von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

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55. Der Diwan der Liebe

Bruchstücke aus einer arabischen Sammlung von Ibn-Abi-Hagala

(Handschriften der Pariser Nationalbibliothek Nr. 3348-59)

Mohammed, der Sohn des Djaâfar Elahuâzadi, erzählt, daß Elâbas, Sohn des Sohail, den Djamil während seiner letzten Krankheit besuchte und ihn bereit fand, die Seele aufzugeben. »O Sohn Sohails,« sagte Djamil zu ihm, »wie denkst du über einen Mann, der niemals Wein getrunken, niemals unerlaubten Gewinn gemacht, niemals ungerechterweise eine lebende Kreatur wider Gottes Gebot getötet und immer den Glauben gehabt hat, daß es keinen Gott außer Allah gibt und daß Mohammed sein Prophet ist?« – »Ich denke,« entgegnete Sohail, »daß dieser Mann selig werden und in das Paradies eingehen wird. Aber wer ist der Mann, den du meinst?« – »Ich bin's,« erwiderte Djamil. – »Ich habe nicht geglaubt, daß du ein strenger Anhänger des Islam seiest,« sagte Sohail, »und dann hast du seit zwanzig Jahren Bothaina geliebt und sie in deinen Liedern gefeiert.« – »Jetzt bin ich,« antwortete Djamil, »am Ende dieser und am Anfange der anderen Welt und ich will, daß sich die Gnade unseres Herrn und Meisters Mohammed am Tage des Gerichts von mir abwenden möge, wenn ich Bothaina je in sträflicher Weise berührt habe.«

Djamil und seine Geliebte Bothaina gehörten alle beide dem Stamme des Asra an, die unter allen Arabern wegen ihrer Liebe berühmt sind. Ihre Liebe ist sprichwörtlich geworden, und Gott hat nirgends Wesen geschaffen, die gleich viel Zartgefühl in der Liebe besitzen.

Sahid, Agbas Sohn, fragte eines Tages einen Araber: »Von welchem Stamme bist du?« – »Ich bin vom Stamme derer, welche sterben, wenn sie lieben,« antwortete der Araber.Ebenso wie Heinrich Heines Romanze vom Troubadour Jaufre Rudel (vgl. Anmerk. 83) ist auch sein »Der Asra« (beide im »Romancero«) auf die Lektüre von De 1'Amour zurückzuführen. Die allbekannten Verse Heines lauten:

Und der Sklave sprach: »Ich heiße
Mohammed, ich bin aus Jemen,
Und mein Stamm sind jene Asra,
Welche sterben, wenn sie lieben.«

Über Heine und Stendhal vgl. die erste Anmerkung auf S. XVIII. Beide Dichter erwähnen sich einander in ihren Schriften und Briefen an keiner Stelle, so daß man annehmen muß, sie haben sich nicht persönlich gekannt.

– »So bist du vom Stamme der Asra,« sagte Sahid. – »Ja, beim Herrn der Kaaba!« versetzte der Araber. – »Wie kommt es, daß ihr so liebt?« fragte darauf Sahid. – »Unsere Frauen sind schön und unsere jungen Männer keusch!« erwiderte der Araber.

Jemand fragte einmal den Dichter Aruâ-Ben-Hezam: »Ist es denn wahr, was man von Euch erzählt, daß Ihr von allen Menschen in der Liebe das zärtlichste Herz habt?« – »Bei Gott, es ist wahr,« antwortete Aruâ, »und ich habe dreißig junge Männer meines Stammes gekannt, die der Tod hingerafft hat und die keine andere Krankheit hatten als die Liebe.«

Ein Araber vom Stamme der Fazârat sagte eines Tages zu einem anderen Araber vom Stamme der Asra: »Ihr Asra glaubt, aus Liebe zu sterben sei ein süßer und edler Tod; aber es ist offenbar Schwäche und Dummheit, und die, die ihr für großherzige Männer haltet, sind nichts als törichte und weichliche Geschöpfe.« – »Du sprächest nicht so,« entgegnete der Asra, »hättest du die großen schwarzen Augen unserer Frauen gesehen, wie sie unter dem Schleier ihrer langen Wimpern hervorblitzen; hättest du sie lächeln sehen und ihre weißen Zähne zwischen den braunen Lippen schimmern.«

Ali Abu-el-Hassan, Sohn Abdallahs, erzählt folgendes: »Ein Muselmann liebte ein christliches Mädchen bis zum Wahnsinn. Er war gezwungen, mit einem Freunde, der um seine Liebe wußte, eine Reise in ein fremdes Land zu machen. Seine Geschäfte daselbst zogen sich in die Länge; eine tödliche Krankheit befiel ihn und er sprach zu seinem Freunde: ’Ich fühle, daß mein Ende naht; ich werde die, die ich liebe, in dieser Welt nie wiedersehen und ich fürchte, wenn ich als Muselmann sterbe, auch im Jenseits nicht.‘ Er wurde Christ und starb. Sein Freund fand bei seiner Rückkehr die Christin sterbenskrank. Sie sagte ihm: ’Ich werde meinen Freund in dieser Welt nicht mehr sehen, aber ich will mit ihm im Jenseits vereint sein. Darum bekehre ich mich zu dem Glauben, daß es keinen Gott außer Allah gibt und daß Mohammed sein Prophet ist!‘ Darauf starb sie; die Gnade Gottes komme über sie.«

Eltemini erzählt, daß bei dem arabischen Stamme der Tagleb eine junge, sehr reiche Christin gelebt habe, die einen jungen Muselmann liebte. Sie bot ihm ihr Vermögen dar und alles, was sie an Kostbarkeiten besaß, ohne daß es ihr gelang, seine Liebe zu gewinnen. Als sie alle Hoffnung aufgegeben hatte, ließ sie sich von einem Künstler für hundert Denare ein Standbild des Geliebten machen. Der Künstler fertigte das Bildnis an, und als sie es hatte, stellte sie es an einem Orte auf, zu dem sie täglich pilgerte. Dort küßte sie das Standbild, setzte sich dann zu seinen Füßen und verbrachte den Rest des Tages mit Weinen. Wenn der Abend kam, grüßte sie das Bild und ging heim. So trieb sie es lange Zeit. Da starb der junge Mann. Sie wollte ihn noch einmal sehen und küßte den Toten, dann kehrte sie zu ihrer Bildsäule zurück, grüßte sie, küßte sie wie immer und setzte sich ihr zu Füßen hin. Als der Morgen kam, fand man sie tot, in der Hand ein paar Zeilen, die sie vor ihrem Tode geschrieben hatte.

Ueddah aus dem Lande Jemen war wegen seiner Schönheit unter den Arabern berühmt. Er und Om-el-Bonain, Tochter des Abd-el-Aziz, Enkelin des Meruan, liebten sich schon als Kinder so, daß sie es nicht ertragen konnten, nur einen Augenblick lang voneinander getrennt zu sein. Als Om-el-Bonain die Frau des Ualid-Ben-Abd-el-Malek wurde, verlor Ueddah den Verstand. Nachdem er lange Zeit im Zustande der Verwirrung und des Leidens gelebt hatte, ging er nach Syrien und umschlich täglich die Behausung Ualids, ohne zunächst ein Mittel zur Erreichung seiner Absicht zu finden. Endlich traf er eine junge Sklavin, die er durch Ausdauer und Güte für sich gewann. Als er glaubte, ihr vertrauen zu können, fragte er sie, ob sie Om-el-Bonain kenne. – »Gewiß, sie ist meine Herrin,« erwiderte die junge Magd. – »Wohlan,« fuhr Ueddah fort, »deine Herrin ist meine Base, und wenn du ihr Nachricht von mir bringen willst, bereitest du ihr gewiß Vergnügen.« – »Ich will sie ihr gern bringen,« sagte sie. Darauf lief sie zu Om-el-Bonain, um ihr Nachricht von Ueddah zu geben. – »Was sagst du mir da?« rief diese, »was, Ueddah lebt?« – »Gewiß,« erwiderte die Magd. – »Geh und sage ihm,« fuhr Om-el-Bonain fort, »er soll sich nicht eher wieder entfernen, als bis er eine Botschaft von mir erhalten hat.«

Nunmehr traf sie Vorkehrungen, um Ueddah bei sich einzulassen, und hielt ihn danach in einer Truhe verborgen. Wenn sie sich sicher glaubte, ließ sie ihn heraus, um mit ihm zusammen zu sein, und wenn jemand kam, der ihn nicht sehen sollte, ließ sie ihn wieder in die Truhe steigen.

Es begab sich eines Tages, daß man Ualid eine Perle brachte, und er sagte einem seiner Sklaven: »Nimm diese Perle und bringe sie Om-el-Bonain!« – Der Diener nahm die Perle und brachte sie zu Om-el-Bonain. Da er sich nicht anmelden ließ, trat er in ihr Gemach in einem Augenblick, wo Ueddah bei ihr war, und konnte unbemerkt einen Blick in das Schlafgemach der Om-el-Bonain tun. Der Diener entledigte sich seines Auftrags und bat Om-el-Bonain um eine kleine Belohnung für das gebrachte Kleinod. Sie schlug sie ihm barsch ab und schalt ihn aus. Er ging erbittert von ihr und hinterbrachte Ualid, was er beobachtet hatte, und beschrieb die Truhe, in die er Ueddah hatte steigen sehen. – »Du lügst, mutterloser Sklave! Du lügst!« schrie Ualid und lief hastig zu Om-el-Bonain. In ihrem Gemache standen verschiedene Truhen. Er setzte sich auf die, in der Ueddah steckte, die ihm der Sklave beschrieben hatte, und sagte zu Om-el-Bonain: »Schenke mir eine dieser Truhen!« – »Sie sind alle dein so gut wie ich,« antwortete sie. »Nun,« fuhr Ualid fort, »dann möchte ich die, auf der ich sitze.« – »In dieser sind für eine Frau unentbehrliche Dinge,« sagte Om-el-Bonain. – »Ich will ja nicht den Inhalt, nur die Truhe,« beharrte Ualid. – »Sie ist dein!« antwortete sie. Ualid ließ sofort die Truhe wegschaffen, rief zwei Sklaven und befahl ihnen, ein Loch in die Erde zu graben, so tief, bis sie auf Wasser stießen. Dann näherte er sich mit seinem Munde der Truhe und rief: »Man hat mir etwas von dir gesagt; wenn es wahr ist, so sei jede Spur von dir getilgt, jede Kunde begraben. Hat man mich aber belogen, dann tue ich nichts Böses, wenn ich eine Truhe vergrabe; denn ich verscharre nur Holz.« Dann ließ er die Truhe in das Loch werfen und dieses mit den ausgegrabenen Steinen und Erdschollen wieder zuschaufeln.

Seitdem besuchte Om-el-Bonain häufig jenen Ort, um dort zu weinen, bis man sie eines Tages entseelt fand, das Antlitz zur Erde gewendet.


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