Carl Spitteler
Balladen
Carl Spitteler

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I.
Kosmisch und mythologisch.

Kronos und der Greis.

               

In finstrer Nacht, auf steilen Wolkenpfaden,
Gefesselt, einem Uebelthäter gleich,
Schied der verbannte Kronos grambeladen
Aus seinem goldnen Himmelskönigreich,
Die lichtumblaute Götterburg zu tauschen
Mit des Cocytus Thränenwogenrauschen.

Zwei stumme Häscher ritten vor dem Wagen,
Zwei andre folgten lautlos hinterdrein.
Ihr Ohr blieb taub auf alle bangen Fragen
Und die geschloßnen Lippen schwiegen: nein.
Und daß beim Jammer die Beschimpfung wohne,
War er verhöhnt mit einer Flitterkrone.

Als sie gen Morgen kamen auf die Erde,
Wo sie an einem Brunnen pflogen Rast,
Nahte des Wegs mit schwankender Gebärde
Ein Greis, gebrochen von der Jahre Last.
Trüb war sein Blick, der nach Erlösung lechzte,
Und öfters hielt er still und stöhnt' und ächzte.

»Willkommen mir, Gefährte meiner Leiden!«
Seufzt' ihm entgegen der entthronte Gott.
»Wen Macht verläßt und Kraft und Jugend meiden,
Er fahre hin, sein Antlitz wird zum Spott.
Getrost! ein jeder muß sein Dasein sühnen.
Sprich frei! du darfst dir einen Wunsch erkühnen.«

Unwillig hob der Greis die buschigen Brauen
Und rümpfte mürrisch den entzahnten Mund.
Dann, näher pilgernd, ohne aufzuschauen,
Gab er verächtlich ihm die Antwort kund:
»Wer du auch seist, behalte deine Gaben,
Wen Durst nicht brennt, den kann der Quell nicht laben.

»Willst du beglücken, willst du Segen spenden,
Frag' an beim Jüngling, dem der Wunsch noch reift;
Frag' an beim Kinde, das mit gierigen Händen
Nach jedem bunten Gegenstande greift.
Was diese Welt enthält, ich hab's genossen,
Mein Maß ist voll, mein Kreis ist abgeschlossen.

»Geschäh' das Wunder, daß vom Himmel stiege
Allvater Kronos und mich wissen ließ'
Die Ahnenleiter und Geschlechterriege
Der Sippe, die mit meinem Namen hieß,
Er würde köstlicher mein Herz ergetzen,
Als Geld und Gut mit allen irdischen Schätzen.«

Aus die gebundnen Dulderhände nieder
Sah schweigend der Gefangene und sann.
Dann schloß er dichtend die Prophetenlider,
Erhob die Stimme singend und begann
Vor dem erstaunten Hörer auszubreiten
Die süße Sage der entschwundnen Zeiten.

Rückwärts sich wendend mit Gedankenschritten,
Zog er, was die Erinnerung verlor
Und was dem blöden Menschenblick entglitten,
Behutsam aus der Dunkelheit hervor,
Sang ihm von seinen Eltern und Verwandten
Und wob das Unbekannte zum Bekannten.

Kein Name, kein begehrtes Antlitz fehlte,
Der Liebeskette mangelte kein Glied.
Freundschaft durchwärmte, was er auch erzählte,
Und was er immer nannte, ward zum Lied.
Mocht' er Erlebtes, mocht' er Fremdes schildern,
Ein Heimatodem quoll aus allen Bildern.

Die Not des Augenblickes war vergessen,
Auf Geisterflügeln schaukelte der Greis.
Mit offnem Munde horchend unterdessen
Lagen die Wächter ringsherum im Kreis.
Das Bächlein spann den Takt mit leisem Munde,
Die Dämm'rung schwieg und staunend stand die Stunde.

Da gellt ein Hahnenschrei, die Sonne weckend,
Vom Gipfel steigt der Tag im Morgenrot.
Die Wächter, jäh aus ihren Träumen schreckend,
Erfassen wieder Auftrag und Gebot.
Getümmel – Schelten – Streit – Befehle schallen –
»Vorwärts!« Und weiter geht's mit Peitschenknallen.

Sieh! welche Zauberkraft verjüngt den Alten?
Das Auge flammt, der Nacken reckt sich auf.
Das emsig fliehende Gespann zu halten,
Stürzt er ihm keuchend nach in tollem Lauf.
Jetzt humpelt er im Gleichschritt mit den Speichen,
Klammert sich kläglich fest und will nicht weichen.

»Ein letztes Wörtchen noch vergönnt zu fragen!
Halt ein! So hört doch! Gnade! Gebt Erlaub!«
Die Geißel pfiff, es rasselte der Wagen
Und schüttelte den Alten in den Staub.
Ferner und ferner klapperten die Hufe
Und mutlos starben seine Schmeichelrufe.


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