oft habe ich bei allem meinem Mut ausgerufen: »Wenn mir jemand eine Kugel durch den Kopf schösse, würde ich mich im Sterben, wenn ich noch Zeit dazu hätte, bei ihm bedanken!« In der Liebe hat man nur Mut, wenn man schon nicht mehr recht liebt.
Beständigkeit nach dem Siege läßt sich höchstens danach vorausbestimmen, in welchem Grade man sie trotz aller Zweifel, aller Eifersucht und aller Lächerlichkeiten vor der Hingabe hatte.
In der Liebe zweifelt man oft an Dingen, an die man fest glaubt. In allen anderen Leidenschaften hegt man keine Zweifel an dem, was man einmal für bewiesen nimmt.
Ich habe beobachtet, wie ein Mann entdeckt, daß ein Rivale geliebt wird, während es dieser in seiner Leidenschaft nicht merkt.
Heloise spricht von ihrer Liebe, ein Geck spricht von der seinen, und doch ist beides kaum dem Namen nach gleich. Es ist wie mit der Liebe für Konzerte und der Liebe für Musik. Der eine liebt den eitlen Genuß, den ihm sein Spiel inmitten einer glänzenden Gesellschaft gewährt, der andere liebt zärtliches, einsames, schüchternes Träumen.
Ein Wörterbuch der Musik ist noch nicht verfaßt, nicht einmal begonnen worden. Nur durch Zufall kann man den musikalischen Ausdruck für Zorn oder Liebe und ihre Nuancen finden. Der Tonkünstler findet ihn nur, wenn ihn die Gegenwart der Leidenschaft oder die Erinnerung an eine solche begeistert. Menschen, die ihr Jugendfeuer zum Studium statt zum Empfinden verbrauchen, können nie große Künstler werden. Nichts ist einfacher als diese Folgerung.
Ohne Nuancen ist der Besitz einer angebeteten Frau kein Glück und überhaupt unmöglich.
Leidenschaft nenne ich nur die durch großes Unglück erprobte Liebe, durch solches Unglück, wie es Romane wohlweislich nicht schildern und auch gar nicht zu schildern imstande sind.
Zweifellos ist es eine Torheit für den Menschen, sich der Liebe aus Leidenschaft auszusetzen. Aber manchmal wirkt das Gegenmittel zu kräftig. Die jungen Nordamerikanerinnen sind von vernünftigen Ideen so durchdrungen und gestählt, daß die Liebe, diese Blume des Lebens, ihrer Jugend fremd bleibt.
Es ist ein gewöhnlicher Gedanke, den man gerade deshalb leicht vergißt, daß tagtäglich die fühlenden Seelen immer seltener und die Verstandesmenschen immer häufiger werden.
Die wahre Liebe läßt den Gedanken an den Tod als etwas Alltägliches, Leichtes, Schreckenloses erscheinen, als einfachen Gegenstand der Vergleichung, als einen Preis, den man willig für mancherlei zahlen würde.
Die Liebe ist die einzige Leidenschaft, die sich mit selbstgeprägter Münze bezahlt.
Es ist ein köstlicher Genuß, eine Frau in die Arme zu schließen, die uns viel Böses angetan hat, die lange Zeit unsere grausame Feindin war und es jederzeit wieder werden kann.
Derartig war das Glück der französischen Offiziere 1812 in Spanien.
Die Grausamkeit ist nichts weiter als krankes Mitleid. Die Macht ist nur deshalb das höchste Glück nächst der Liebe, weil man glaubt, des Mitgefühls Herr zu sein.
Nichts ist so interessant wie die Leidenschaft, weil in ihr alles unvorhergesehen ist und weil der, der sie hegt, ihr Opfer ist. Nichts ist so seicht wie die Galanterie, bei der alles Berechnung und prosaische Alltäglichkeit ist.
Wenn eine feinfühlige Frau wissen will, ob der von ihr angebetete Mann sie aus Leidenschaft liebt, so muß sie die Jugend ihres Geliebten erforschen. Jeder hervorragende Mensch ist bei seinen ersten Schritten ins Leben ein lächerlicher oder erfolgloser Schwärmer. Ein Mann dagegen von fröhlicher und geselliger Gemütsart, der leicht glücklich zu machen ist, kann nie mit der Innigkeit lieben, nach der sich ihr Herz sehnt.
Wenn wir eben die Frau gesehen haben, die wir lieben, stört uns der Augenblick jeder anderen Frau und tut den Augen geradezu weh.
Eine Frau gehört von Rechts wegen dem Manne, der sie liebt und den sie mehr liebt als das Leben.
Nur die durch eine wahre Leidenschaft geknüpften Bande sind immerdar legitim.
In einer vorgeschrittenen Kultur ist die Liebe aus Leidenschaft genau so natürlich wie bei den Wilden die Liebe aus Sinnlichkeit.
Für die Seele eines großen Malers oder Dichters ist die Liebe etwas Göttliches, das die Grenzen und den Genuß der Kunst hundertfach erweitert. Was für große Künstler ahnen nichts von ihrer Seele und von ihrem Genie. Oft halten sie sich ihren Idealen gegenüber für mittelmäßige Talente, weil sie mit den Eunuchen des Serails nicht übereinstimmen, mit Laharpe und ähnlichen. Für solche Menschen ist selbst eine flüchtige Liebe ein Glück.
Ich möchte etwas über den Trost sagen können. Wir tun nicht genug, um uns zu trösten. Vor allem müssen wir versuchen, eine Kristallbildung in uns zu erwecken, die dem Motiv unseres Leidens so fremd wie möglich ist.