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Der Polizeidirektor Dr. Schultheiß ging langsamen Schrittes durch die Straße zum Geistpförtchen und schlug die Richtung nach dem Polizeiamt in der Karpfengasse ein. – An der Schlachthausgasse, wo die Redaktion und Expedition des Intelligenzblattes lag, blieb Dr. Schultheiß einen Augenblick stehen und überflog die neuesten Telegramme.
Wieder las er von neuen Siegen der Preußen. Bei Tauberbischofsheim war es am 24. zu einem Gefecht zwischen Preußen einerseits und Badenern und Württembergern andererseits gekommen, wobei natürlich die Preußen – wie immer – dank ihrer besseren Führung und der Überlegenheit des Zündnadelgewehrs den Sieg davongetragen hatten. Am 26. schlugen sie nochmals die Bayern bei Roßbrunn und Helmstädt, und eine ganz neue Meldung wußte auch bereits die Besetzung von Würzburg zu berichten; aber sie sprach auch schon von Waffenstillstandsverhandlungen.
Das war natürlich das Ende. Hannover, Nassau, Kurhessen und nicht zuletzt auch Frankfurt wurden preußisch; billiger taten es die Sieger bestimmt nicht.
Als Dr. Schultheiß in die Karpfengasse einbog, stand plötzlich sein Konzipist Müller vor ihm. Müller hatte seinen Chef schon auf der Straße erwartet.
»Nanu – – was ist los?« fragte der Polizeidirektor.
»Fastenrath ist wieder da! Er und der Dr. Weberstädter warten oben, um Ihnen, Herr Direktor, Bericht zu erstatten!«
»Daß die Sache in Zürich ein Reinfall war, das weiß ich schon!« knurrte Dr. Schultheiß. »Der superkluge Herr aus Preußen kann auch nur mit Wasser kochen. Deshalb brauchten Sie mich nicht auf der Straße abzufangen!«
»S'ist auch noch was anderes, was Wichtigeres passiert!« meinte Müller leise, beinahe flüsternd. »Was Schlimmes, Herr Direktor. – Der Bürgermeister Fellner ist tot – – –!«
»Himmel! – Was – – was sagen Sie da? – Tot?«
»Ja, sein Dienstmädchen fand ihn heute in aller Frühe im Garten. Der Bürgermeister hat Selbstmord begangen, hat sich erhängt.«
Dr. Schultheiß nahm den Hut ab; der Schweiß stand ihm in kleinen Perlen auf der Stirn.
»Großer Gott!« stammelte er. »Wie – wie kam das? – Was ist denn passiert?!«
»Vielleicht treten Sie, Herr Direktor, mit mir hier in den Torbogen. – Ich wollt Ihnen das alles schon berichten, bevor Sie im Amt erscheinen.«
»Sehr gut! – Nun reden Sie aber!«
»Die Kontribution von 25 Millionen Gulden trägt die Schuld!« sagte Müller knirschend vor Wut. »Fellner ist das erste Opfer. – Das Geld war nicht aufzutreiben, nicht zusammenzubekommen; und die Preußen ließen nicht locker. Gestern abend, nach einer nochmaligen Rücksprache mit dem Generalkommando, soll der Bürgermeister schon so komisch gewesen sein! Heute war er steif und tot.«
»Hat man das preußische Generalkommando bereits benachrichtigt?«
»Ja. – Natürlich! Ich hatte kaum die Meldung dienstlich hier im Amt, als ich sofort zum Senator Dr. Müller schickte. Der ging augenblicklich in den Englischen Hof zum General von Manteuffel. – Sehr bedauerlich dieser Vorfall, meinten die Herren dort kühl; aber, an der Kontributionsangelegenheit ändere dies natürlich nichts. Das Geld muß dennoch gezahlt werden!«
»Verdammte Bande!« rief Dr. Schultheiß. »Aber Müller, verlassen Sie sich darauf: der Krug geht nur so lange zu Wasser, bis er bricht. Das tränken wir Herrn Manteuffel ein! Diesen Geldbrocken ziehen wir den Preußen aus den Zähnen. Daß Vogel von Falckenstein abgesägt wurde, verdankt er letzten Endes auch nur seiner Brutalität in Frankfurt. Wenn wir auch besiegt wurden, die Beziehungen haben wir hier immer noch; sie an rechter Stelle und in rechter Form zu verwerten, lassen Sie meine Sache sein! – Dem Dickkopf von Manteuffel werden wir auch die Suppe versalzen; verlassen Sie sich darauf! Preußen wird uns annektieren, Müller; aber ich bleibe keine Minute in preußischen Diensten. Ich bin alt genug, habe mich lang genug ärgern müssen; ich lasse mich pensionieren. Die paar Jahre, die ich noch zu leben habe, will ich meine Ruhe haben. – Fellner tot – erhängt! – Der arme, brave Kerl hat sich geopfert! – – Hören Sie zu, Müller! Schicken Sie mir sofort den Amtsboten. Er muß für mich einen Gang machen, zur Frau des holländischen Gesandten in die Bockenheimer Anlage. Den beiden Herren Fastenrath und Weberstädter bestellen Sie, daß ich in zehn Minuten zur Verfügung stehe. Die Nachricht ist mir in die Beine gefahren; ich muß drüben in der ›Blechmusik‹ noch schnell einen ›Nord mit Gewehr iwwer‹ trinken.« (Unter dieser ulkigen Bezeichnung verstand man in Frankfurt ein großes Glas Kornschnaps mit einem tüchtigen Schuß Rum.)
Als Dr. Schultheiß wenige Minuten später sein Büro betrat, warteten schon Fastenrath und Weberstädter.
Dr. Schultheiß war in bester Laune. – Dr. Klages, der Frankfurter holländische Gesandte, war ein Vetter Schultheiß' und die Frau des Gesandten eine entfernte Verwandte der Königin von Preußen.
Auf Schultheiß' Veranlassung schickte die Frau des holländischen Gesandten ein ausführliches Telegramm an die ihr immer noch befreundete und gewogene Königin von Preußen. In dieser Depesche, die am Nachmittag im benachbarten, unbesetzten Offenbach aufgegeben wurde, unterrichtete Frau Klages die Königin von den Vorgängen der letzten Wochen in Frankfurt, vom brutalen Auftreten der preußischen Führer, das an die Zeiten des 30jährigen Krieges gemahnte, von dem Selbstmord des Stadtoberhaupts, der durch die Rücksichtslosigkeit der Generäle Vogel von Falckenstein und Manteuffel in den Tod getrieben worden war, und von der furchtbaren Erregung in der unglücklichen Stadt.
Schultheiß rieb sich die Hände. Hier hatte er, der unbedeutende Frankfurter Polizeidirektor, den die Preußen zur Seite schoben, wie und wo sie nur konnten, auf Grund seiner Beziehungen in die Weltgeschichte eingegriffen.
Der Empfang der beiden Beamten fiel recht freundlich aus.
»Bitte, nehmen Sie Platz, meine Herren!« sagte er. »Bedienen Sie sich aus der Kiste hier mit Zigarren; sie stammen natürlich aus dem berühmten preußischen Magazin. – Und jetzt, Herr Dr. Weberstädter, bitte berichten Sie! Das war also ein gesunder Reinfall in Zürich?!«
»Ja!« gab Weberstädter ehrlich zu. »Das heißt insofern waren unsere Hypothesen schon richtig, als die Sängerin Marquisette Villars tatsächlich am Mordtage in der Wohnung Poschachers war, aber, daß sie sich dann als seine richtige Tochter entpuppte, das hatte niemand ahnen können!«
»Ich verstehe nur nicht, warum dieses dumme Frauenzimmer sich nicht sofort gemeldet hat?!«
»Sehr einfach, Herr Direktor! Fräulein Villars reiste am Tage nach dem Morde ab und hatte damals natürlich von den Vorgängen noch keine Ahnung. Der Weg von Frankfurt nach Zürich ist weit, und in Schweizer Zeitungen stand über die Geschichte nichts.«
»Na schön! – Herr Doktor, nun erzählen Sie mir bitte die Zusammenhänge!«
»Ich beginne mit der Vorgeschichte, Herr Direktor. Feldmarschalleutnant Poschacher verbrachte seine Jugendjahre in Italien. Sie wissen, daß vor rund zwanzig Jahren noch fast ganz Oberitalien zu Österreich gehörte. Die Österreicher saßen in Mailand und in Venedig und unterhielten zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Sicherheit in den stets revolutionären und unruhigen Provinzen eine erhebliche Truppenmacht, die fast zwei Jahrzehnte unter dem Befehl von Radetzky stand. Poschacher diente unter Radetzky. Er war zu Anfang der vierziger Jahre Hauptmann bei dem Bataillon, das in Mestre bei Venedig stand, verliebte sich in die Tochter des Podesta Romanelli von Mestre, eine Art Bürgermeister, und heiratete das bildhübsche Mädel trotz mancher Widerstände; denn Ehen zwischen Italienern und Österreichern gehörten in Italien stets zu den Seltenheiten. – Die Ehe war aus vielerlei Gründen nicht glücklich. Poschacher trennte sich bald von seiner Frau, kam nach Verona, Peschiera und Mailand in Garnison, soll sich dann im Jahre 1848 als Major ausgezeichnet und an der Unterdrückung des Aufstandes in Brescia unter Haynau sehr aktiv beteiligt haben.
Aus der Ehe Poschachers mit Linda Romanelli entsprossen zwei Kinder: Marietta, die Sängerin wurde und Leopoldo, der mit Unterstützung des Vaters in die k. & k. Armee eintrat. – Poschacher kümmerte sich um seine Frau und Kinder herzlich wenig, unterstützte sie aber reichlich mit Geld. Als er erfuhr, daß seine Tochter ausgerechnet ans Theater wollte, war er natürlich nicht gerade begeistert, konnte die Sache aber nicht ändern und stellte nur die ausdrückliche Bedingung, daß das Mädel auf der Bühne einen anderen Namen annahm. Die berühmte Sängerin Marquisette Villars heißt in Wirklichkeit Marietta von Poschacher.
Marietta lebte nur ihrem Beruf. Sie war unter dem Pseudonym eine internationale Berühmtheit geworden. Ob sie sich Marquisette Villars oder anders nannte, war ihr herzlich gleichgültig. – Sind Sie mir bis hierher gefolgt, Herr Direktor?«
»Jawohl, mit großem Interesse, Herr Doktor!«
»In Dresden,« fuhr Weberstädter fort, »lernte Marquisette den preußischen Premierleutnant von Sartorius kennen. Die beiden jungen Menschen fanden und verliebten sich. Allerdings schien es schwer, den Heiratskonsenz zu bekommen; aber Marietta machte sich deshalb keine Sorgen. In Wirklichkeit war sie doch eine Komtesse von Poschacher, also dem Herrn von Sartorius nach den strengen Begriffen, die nun mal in unserer preußischen Armee gang und gäbe sind, durchaus ebenbürtig. In Frankfurt wollte sie den Vater aufsuchen und ihm die Erlaubnis abschmeicheln, den Namen von Poschacher wieder annehmen zu dürfen. Gesetzlich wäre sie dazu ja immer berechtigt gewesen; aber sie hing an ihrem Vater, dessen berechtigtem Wunsch sie sich fügen wollte.
In Frankfurt angekommen, schrieb Marquisette ihrem Vater, und dieser suchte sie auch im Hotel Englischer Hof auf. Aber nur das eine Mal. Poschacher galt mit gewisser Berechtigung für einen Draufgänger bei den Frauen; und sein Besuch bei der eignen Tochter wurde von vielen Leuten, die ihn im Hotel sahen, selbstverständlich mißgedeutet. Er vermied weitere Zusammenkünfte; erstens wollte er seine Tochter nicht in Mißkredit bringen, dann aber mußte er selbst vorsichtig sein, denn er trug sich mit der Absicht, auch die juristische Trennung seiner ersten Ehe anzustreben, um erneut zu heiraten. Wer die Auserwählte seiner Liebe war, wußte Marquisette nicht. Anscheinend stand ihr äußerer Liebreiz aber im diametralen Gegensatz zu ihrem sehr schönen Vermögen.
Der Feldmarschalleutnant, ein verhältnismäßig jung aussehender Mann, schämte sich vor seiner neuen Braut vielleicht auch wegen der erwachsenen Tochter, die zudem noch ›Theaterdame‹ war, eine Tatsache, an der die Partie möglicherweise scheitern konnte.
Beim Zusammensitzen im Hotel brachte Marquisette nun ihren Wunsch zur Sprache; aber der Vater lehnte glatt und brüsk ab. ›So lange Du am Theater bist, ist gar nicht daran zu denken, daß Du meinen Namen führst,‹ erklärte er.
Ihrer Karriere wollte Marquisette aber – vorerst wenigstens – noch nicht entsagen. Ihre Heirat sollte erst in drei bis vier Jahren stattfinden. – Poschacher verließ das Hotel, suchte wahrscheinlich seine Härte gutzumachen und kaufte seiner Tochter im Atelier Moderne eine neue Robe und einen eleganten Pariser Hut. Auch eine größere Geldsumme wollte er dem Mädchen, das zwar anständig verdiente, aber auch viel verbrauchte, für eine Auslandstournée zur Verfügung stellen.
Als er nach Hannover reiste, wußte er, daß der Krieg unmittelbar vor der Tür stand. Mit seiner Tochter suchte er nun noch eine Aussprache, denn auch ein General ist vor den heutigen, weittragenden Geschossen nicht unbedingt sicher. Allerdings mußte die Zusammenkunft schnell und unter gewissen Vorsichtsmaßregeln erfolgen.
Poschacher bestellte darum das Mädchen in seine Wohnung, sandte ihr den Schlüssel zur Gartenpforte, und Marietta kam pünktlich, wie befohlen, um ½6 Uhr. Niemand sah sie die Wohnung durch den Garten betreten. – Der Feldmarschalleutnant war ganz allein in der Wohnung. Die Haushälterin war noch beurlaubt, und den Burschen hatte er absichtlich eine Viertelstunde früher fortgeschickt.
Herr von Poschacher und seine Tochter saßen am runden Tisch im Wohnzimmer und unterhielten sich zuerst sehr friedlich. Aber, als der alte Soldat den Bitten der Tochter wegen offizieller Führung ihres Namens immer wieder ein energisches Nein entgegensetzte, kam es bald zu scharfen Worten. ›Auch ich,‹ gibt Marquisette zu, ›war an der Verschärfung des Disputs nicht ohne Schuld. Auch ich setzte meinen Dickkopf auf, und als mir mein Vater Geld anbot, unter der Bedingung, daß die Namensfrage nun ein für allemal ad acta gelegt würde, da schmiß ich ihm die Banknoten ins Gesicht.‹
Nun natürlich brach bei dem alten Soldaten der Jähzorn durch. Er ergriff die unbotmäßige Tochter an den Armen und schleuderte sie gegen den Tisch. – Was jetzt geschah, sagte Marquisette, wüßte sie nicht. Tatsache ist, Herr Direktor,« fuhr Weberstädter fort, »daß das Mädel herzkrank ist und keine großen Aufregungen verträgt. Wahrscheinlich fiel die Tochter vor den Augen des Vaters in Ohnmacht.
Wir, Herr Fastenrath und ich, haben eine ähnliche Attacke in Zürich erlebt. Poschacher wird wahrscheinlich die Tochter auf das Sofa gebettet und ihr das Kleid gelöst haben. – Dann ging er vermutlich ins Schlafzimmer, tränkte ein Taschentuch mit Kölnischem Wasser und legte das Tuch dem Mädchen auf die Stirn. Dadurch erwachte Marquisette. Sie sah sich erstaunt im Zimmer um, sah ihr Kleid am Boden liegen, und bevor sie noch eine Erklärung fordern oder erhalten konnte, klingelte es draußen an der Flurtür.
Poschacher schreckte auf. ›Zum Teufel!‹ sagte er. ›Jetzt ausgerechnet kommt der Kerl vom Armeekommando!‹ Er öffnete die Tür zum Nebenzimmer, seinem Schlafzimmer. ›Hier hinein!‹ sagte er. ›Aber schnell! Spute Dich! Ich habe einige Unterschriften zu leisten. In einer Viertelstunde bin ich wieder zu Deiner Verfügung. Aber, daß Du Dich drinnen im Schlafzimmer mäuschenstill verhältst. Ich will wegen Deiner Ohnmachten nicht in ein falsches Licht kommen. Es ist am besten, Du legst Dich einige Minuten auf das Bett, bis ich Dich wieder hole, wenn die Luft hier rein ist?
Poschacher stieß das Kleid mit den Füßen unter das Sofa, schob die Tochter in das Schlafzimmer und schloß die Tür ab. Dann öffnete er dem draußen wartenden Gefreiten Pinelli vom Armeekommando. Marquisette wartete im Schlafzimmer. Sie hatte ihren Pompadour mitgenommen, in dem sich ein harmloses Herzstärkungsmittel befand, mischte sich im Wasserglas auf dem Waschtisch vorsichtig eine Stärkung und wartete.
Plötzlich schreckte sie zusammen. Vom Turm der nahen Kirche schlug es ½7 Uhr. – Allmächtiger! dachte das Mädel. Am 7 Uhr beginnt die Vorstellung im Theater und ich sitze hier in der Bleichstraße. Sie war wütend auf ihren Vater, der sie eingeschlossen hatte, nur darauf bedacht, sich nicht bloßzustellen, aber ohne jede Rücksicht auf sie selbst. – Sie stand in Unterkleidern im Zimmer. Einen Mantel, den sie über die Unterkleider hätte streifen können, besaß sie nicht – es war ja Hochsommer. – Aus dem Haus mußte sie aber und zwar, so schnell wie möglich. – Jede Minute war kostbar. Aber wie? – das war die große Frage.
Sie trat ans Fenster. Vom Garten aus hörte sie die Stimmen spielender Kinder. Heilige Madonna! Auch dieser Fluchtweg war ihr versperrt; selbst, wenn sie ihr Kleid, das draußen unter dem Divan lag, besessen hätte.
Die Sängerin fieberte. Im Theater wartete man auf sie. Sie mußte unter allen Umständen aus der Bleichstraße weg. Das Wie war ihr gleichgültig. Andererseits durfte sie weder sich noch ihren Vater durch eine übereilte Handlung kompromittieren.
Durch die Tür hörte sie die Stimme ihres Vaters, der den Soldaten etwas fragte. Dieser antwortete kurz, knapp militärisch.
Vor Marquisette auf der Stuhllehne hing eine schwarze Stiefelhose des Vaters, die Hose hatte den üblichen, roten Seitenstreifen. Hier war die Rettung. Sie mußte den kurzen Weg bis zum nächsten Droschkenhalteplatz in Uniform ihres Vaters zurücklegen. Der Vater würde am nächsten Tag über ihre Findigkeit selbst lachen müssen und alles verzeihen.
Sie zog die Hose über ihre Unterkleider an. Sie war oben am Bund zu lang und auch zu weit, paßte aber sonst erträglich. – Nun fehlte noch der Rock. Draußen jedoch hing ein Mantel. Marquisette huschte auf den Flur, schlüpfte in den Mantel. Aber, oh weh! Das ging nicht! Der Mantel war viel zu weit und schleifte auf den Boden. – –
Im Wohnzimmer wurde wieder gesprochen. Marquisette fürchtete, der Besuch ihres Vaters könne jeden Augenblick auf den Flur treten. Dort durfte sie natürlich nicht gesehen werden. Der Gefreite oder Unteroffizier hätte schöne Augen gemacht und bestimmt auch nicht geschwiegen. Sie schlich darum auf leisen Sohlen zur Vorplatztür, öffnete schnell und vorsichtig und huschte die Treppe hinauf.
Beinahe hätte Marquisette einen Freudenruf ausgestoßen: Im zweiten Stock auf dem offenen Treppenpodest der Frau Hallgarten, der Vermieterin des Frankfurter Hauptmanns Simmermacher, hing die Uniform des Hauptmanns vom Frankfurter Linienbataillon. – Mit zitternden Händen riß Marquisette den Waffenrock des Offiziers vom Haken, schlüpfte hinein und stülpte die Mütze über den Kopf. Sie betrachtete sich einen Moment in dem Garderobenspiegel und war zufrieden. Die Uniform saß gut, und wer nicht genau zusah, konnte in dem jungen, hübschen Offizier die Frau in der Verkleidung nicht erkennen.
Leise und vorsichtig huschte sie die Treppen hinunter, trat dann fester auf und markierte beim Verlassen des Hauses mit dem Talent der routinierten Bühnenkünstlerin den strammen Offizier. Der Posten sah gar nicht näher hin. Er hatte genug damit zu tun, seine Honneurs vorschriftsmäßig zu erweisen.
Eine halbe Minute später saß Marquisette in einer Droschke und gab mit fester, schnarrender Stimme das Fahrtziel an: ›Schnell zum Theater!‹
Jetzt, Herr Direktor, kennen wir den mysteriösen preußischen Offizier, den eine ganze Anzahl Zeugen gehen, aber niemand kommen sah. – – Damit, Herr Direktor, bin ich am Ende meines Berichtes.«
Der Polizeidirektor schüttelte fast ärgerlich den Kopf und schlug mit der flachen Land auf das vor ihm liegende Aktenstück ›Feldmarschalleutnant P.‹, daß der Staub in einer kleinen Wolke aufwirbelte.
»Unglaublich! – Diese Weiber!!« brummte er. »Die Sache klingt jetzt, im chronologischen Zusammenhang, durchaus plausibel. – Allerdings, ein Punkt, Herr Doktor, ist mir noch nicht ganz klar: die Sache mit der Uniform. Diese muß doch am nächsten Tage vermißt worden sein, und eine Diebstahlsanzeige haben wir nie erhalten.«
Fastenrath grinste.
»Verzeihung, Herr Doktor! Würden Sie gestatten, daß ich diese Frage meines Chefs beantworte?«
»Aber – bitte – – natürlich! – Sie haben diesen Teil der Untersuchung ja auch selbst geführt!«
»Die Uniform wurde deshalb nicht vermißt, weil Fräulein Villars den gepumpten Waffenrock und die Mütze sofort durch einen Dienstmann in die Wohnung der Frau Hallgarten zurückschicken ließ. Der Dienstmann mußte bestellen, er käme im Auftrag einer Reinigungsanstalt.«
»Und das hat die Frau Hallgarten ohne weiteres geglaubt?«
»Vielleicht!« meinte Fastenrath lächelnd. »Vielleicht auch nicht. Jedenfalls hielt die den Mund, weil durch ihre Unachtsamkeit die Uniform abhanden gekommen ist.«
»Fräulein Villars hatte tatsächlich keine Ahnung von den Vorgängen hier? Sie erfuhr weder etwas von dem Morde an ihrem Vater, noch von der Verhaftung des preußischen Offiziers, der ihr nahestand?« fragte Dr. Schultheiß.
»Nein!« erwiderte Weberstädter. »Sie reiste am nächsten Tage ab. Der Premierleutnant von Sartorius wurde erst beim Verlassen des Ostbahnhofs verhaftet; und in der Schweiz erfuhr sie natürlich nichts von dem, was sich in Frankfurt ereignet hatte. Sie wollte ihrem Vater schreiben, umso mehr als dieser ihr während ihrer Ohnmacht die Geldscheine in den Pompadour gesteckt hatte. – Deshalb fanden wir die 20 000 Gulden auch nirgends. Sie verschob aber den Brief, dessen richtige Ankunft durch die Kriegswirren auch nicht garantiert werden konnte, immer wieder von Tag zu Tag.
»Ferner mußte sie doch als sicher annehmen, daß der Vater längst im Felde stand, und seine Adresse war ihr unbekannt.
»Durch eine erneute Aussprache nach dem Kriege, dessen baldigen Abschluß auch die Schweizer Zeitungen in Aussicht stellten, hoffte sie ihre Angelegenheit zu einem befriedigenden Ende zu bringen. – Durch den Tod ihres Vaters ist die Tochter natürlich in ihren Entschließungen frei geworden. Man kann hier einen alten, bekannten Ausspruch variieren: Poschacher est mort, vive Marietta von Sartorius!« Weberstädter schwieg.
»Ihr Bericht ist erschöpfend, Herr Doktor!« meinte der Direktor nach einer kleinen Pause. »Nur die Hauptfrage ist leider immer noch offen. Wer ist nun der Mörder des Feldmarschalleutnants?!«
Weberstädter zuckte die Achseln, seine Lippen schlossen sich, und auf seiner Stirn erschien eine Unmutsfalte.
»Auf diese Frage, Herr Direktor,« sagte er, »muß ich leider die Antwort noch schuldig bleiben. –«
In diesem Augenblick trat der Konzipist Müller ein.
»Herr Direktor!« meldete er. »Der Herr Senator Dr. Müller läßt Sie auf einen Moment zu sich bitten. S'ist eine eilige, wichtige Sitzung anberaumt worden. Die Aufregung in der Stadt wegen des toten Bürgermeisters ist ungeheuer!«
Dr. Schultheiß erhob sich sofort.
»Herr Doktor!« sagte er. »Sie sehen, ich werde schon wieder einmal geholt. Vielleicht haben Sie die Güte, heute mittag nach dem Essen, nochmals zu mir zu kommen. Der Täter muß gefunden werden!«
»Diesen Standpunkt vertrete ich auch.«
»Und,« fuhr der Direktor fort, »Sie haben bisher derart vorzüglich gearbeitet, daß die endliche Lösung des Rätsels von Ihnen erwartet werden kann.«
Dr. Schultheiß ging.
Fastenrath und Weberstädter saßen sich gegenüber. Jener deutete auf das dicke Aktenstück.
»Der verdammte Akt wird jetzt durch Ihren Bericht noch um etliche Seiten stärker,« meinte er.
»Ich wäre allerdings auch froh, wenn als allerletzte Seite der rote Zettel eingeheftet werden könnte: Haftbefehl gegen den Mörder. – Ein gräßliches Pech, das wir in der Sache haben!«
»Wissen Sie was, Herr Kollege? Es hat keinen Zweck weiter zu grübeln. Wir haben die Frage ›Wer ist der Mörder?‹ während der langen Rückfahrt nach allen Richtungen hin ventiliert und sind zu keinem Ergebnis gekommen. Wir werden die Frage auch jetzt nicht beantworten können. Ich schlage vor, wir machen drüben im ›Blauen Heinrich‹ einen anständigen Frühschoppen. – Kommt Zeit, kommt Rat!«
»Einverstanden!« erwiderte Weberstädter kurz und zog seine gestrickte Geldbörse. »Warten Sie noch 'nen Moment, Kollege Fastenrath; ich will erst sehen, ob ich genug Geld bei mir habe.«
»Ich kann Ihnen zwei Gulden pumpen!« erwiderte Fastenrath lachend.
»Nein, die Kasse führe ich, und geborgt wird nichts!« Weberstädter legte die Börse auf die offene Hand und schob den goldenen Ring in der Mitte zurück. In diesem Augenblick fiel ein kleiner Gegenstand aus der Geldbörse und rollte unter den Schreibtisch.
Fastenrath bückte sich dienstfertig und hob den Gegenstand auf. – Es war ein kleines, weißes Sternchen aus Bein oder Horn.
»Nanu – Kollege!« lachte er. »Was schleppen Sie für komische Dinge mit sich? Das ist doch ein Stern, ein Distinktionsabzeichen von der Montur eines Zwockels?« (so nannte man damals in ganz Süddeutschland scherzhaft die Österreicher).
»Ja! Ich nahm den Stern als Erinnerung an die Mordsache Poschacher aus der Bleichstraße mit.«
Fastenrath war gerade im Begriff, sich eine Zigarre anzuzünden. Nun ließ er das brennende Schwefelhölzchen sinken, verbrannte sich die Finger und stieß einen ärgerlichen Schmerzensruf aus. Aber er hatte sich schnell wieder gefaßt.
»Diesen Stern fanden Sie in der Bleichstraße?« fragte er ruhig, aber seine Stimme zitterte leise. »In der Mordwohnung? – In welchem Zimmer?«
»Während Sie unten bei dem Bankier Hoff Ermittlungen anstellten, schnüffelte ich noch einmal im Schlafzimmer umher. Der Stern lag auf dem Waschtisch. Wahrscheinlich hat ihn der Feldmarschalleutnant verloren, und ich steckte ihn auf alle Fälle einmal ein.«
»Geben Sie doch den Stern noch einmal her!« meinte Fastenrath. Dann legte er das kleine Stückchen Horn ganz vorsichtig auf den Tisch, sah erst den Kollegen mit einem langen Blick an und machte dann plötzlich einen Luftsprung, der bei dem Fünfzigjährigen, korpulenten Mann unsäglich komisch wirkte.
Weberstädter lachte auf.
»Menschenskind!« rief er. »Sie sind wohl plötzlich verrückt geworden?!«
»Nein! Nein! Kollege!« schrie, ja brüllte Fastenrath und rannte im Zimmer umher, daß man wirklich an seinen gesunden Sinnen zweifeln konnte.
»Verrückt bin ich nicht! Aber glücklich! Unerhört glücklich! – – Das hier – dieses kleine Sternchen hier – liefert uns den Mörder in die Hand.«
Weberstädter sah den Kollegen mit großen Augen an und schüttelte den Kopf.
»Der Stern hier von der Montur des Feldmarschalleutnants? – Das verstehe ich nicht!«
»So!« sagte Fastenrath auffallend ruhig. »Woher wissen Sie, daß dieser Stern gerade an Poschachers Montur war? – Nee, mein lieber Kollege. In diesem Punkte bin ich einmal ausnahmsweise klüger als Sie. Ich als Frankfurter kenne die Gradeabzeichen der Österreicher natürlich besser als Sie. Die Sterne, die ein Feldmarschalleutnant, ein österreichischer General, am Kragen trägt, sehen doch etwas anders aus. Die sind aus Gold. Das hier ist der Stern eines Unteroffiziers. Einen solchen Stern trägt der Patrouillenführer, zwei der Korporal, drei der Feldwebel. Diesen Unteroffizierstern kann kein Feldmarschalleutnant verloren haben. Ich behaupte, dieser Stern stammt von der Montur des Mörders!«
»Fastenrath!« schrie Weberstädter auf. »Wenn Ihre Hypothese wahr wäre!«
»Hypothese?« erwiderte Fastenrath. »Das ist keine Hypothese, Herr Kollege! – Das ist ein Faktum! – Die Haushälterin hatte die Wohnung peinlichst sauber hergerichtet. Den Stern hätte sie nicht übersehen, wenn er schon vor dem Morde auf dem Waschtisch gelegen hätte. Am Mordtage war aber nur der Feldmarschalleutnant in seinem Schlafzimmer – und der Mörder. – Der Mörder hat sich an der Waschschüssel von den Spuren der Tat gereinigt; dabei hat er den Stern verloren und in seiner begreiflichen Erregung den Verlust garnicht, beziehungsweise zu spät bemerkt.
»Am Mordtage befand sich nur ein einziger k. & k. Soldat, der einen solchen Stern tragen konnte, in Poschachers Wohnung. – Dieser Soldat war der Mörder! – – Und der Mörder heißt: Patrouillenführer Giacomo Pinelli!!«