von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

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54. In Arabien

Unter den schwarzen Zelten der arabischen Beduinen ist die Heimat und das Urbild der wahren Liebe zu suchen. Dort hat die Einsamkeit und ein schönes Klima die edelste Leidenschaft des menschlichen Herzens geboren, jene Leidenschaft, die, um das Glück zu finden, eines Widerhalls ihrer eigenen Empfindungen bedarf.

Um der Liebe im Menschenherzen den Schein des Idealen zu verleihen, war die möglichste Gleichheit zwischen der Geliebten und dem Liebenden erforderlich. Diese Gleichheit fehlt vor allem in unserem traurigen Abendlande, wo eine verlassene Frau unglücklich und entehrt ist. Unter dem Zelte des Arabers kann die Treue niemals gebrochen werden. Verachtung und Tod würden diesem Vergehen augenblicklich folgen.

Die Freigebigkeit ist diesem Volke so heilig, daß man stehlen darf, um zu geben. Im übrigen sind Gefahren dort alltäglich, und das Leben spielt sich gleichsam in leidenschaftsvoller Einsamkeit ab. Selbst zu mehreren vereint, sprechen Araber wenig.

Die Wüstenbewohner kennen keine Abwechslung; alles ist dort ewig und unbeweglich. Ihre sonderbaren Sitten, von denen ich aus Unkenntnis nur ein schwaches Bild zu geben vermag, reichen wahrscheinlich bis ins homerische Zeitalter zurück. Sie sind zum erstenmal gegen das Jahr 600 unserer Zeitrechnung, zweihundert Jahre vor Karl dem Großen, beschrieben worden.

Im Vergleich zum Morgenlande waren wir die Barbaren, als wir es mit unseren Kreuzzügen beunruhigten, und was in unseren Sitten edel ist, verdanken wir den Kreuzzügen und den Mauren in Spanien.

Daß wir uns mit den Arabern vergleichen sollen, wird der prosaische Mensch in seinem Dünkel mitleidig belächeln. Unsere Künste sind den ihren weit überlegen und unsere Gesetzgebung dem Anscheine nach noch mehr, aber ich bezweifle es, ob wir sie in der Kunst des häuslichen Glücks übertreffen. Uns hat es von jeher an Redlichkeit und Einfachheit gefehlt. Im Familienleben aber ist der Heuchler der erste Unglückliche. Er hat das Gefühl des Geborgenseins nicht.

Soweit die ältesten geschichtlichen Denkmäler zurückreichen, finden wir die Araber schon im grauen Altertum in eine große Zahl unabhängiger, in der Wüste umherwandernder Stämme geteilt. Je leichter diese Stämme sich mit den einfachsten menschlichen Bedürfnissen abfanden, desto verfeinerter waren ihre Sitten. Die Freigebigkeit war überall gleich, aber je nach dem Wohlstande des Stammes äußerte sie sich im Schenken eines Ziegenviertels, das zum notdürftigen Lebensunterhalt gehörte, oder im Darbieten von hundert Kamelen, wenn Familienbeziehungen oder Gastfreundschaft es erheischten.

Die Heldenzeit der Araber, in der diese hochsinnigen Menschen frei von jeder schöngeistigen oder überfeinerten Unnatürlichkeit hervorragten, ist das Jahrhundert vor Mohammed, das dem fünften Jahrundert unserer Zeitrechnung, also der Zeit der Gründung Venedigs und der Herrschaft Chlodwigs entspricht. Ich bitte, ohne Vorurteil die Liebeslieder, die uns die Araber überliefert haben, und die edle Kultur, die uns in »Tausend und eine Nacht« geschildert wird, mit den abscheulichen Greueln zu vergleichen, die jedes Blatt Gregors von Tours und Einhards, der Geschichtschreiber Chlodwigs und Karls des Großen, besudeln.

Mohammed war Puritaner, er wollte den Genuß aus der Welt schaffen, auch wenn dieser niemanden schädigte. Er hat in den Ländern, die den Islam angenommen haben, die Liebe vernichtet. Deshalb hat seine Religion auch weniger in Arabien, ihrer Wiege, als in allen anderen morgenländischen Ländern Wurzel gefaßt.

Die Franzosen haben aus Ägypten vier Foliobände mit dem Titel »Buch der Lieder« mitgebracht. Diese Bände enthalten:

1. Lebensbeschreibungen der Dichter der Lieder.

2. Die Lieder selbst. Der Dichter besingt darin alles, was ihn bewegt; er verherrlicht seine Geliebte, sein flüchtiges Roß und seine Waffen. Diese Lieder sind oft Liebesbriefe, die der Geliebten ein treues Bild aller Seelenempfindungen des Verfassers geben. Er singt darin zuweilen von kalten Nächten, wo er gezwungen ist, aus Pfeil und Bogen ein Feuer anzuzünden. Die Araber sind ein obdachloses Volk.

3. Lebensbeschreibungen der Komponisten, die zu den Liedern die Melodien geschaffen haben.

4. Zum Schluß eine Zusammenstellung von musikalischen Regeln. Diese Formeln find für uns Hieroglyphen. Für immer wird uns diese Musik unbekannt bleiben und übrigens wäre sie nicht nach unserem Geschmacke.

Es gibt noch eine Sammlung mit dem Titel »Geschichten von Arabern, die aus Liebe gestorben sind«.

Diese höchst seltenen Bücher sind sehr wenig bekannt. Die Gelehrten, die sie lesen könnten, haben ein vom Studieren und vom Gelehrtendasein ausgedörrtes Herz. Um sich unter diesen, durch ihr Alter und die seltsame Schönheit der Kultur, die sie ahnen lassen, so interessanten Denkmälern zurechtzufinden, muß man sich in die Geschichte vertiefen.

Zu allen Zeiten und schon vor Mohammed pilgerten die Araber nach Mekka zur Wallfahrt nach der Kaaba oder dem Hause Abrahams. Ich habe in London ein sehr genaues Modell der Heiligen Stadt gesehen. Es sind sieben- bis achthundert Häuser mit flachen Dächern mitten in der sonnendurchglühten Sandwüste. An einem Ende der Stadt erblickt man ein riesiges, fast viereckiges Gebäude, das die Kaaba umgibt; es wird aus einer langen Flucht von Säulengängen gebildet, die unter der Sonne Arabiens die Ausübung des heiligen Rundganges ermöglichen. Diese Säulengänge haben in der Geschichte der Sitten und der Dichtkunst der Araber eine große Bedeutung. Jahrhundertelang waren sie augenscheinlich der einzige Ort, wo Männer und Frauen zusammenkamen. Bunt durcheinander, mit langsamen Schritten und unter dem Chorgesang heiliger Lieder machte man den Rundgang um die Kaaba. Ein Umgang dauert dreiviertel Stunden, man führte ihn an einem Tage mehreremal aus. Das war ein heiliger Brauch, zu dem Männer und Frauen aus allen Gegenden der Wüste herbeiströmten. Unter den Säulengängen der Kaaba haben sich die arabischen Sitten geglättet. Dort entstand ein Kampf zwischen Vätern und Liebenden, dort im Gedränge während der Wallfahrt verrieten Liebeslieder die Leidenschaft ihres Dichters dem jungen Mädchen, das von ihren Brüdern oder ihrem Vater streng bewacht wurde. Hochherzige und gefühlvolle Neigungen waren schon im Zeltlager vorhanden, aber mir scheint, daß die Galanterie der Araber bei der Kaaba entstanden ist, ebenso wie dort die Heimat ihrer Literatur ist. Anfangs drückte man die Leidenschaft mit Einfachheit und Kraft aus, wie der Dichter sie empfand. Später war er nicht mehr lediglich darauf bedacht, seine Geliebte zu rühren, er sann nach und schrieb in schönen Worten. So entstand die Überschwenglichkeit, die mit den Mauren nach Spanien gelangt ist und noch heutzutage die Bücher dieses Landes verdirbt.

Einen rührenden Beweis der Hochachtung der Araber für das schwache Geschlecht sehe ich in ihrem Brauch bei der Ehescheidung. Die Frau riß in Abwesenheit des Gatten, von dem sie getrennt sein wollte, das Zelt ab und schlug es in der Weise wieder auf, daß der Eingang nunmehr an der entgegengesetzten Seite war. Diese einfache sinnbildliche Handlung trennte beide Gatten für ewig.


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